Commissaire Marquanteur und die Rache: Frankreich
Krimi
von Alfred Bekker
Clément Degresse ist eigentlich in der alten Fabrikhalle, um
ein illegales Geschäft abzuschließen. Doch schnell muss er
erkennen, dass es sich um eine Falle handelt. Jemand will ihn büßen
lassen für ein Verbrechen, an dem er vor Jahren beteiligt war.
Commissaire Marquanteur von der Kriminalpolizei in Marseille muss
einen eiskalten Rachefeldzug aufhalten, aber jedes Detail dieser
blutigen Rache scheint gut geplant.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Jack Raymond, Jonas Herlin, Dave Branford, Chris Heller, Henry
Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
In der Fabrikhalle herrschte Halbdunkel. Nur durch eine hohe
Fensterreihe fiel etwas Licht herein. Der Geruch von Altöl hing in
der Luft.
Es war kühl.
Clément Degresse fröstelte in seinem dünnen
Cool-Wool-Anzug.
Er blickte sich um. Mit der Linken trug er einen
Diplomatenkoffer, die Rechte war immer in der Nähe der Beretta, die
in seinem Quick-Draw-Holster steckte.
»Hey, Bouillot, wo steckst du?«, rief er.
In einer vom Licht beschienen Zone bemerkte er einen
dunkelroten Fleck auf dem Betonboden. Frisches Blut …
Ein surrendes Geräusch ließ Degresse zusammenzucken. Er riss
die Waffe hervor. Jemand hatte einen Hebekran aktiviert.
Ein nur als Schattenriss sichtbares Bündel hing am Haken.
Langsam wurde es herabgelassen.
Als das Licht darauf fiel, erstarrte Degresses Gesicht zur
Maske.
»Bouillot!«
2
Die Leiche war blutüberströmt. Dutzende von Einschüssen hatten
Bouillots Kleidung zerfetzt. Das Gesicht war jedoch unverletzt. Aus
diesem Grund hatte Degresse es auch sofort erkannt.
»Scheiße«, flüsterte er, wich einen Schritt zurück.
»Die Waffe weg!«, brüllte eine Stimme von hinten.
Degresse wirbelte herum, blickte in die Schattenzone auf der
anderen Seite der Halle. Panik keimte in ihm auf. Degresse schoss
seine Waffe ab, zog immer wieder den Abzug durch. Er feuerte
blindlings drauflos und hielt dabei in die Schattenzone oben auf
der Balustrade.
Der Puls schlug ihm bis zum Hals.
Sekundenbruchteile später wurde von der anderen Seite auf ihn
gefeuert.
Auch dort gab es eine Zone, die im Schatten lag.
Eine MPi ratterte los. Das Mündungsfeuer blitzte in der
Dunkelheit auf.
Die Kugeln schlugen dicht rechts und links neben Degresse in
den Betonboden, sprengten kleine Stücke heraus.
Degresse dachte einen Augenblick lang daran, zurück bis zum
Eingangstor zu laufen. Aber seine Angst war zu groß. Etwa zwanzig
Meter lagen zwischen ihm und dem Tor. Zwanzig Meter, auf denen er
eine leicht zu treffende Zielscheibe gewesen wäre.
Degresse ließ die Waffe fallen.
»Nicht schießen!«, kreischte er.
»Stell den Koffer hin!«, wies ihn eine andere Stimme an. Eine
weibliche Stimme.
Degresse schluckte, ließ den Blick schweifen und versuchte in
den dunklen Schatten etwas zu sehen.
Vergebens.
»Ihr seid scharf auf das Geld, ja?«, rief er und hielt den
Koffer empor. »Hier ist es! Nehmt es euch! Ich habe nichts dagegen!
Aber lasst mich …«
Eine weitere MP-Salve wurde abgefeuert. Die Projektile
zischten über Degresses Kopf hinweg und perforierten das Hallentor.
Degresse zitterte. Er stellte den Koffer auf den Boden und hob die
Hände.
Eine halbe Million Euro, ging es ihm durch den Kopf. Wenn ich
diese Schweinehunde mal in die Finger kriege, haben die nichts zu
lachen!
Erneut ertönte jetzt ein surrendes Geräusch. Ein zweiter
Hebekran war aktiviert worden. Er bewegte sich auf den unter der
Decke befestigten Schienen und positionierte sich so, dass er
ziemlich genau über Degresses Kopf zum Stillstand kam. Der Haken
wurde herabgelassen. Es hing etwas daran. Degresse sah im Licht
kurz etwas Metallisches funkeln.
Handschellen!
Der Haken senkte sich etwa bis auf Degresses Augenhöhe.
»Nimm die Handschellen!«, kam die Anweisung, diesmal wieder
von der männlichen Stimme.
Degresse gehorchte. Er dachte an Bouillot, der tot an dem
anderen Haken baumelte. Panik lähmte ihn.
Du hast keine Chance, durchzuckte es ihn.
Er zermarterte sich das Hirn darüber, wem er in letzter Zeit
wohl dermaßen auf die Füße getreten war, dass er sich eine so
grausame Rache ausgedacht hatte. Degresse ließ die Handschellen
einrasten.
Die Stimmen – hast du sie schon einmal gehört?, fragte
Degresse sich. An die der Frau konnte er sich nicht erinnern, aber
an die Männliche.
Verdammt, wenn ich nur wüsste, wo und in welchem Zusammenhang,
durchzuckte es ihn. Muss wohl schon länger her sein …
Die nächste Anweisung folgte. Wieder von der männlichen
Stimme.
»Leg … das … Zwischenstück … der Handschellen … in den
Haken!«
Die abgehackte Sprechweise fiel Degresse auf.
»Verdammt, was soll das denn?«, zeterte er. »Im Koffer ist
eine halbe Million! Ihr könnt das Geld haben!«
Die MP knatterte wieder los. Degresse zuckte zusammen.
Haarscharf neben ihm schlugen die Projektile ein. Keines hatte ihn
jedoch getroffen.
Offenbar wollen sie mich nicht töten, ging es ihm durch den
Kopf. Noch nicht …
Er gehorchte, legte das Zwischenstück der Handschellen in den
Haken. Mit einem Surren wurde der Haken empor gezogen.
»Was soll das denn? Was habt ihr vor?«, rief er.
Sekunden später hatte er den festen Boden unter den Füßen
verloren und hing mit zusammengeketteten Händen am Haken. Er
schrie. Die Handschellen schnitten sich in seine Arme hinein. Es
tat höllisch weh.
Als Degresse etwa zwei Meter über dem Boden hing, stoppte der
Kran die Aufwärtsfahrt.
Einige Augenblicke lang geschah nichts.
»Hey, ihr wollt mich doch so nicht hängen lassen, oder?«,
kreischte Degresse.
Keine Antwort. Er hörte Schritte.
Eine Frau mit weißblonden Haaren trat aus dem Schatten heraus.
Sie näherte sich Degresse.
Ihre Schritte hallten auf dem kahlen Betonboden wider. Sie
trug einen knappen Ledermantel, der so gut wie alles von den
langen, wohlgeformten Beinen freiließ. Mit der Linken hielt sie
eine kurzläufige MP vom Typ Uzi.
Sie trat ins Licht, so dass Clément Degresse sie sehr genau
sehen konnte. Mit einem kalten Lächeln musterte sie ihn.
»Erkennst du mich nicht?«, fragte sie.
Schweißperlen standen auf Degresses Stirn.
»Nein, keine Ahnung, wer du bist!«
»Ich bin Celine! Und jetzt behaupte nicht, dass du dich nicht
an mehr an mich erinnerst.«
»Verdammt, lass mich hier runter! Meine Hände sterben
ab!«
»Hat man dir nie erzählt, dass man für seine Sünden ins
Fegefeuer kommt, Clément Degresse?«
»Hey, woher kennst du meinen Namen?«
»Du bist jetzt schon in der Hölle angekommen, Clément!«
»Was?«
»Du weißt es nur noch nicht. Ich habe dir übrigens in dieser
Beziehung etwas voraus. Ich war nämlich schon dort.«
»Scheiße, wovon redest du eigentlich?«
»Von der Hölle!«
Die Frau, die sich Celine genannt hatte, riss ihre MP empor
und feuerte.
Sie hielt in Degresses Richtung.
Dutzende von Kugeln ließen seinen Körper zucken und sich
winden. Sein Todesschrei erstarb rasch.
Celines hübsches Gesicht wurde zu einer hassverzerrten Maske.
Sie feuerte, bis die letzte Kugel ihres Magazins verschossen
war.
Dann herrschte Stille.
Clément Degresses Leiche baumelte leicht hin und her.
3
François blickte auf die Uhr. Ich wurde auch langsam
ungeduldig.
»Clément Degresse scheint es sich anders überlegt zu haben«,
meinte mein Kollege.
Ich zuckte die Achseln, ließ dabei den Blick schweifen.
Wir saßen in einem Straßencafé. Degresse hatte diesen
Treffpunkt vorgeschlagen.
Er war Teilhaber einer Marseiller Nobeldiskothek mit dem Namen
Dansant. Trotz seines für viele südfranzösische Ohren englisch
klingenden Vornamens war Degresse gebürtiger Franzose. Davon
abgesehen war der Name Clément in Norddeutschland durchaus
geläufig. Allerdings stammt seine Mutter aus Puerto Rico, sein
Vater aus Deutschland, dessen Vater ebenfalls gebürtiger Deutscher
war; seine Mutter jedoch stammte aus Argentinien.
Wir waren auf das Dansant im Zuge der Ermittlungen gegen
einige Bosse des organisierten Verbrechens aufmerksam geworden, die
den Glitzerladen offenbar bevorzugt zur Geldwäsche nutzten.
Außerdem diente die Diskothek als Drogenumschlagplatz. Neben dem
unvermeidlichen Kokain gab es vor allem sogenannte Designer-Drogen.
Künstlich hergestellte und gewissermaßen für den Konsumenten
chemisch maßgeschneiderte Substanzen, von denen die meisten illegal
waren.
Allerdings hinkt die Justiz beim Verbot derartiger Stoffe
erheblich hinterher, da laufend neue Chemikalien auf den wachsenden
Markt geworfen werden. Meistens werden sie in Form von Tabletten
verkauft. Ecstasy ist das bekannteste Beispiel dafür.
Die wenigsten wissen, was für Nebenwirkungen sie sich bei dem
Konsum dieser Drogen einhandeln können. Dauerhafte Hirnschäden,
Realitätsverfall oder Veränderungen der Persönlichkeit sind keine
Seltenheit.
Leider wussten wir nicht, wer der große Lieferant war, der das
Dansant und ein paar Dutzend anderer Diskotheken mit den
gefährlichen Pillen belieferte.
Angeblich kannte Clément Degresse auch nur die kleinen Dealer,
jedoch nicht die Hintermänner. Aber er hatte sich bereit erklärt,
für uns als V-Mann zu fungieren. Wahrscheinlich hegte er die
Hoffnung, dass die Justiz ihm bei seinen Geldwäschegeschäften freie
Hand lassen würde. Da erhoffte er sich allerdings wohl etwas zu
viel. Außerdem gab es da noch Eric Perlot und Paul Honier, seine
Teilhaber. Nach Degresses Angaben steckten beide bis zum Hals in
den Drogengeschäften mit drin. Offenbar wollte Degresse seine
Partner lieber heute als morgen aus dem Weg geräumt haben und
erhoffte sich dabei die Mithilfe der FoPoCri.
Bis jetzt war Degresse während unserer Zusammenarbeit immer
zuverlässig gewesen. Heute allerdings hatte er sich bereits eine
Viertelstunde verspätet.
François trank seinen Milchkaffee aus.
»Vielleicht hat Degresse es sich anders überlegt.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Fragt sich nur, wer ihn dazu überredet hat!«
»Ich verstehe das nicht …«
»Er wäre nicht der erste, der plötzlich kalte Füße
bekommt.«
Der Kellner kam plötzlich an unseren Tisch heran.
»Sie wollten sich mit Monsieur Degresse treffen?«, fragte
er.
»Das ist richtig«, nickte ich.
»Uns erreichte gerade ein Anruf. Sie sollen sich zur
U-Bahnstation an der nächsten Ecke begeben.«
Der Kellner deutete mit der Hand. Das U-Bahn-Schild war
deutlich zu sehen.
»Monsieur Degresse erwartet Sie an Bahnsteig zwei.«
Mein Kollege François Leroc und ich wechselten einen kurzen
Blick.
Ich bin Commissaire Pierre Marquanteur. François und ich
arbeiten für die Sonderabteilung Force spéciale de la police
criminelle, kurz FoPoCri in Marseille.
»Mir scheint, Degresse dreht jetzt vollkommen durch«, meinte
François.
»Sie müssen sich allerdings beeilen«, erklärte der Kellner.
»Monsieur Degresse sagte mir, dass er die Bahn um 13.57 Uhr
Richtung Marseiller Innenstadt nehmen wollte. Er wartet jetzt auf
dem Bahnsteig.«
Es blieben uns keine fünf Minuten. Ich bezahlte unsere
Rechnung. Wir liefen die wenigen Schritte zur U-Bahnstation. Wir
nahmen immer mehrere Stufen mit einem Schritt, drängten uns
zwischen den Passanten hindurch.
Wenig später hatten wir Bahnsteig 2 erreicht. Hunderte von
Menschen warteten darauf, Richtung Marseiller Innenstadt
mitgenommen zu werden.
Wir blickten uns um.
»Wäre ein Kunststück, ihn hier in diesem Gewimmel zu finden«,
rief ich François zu.
Irgendetwas war faul an der Sache. Das hatte ich im
Gefühl.
Der Zug lief ein. Die Menschen drängten zu den Schiebetüren
der Waggons.
Ich blickte auf die Uhr. Exakt eine Minute und dreißig
Sekunden lang würde der Zug im Bahnhof halten, bevor er seinen Weg
planmäßig fortsetzte.
»Pierre, da hat uns einer aufs Kreuz gelegt«, raunte François
mir zu.
Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit einer Zeitung
fiel mir auf. Er hielt die Zeitung so, dass man die rechte Hand
nicht sehen konnte. Die Augenpartie wurde durch eine Sonnenbrille
mit Spiegelgläsern verdeckt. Das Haar war grau und kurzgeschoren.
Die muskulöse Bodybuilderfigur drohte den teuren Anzug beinahe zu
sprengen.
Der Grauhaarige blickte kurz zur Seite. Dort befand sich ein
zweiter Mann, schwarzhaarig, mit dünnem Oberlippenbart und dunklem
Teint. Unter dem eng sitzenden Jackett malte sich ein
Schulterholster ab.
Der Mann mit dem Oberlippenbart nickte dem Grauhaarigen zu.
Beide Männer fielen schon dadurch auf, dass sie außer uns so
ziemlich die einzigen auf dem Bahnsteig waren, die nicht im Strom
Richtung der Waggons mitschwammen.
Ein älterer Herr mit dicker Brille rempelte den Grauhaarigen
aus Versehen an. Für Sekundenbruchteile sah ich etwas Dunkles,
Metallisches unter der Zeitung hervortauchen.
Die Mündung einer Waffe oder ein Schalldämpfer …
»Vorsicht François!«, rief ich, griff unter meine Jacke und
riss die Dienstpistole vom Typ SIG Sauer P 226 hervor.
Der Grauhaarige ließ die Zeitung zur Seite gleiten, richtete
eine Automatik mit aufgeschraubtem Schalldämpfer in meine Richtung
und feuerte. Das Schussgeräusch war nicht zu hören.
François und ich duckten uns. Die erste Kugel zischte dicht
über unsere Köpfe hinweg, ließ eines der Kunstglasfenster des
Triebwagens zerspringen. Passanten stießen entsetzte Schreie
aus.
Nur der Bruchteil einer Sekunde blieb mir, um abzuwägen, ob
ich zurückfeuern sollte. Normalerweise verbot sich ein
Schusswaffengebrauch unter diesen Bedingungen. Schließlich waren
wir von viel zu vielen Passanten umgeben. Andererseits nahm dieser
Mörder darauf keinerlei Rücksicht. Wenn er ein zweites oder gar
drittes Mal zum Schuss kam, war die Gefährdung der Passanten
vielleicht noch viel größer.
Ich schoss.
Meine Kugel traf den Grauhaarigen am Oberkörper, schleuderte
ihn zurück. Die Waffe meines Gegners wurde dadurch nach oben
gerissen. Seine Hand krampfte sich zusammen. Ein Schuss löste sich,
ging aber weit über die Köpfe der Passanten hinweg. Die
Anzeigetafel wurde getroffen.
Ein zischendes Geräusch ließ viele der Fahrgäste verwundert
aufsehen. Offenbar wurde durch diesen Treffer ein Kurzschluss
verursacht. Ein Teil der Beleuchtung fiel aus.
Der grauhaarige Killer stürzte rückwärts zu Boden. Ich
schnellte hinterher.
Die Türen der Waggons schlossen inzwischen selbsttätig. Der
Zug fuhr ab.
François richtete seine Waffe auf den Mann mit dem
Oberlippenbart, der eine Beretta aus dem Schulterholster gerissen
hatte.
»Machen Sie Platz, FoPoCri!«, rief François.
Passanten stoben auseinander.
François feuerte einen Warnschuss ab.
Der Mann mit dem Oberlippenbart rannte davon. Er rempelte
rücksichtslos Passanten beiseite und strebte in Richtung
Straße.
François setzte nach.
»Waffe weg!«, sagte ich inzwischen zu dem Grauhaarigen.
Er lag auf dem Rücken, seine Brust war rot. Ein röchelnder
Laut kam ihm über die Lippen. Die Rechte hielt noch immer die
Schalldämpfer-Automatik umklammert. Sein Arm zuckte. Offenbar hatte
er immer noch nicht aufgegeben.
Ich kickte ihm die Waffe aus der Hand. Sie rutschte über den
Boden. Der Lauf meiner SIG zeigte auf sein Gesicht. Mit der freien
Hand griff ich zum Handy. Der grauhaarige Killer brauchte dringend
einen Notarzt.
François hetzte inzwischen hinter dem Komplizen her, drängte
sich durch die Passanten, die den Ausgang verstopften. Der Mann mit
dem Oberlippenbart sprintete in Richtung des Straßencafés, in dem
wir auf Degresse gewartet hatten. François folgte ihm. Vierzig,
fünfzig Meter lagen zwischen ihnen. Der Mörder hatte ein Handy am
Ohr, nahm den Apparat jetzt herunter. Er drehte sich herum und
bemerkte François.
Der Mörder feuerte sofort. François duckte sich hinter einem
parkenden Fahrzeug. Zurückzuschießen war unmöglich. Mindestens
dreißig Personen hatten in dem Straßencafé Platz genommen, und auf
diese Entfernung war es nicht so leicht einen Gegner mit einem
exakten Treffer auszuschalten.
Ein metallicfarbener Opel hielt ganz in der Nähe. Der Killer
spurtete auf diesen Wagen zu. Augenblicke später erreichte er ihn.
Er riss die Tür hinten rechts auf und hechtete sich förmlich ins
Wageninnere. Mit quietschenden Reifen fuhr der Opel davon.
François setzte noch zu einem Spurt an. Als er für einen
Moment freies Schussfeld hatte, zielte er mit der SIG auf die
Reifen. Sein Schuss stanzte ein Loch in die Stoßstange hinein. Der
Wagen bog quietschend in die nächste Einfahrt.
»Verdammt!«, murmelte François vor sich hin.
Der Kerl war ihm erst einmal durch die Lappen gegangen.
4
Wir standen immer noch auf dem Bahnsteig. Inzwischen waren die
Kollegen der Polizei eingetroffen und sperrten das gesamte Gelände
weiträumig ab. Es ging darum, eventuell vorhandene Spuren zu
sichern. Verschossene Projektile und dazugehörige Patronenhülsen
zum Beispiel.
Die Beamten des Erkennungsdienstes waren unterwegs. Sie würden
die Feinarbeit leisten müssen. François hatte sich die Nummer des
Wagens gemerkt, mit dem der zweite Killer geflohen war. Leider
ergab eine entsprechende Halterabfrage wenig später, dass das
Nummernschild offenbar falsch war. Die Notfallambulanz brachte den
Grauhaarigen in das nur ein paar Straßen entfernte Krankenhaus. Bei
ihm kam jedoch jede Hilfe zu spät. Nur etwa eine halbe Stunde
später erreichte uns die Nachricht, dass er bei der Notoperation
verstorben war.
Ich hatte offenbar zu gut getroffen.
Andererseits war ich in der Situation dazu gezwungen gewesen,
den Grauhaarigen mit nur einem einzigen Schuss wirkungsvoll
auszuschalten.
Immerhin hatten wir ihm noch am Tatort das Handy abnehmen
können. Bevor sich die Kollegen der Spurensicherung, des Zentralen
Erkennungsdienstes aller Marseiller Polizeieinheiten, mit dem Ding
eingehend befassen würden, nahm ich es mir erst einmal vor.
Natürlich zog ich mir Latexhandschuhe dafür an.
Ich durchsuchte das Menü nach bekannten Nummern in den
Anruflisten. Eine einfache, aber sehr wirkungsvolle
Fahndungsmethode. Ich wurde auch fündig.
»Bingo!«, sagte ich an François gerichtet.
»Was hast du ausgegraben?«
»Der grauhaarige Killer wurde etwa zehn Minuten, bevor hier
die Schießerei losging, von einer Nummer angerufen, die mir bekannt
vorkommt.« Ich nahm mein eigenes Handy hervor, tippte mit dem
Daumen etwas darauf herum. Und siehe da, mein Erinnerungsvermögen
hatte mich nicht getrogen. »Es ist die Nummer des Dansant,
François!«
»Wir schauen dort am besten so schnell wie möglich vorbei«,
schlug François vor. »Dieser Degresse kann was erleben, wenn wir
ihn in die Finger kriegen.«
»Du meinst, er hat diese beiden Killer auf uns
angesetzt?«
»Wieso nicht?«
»Und aus welchem Grund?«
»Vielleicht wurde ihm die Zusammenarbeit mit uns einfach zu
heiß.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das gibt doch alles keinen Sinn.«
»Und was glaubst du?«
Ich zuckte die Achseln.
»Vielleicht war Degresse nicht vorsichtig genug, und jemand
hat herausgekriegt, dass er für uns als Informant tätig ist.«
»In dem Fall sollten wir uns schleunigst darum kümmern, ob
Monsieur Degresse noch lebt.«
5
Wir erreichten etwa eine Stunde später das Dansant. Den
Sportwagen, den uns die Fahrbereitschaft zur Verfügung stellte,
parkte ich ein paar Meter vom Eingang der Diskothek entfernt.
Es war früher Nachmittag.
Das bedeutete, dass hier um diese Zeit noch kein Betrieb war.
Allerdings hoffte ich, trotzdem jemanden anzutreffen. Im
günstigsten Fall Degresse selbst, ansonsten einen seiner Partner,
mit denen er zusammen das Dansant betrieb.
Neben der Tür war eine Klingel mit Gegensprechanlage. Noch
bevor ich auf den Knopf gedrückt hatte, hörten wir von drinnen
einen ziemlich abgedämpften Schrei. François und ich wechselten
einen schnellen Blick.
»Hast du das auch gehört?«, fragte ich.
»Ich hoffe, da zieht sich nur jemand ein Video rein.«
Ein weiterer Schrei folgte. Durch die dicken Isolierschichten
der Wände wurde das meiste davon geschluckt. Eine Sekunde später
schaltete innen jemand die Musikanlage ein. Draußen kam davon kaum
mehr als ein dumpfes Vibrieren der Bässe an.
»Los, rein!«, forderte ich.
François und ich hatten denselben Gedanken. Dort drinnen wurde
vermutlich gerade jemand grob in die Mangel genommen und die
musikalische Untermalung sollte verhindern, dass man außerhalb des
Dansant davon etwas mitbekam.
François riss an der Tür.
Sie war abgeschlossen.
Es war nicht möglich, sie einzutreten, da sie wie alle
Außentüren in öffentlich zugänglichen Gebäuden aus
Feuerschutzgründen nach außen zu öffnen war.
Ich zog die Dienstpistole vom Typ SIG Sauer P 226 aus dem
Holster an meinem Gürtel und öffnete das Schloss mit einem
gezielten Schuss.
Mit einer ruckartigen Bewegung riss ich sie auf. Wir stürmten
vorwärts in einen halbdunklen Vorraum, wo wohl normalerweise ein
Türsteher postiert war. Im Augenblick befand sich hier niemand. Der
Eingang zur eigentlichen Diskothek stand halb offen. Im Profil war
zu sehen, dass diese zweite Tür mit dicken Schichten aus Styropor
und Schaumstoff gedämmt war.
Wäre sie geschlossen gewesen, hätten wir draußen
wahrscheinlich nichts von den Schreien gehört.
Die Musik hämmerte stampfend im monotonen Rhythmus. Es war
ohrenbetäubend. Selbst unseren Schuss hatte man bei dieser
Geräuschkulisse vermutlich überhört.
Ich stürzte zuerst in den Tanzsaal, die SIG im beidhändigen
Anschlag.
Das Laserlicht flackerte.
Die eigentliche Tanzfläche befand sich auf einer Art Podest.
Davor gab es ein paar Tische, auf der linken Seite eine Bar. Auf
einem der Tische lag ein Mann. Ich erkannte ihn von Fotos wieder,
die unsere Kollegen gemacht hatten. Es handelte sich um Paul
Honier, einen der Partner, mit denen Clément Degresse das Dansant
betrieb. Er wurde von vier Kerlen an Armen und Beinen gehalten. Ein
fünfter hielt einen Elektroschocker in der Hand. Der Folterer
wandte den vollkommen haarlosen Kopf in unsere Richtung. Mitten auf
seinem Schädel trug er eine Tätowierung in Form eines
Blitzes.
»FoPoCri! Hände hoch und Waffen weg!«, rief ich und versuchte
die stampfende Musik zu übertönen.
Mit der Linken hielt ich die FoPoCri-Marke hoch.
Die Mobster bemerkten mich.
Wirbelten herum.
Sie ließen Paul Honier los, griffen sofort zu ihren
Waffen.
Ein großer Blonder ließ die Hand zum Griff der MP vom Typ Uzi
gleiten, die ihm über der Schulter hing. Er feuerte aus der Hüfte
heraus. François traf ihn mit einer Kugel in die Schulter. Der
Blonde taumelte rückwärts zu Boden und riss ein paar Stühle mit
sich. Die ganze Zeit über schoss er wild um sich. Die Spiegel, die
einen Teil der Decke zierten, regneten in Scherben hernieder.
Die anderen zogen ihre Waffen, zumeist automatische Pistolen.
Auch sie feuerten wild drauf los, sprangen in Deckung.
François gab mir von der Tür aus Feuerschutz. Ich hechtete zu
Boden, riss einen der Tische um.
Das Inventar des Dansant war größtenteils in einer Art
Metalloptik gehalten. Aber als Schutzschild gegen massives
Dauerfeuer taugte die Tischplatte nichts.
Mehrere Projektile schlugen hindurch, stanzten augengroße
Löcher hinein.
Ich tauchte hervor, feuerte zurück.
Einen der Kerle traf ich. Er sank schreiend zu Boden.
Die anderen befanden sich auf der Flucht.
Paul Honier war inzwischen vom Tisch heruntergesprungen, hatte
sich zu Boden gehechtet und machte sich dort so klein wie möglich.
Er lag dicht an der untersten Stufe, die zu der auf einem Podest
gelegenen Tanzfläche führte. Auf diese Weise hatte er etwas
Deckung. Den Kopf verbarg er unter den Armen, während ein Regen aus
Scherben über ihm niederging.
Ein wahrer Geschosshagel prasselte in unsere Richtung.
Für Sekunden konnten François und ich uns nicht
hervorwagen.
Ich versuchte es einmal, zuckte jedoch sofort wieder
zurück.
Der Kahlköpfige mit dem Blitz-Tattoo schoss in Paul Honiers
Richtung, traf ihn am Rücken. Anschließend rannte der Tätowierte
weiter in Richtung eines Nebenausgangs.
Ich tauchte aus der Deckung hervor, schickte dem Kerl mit dem
Blitz-Tattoo eine Kugel hinterher.
Das flackernde Licht verlosch auf einmal. Die dröhnende Musik
ebenfalls.
Einer der Mobster hatte offenbar mit seiner Ballerei dafür
gesorgt, dass der Strom in weiten Teilen des Dansant ausgefallen
war. Es herrschte jetzt Halbdunkel.
Die Gangster flohen durch einen Nebenausgang. Nur noch der
Uzi-Schütze befand sich im Raum. Er war trotz des Treffers, den er
erhalten hatte, wieder auf die Beine gekommen, taumelte seinen
Komplizen hinterher und ballerte dabei wie ein Wahnsinniger durch
die Gegend, bis sein Magazin leergeschossen war.
Immer wieder leckte das Mündungsfeuer blutrot aus der kurzen
MP-Mündung. Die Kugeln zischten über mich hinweg. Dann machte es
»klack!«.
Das Magazin der MP war leer geschossen.
»Stehenbleiben!«, rief ich.
Der Kerl wankte. Einen Moment zögerte er. Vom Nebenausgang her
krachten Schüsse. Der MP-Schütze sank getroffen zu Boden. Seine
beiden Komplizen hatten ihn kaltblütig hingestreckt, um zu
verhindern, dass er sie verraten konnte.
Ich erreichte Paul Honier, kniete mich neben ihn. François war
hinter mir. Er hatte das Handy schon am Ohr, um Verstärkung zu
rufen. Ich drehte Honier vorsichtig herum. Selbst im Halbdunkel war
zu sehen, dass sein gesamter Rücken blutig war.
Er stieß einen röchelnden Laut aus.
»Honier lebt noch!«, rief ich. »Aber er braucht dringend einen
Arzt!«
»Schon unterwegs!«, meldete François.
Ich erhob mich, rannte in Richtung des Nebenausgangs, durch
die die Mobster geflüchtet waren.
Auch im sich anschließenden Korridor war der Strom
ausgefallen. Da hatte einer dieser schießwütigen Kerle offenbar
einen richtigen Volltreffer gelandet. Ich schnellte in geduckter
Haltung vorwärts, rannte bis zum Hinterausgang.
Die Tür stand offen.
Das hereinfallende Sonnenlicht wirkte grell, wenn man sich an
die Sichtverhältnisse im fensterlosen Dansant gewöhnt hatte.
Ich stürzte ins Freie. Ein Van fuhr mit quietschenden Reifen
davon. Die seitliche Schiebetür stand noch offen. Einer der
Insassen richtete seine Waffe auf mich. Er feuerte mehrfach. Ich
duckte mich. Die Kugeln meines Gegners stanzten Löcher ins
Mauerwerk. Der Van brauste die Straße entlang. Ich setzte zu einem
Sprint an, blieb schließlich stehen und zielte. Auf die Reifen des
Vans hatte ich es abgesehen.
Mein erster Schuss brachte den Reifen hinten links zum
Platzen. Das Heck des Transporters brach aus, knallte in die Reihe
der parkenden Fahrzeuge hinein. Blech wurde eingedrückt.
In der Ferne waren schon die Sirenen unserer Kollegen der
Polizei sowie der Notfallambulanz zu hören.
Drei der Mobster befanden sich noch im Van.
Der Fahrer ließ den Motor aufheulen, trat das Gaspedal voll
durch. Der Wagen schrammte am Blech der parkenden Fahrzeuge
entlang. Das Geräusch, das dabei entstand, war geradezu
ohrenbetäubend. Der Geruch von verbranntem Gummi verbreitete
sich.
Innerhalb von Augenblicken war die Felge hinten links
vollkommen blank. Das Metall ratschte funkensprühend über den
Asphalt. Dem Fahrer gelang es trotzdem einigermaßen die Richtung zu
halten.
Aus der offenen Seitentür heraus wurde gefeuert.
Schüsse peitschten.
Ich suchte Deckung hinter den am Straßenrand parkenden
Fahrzeugen.
Etwa fünfzig Meter waren es noch bis zur nächsten Kreuzung.
Wenn es dem Kerl mit dem Blitz-Tattoo und seinen Komplizen gelang,
sich dort in den fließenden Verkehr einzufädeln, würde es schwer
sein, die Bande noch zu stellen.
Ich griff zum Handy, rief die Zentrale an.
Für die zu erwartende Verfolgungsjagd brauchten wir dringend
einen Hubschrauber, um das flüchtige Fahrzeug nicht zu verlieren.
Außerdem mussten die zur Verstärkung anrückenden Kollegen so
instruiert werden, dass weiträumig Straßensperren errichtet
wurden.
Ein Sattelschlepper mit dem Reklameaufdruck eines
Getränke-Großvertriebs bog von der Hauptstraße her ein.
Die Durchfahrt war dadurch versperrt. Der Fahrer des Vans trat
in die Bremse. Reifen quietschten.
Der Van brach erneut aus, setzte sich quer zur
Fahrbahnrichtung und krachte in die Vorderfront der Zugmaschine
hinein. Ich setzte nach. Der Mann mit dem Blitz-Tattoo und seine
beiden Komplizen stiegen aus. Einer der Mobster hatte offenbar bei
dem Aufprall etwas abgekriegt. Er blutete aus einer Platzwunde an
der Stirn.
Der Fahrer des LKWs hingegen schien unverletzt geblieben zu
sein. Er saß wie erstarrt hinter seinem Lenkrad. Als er merkte, in
was für eine Situation er geraten war, duckte er sich und
verschwand hinter dem Armaturenbrett.
Die Gangster feuerten in meine Richtung. Ich nahm hinter den
parkenden Fahrzeugen Deckung, deren Seitenscheiben eine nach der
anderen zu Bruch gingen.
Nur einmal gelang es mir, hinter der Motorhaube eines Jeeps
hervorzutauchen und meinerseits einen Schuss abzugeben.
Der Typ mit dem Blitz-Tattoo schaffte es inzwischen, die Tür
zur Fahrerkabine des LKWs aufzureißen. Er schwang sich
hinauf.
Der Fahrer richtete sich mit erhobenen Händen auf – ein Mann
Mitte zwanzig mit Vollbart und gelocktem Haar. Sein Gesicht wurde
vollkommen blass, als ihm der Kahlköpfige mit dem Blitz-Tattoo die
Automatik an die Schläfe hielt.
Seine Komplizen stellten jetzt das Feuer ein. Im Gesicht des
Tattoo-Trägers erschien ein zynisches Grinsen. Ich konnte mir
denken, was er beabsichtigte. Der Fahrer des LKWs war jetzt seine
Geisel.
»Komm hervor, Scheiß-Flic!«, rief der Tätowierte durch die
heruntergelassene Seitenscheibe. »Und wirf deine Waffe weg, sonst
ist der Mann hier keine zwei Sekunden mehr am Leben!«
Mir blieb keine andere Wahl. Ich erhob mich. Das Leben eines
völlig Unbeteiligten wollte ich nicht riskieren. Ich konnte nur
hoffen, dass die Kollegen früh genug eintrafen und die Lage sofort
erfassten. Andernfalls sah es in Anbetracht der kalten
Skrupellosigkeit, die dieser Tattoo-Träger bislang an den Tag
gelegt hatte, schlecht für mich aus.
»Geben Sie auf!«, rief ich. »Sie machen ja nur noch alles viel
schlimmer!«
»Auf deine guten Ratschläge scheiße ich, Bulle!«, höhnte er.
»Wirf dein Schießeisen zu uns rüber!«
Ich gehorchte. Die SIG landete auf dem Asphalt. Inzwischen
stieg auch der am Kopf verletzte Gangster in die Fahrerkabine. Der
dritte Mann lud zunächst seine Waffe nach, blieb dann auf der
Beifahrerseite des LKWs stehen und richtete seine Pistole in meine
Richtung. Er grinste zynisch. Eine Strähne seines gelockten Haars
fiel über die Stirn.
»Komm hinter dem Wagen hervor, damit ich dich besser sehen
kann!«, rief er.
Ich gehorchte, umrundete langsam den Jeep, hinter dem ich mich
zuvor verschanzt hatte, trat anschließend zur Straßenmitte.
Der Tätowierte versetzte dem Fahrer einen Stoß. Daraufhin
startete der Fahrer den Motor.
Der Motorblock der Zugmaschine befand sich unter den Sitzen.
Daher hatte er beim Aufprall des Transporters offenbar nichts
abbekommen.
Der LKW setzte ein Stück zurück. Der Tätowierte gab dem
Lockenkopf ein Zeichen. Er fuhr sich mit der flachen Hand wie mit
einer Messerklinge am Hals entlang. Eine Geste, deren Botschaft an
Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Kill den Bullen, bevor
du einsteigst!, hieß das.
Mit erhobenen Händen stand ich da.
Unbewaffnet.
Ich erwartete meinen Tod.
6
Celine war nackt.
Nackt bis auf ein schwarzes, etwa fünf Zentimeter breites
Lederhalsband sowie breite, mit Nieten besetzte Manschetten, die
sie um die Hand- und Fußgelenke trug.
Sie stand vor dem Spiegel im Bad, betrachtete ihren
formvollendeten Oberkörper.
Die großen Brüste wogten bei der kleinsten Bewegung hin und
her. Ihre Lippen wirkten voll und weich. Aber das war eine
Illusion, die durch das Make-up bewirkt wurde. In Wahrheit waren
sie dünn wie Striche.
Ein kaltes Lächeln war jetzt in ihrem Gesicht zu sehen.
»Hey, komm unter die Dusche!«, hörte sie eine männliche Stimme
wie aus weiter Ferne. »Na los, Celine, wo bleibst du?«
»Leck mich doch!«, murmelte sie.
»Ja, immer gerne!«
Sie schloss die Augen.
In ihrer Vorstellung sah sie ein Gesicht vor sich. Clément
Degresses Gesicht. Ganz genau hatte sie sich dieses Gesicht
angesehen, als er da vor ihr am Haken hing und endlich begriff, was
mit ihm geschehen würde …
Namenloses Entsetzen hatte seine Züge in jenem Moment
gezeichnet.
Und du hast es genossen, ging es ihr durch den Kopf. Du kannst
es ruhig zugeben, Degresse hatte es verdient, so wie all die
anderen … Sieh ihn dir an, Celine! Sieh genau hin!
Plötzlich veränderte sich das Gesicht, das die junge Frau vor
ihrem inneren Auge sah. Seine Züge wurden weicher, weiblicher …
Celine spürte, wie ihr Puls zu rasen begann. Schweißperlen rannen
ihr über die Stirn. Degresses Antlitz verwandelte sich in ihr
eigenes, angstvoll verzerrtes Gesicht.
»Nein!« Celine schrie es förmlich heraus, riss die Augen
auf.
Hände packten sie von hinten an die Schultern. Sie schlug um
sich.
»Nein, lass mich, du Schwein!«
»Hey, was ist denn los?«
»Eric!«, stieß sie hervor und blickte in das Gesicht eines
etwa fünfundvierzigjährigen Mannes mit dunklen Haaren. Er trug
einen auf den Millimeter genau rasierten Knebelbart, hatte eine
hohe Stirn und war kräftig gebaut. Außer einem Handtuch um die
Hüften trug er nichts. Das Duschwasser perlte noch von seinem
Körper.
Jetzt erst begriff Celine, dass sie versucht hatte, ihn mit
den Fäusten zu schlagen.
Er umfasste ihre Handgelenke nun so fest, als ob sie in
Schraubstöcken steckten. Sie atmete tief durch, gab den Widerstand
auf.
»Es ist nichts«, behauptete sie und schluckte. »Alles in
Ordnung.«
»Wirklich?«
»Alles okay.«
»Brauchst du etwas Kokain oder ein paar Pillen?«
»Nein.«
»Du weißt, ich habe alles da, womit man sich gut und easy
fühlen kann.«
»Ja, ja …«
Ihre Gedanken schienen meilenweit entfernt zu sein. Sie
blickte durch ihn hindurch. Erics Hand glitt über ihre Schulter,
schließlich tiefer.
»Ich dachte, wir schieben noch eine schnelle Nummer, bevor ich
ins Dansant muss«, schlug Eric vor.
»Nichts dagegen«, erwiderte sie ziemlich
leidenschaftslos.
»Hey, mehr Begeisterung!«
Celine zwang sich zu seinem Lächeln.
»Klar, du bist der Größte, Eric!«
Und außerdem wird es deine letzte, schnelle Nummer mit mir
sein, setzte sie noch in Gedanken hinzu.
In ihren Augen blitzte es kalt.
7
Der Lockenkopf feuerte zweimal kurz hintereinander.
Ich hechtete mich zu Boden. Die Kugeln pfiffen dicht an mir
vorbei. Hart kam ich zu Boden, rollte mich herum. Die SIG lag auf
dem Asphalt, war unerreichbar für mich.
Zum dritten Mal wollte der Lockenkopf den Abzug seiner Waffe
durchziehen. Aber er kam nicht mehr dazu. Ein Schuss krachte vom
Hintereingang des Dansant aus. François war dort aufgetaucht, hatte
seine Waffe in Anschlag gebracht. François‘ Kugel traf den
Lockenkopf im Oberkörper, riss ihn nach hinten. Der Kerl taumelte
zu Boden.
Ich rappelte mich auf, rannte auf den am Boden liegenden Mann
zu. François‘ Schuss hatte ihn übel erwischt. Er stöhnte vor
Schmerzen auf, versuchte seine Waffe hochzureißen. Der Lauf zeigte
schon wieder in meine Richtung. Aber ich war bereits über ihm, bog
den Waffenarm zur Seite. Ein Schuss löste sich, bevor es mir
gelang, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Sie rutschte ein
Stück über den Asphalt.
Ein Ruck ging jetzt durch die Zugmaschine. Sie setzte ein paar
Meter zurück, stoppte anschließend. Die Polizei traf ein. Ein
Einsatzwagen stellte sich quer hinter den LKW. Türen wurden
geöffnet. Die Beamten sprangen aus den Fahrzeugen und brachten ihre
Waffen in Anschlag.
Ein zweites und schließlich ein drittes Polizeifahrzeug
stoppten. Augenblicke später waren die ersten Kollegen bis zur
Fahrerkabine des LKWs vorangestürmt und rissen die Türen auf.
François rannte ebenfalls hinzu.
»Waffen sofort fallen lassen!«, rief einer der Beamten.
Die Läufe von zwei sechzehnschüssigen Pistolen vom Typ SIG
Sauer P 226 waren auf die beiden in der Fahrerkabine befindlichen
Gangster gerichtet. Der Mann mit dem Blitz-Tattoo hielt seiner
Geisel noch immer die Waffe an die Schläfe.
»Ich mache Ernst!«, brüllte er wie von Sinnen. »Ich knall ihn
ab!«
Schweißperlen rannen über die Stirn des LKW-Fahrers.
Ich nahm inzwischen die Waffe des verletzten Lockenkopfs an
mich. Handschellen brauchte ich für ihn nicht. Die Schussverletzung
war ziemlich schwer und setzte ihn vollständig außer Gefecht.
»Sie haben keine Chance hier wegzukommen!«, rief ich. »Wenn
Sie die Geisel erschießen, werden die Kugeln meiner Kollegen Sie
durchsieben!«
Es war eine Art Patt-Situation.
Der Mann mit dem Blitz-Tattoo schluckte.
Bis jetzt war der Kerl schlau genug gewesen, seinen letzten,
tödlichen Trumpf nicht auszuspielen. Er überlegte.
Eine Sekunde, zwei …
Offenbar sah er ein, dass er auf verlorenem Posten stand und
senkte die Waffe.
Sein Komplize mit der Kopfverletzung ebenfalls.
Nacheinander wurden die Geisel und die beiden Mobster aus der
Fahrerkabine geholt.
Die Handschellen klickten, die Rechte wurden vorgelesen. Ein
Rettungsteam der Notfallambulanz eilte herbei, um dem Gangster, den
François niedergeschossen hatte, zu helfen. Ich wandte mich an
François.
»Danke. Das war verdammt knapp!«
»Wozu hat man Freunde, Pierre!«
Ich atmete tief durch, suchte meine Waffe und hob sie vom
Boden auf.
»Das nächste Mal würde ich daran gerne auf weniger dramatische
Weise erinnert werden.«
François klopfte mir auf die Schulter.
»An mir soll‘s nicht liegen!«
8
Wenig später tauchten auch unsere Kollegen Josephe Kronbourg
und Léo Morell am Tatort auf. Außerdem die Erkennungsdienstler
Pascal Montpierre und Jean-Luc Duprée. Wir arbeiteten zwar meistens
mit dem im La Canebière stationierten Erkennungsdienst zusammen,
haben darüber hinaus aber auch eigene Erkennungsdienstler zur
Verfügung.
Josephe und Léo verhörten nacheinander die Angestellten des
Dansant
François und ich kümmerten uns inzwischen um die Anführer der
Mobster-Truppe. Der Mann mit dem Blitz-Tattoo war vernehmungsfähig.
Ebenso der Komplize, der neben ihm im Truck gesessen hatte. Zwei
weitere Mitglieder des Mobster-Quintetts waren schwer verletzt,
einer tot.
Erschossen durch den Tätowierten.
»Ich sage gar nichts, solange nicht ein Anwalt meiner Wahl
hier anwesend ist«, knurrte er und bleckte dabei seine Zähne wie
ein bissiger Kampfhund. Er warf einen Blick zu seinem Komplizen,
so, als wollte er ihn damit auf seiner Linie halten.
»Das ist Ihr gutes Recht, Monsieur …«
»… gebt euch mal ruhig ein bisschen Mühe, wenn ihr meinen
Namen herausfinden wollt!«
Einer der Polizisten reichte mir einen Führerschein. Er war
auf den Namen Marvin Robert Barnier ausgestellt.
»Den hatte er bei sich!«, erklärte der Beamte.
Ich nickte. »Danke.«
Der Tätowierte verzog das Gesicht.
»Ihr könnt mich alle mal kreuzweise …«
»Wie gesagt, Monsieur Barnier, es ist Ihr gutes Recht, die
Aussage zu verweigern«, wiederholte ich mich. »Allerdings ist es in
Ihrer Lage nicht besonders klug!«
»Ach, nein?«
»Sie haben einen Ihrer eigenen Leute erschossen, damit er Sie
nicht verraten kann.«
»Mann, was redest du da?«
»Ich habe das mit eigenen Augen gesehen, Monsieur
Barnier!«
»Und einem Scheiß-Bullen glaubt man natürlich mehr als
jemandem wie mir. Ist es das, was du meinst?«
»Die ballistischen Tests werden Sie einwandfrei des Mordes
überführen. Außerdem haben Sie Paul Honier schwer gefoltert und
anschließend beinahe umgebracht. Sie können von Glück sagen, wenn
er überlebt.«
»Du kannst mich mal, Bulle!«
»Was wollten Sie von Honier?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«
»Hören Sie zu, Monsieur Barnier: Wir kürzen das Ganze am
Besten etwas ab! Ich glaube, dass jemand Sie beauftragt hat. Dessen
Namen hätte ich gerne. Oder wollen Sie die ganze Schuld auf sich
nehmen, Monsieur Barnier? Überlegen Sie mal … Wenn Sie kooperieren,
wird der Staatsanwalt das sicher zu würdigen wissen …«
»… und die Anklage so formulieren, dass ich nicht
lebenslänglich plus verschärften Haftbedingungen bekomme,
ja?«
»Sie haben es auf den Punkt gebracht!«
Er verengte die Augen, bedachte mich mit einem misstrauischen
Blick.
»Ich trau dir nicht, Bulle!«
»Das brauchen Sie auch gar nicht. Sie sollten einfach logisch
denken. Zählen Sie eins und eins zusammen. Falls Sie jetzt
auspacken, ist Ihr Statement noch etwas wert. Wenn Sie damit
warten, bis Monsieur Honier wieder vernehmungsfähig ist oder einer
Ihrer Komplizen die Katze aus dem Sack lässt, wird an Ihrer Aussage
kaum noch jemand interessiert sein.«
Er atmete tief durch, schien zu überlegen.
Robert Marvin Barnier schwieg.
Ich wandte mich an seinen Komplizen.
»Was ist mit Ihnen? Sie sitzen fast genauso tief im Dreck wie
Barnier.«
Der Komplize schluckte. Offenbar war er aus weicherem Holz
geschnitzt.
»Hören Sie, Monsieur Commissaire, Barnier hat uns angeheuert!
Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um einen so heißen Job
handelte. Wir sollten Honier zwar etwas auf die Finger klopfen,
aber …«
»Honier wurde mit einem Elektroschocker gefoltert«, unterbrach
François. »Was hat er getan, um so eine Behandlung zu
verdienen?«
»Ich sag alles, was ich weiß …«, keuchte der Komplize.
Barnier meldete sich jetzt zu Wort.
»Halt‘s Maul! Ich sage aus!«, erklärte er. »Die anderen haben
keine Ahnung, wer für den Job bezahlt hat. Das war eine Bedingung
bei der Sache. Es sollte alles diskret ablaufen.«
Ich atmete tief durch, musterte Barnier kühl. Warum diese
plötzliche Wende?, fragte ich mich.
»Na los, ich bin gespannt!«
»Das Dansant wird von drei Teilhabern betrieben …«
Ich nickte.
»Clément Degresse, Paul Honier und …«
»Eric Perlot. Aber Perlot wollte offenbar das alleinige Sagen
haben. Er hat uns angeheuert.«
»Welchen Auftrag hatten Sie genau?«
»Wir sollten Honier so zusetzen, dass er sich freiwillig
zurückzieht. Ich schätze, Perlot wäre dann als Retter in der Not
aufgetreten und hätte Honiers Anteile für einen günstigen Preis
übernehmen können.«
»Was haben Sie Honier gegenüber gesagt?«
»Gar nichts. Es sollte reichen, wenn er zu dem Schluss kommt,
dass irgendjemandem seine Nase nicht passt. Jemandem, der groß
genug ist, um ihn fertig zu machen. Er sollte denken, dass er keine
Chance hat und sich besser zurückzieht.«
»Hatte Honier keinen, der ihn schützte?«
»Einen der großen Bosse?«
»Ja.«
Barnier lachte auf.
»Wenn dem so wäre, hätte ich den Job niemals angenommen.
Meinen Sie, ich setze mich in die Nesseln, wenn es sich vermeiden
lässt, Monsieur Commissaire?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ja
nicht lebensmüde!«
Ich überlegte einen Moment. Bislang klang die Story ganz
einleuchtend. Aber irgendetwas war faul daran, das fühlte ich. Und
mein Instinkt hatte mich selten getrogen. Ich konnte noch nicht
genau sagen, was mich eigentlich so an der Aussage dieses Mobsters
störte. Vielleicht war es die Art und Weise, in der sie erfolgt
war.
Die plötzliche Wendung, die er vollzogen hatte, wirkte auf
mich nach wie vor nicht sonderlich überzeugend.
»Was ist mit Clément Degresse?«, hakte ich nach.
Barnier zuckte die Achseln.
»Was soll mit dem sein?«
»Sollten Sie Degresse vielleicht auch die Beine brechen oder
ihn mit einem Elektroschocker bearbeiten?«
»Wir hatten nur den Auftrag, uns um Honier zu kümmern. Wer
weiß, vielleicht wäre Degresse später drangekommen. Das kann ich
nicht sagen. Ich habe Monsieur Perlot schließlich keine Löcher in
den Bauch gefragt, sonst hätte er den Job wohl auch jemand anderem
gegeben.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo Degresse zurzeit steckt?«
»Nein. Keine Ahnung.«
»Vielleicht kann Monsieur Perlot uns diese Frage beantworten«,
mischte sich François ein.
Ich wandte mich an den Polizisten, der neben Barnier
stand.
»Abführen! Vielleicht bekommen unsere Verhörspezialisten noch
etwas mehr heraus.«
»Okay«, nickte der Polizist.
»Sollten wir nicht vorher noch ein Polaroid von den Jungs hier
schießen?«, mischte sich François ein. »Ich bin gespannt darauf, ob
Perlot die Truppe wiedererkennt!«
»Der wird natürlich alles abstreiten«, stieß Barnier hervor.
»Aber was ich gesagt habe, ist die Wahrheit!«
»Wir werden sehen«, sagte ich.
9
Von seiner Adresse abgesehen, wussten wir nicht viel über Eric
Perlot. Norbért Navalle, unser Fachmann für Betriebswirtschaft,
hatte allerdings die Vermutung, dass Eric Perlot als Strohmann für
irgendeinen anderen Geldgeber fungierte, der sich lieber im
Hintergrund halten wollte.
Eric Perlot bewohnte ein Penthouse in der Innenstadt. Sobald
unsere Anwesenheit am Tatort entbehrlich war, machten wir uns
dorthin auf den Weg. Die Commissaire Léo Morell und Josephe
Kronbourg fuhren mit ihrem Einsatzwagen hinter uns her. Bei dem
gegebenen Anfangsverdacht gegen Perlot mussten wir ihn vorläufig
festnehmen. Einen Haftbefehl brauchten wir nicht. Schließlich war
Gefahr im Verzug. Zu dem Gebäude, in dem sich Eric Perlots
Penthouse befand, gehörte eine Tiefgarage, was die leidige
Parkplatzsuche erheblich erleichterte.
Mit dem Aufzug ließen wir uns in den 12. Stock des exklusiven
Apartmenthauses bringen, in dem Eric Perlot residierte.
»Perlots Geschäfte können ja nicht so schlecht laufen, wenn er
sich hier ein Penthouse leisten kann«, meinte François.
»Barniers Aussage nach ist ihm das Stück, das er vom großen
Kuchen abbekommt, offenbar noch nicht groß genug«, erwiderte
ich.
»Ist doch immer dasselbe, Pierre.«
»Was?«
»Dass einer einfach nicht genug kriegen kann. Ich meine, mehr
als zwei Handgelenke, an denen du eine Rolex tragen kannst, hast du
doch nicht, und es reicht doch eigentlich auch, mit einer
Luxuskarosse durch die Gegend zu fahren.«
»Das sagt jetzt einer, dem der komplette Fuhrpark der FoPoCri
Marseille zur Verfügung steht, François!«
»Ha, ha, sehr witzig. Du weißt schon, was ich meine,
Pierre.«
Ich nickte.
»Mit den Summen, die selbst unteren Mobster-Rängen wie diesem
Barnier von ihren Auftraggebern gezahlt werden, können unsere
Gehälter nicht konkurrieren. Aber wir haben ja wohl noch ein paar
andere gute Gründe, die uns davon abhalten, auf die andere Seite zu
wechseln.«
»Allerdings, Pierre!«
Der Hauptgrund war natürlich, dass wir uns dem Kampf gegen das
Verbrechen verschrieben hatten. Wir glaubten daran, dass nicht
einfach nur das Recht des Stärkeren regieren durfte. Auch die
Schwachen hatten Anspruch auf Schutz und Gerechtigkeit. Und dafür
lohnte es sich zu kämpfen.
François‘ Handy schrillte. Er nahm den Apparat ans Ohr. Sein
Gesicht wurde ernst.
»Paul Honier hat es nicht geschafft«, wandte er sich im
nächsten Moment an mich.
Ich ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten.
»Verdammt!«
Wir setzten unseren Weg fort.
Zwei bullige Bodyguards patrouillierten vor dem Eingang der
Wohnung. Und das in einem Apartmenthaus, das ohnehin über einen
ziemlich hohen Sicherheitsstandard verfügte. Ein privater Security
Service trat überall mit schwarz uniformierten Männern in
Erscheinung und außerdem waren in allen Korridoren, in den
Liftkabinen und im Parkhaus Kameras deutlich sichtbar angebracht.
Jeder, der mit dem Gedanken spielte, ein Verbrechen zu begehen,
sollte wissen, dass er beobachtet wurde, so lange er sich im Haus
befand.
Josephe Kronbourg sprach aus, was auch mir im Kopf
herumschwirrte.
»Monsieur Perlot scheint sich auf ungebetenen Besuch gut
vorbereitet zu haben.«
»Wir können ihn ja gleich mal fragen, wen er da im Einzelnen
so erwartet«, murmelte ich.
Wir hielten den Bodyguards unsere Ausweise hin.
»FoPoCri Marseille. Wir müssen mit Monsieur Perlot sprechen«,
sagte François.
»Monsieur Perlot ist beschäftigt«, erklärte uns der Kleinere
der beiden und grinste dreckig. »Ich schlage vor, dass Sie mit ihm
einen Termin ausmachen.«
»Und ich schlage vor, dass Sie Ihrem Boss jetzt ganz schnell
Bescheid sagen, sonst verhaften wir Sie wegen Behinderung unserer
Ermittlungen«, mischte ich mich ein.
Die beiden sahen sich gegenseitig an.
»Einen Moment«, meinte schließlich der Größere der beiden.
»Warten Sie hier!«
Er passierte eine Tür, schloss sie hinter sich. Ein paar
Augenblicke später kehrte er zurück und winkte uns herbei.
»Monsieur Perlot empfängt Sie.«
»Zu gütig«, erwiderte François sarkastisch.
Ich griff blitzschnell zur Waffe und sagte: »Bevor wir dort
hineingehen, legt ihr zwei eure Waffen auf den Boden und stellt
euch an die Wand!«
Léo und François zogen beinahe im selben Moment ebenfalls ihre
SIGs, Josephe seinen gewaltigen Colt Magnum vom Kaliber 4.57, den
er seit seiner Zeit bei der Polizei benutzte.
Die Leibwächter schluckten. Sich mit Polizisten anzulegen,
schien ihnen wohl doch zu heikel.
»Wir werden nur mal überprüfen, ob die Waffen ordnungsgemäß
registriert sind und die Personalien aufnehmen«, erklärte Josephe
Kronburg.
»Wir sind sauber«, knurrte der Größere der beiden.
»Werden wir sehen«, erwiderte ich kühl.
Die beiden gehorchten, legten ihre Waffen vorsichtig auf den
Boden und stellten sich an die Wand. Josephe und Léo nahmen die MPs
an sich, François und ich durchsuchten sie nach weiteren Waffen.
Wir fanden jeweils eine automatische Pistole vom Typ Remington 431
Special mit zehnschüssigem Magazin und ohne Sicherungsbügel. Eine
Waffe, wie geschaffen, um damit schnell aus der Hüfte zu
feuern.
Ich wandte mich an den Größeren der beiden.
»Jetzt können Sie uns Monsieur Perlot vorstellen!«
Der Leibwächter führte uns in einen großen Wohnraum mit hohen
Fensterfronten. Man hatte eine fantastische Aussicht.
Eric Perlot trug einen Morgenmantel. Auf dem flauschigen
Teppichboden lagen ein paar Wäschestücke verstreut, die
unzweifelhaft einer Frau gehörten.
Eric Perlot warf seinem entwaffneten Leibwächter einen
irritierten Blick zu. Ich hielt ihm meinen Dienstausweis unter die
Nase.
»Monsieur Eric Perlot?«
»Ja?«
Perlot strich sich das spärliche Haar zurück, deutete auf die
großen Ledersessel.
»Setzen Sie sich! Und nun sagen Sie mir am Besten so schnell
wie möglich, was Sie von mir wollen. Ich bin nämlich ein viel
beschäftigter Geschäftsmann und verdiene im Gegensatz zu Ihnen mein
Geld nicht im Sitzen.« Perlot ließ sich auf der Couch nieder,
lächelte selbstzufrieden. »Also raus mit der Sprache! Was wollen
Sie von mir? Es haben schon viele versucht, mir was am Zeug zu
flicken. Aber bislang hat es von diesen verdammten Staatsanwälten
noch keiner geschafft, eine Anklageschrift zustande zu bringen, die
durch die Voruntersuchung gekommen wäre. Ich bin also
gespannt.«
Ich zeigte ihm ein Foto, dass Robert Marvin Barnier
zeigte.
»Was soll das? Wer soll das sein? So eine hässliche Visage
habe ich lange nicht gesehen. Hat der Typ sich diese Tätowierung
auf der Glatze freiwillig machen lassen, oder hat man ihn dazu
gezwungen?« Perlot lachte dreckig.
»Dieser Mann behauptet, Sie zu kennen«, erklärte ich.
Perlot blickte auf, zog die Augenbrauen zusammen.
»Sie wollen mir was anhängen, ja? Ich lasse meinen Anwalt
holen. So einen Mist lasse ich nicht mit mir machen. Ich kenne euch
Kripo-Leute, euch ist jedes Mittel recht und …«
Ich unterbrach ihn.
»Alles was wir von Ihnen wollen, sind ein paar simple
Antworten auf ein paar simple Fragen.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer. Eine
Frau trat in den Wohnraum.
Das blonde Haar fiel ihr bis über die Schultern.
Ich schätzte sie auf Ende zwanzig.
Bis auf dunkle, breite Lederbänder um die Fußfesseln, die
Handgelenke und den Hals war das Girl vollkommen nackt. Sie
musterte uns nur kurz, ging durch den Raum und begann, ihre Kleider
vom Fußboden aufzusammeln. Als sie alles zusammengerafft hatte,
meinte sie in Eric Perlots Richtung: »Ich bin gleich weg!«
»Einen Moment!«, rief Perlot. Er stand auf, ging zu einem
Schrank, öffnete eine Schublade. Er holte eine Brieftasche hervor,
warf sie ihr zu. »Nimm dir die Hälfte, Celine!«
»Claro!«
Sie nahm sich sämtliche Scheine aus der Brieftasche und warf
sie zurück zu Perlot.
Dieser warf einen kurzen Blick in die leere Ledermappe und
verzog das Gesicht.
»Rechnen kann sie offenbar nicht so besonders …«
»Ich wette, sie hat andere Vorzüge«, meinte François, während
sie im Schlafzimmer verschwand.
Ich deutete auf das Foto, das Barnier zeigte.
»Dieser Mann beschuldigt Sie, ihn beauftragt zu haben, Paul
Honier in die Mangel zu nehmen. Honier sollte Ihnen seine Anteile
am Dansant verkaufen.«
»Das ist eine Lüge. Glauben Sie diesem dahergelaufenen
Kriminellen etwa?«
»Seine Aussage hat eine gewisse Logik!«
»Das ist doch Mist, was Sie da sagen!«
»Ihre Leute haben ganze Arbeit geleistet. Honier ist
tot.«
»Um Gottes Willen! Das ist traurig, aber ich habe damit nichts
zu tun! Das ist die Wahrheit!«
»Barnier hat keinen Grund uns anzulügen, Monsieur Perlot«,
mischte sich François in das Verhör ein.
»Messieurs! Sie müssen mir glauben! Ich bin sauber!«
»Wir werden Sie zur Dienststelle mitnehmen müssen, Monsieur
Perlot«, kündigte ich an.
Ihm fiel der Kinnladen herunter.
»Was soll das heißen? Bin ich verhaftet?«
Ich nickte.
»Ja. Alles, was Sie von nun an sagen, kann vor Gericht gegen
Sie verwendet werden …«
Der in François‘ Nähe stehende Bodyguard bewegte sich.
François riss die SIG hervor, richtete den Lauf in Richtung des
Gorillas.
Perlot hob die Arme.
»Lass gut sein, Rico!«, wandte er sich an den bulligen
Leibwächter. »Die Messieurs hier tun wahrscheinlich nur ihre
Pflicht. Mein Anwalt wird schon dafür sorgen, dass ich spätestens
in achtundvierzig Stunden wieder auf freiem Fuß bin.« Er kicherte,
richtete seinen Zeigefinger in meine Richtung, als ob es sich um
den Lauf einer Waffe handelte. »Und Sie beide werden eine
Dienstaufsichtsbeschwerde an den Hals kriegen, Monsieur …«
»Marquanteur! Ich sehe dem gelassen entgegen, Monsieur
Perlot.«
»Sie werden mir ja wohl noch gestatten, mich vorher
anzuziehen.«
»Natürlich. Vorher nur noch eine Frage.«
»Nicht ohne meinen Anwalt!«
»Können Sie sich denn selbst belasten, wenn Sie uns über den
gegenwärtigen Aufenthaltsort von Monsieur Clément Degresse Auskunft
geben?«
Perlot sah mich mit großen Augen an. Sein Gesicht war zur
Maske erstarrt.
Er schluckte, öffnete halb den Mund, so als wollte er etwas
sagen. Aber kein Laut kam über seine Lippen. Schließlich brachte er
gepresst hervor: »Sie können mich mal!«
Inzwischen hatte sich die Mademoiselle, das von Eric Perlot
Celine genannt worden war, angezogen.
Sie trug einen sehr knappen Ledermantel, der die endlos langen
Beine so gut wie frei ließ.
»Wir sehen uns …«, säuselte sie in Perlots Richtung. Sie
wandte sich an mich. »Ich hoffe, Sie wollen mich nicht auch noch
verhaften, Monsieur Commissaire!«
Offenbar hatte sie vom Schlafzimmer aus alles mit
angehört.
»Ich sehe keinen Anlass dafür«, erwiderte ich.
»Was für ein Glück für mich.« Sie lächelte geschäftsmäßig.
»Aber vielleicht sieht man sich ja mal bei anderer Gelegenheit,
Jungs.«
Damit ging sie davon.
Für uns gab es auch keinen Grund sie aufzuhalten.
In diesem Augenblick schrillte mein Handy. Am anderen Ende der
Verbindung war Monsieur Marteau.
»Wir wissen jetzt, wo sich Monsieur Degresse aufhält«,
berichtete er.
10
Der Tatort befand sich in einer Fabrikhalle im
Industriegebiet. Seit sechs Wochen hatte bei dem
Maschinenbau-Zulieferer Westier der Betrieb geruht. Die Firma war
insolvent und gehörte jetzt der Deutschen Bank. Eine Kommission von
Sachverständigen hatte am frühen Nachmittag damit begonnen, den
gegenwärtigen Wert der Fabrikanlage festzustellen. Dabei war ein
grausiger Fund gemacht worden.
Jetzt wimmelte es auf dem Gelände überall von Einsatzwagen der
Polizei.
François und ich betraten die Fabrikhalle.
Josephe Kronbourg und Léo Morell folgten uns. Sie hatten Eric
Perlot in ihrer Mitte. Er trug Handschellen. Wir wollten, dass
Perlot sah, was hier gefunden worden war. Vielleicht brach er sein
Schweigen.
Eine hübsche Mittdreißigerin mit langer, roter Mähne begrüßte
uns.
»Police Inspecteur Christine Jordan,«, stellte sie sich vor.
»Ich leite den Einsatz hier.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Commissaire Pierre
Marquanteur. Was hat sich hier abgespielt?«
Christine Jordan deutete in Richtung der herabgelassenen
Haken. Auf dem Boden war überall Blut. Das Hallentor war von
mehreren Dutzend Einschüssen durchlöchert worden.
»An den Haken hingen die Körper von zwei Männern, die mit
MP-Salven offenbar regelrecht durchsiebt worden sind. Die Toten
sind inzwischen schon in der Gerichtsmedizin. Sie trugen beide
Papiere bei sich, so dass es leicht war, sie zu identifizieren. Und
da Sie im Moment nach einem Mann namens Clément Degresse fahnden,
haben wir Ihr Büro gleich verständigt.«
»Wann fielen hier die Schüsse?«
»Könnte schon ein paar Tage her sein. Der Gerichtsmediziner
wollte sich da aber noch nicht so genau festlegen.«
»Und wer ist der zweite Tote?«
»Sein Führerschein lautet auf den Namen Conrad
Bouillot.«
Ich wandte mich an Eric Perlot.
»Kennen Sie jemanden, der so heißt?«
»Nein.« Perlot war kreideweiß geworden. Er schluckte, presste
hervor: »Vermutlich wollen Sie mir das jetzt auch anhängen.«
»Ist doch auffällig: Innerhalb kurzer Zeit werden Ihre beiden
Partner umgebracht. Jetzt ist die Bahn frei für Sie!«
»Das ist doch Unsinn! Meine Anwälte werden Ihre an den Haaren
herbeigezogene Indizienkette so zerpflücken, dass nichts mehr davon
übrig bleibt!«
»Darauf bin ich gespannt.«
François schaltete sich in das Gespräch ein.
»Wie erklären Sie sich denn die Morde an Honier und
Degresse?«
»Soll ich vielleicht Ihren Job machen?«
»Das Dansant ist ein Umschlagplatz für sogenannte
Designer-Drogen«, stellte François fest.
»Was?«, fuhr Perlot auf. »Kommen Sie mir mit Beweisen, nicht
mit Unterstellungen!«
»Wer ist der große Lieferant für die Pillen?«, fragte
ich.
»Woher soll ich das wissen?«
»Sie stecken tief drin, Perlot. Tiefer, als Sie vielleicht
glauben. Ihr Anwalt wird Ihnen dasselbe erzählen. Barniers Aussage
wird Sie für dreißig Jahre in den Knast bringen. Vielleicht
überlegen Sie es sich ja noch und packen aus.«
»Ich habe mit diesen Morden nichts zu tun«, beteuerte er.
»Okay, ich konnte die Art und Weise nicht leiden, mit der Degresse
sich überall eingemischt hat und alles bestimmen wollte …«
»Degresse war unser Informant«, offenbarte ich.
Ich wartete Perlots Reaktion ab.
Sein Kinnladen sackte hinunter. Er vergaß, den Mund wieder zu
schließen.
»Und?«, fragte er gepresst. »Was hat er Ihnen denn für
Lügenmärchen erzählt? Wenn einer im Pillengeschäft steckte,
höchstens er!«
»Vielleicht überlegen Sie sich noch mal, ob Sie uns nicht doch
etwas mehr anbieten als Ihre bisherigen Ausflüchte«, erwiderte ich
kühl. »Wenn Sie nämlich wirklich so unschuldig sind, wie Sie
behaupten, könnten Sie auf der Liste dieses unbekannten Killers der
Nächste sein, Monsieur Perlot!«
Ich ließ ihn stehen. François Leroc und Léo Morell blieben in
seiner Nähe. Josephe Kronbourg blickte sich inzwischen etwas in der
Halle um und sprach mit einem der Erkennungsdienstler. Ich wandte
mich an Christine Jordan. Wir gingen an den herabhängenden
Lasthaken vorbei.
»Hier hat eine brutale Hinrichtung stattgefunden«, erklärte
Madame Jordan. »Wir haben übrigens einen Koffer sichergestellt. Er
enthielt 500 000 Euro in kleinen und offensichtlich gebrauchten
Scheinen.«
Ich pfiff durch die Zähne.
»Wer hatte das Geld bei sich?«
»Mit großer Wahrscheinlichkeit Degresse.«
»Dem Täter war das Geld offensichtlich vollkommen
gleichgültig.«
Christine Jordan nickte.
»Das passt auch zu den Begleitumständen dieses Mordes. Da
wollte jemand Rache nehmen und hat seinem Hass freien Lauf
gelassen. Die Opfer sind regelrecht durchsiebt worden.«
Ein paar Gedanken gingen mir durch den Kopf.
»Könnte das Geld für diesen Conrad Bouillot bestimmt gewesen
sein?«
»Ohne weiteres.«
»Hatte Bouillot etwas bei sich, das als Gegenwert betrachtet
werden könnte?«
Christine Jordan schüttelte den Kopf.
»Sie denken, dass hier ein Deal mit Designerdrogen
stattgefunden hat.«
»Ja.«
»Wir können das natürlich nicht ausschließen. Aber die Frage
ist doch, wieso der oder die Täter den Pillenkoffer mitgenommen,
den Geldkoffer aber hiergelassen haben!«
Vielleicht steckte auch etwas ganz anderes dahinter. Etwas,
das im Moment einfach nicht in unserem Blickfeld lag. Eine
Erpressung vielleicht? Jedenfalls hatte eine Geldübergabe
stattfinden sollen. Aus welchem Grund auch immer. Bouillot und
Degresse waren dabei vom Mörder überrascht worden.
Ich ging zurück zu Perlot.
»Packen Sie aus!«, forderte ich. »Die ganze Sache ist ein paar
Nummern zu groß für Sie.«
»Ich will einen Anwalt«, knurrte er. »Sofort!«
»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was Degresse mit einer
halben Million Euro wollte?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Degresse im Pillengeschäft
war. Nicht Honier oder ich! Aber Sie haben ja Ihre vorgefasste
Meinung und wollen mich unbedingt in den Knast bringen.«
Ich atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn weiter zu machen,
bevor wir nicht eine Auswertung der vorhandenen Spuren vorliegen
hatten.
11
Im Verlauf der nächsten zwei Tage sahen wir etwas klarer. Der
Killer, den ich in der Bahnstation hatte festnehmen können, war
noch immer nicht vernehmungsfähig. Er lag in der Klinik. Sein
Zimmer wurde von Polizisten bewacht. Wir wussten inzwischen seinen
Namen. Er hieß eigentlich Gregoire Bento, hatte in den letzten zehn
Jahren unter falscher Identität gelebt und galt unseren
Fahndungsdateien nach als skrupelloser Lohnkiller. Die Notoperation
hatte Bento zunächst gut überstanden. Dann war es zu Komplikationen
gekommen. Er war gegen eines der verwendeten Medikamente allergisch
und stand unter Schock.
Auch über Conrad Bouillot wussten wir jetzt mehr. Er hatte mit
Degresse vor einigen Jahren eine Zelle im Gefängnis geteilt.
Bouillot hatte wegen eines Drogendelikts eingesessen, Degresse
wegen Körperverletzung. Bouillot hatte in der Folgezeit für
verschiedene Unterweltgrößen als Mann fürs Grobe gearbeitet.
Offiziell hatte er zuletzt einen Job auf Pointe-Rouge gehabt. Er
war Geschäftsführer des Léger Paradis gewesen, einer Nobeldisco,
von der wir annahmen, dass sie unter Kontrolle eines
Drogensyndikats stand.
Commissaire Norbért Navalle erläuterte uns in Monsieur
Marteaus Besprechungszimmer die komplizierte Firmenkonstruktion,
durch die es diesem Syndikat möglich war, das Léger Paradis zur
Geldwäsche und als idealen Verteilerpunkt für Designerdrogen zu
nutzen.
»Der gegenwärtige Besitzer heißt Ronny Laterre«, erklärte
Norbért. »Ein ehemaliger Türsteher, von dem kein Mensch weiß, wie
er plötzlich genug Geld aufbringen konnte, um das Léger Paradis zu
kaufen.«
Monsieur Marteau runzelte die Stirn.
»Gibt es eine Vermutung, wer dahinter stecken könnte?«
Norbért nickte.
»Hervé Malreaux. Er gilt als der Kopf dieses kriminellen
Netzwerks, das seine Aktivitäten offenbar vom gewöhnlichen
Rauschgifthandel zu diesen Designer-Pillen verlagert hat.«
»Aber welchen Grund hätte Degresse gehabt, für uns als
Informant zu arbeiten, wenn er tatsächlich beim Vertrieb der Pillen
die treibende Kraft war«, gab François zu bedenken.
Norbért hob die Augenbrauen.
»Möglicherweise gab es für das Dansant einen anderen
Lieferanten.«
»Sie meinen jemanden, der Honier näher stand?«, vermutete
Monsieur Marteau.
»Genau! Perlot und Degresse bekamen vielleicht ein gutes
Angebot von Hervé Malreauxs Leuten und mussten Honier
loswerden.«
»Das hieße, Degresses Tod ginge auf Honiers Konto«, schloss
unser Chef.
Norbért hob die Augenbrauen.
»Wäre das so abwegig?«
Jetzt meldete sich Maxime Valois, einer unserer Innendienstler
aus der Fahndungsabteilung zu Wort.
»Das würde in der Tat passen. Bei den Verhören von Perlot
sowie Barnier und seinem Komplizen waren jeweils Anwälte anwesend,
die für die Kanzlei Brock, Alvar & Donner arbeiten. Dieselbe
Kanzlei, die Hervé Malreaux in all den Prozessen vertrat, die der
Kerl in den letzten zehn Jahren geführt hat. Und das waren einige
…«
Barnier, der Killer mit dem Blitz-Tattoo auf der Stirn, hatte
seine uns gegenüber gemachte Aussage revidiert und behauptet, sie
sei unter Druck zustande gekommen. Er schwieg jetzt ebenso eisern
wie Perlot. Unsere Verhörspezialisten hatten sich die Zähne an
ihnen ausgebissen.
Was Perlot anging, so konnte der es sich vielleicht leisten zu
pokern. Aber Barnier war auf jeden Fall wegen Mordes dran. Er hatte
eigentlich nichts zu verlieren. Für ihn ging es um Kopf und Kragen.
Die Beweislage war klar, es war nur noch die Frage, ob er die
Schuld wirklich allein auf sich nehmen wollte.
Offenbar hatte er die Absicht. Es sah ganz so aus, als hätte
er eine Schweige-Order von ganz oben erhalten. Vielleicht von Hervé
Malreaux persönlich. Ich fragte mich, womit diese Leute Barnier in
der Hand hatten.
»Irgendetwas passt da noch nicht zusammen«, fand ich.
»Degresse hat versucht, die FoPoCri für seine Zwecke zu
benutzen«, erklärte Monsieur Marteau. »Das schmeckt mir genauso
wenig wie Ihnen. In Zukunft werden wir noch vorsichtiger sein
müssen, um solchen Typen nicht auf den Leim zu gehen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich spreche von etwas anderem. Mir geht einfach nicht aus dem
Kopf, dass wir in der Fabrikhalle von Westier nur einen
Geldkoffer, aber keine Ware gefunden haben. Weder Pillen noch
irgendetwas anderes.«
Monsieur Marteaus Gesicht zeigte einen nachdenklichen
Ausdruck. Er wandte sich an Maxime Valois.
»Mit dem Geld war doch alles in Ordnung, oder?«
»Ja. Es war weißes Geld. Absolut sauber. Der Täter hatten
keinen Grund, es nicht mitzunehmen.«
Monsieur Marteau nahm seinen Kaffeebecher vom Tisch, nippte
etwas daran.
»Wir werden jeden genau unter die Lupe nehmen müssen, der
irgendwie mit Bouillot oder Degresse in Zusammenhang stand.« Er
wandte sich an mich. »Pierre, ich möchte, dass Sie und François
sich diesen Ronny Laterre mal vornehmen. Bouillot war schließlich
Geschäftsführer im Léger Paradis.«
»In Ordnung, Monsieur Marteau«, antwortete ich.
Unser Chef wandte sich an Stéphane Caron, den
stellvertretenden Direktor in unserem Büro. »Ich möchte, dass Sie
alles über diesen Hervé Malreaux herausfinden, was es
herauszubekommen gibt. Und vor allen Dingen müssen wir an
Informationen darüber herankommen, ob das Syndikat jetzt das
Dansant in sein Imperium eingliedert.«
Stéphane hob die Augenbrauen.
»Wird schwer sein, da etwas herauszubekommen. Nachdem es die
Runde gemacht hat und sogar in der Zeitung zu lesen war, dass
Degresse unser Informant war, wird sich jeder hüten, mit uns
zusammenzuarbeiten.«
12
Hervé Malreaux trug das Haar zu einem Zopf zusammengefasst.
Der silberfarbene Zweireiher war maßgeschneidert.
Malreaux trat auf die Terrasse seiner Luxusvilla nördlich von
La Villette. Das Anwesen kopierte den protzigen Stil der
Großbürgerlichkeit. Nicht einmal zehn Jahre hatte Malreaux dazu
gebraucht, um ganz nach oben zu kommen. An die Spitze. Und diese
Position war er bereit mit allen Mitteln zu verteidigen. Er
lächelte selbstzufrieden.
Ein Helikopter näherte sich dem markierten Landeplatz, sank
tiefer und setzte schließlich auf.
Zwei Männer stiegen aus. Sie waren mit MPs bewaffnet und
zerrten einen dritten Mann aus dem Helikopter heraus. Es handelte
sich um einen hageren Mann mit dunklen Haaren und dünnem
Oberlippenbart. Seine Kleidung war blutbefleckt, das linke Auge
geschwollen.
Der Hagere wurde von beiden MPi-Schützen zur Terrasse geführt
und zu Boden geworfen. Er stöhnte auf.
Hervé Malreaux trat die vierstufige Treppe hinunter, näherte
sich dem am Boden liegenden Mann und drehte ihn mit der Fußspitze
herum.
»Romero, was machst du für Geschichten«, murmelte Malreaux.
Seine Stimme war kaum mehr als ein bedrohliches Wispern. Er verzog
das Gesicht. »Und dein Gesicht, Romero! Das sieht gar nicht gut
aus. Eine richtige Schlägervisage! So kenne ich dich ja gar
nicht!«
»Wir mussten ihn ein bisschen härter anfassen«, erklärte der
größere der beiden MPi-Männer. »Romero hatte nämlich keine Lust,
uns zu begleiten.«
Hervé Malreaux bleckte die Zähne wie ein Wolf.
»Ist es wahr? Romero, hast du irgendein Problem mit mir? Oder
wie kommt es, dass du meine freundliche Einladung zu einem Gespräch
einfach so ausschlagen wolltest?«
Ein ratschender Laut folgte. Die beiden Bodyguards luden ihre
MPs durch. Romero zuckte zusammen. Er zitterte leicht. Blut rann
ihm aus dem Mundwinkel heraus.
»Ich kann nichts dafür«, jammerte er. »Ich wusste doch nicht,
dass es Polizisten waren, mit denen sich Clément Degresse treffen
wollte.«
Hervé Malreauxs Fuß fuhr Romero in den Bauch. Romero stöhnte
auf.
»Du bist ein verdammter Narr, Romero!«
»Nein!«
Der zweite Tritt folgte.
Hervé Malreauxs Kopf wurde hochrot.