Ein Harry Kubinke Krimi
Der Umfang dieses Buchs entspricht 116
Taschenbuchseiten.
Die Yacht, mit einer angeblich großen Menge verschollenen
Kokains an Bord, explodiert mitten auf der Nordsee. Das Kokain,
verpackt in luftdichte Säckchen, wird auf die Küste zugetrieben.
Zufällig findet ein Hund eines dieser Päckchen und bringt es seinem
Herrchen, der den tödlichen Fehler macht, sich damit öffentlich zu
präsentieren.
Nun ist es die Aufgabe der beiden Kriminalinspektoren Kubinke
und Meier, nicht nur den oder die Mörder dieses Mannes zu
finden…
***
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Auf der Nordsee vor der Küste der Insel Sylt …
Die Sonne spiegelte sich im Wasser.
Ein steter Wind blies.
Und er trieb die Yacht voran.
Die Segel beulten aus.
Die Yacht kämpfte sich voran und durchnitt das schäumende
Meer.
En Wolken standen am Himmel.
Es war ein schöner Tag, mit idealen Segelbedingungen.
Das Meer konnte so friedlich sein.
Aber manchmal konnte sich um Handumdrehen alles ändern.
Dann wurde aus der Idylle etwas anderes.
Etwas, das man nicht einfach als Hölle bezeichnen kann,
sondern eher als ein Spiel von ungeheuer starken Gewalten, denen
der Mensch noch immer nichts gleichwertiges entgegenzusetzen
hat.
Das Meer, der Ozean…. Für den Menschen ist das nur ein guter,
solange das Wetter gut ist.
Und das ist bekanntermaßen launisch.
Allerdings gibt es noch ein paar andere Gefahren, die man
weniger auf dem Schirm hat.
Die größte Gefahr für eine Segelyacht sind die riesigen
Containerschiffe, die stur wie ein Roboter ihren Kurs fahren.
Riesige Blechwale, die alles unterpflügen, was ihnen in die
Quere kommt.
Und an Bord des Containerschiffs merkt vielleicht sogar
niemand, was passiert ist.
Rein statistisch ist dieses Risiko nicht zu
unterschätzen.
Und dann gibt es da noch eine andere Gefahr für Segelyachten
auf der Nordsee, die statistisch vielleicht nicht ganz so relevant
ist wie Containerschiffe, Monsterwellen oder ein plötzlicher
Sturm.
Angenommen, man hat Sprengstoff an Bord.
Und weiter angenommen, man weiß gar nichts davon.
Aber alles der Reihe nach…
„Hey, entspann dich!”, sagte Georg Raimund.
Er blinzelte gegen die Sonne.
Er stand am Steuerrad der Yacht.
Der Wind blähte die Segel.
Und Georg Raimund hatte gute Laune.
Sehr gute Laune.
Der grauhaarige, drahtig wirkende Mann grinste die junge Frau
an, die sich gegen die nautischen Armaturen lehnte. Der Wind hatte
ihr blondes Haar zerzaust. Sie sah traumhaft aus. Der Wind drückte
nämlich ihre Kleidung an den Körper und ließ sie eng anliegen, dass
ihre sexy Kurven gut zur Geltung kamen. „Ich bring den Deal auf
Sylt über die Bühne und dann tun wir beide gar nichts mehr.”
„Ach, Georg…”
„Jedenfalls nichts, was uns keinen Spaß macht, Katrina.”
„Ja, wirklich…”
„Du sagst immer so sachen!”
„Ich meine es auch so!”
„Ich weiß nicht…”
„Du kannst Gift drauf nehmen!”
„Was du immer redest…”
„Aber Gift nimmst du ja eigentlich schon regelmäßig!”
„Quatsch!”
„Wieso? Kokain ist auch sowas wie Gift.”
„Willst etwa gerade du jetzt den Moralapostel tun?”
„Nein.”
„Na, also!”
Katrina wirkte fast schlaftrunken.
Sie hatte eine Sanduhrfigur und tolle Brüste.
Georg Raimund stellte sich vor, wie sie ohne Kleidung aussah -
auch wenn die eigentlich nicht viel verbarg.
Sie versuchte, ihre Haare aus dem Gesicht zu bekommen und
machte ein paar wischende Bewegungen.
Aber das war vergeblich.
Der Wind hatte so seine eigenen Pläne mit ihrem Haar.
Der Wind, der Wind, die himmlische Macht, die man niemals
unterschätzen durfte, wie jeder gute Segler wusste…
Im übrigen galt das auch für ein paar andere Dinge.
Was den Wind anging, war Georg Raimund vorsichtig.
Schließlich war er ein erfahrener Skipper.
Was andere Dinge betraf, war er schon deutlich leichtsinniger
und sorgloser.
Sowas konnte sich rächen.
Aber in diesem Moment verschwendete Georg Raimund daran keinen
einzigen Gedanken. Zu sehr lenkte ihn die allgegenwärtige
Schönheit, die ihn umgab. Die schöne Frau, das schöne Wetter, die
schöne Yacht, die schönen Aussichten, was das Geschäftliche
betraf…
Zu viel Schönheit machte sorglos.
So ist das manchmal.
Nur ein kleines Wölkchen war da an diesem wunderschönen
HImmel, der den kommenden Sturm nicht ahnen ließ. Diese
wunderschöne Frau hatte ein bisschen schlechte Laune. Aber das
würde er wieder hinkriegen. Wer schöne Titten hat, darf auch ein
bisschen nörgelig sein, dachte Georg Raimund.
„Ich dachte, wir machen nur Urlaub, Georg!”
„Ja, machen wir ja auch.”
„Aber…”
„In Zukunft machen wir immer Urlaub!”
„Leere Versprechungen…”
„Nein!”
„Doch”, widersprach sie.
„Nein, genauso wird es sein. Genau so, wie ich sage.”
„Ach!”
Sie rieb sich die Nase. Sie war rot und wirkte
entzündet.
Das war ihr Schönheitsfehler.
Die rote Nase.
Die war eigentlich fast immer entzündet.
Und das hatte seinen Grund.
„Für die Menge an Koks, die du dir geschnupft hast, ist deine
Laune immer noch reichlich schlecht”, meinte Raimund.
Im nächsten Moment gab es einen Knall.
Der vordere Teil der Yacht explodierte. Eine Sekunde später
hatte die Yacht keinen Bug mehr. Wasser strömte ein, und ein Ruck
ging durch das Boot. Es senkte sich schnell abwärts. Aber die Fahrt
in die Tiefe hatte noch gar nicht begonnen, als eine weitere
Explosion das Heck zerriss.
Katrina wurde wie eine Puppe durch die Luft geschleudert. Ihr
Körper prallte gegen die Reling. Ihr Schrei erstarb, als der
Aufprall auf der Reling ihr das Rückgrat brach.
Georg Raimund klammerte sich an das Steuerrad. Dann schlug das
Wasser über ihm zusammen.
Er strampelte, versuchte zu schwimmen. Irgendetwas schlug
gegen seinen Kopf. Einige Augenblicke war er benommen. Er ruderte
mit den Armen. Dass er auf der Gesamtschule mal eine
Schwimmmeisterschaft gewonnen hatte, war Jahrzehnte her. Aber er
war immer noch ein guter Schwimmer, der es auch mit viel jüngeren
aufnehmen konnte. Allerdings dämmerte ihm, dass ihm dies wohl kaum
etwas nützen würde. Nicht so weit draußen in der Nordsee.
Mindestens 50 Kilometer lagen zwischen der letzten Position
der Yacht und der Küste. So weit konnte niemand schwimmen. Nicht
einmal jemand wie Georg Raimund.
Er hatte mal gehört, dass die Wikinger meistens nicht
schwimmen konnten und dass sie es auch gar nicht anstrebten, es zu
lernen.
Wenn man als Seefahrer schwimmen konnte, bedeutete das nämlich
nur, dass sich die Todesqualen verlängerten, wenn man gekentert
war.
Langsam begann begann Georg Raimund zu dämmern, wie Recht die
alten Seefahrer damit gehabt hatten…
Ihn schauderte.
Die Todesangst erfasste ihn. Panik machte sich breit. Er
erreichte die Oberfläche. Von der Yacht war kaum noch etwas zu
sehen. Einige Trümmerteile, die schnell sanken. Und ein paar
Päckchen, die ebenfalls noch an der Oberfläche hielten. Eines war
so nahe, dass ihm die Aufschrift geradezu ins Auge viel: MKM
SICILIANA stand dort in verschnörkelten und zu einem kunstvollen
Emblem miteinander verschmolzenen Buchstaben.
Verdammt!, ging es ihm durch den Kopf. So nah am Ziel - und
jetzt das Ende!
Er wusste, dass er seinen Tod nur hinauszögern, aber nicht
mehr verhindern konnte.
Das Spiel ist aus, dachte er. Für immer.
Alles hatte sich im Handumdrehen verändert.
Ein Bltt hatte sich gewendet.
Urplötzlich.
Wieder einmal.
2
Am Strand von Büsum…
Dietrich Bäumer nahm das Stück Treibholz und warf es so weit
er konnte.
„Na los! Hol es zurück!”, rief er.
Der etwas zottelige Terrier ließ sich das nicht zweimal sagen.
Er rannte hinter dem Holzstück her. Sein Bellen mischte sich mit
dem Rauschen der Brandung. Dietrich Bäumer ging barfuß. Er hatte
seine Hosen bis zu den Knien hochgekrempelt. Wenn eine Welle
besonders stark war, umspülte sie die Füße des siebzigjährigen,
etwas übergewichtigen Mannes.
Diesen Urlaub, dachte er, habe ich mir wirklich
verdient.
Und das seit langer Zeit!
Er atmete tief durch.
Der Wind blies ziemlich kräftig vom Meer her. Das rauschen des
Meeres mischte sich mit den Schreien der Möwen, die hoch oben am
Himmel kreisten. Scheißt mich bloß nicht voll!, dachte er.
Der Hund kehrte zurück.
Aber er hatte nicht das Stück Treibholz im Maul, sondern etwas
anderes.
„Na, was hast du denn da?”
Der Hund wedelte mit dem Schwanz und ließ sich das Päckchen
ohne Widerstand aus dem Maul nehmen. Das aufgedruckte Emblem fiel
ihm auf.
MKM SICILIANA.
Dietrich Bäumer öffnete es.
„Oh, mein Gott”, flüsterte er, nachdem er begriffen hatte, was
der Inhalt war. Bäumers Gesicht verlor fast vollkommen die
Farbe.
Er sagte zu dem Hund: “Na, da hast du aber was Schönes
angeschleppt!”
“Wuff!”, kam es zurück.
Fast wie eine bestätigende Antwort.
Und zu allem Überfluss ließ dann auch noch eine Möwen was
fallen.
Aber zumindest diese Bombe verfehlte Dieter Bäumer
deutlich.
3
Observationen können ziemlich langweilig sein.
Ob Privatermittler oder Polizeikräfte - was die Langeweile
betrifft, triift sie dasselbe Schicksal.
Lange Zeit passiert buchstäblich gar nichts.
Und wenn man Pech hat, geht dann alles plötzlich vielleicht so
schnell, dass man das Entscheidende gar nicht mitbekommt.
Alles schon vorgekommen.
Daniel Altan saß hinter dem Steuer seines SUV. Die Zeitung,
die er aufgeschlagen hatte, diente eigentlich nur der Tarnung. Sein
Partner Erkan Piper saß auf dem Beifahrersitz und hatte die andere
Hälfte des bunt bedruckten Boulevardblatts. Sie waren beide schon
seit Stunden mit der Observation eines Mannes beschäftigt, der sich
wahrscheinlich in Kürze mit jemandem traf, der ihm brisante
Firmengeheimnisse abkaufen würde.
Genau das waren die Fälle, auf die sich die Firma ALTAN &
PIPER, SECURITY & INVESTIGATION in den letzten Jahren
konzentriert hatte.
„Hast du schon den Bericht über den beknackten Rentner
gelesen, Daniel?”, fragte Piper.
„Welchen beknackten Rentner?”
„Der das Kilo Kokain am Strand gefunden hat. Und jetzt hat
sich der Blödmann damit in der Zeitung ablichten lassen. Ich wette,
der kommt sogar noch in die eine oder andere Talkshow.” Piper
schüttelte den Kopf. „Wie dumm kann man nur sein.”
Altan zuckte die Schultern.
„Wieso?”
„Was heißt hier wieso?”
„Wieso heißt wieso.”
„Na, muss ich dir das wirklich sagen?”
„Ja, ja.. Lass mich ruhig wie einen Doofi dastehen.”
„Warst du jetzt mal beim BKA oder steht das nur in unserer
Werbung, damit wir leichter Kunden einfangen können und mehr
Aufträge bekommen?”
„Nein, ich war wirklich beim BKA.”
„Okay…”
„Zehn Jahre lang.”
„Doch so lange?”
„So lange.”
„Also meiner Ansicht nach ist das wirklich das Bescheuertste,
was man machen kann, wenn man zufällig ein Kilo Kokain irgendwo
findet! Das gehört doch irgendjemandem!
„Alles gehört irgendjemandem!”
„Und die Typen wollen das sicher wiederhaben, weil es
schweineteuer ist.
„Logisch.”
„Und nette Leute sind das sicher nicht.”
„Ich nehme an, er hat es längst der Polizei gegeben”, sagte
Altan und sah nun in den Bericht vor sich. Ein älterer Herr hielt
ein Päckchen in die Kamera. Neben ihm saß sein Hund. Auf der
anderen Seite posierte ein Polizist. Ein Polizist aus Büsum, für
den das der Fall seines Lebens war, weil er es sonst wohl nur mit
gestrandeten Robben zu tun hat, ging es Altan durch den Kopf.
„Trotzdem!”, meinte Piper. „Wo ein Päckchen Kokain ist, da
sind doch noch mehr.”
„Du kennst dich da aus?”
„Ich versuche mich nur in die Typen hineinzuversetzen, die das
Zeug verloren haben.”
Altan überflog den Artikel. Er war eher gelangweilt.
Observationen waren noch nie so wirklich sein Ding gewesen. Schon
damals nicht, als er noch beim BKA gewesen war. Aber sie waren
damals wie heute nun mal ein wesentlicher und unerlässlicher
Bestandteil des Jobs. Wenigstens wurde jetzt, da er auf eigene
Rechnung arbeitete, auch anständig dafür bezahlt, dass er
stundenlang irgendwo herumsaß und sich mehr oder minder
langweilte.
Wahrscheinlich würde er diese Zeitung noch zehnmal lesen
müssen, ehe sich bei der Zielperson irgendetwas tat, was eine
Reaktion erforderte. Mit dem Handy herumspielen kam nicht in Frage.
Schließlich wollte er nicht, dass der Akku vorzeitig schwach
wurde.
Ein Detail an dem Zeitungsartikel ließ Altan dann plötzlich
stutzen.
Es war nichts, was in dem ziemlich reißerischen Text stand,
der mehr oder minder nur aus haltlosen Spekulationen bestand, weil
bislang wohl niemand wirklich wusste, wie das Kokain an den Strand
gelangen konnte. Es hatte mit dem großformatigen Foto zu tun.
Genauer gesagt mit der Aufschrift auf dem Päckchen.
MKM SICILIANA stand da in verschnörkelten und zu einem Emblem
miteinander verschlungenen Buchstaben.
Das darf doch nicht wahr sein!, ging es ihm durch den
Kopf.
Dieses Emblem hatte er schon einmal gesehen. Lange war es her
… Damals, als er noch Ermittler gewesen war …
Irgendwann kommt alles mal wieder an die Oberfläche, dachte
er. Jede Leiche und jedes Päckchen Kokain …
„Daniel! Da ist unser Typ!”
Pipers Stimme drang wie aus sehr weiter Ferne in Altans
Bewusstsein.
„Hey, bist du jetzt eigentlich bei der Sache, oder was ist
los, Daniel?”
4
BKA Bundesakademie, Quardenburg. Einige Tage später …
„Fortsetzung des vorläufigen Autopsieberichts zum Fall
Dietrich Bäumer. Das Opfer wurde auf die weiter oben bereits
beschriebene Weise gefoltert. Es ist anzunehmen, dass als Folge
dieser Folterungen schließlich ein Herz-Kreislaufversagen eintrat,
das zum Tod führte.”
Dr. Gerold M. Wildenbacher, der Gerichtsmediziner des
Ermittlungsteam Erkennungsdienstes hielt inne und setzte das
Diktiergerät ab. Der alte Mann auf dem Seziertisch war furchtbar
zugerichtet worden und musste schreckliche Schmerzen gehabt haben,
bevor er gestorben war. Offenbar war Dietrich einer ziemlich groben
Befragung unterzogen worden, die er nicht überlebt hatte.
„Ist es mir gestattet, unseren bayerischen Landarzt bei seinem
Vortrag vor sich selbst zu unterbrechen oder wäre das eine
ungebührliche Kränkung Ihres Egos, Gerold?”, fragte eine Stimme mit
unverkennbar hamburgischem Akzent.
Gerold drehte sich um. In der Tür des Sezierraums stand Dr.
Friedrich G. Förnheim, der von allen anderen Mitgliedern des Teams
nur kurz FGF genannte Naturwissenschaftler und Ballistiker.
„Wenn es was wirklich Wichtiges ist, FGF, dann will ich über
diese Kränkung hinwegsehen”, sagte Gerold etwas knurrig.
Friedrich warf einen kurzen Blick auf den Toten.
„Sind Sie schon weitergekommen, was die Todeszeit angeht? Wie
auch immer, die spielt eigentlich kaum eine Rolle. Herr …”
„Bäumer. Dietrich Bäumer.”
„… mag zwar erst vor kurzem umgekommen sein, aber der Fall ist
trotzdem ein Cold Case.”
„Sie wollen mich jetzt auf den Arm nehmen?”
„Mitnichten. Ich weiß, dass man bei Ihnen in Bayern nur
vergleichsweise einfache Witze goutiert und einen etwas, nun sagen
wir mal, rustikaleren Begriff von Humor haben, während die
hamburgische Variante dieses menschlichen Kulturgutes weltweit
geschätzt wird.”
„Kommen Sie auf den Punkt, FGF!”
„Der Punkt ist, dass ich soeben die Analyse des Kokains
abgeschlossen habe, das dieser arme Mann vor einiger Zeit am Strand
gefunden hat. Und die Vermutung, dass das plötzlich erwachte
Interesse eines unbekannten Folterknechts irgendetwas mit diesem
Drogenpäckchen zu tun hatte, mit dem sich unser Freund dann auch
noch in der Öffentlichkeit zeigte, ist Ihnen ja auch schon
gekommen.”
Gerold hob die Augenbrauen. Auch wenn Friedrich ihm oft genug
gestelzt und umständlich erschien, fachlich war nichts gegen ihn zu
sagen und daher schätzte der Gerichtsmediziner die Unterstützung
durch seinen Kollegen ungemein. Allerdings vermied er es tunlichst,
das zuzugeben. Schließlich hätte das wohl nur dazu beigetragen,
dass der immerhin mit zwei Doktortiteln ausgestattete Friedrich G.
Förnheim dann vielleicht nur noch mehr in seiner
hamburgisch-herablassenden Art bestärkt worden wäre.
„Worauf wollen Sie hinaus?”, fragte der
Gerichtsmediziner.
„Wenn man Kokain analysiert, findet man da meistens jede Menge
Zusatzstoffe. Wie allgemein bekannt ist, verkaufen Dealer immer
gerne so wenig wie möglich Kokain und so viel, wie möglich von
irgendetwas anderem, was nicht ganz so wertvoll ist. Und das exakte
Mischungsverhältnis ist wie ein Fingerabdruck für eine bestimmte
Kokain-Charge.”
Gerold Wildenbacher hob die Augenbrauen.
Das ließ den den erfahrenen, wenngleich etwas zur Gemütsarmut
neigenden Forensiker aufhorchen.
Er sagte: „Und diese spezielle Charge ist schon mal irgendwann
aufgefallen, nehme ich an.”
„So ist es Kollege!”, bestätigte Friedrich G. Förnheim.
„Dachte ich es mir doch!”
„Sie wurde vor Jahren in Frankfurt konfisziert, als dort ein
großer Drogendeal aufgeflogen ist. Die Zusammensetzung ist sehr
charakteristisch, da kann es keinen Zweifel geben. Und noch ein
Merkmal passt dazu.”
„Welches?”
„Die Verpackung.”
„Hat die in diesem Fall eine Aussagekraft?”
„Und ob.”
„Spannen Sie nmich nicht auf die Folter, sondern kommen Sie
zur Sache!”
„Die Drogen stammten den mir zugänglichen Daten nach aus
Sizilien und wurden in einer Waschmittelfabrik verpackt. Dort haben
Mafiafamilien mit Drogenhandel einen Teil ihrer Finanzen
bestritten. Auf der Packung stand MKM SICILIANA, das Emblem dieser
Waschmittelfabrik. Die Maschinen waren wohl so eingestellt, dass
das automatisch geschah.”
Wildenbachers Stirn bekam eine tiefe Furche.
Sie wirkte irgendwie nachdenklich.
„Okay, und was bringt das jetzt an neuen Erkenntnissen im
Hinblick auf Dietrich Bäumer?”
„Noch gar keine”, sagte Friedrich Förnheim. „Aber der Fall ist
insofern ein Cold Case, weil ein Teil des Rauschgifts nie
aufgetaucht ist.”
„Hm…”
„Die Menge, die man konfiszieren konnte, war viel kleiner als
die, die mutmaßlich eingeführt wurde.”
„Interessant!”
„Allerdings!”
„Das jetzt noch einmal ein Kilo davon auftaucht, sollte
gewisse Abteilungen bei uns neugierig machen”, stimmte Gerold
zu.
„Nicht nur ein Kilo, Gerold.”
„Wie bitte?”
„Inzwischen sind an mehreren Küstenabschnitten der Nordsee
Kokainpakete mit dem Aufdruck MKM SICILIANA angeschwemmt
worden.”
„Dann sollten Sie jetzt wohl ein paar Telefongespräche
führen!”, schlug Gerold vor.
„Ich wusste, dass Sie so etwas sagen würden.”
„Ich werde noch den Bericht zu Ende bringen. Dann haben die
Kollegen schon mal etwas mehr in der Hand.”
„Ich werde Ihre gerichtsmedizinische Glanzleistung schon mal
gebührend ankündigen, Gerold!”, erklärte Friedrich Förnheim.
„Dieser Fischkopp”, murmelte Gerold wenig später - aber erst
als Friedrich bereits wieder den Raum verlassen hatte. Gerold
wandte sich unterdessen wieder der Leiche zu. „Wir finden heraus,
wer dich ermordet hat”, murmelte er. „Darauf kannst du dich
verlassen!”
Auch wenn viele dem Gerichtsmediziner das Gemüt eines
Schlachtergesellen attestierten, so hatte er doch zweifellos zu
Toten auf seinem seziertisch auf seine Weise ein sehr inniges
Verhältnis. Man hätte es fast emotional nennen können.
5
Wie üblich hatte ich Rudi an diesem Morgen an der bekannten
Ecke abgeholt, um dann mit ihm zusammen zum Hauptpräsidium in
Berlin zu fahren. Dort hatten wir unsere jeweiligen Büros. Ich bin
Kriminalinspektor Harry Kubinke. Mein Kollege Rudi Meier und ich
sind Ermittler des BKA in Berlin, was die Abkürzung für
Bundeskriminalamt ist, falls Sie das nicht wissen sollten.
„Hast du heute Morgen auch ein paar Mails mit umfangreichen
Anhängen bekommen?”, fragte ich meinen Kollegen, nachdem er sich
neben mich auf den Beifahrersitz des Dienst-Porsches gesetzt
hatte.
Rudi sah mich etwas erstaunt an, während ich bereits
weiterfuhr und mich in den fließenden Verkehr eingereiht hatte.
Unglücklicherweise wollen in Berlin die meisten Leute ungefähr zur
selben Zeit zur Arbeit und dementsprechend voll ist es dann auf den
Straßen der Bundeshauptstadt. Aber da wir immer einen gewissen
zeitlichen Puffer einplanten, würden wir vermutlich pünktlich sein.
Zumindest, wenn nichts Unvorhergesehenes geschah.
„Ich habe meine Mails heute Morgen noch nicht gecheckt”,
bekannte Rudi. Er unterdrückte ein Gähnen. „Und wenn ich es mir
recht überlege, werde ich das auch nicht eher tun, als wir beide
das Hauptpräsidium betreten haben.”
Ich grinste.
„Dann beginnt die Dienstzeit.”
„Siehst du das etwa anders, Harry?”
„Aber das gilt nur, wenn wir gerade keinen Fall haben.”
„So ist es.”
„Und das dürfte ab heute der Vergangenheit angehören.”
„Wieso das, Harry? Weißt du schon etwas, was ich nicht
weiß?”
„Wie sollte das der Fall sein?”
Rudi zuckte mit den Schultern.
„Kriminaldirektor Hoch könnte dich bereits im Wagen über
irgendetwas informiert haben, was ich dann wohl erst sehr viel
später im Meeting erfahren werde.”
Ich lächelte. „Nein, das ist es nicht. Ich habe eben nur schon
meine Mails gecheckt. Und diejenige, die wichtig war, kam von FGF,
inklusive umfangreicher Datendossiers. Ich will jetzt nicht
behaupten, dass ich auf die Schnelle schon alles verstanden habe,
aber hat wohl mit diesem Typen zu tun, der ein Paket Kokain am
Strand von Büsum gefunden hat.”
„Habe ich von gehört. Man konnte ihm nicht ausweichen. Er war
in den Zeitungen, im Radio und in mindestens zwei Talkshows”, sagte
Rudi.
„Erstens wurde der Kerl ermordet und vorher wohl ziemlich übel
zugerichtet, weil jemand was aus ihm herauskriegen wollte.”
„Wahrscheinlich derjenige, dem das Kokain gehört”, vermutete
Rudi.
„Zweitens gehört das Paket nach Analyse von FGF zu einer
Charge, von der vor Jahren ein Teil konfisziert wurde, während man
nach dem Rest bis heute sucht und …”
„Hört sich an, als käme auch noch drittens!”
„Es ist nicht das einzige Päckchen von dem Stoff, das man an
den Nordsee-Stränden von Schleswig-Holstein und Niedersachsen
gefunden hat.”
„Da scheint jemand eine Ladung Drogen ganz schnell über Bord
geworfen zu haben, um sie loszuwerden, um sie nicht der Küstenwache
erklären zu müssen.”
„Ich wette, wir erfahren gleich etwas mehr, Rudi.”
„Auf jeden Fall war es ganz bestimmt alles andere als eine
gute Idee, mit einem Kilo Kokain lächelnd vor irgendeiner Kamera zu
posieren.”
„Schätze, es wird unsere Aufgabe sein, herauszufinden, was der
Hintergrund ist.”
„Und der gute Herr Dr. Dr. Förnheim war mal wieder ein
bisschen übereifrig und hat die Datenpakete schon losgeschickt,
bevor wir den Fall offiziell auf dem Tisch haben.”
„Wir haben ihn auf dem Tisch, Rudi. So oder so. Nur wissen wir
offiziell noch nichts davon.”
6
„Guten Morgen”, begrüßte uns Kriminaldirektor Hoch. Unser
Vorgesetzter hatte die Hände tief in den weiten Taschen seiner
Flanellhose vergraben. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt. Die
Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals.
Wir setzten uns.
„Sie haben bereits umfangreiche Datenpakete zu Ihrem neuen
Fall in Ihren Mailfächern. Mit den Einzelheiten werden Sie sich
selbst vertraut machen können. Es geht um einen Cold Case, der nun
durch den brutalen Mord an einem Rentner, der ein Kilo Kokain am
Strand fand, wieder aktuell geworden ist.
„Wie viele Funde von Kokain-Paketen hat es inzwischen
gegeben?”, fragte ich.
Kriminaldirektor Hoch hob die Augenbrauen.
„Wie ich sehe, haben Sie sich bereits im Groben mit dem Fall
beschäftigt oder zumindest Ihre Mails gelesen.”
„Ja.”
„Heute Morgen wurde Päckchen 25 an die Strände von
Schleswig-Holstein gespült. Alle tragen die Beschriftung und das
Emblem von MKM SICILIANA, einer Fabrik, die früher unter der
Kontrolle der sizilianischen Drogenmafia stand und wohl unter
anderem dazu benutzt wurde, Drogen zu verpacken. Sie werden die
Berichte unseres Ermittlungsteams Erkennungsdienst noch nicht alle
im Einzelnen zur Kenntnis genommen haben, aber anscheinend sind die
Päckchen nicht ganz so verpackt worden, wie es hätte sein sollen.
Es gab innen Luftblasen, die für Auftrieb gesorgt haben. Zurzeit
wird gerade eine Strömungsanalyse durchgeführt und außerdem soll
abgeglichen werden, welche Wasserfahrzeuge diese Ladung vielleicht
verloren haben könnten.”
„Die Päckchen sind Teil eines uralten Deals, den wir jetzt
noch einmal unter die Lupe nehmen müssen”, sagte ich.
„Das liegt Jahre zurück”, erklärte Kriminaldirektor Hoch. „Es
ging um eine sehr große Lieferung Kokain aus Sizilien. Die
Sizilianer beherrschten damals den Handel fast vollständig. Ein
gewisser Jörn Graumann war damals eine aufstrebende Nummer im
Drogenhandel von Frankfurt. Er wollte mit einem Schlag ein riesiges
Vermögen machen und kam auf die glorreiche Idee, dass fast
vollkommen reine Kokain aus Sizilien zu verlängern.”
„Was nicht unüblich ist”, sagte Rudi.
„Aber wer seine Handelspartner darüber nicht informiert, muss
damit rechnen, dass die einem das ganz schön übel nehmen”, hielt
ihm Kriminaldirektor Hoch entgegen. „Graumann war damals ein
Zwischenhändler für einen gewissen Mario Ferrante. Der vertraute
Graumann und stand kurze Zeit seinerseits als Betrüger gegenüber
seinen Geschäftspartnern da, denen er die Drogen weiterverkaufte.
Ferrante wurde daraufhin erschossen. Die Kollegen in Frankfurt
gingen damals davon aus, dass Ferrante ganz bewusst in eine Falle
gelockt worden war. Sein Tod war Teil eines Plans, der Graumann an
die Spitze jenes kriminellen Netzwerkes bringen sollte, dem sie
beide angehörten.”
„Anscheinend hat sich die Sache für diesen Graumann gelohnt”,
meinte ich.
„Aber nur kurzfristig, Harry. Die Kollegen aus Frankfurt
hatten ihn damals ohnehin schon seit längerem im Visier. Durch die
Arbeit eines verdeckten Ermittlers flog er auf. Allerdings konnte
Graumann der Verhaftung entgehen. Und ein Teil der Drogen aus
dieser einen sizilianischen Lieferung, die Graumann durch die
chemische Streckung des Stoffes gewonnen hatte, ist nie wieder
aufgetaucht. Genau wie Graumann.”
„Wenn Graumann es geschafft hat, im letzten Moment das Land zu
verlassen und unterzutauchen, dann wird er es kaum noch geschafft
haben, auch den Stoff mitzunehmen”, meinte ich. „Also wird das
Kokain all die Jahre irgendwo gelagert worden sein.”
„Vielleicht hat er jetzt versucht, diesen Schatz zu bergen,
Harry”, meinte Rudi. „Und dabei ist dann etwas schiefgegangen
…”
7
Am frühen Nachmittag trafen wir uns mit Gina Bäumer in einem
Berliner Park. Gina Bäumer war die Tochter des ermordeten Rentners.
Sie war etwa Mitte dreißig und betrieb in Berlin ein Reisebüro.
Jetzt führte sie einen Hund aus, was wohl auch der Grund für die
Auswahl des Treffpunkts war.
„Das ist der Hund meines Vaters gewesen”, sagte sie. „Es
kümmert sich nun ja niemand mehr um ihn. Gott sei Dank wurde er
wiedergefunden.”
„Das Tier war zwischenzeitlich vermisst?”, fragte ich. Aus den
Akten ging das bisher nicht hervor. Und offenbar hatte sich auch
niemand weiter um diese Frage gekümmert.
Gina Bäumer nickte.
„Die Typen, die meinen Vater entführt haben und ihn zu Tode
quälten, wollten Billy - den Hund - ganz bestimmt nicht dabei
haben.”
„Wir würden gerne die Geschehnisse, soweit sie zu ermitteln
sind, mit Ihnen zusammen noch einmal durchgehen”, sagte ich.
„Vorausgesetzt, das ist nicht zu schmerzvoll für Sie.”
„Es hält sich in Grenzen”, sagte Gina Bäumer und schluckte.
Ihr Gesicht veränderte sich. Das gezwungen wirkende Lächeln
verschwand. „Das Wichtigste ist jetzt, dass diese Verbrecher
gefunden werden, die meinem Vater das angetan haben. Ich hatte ihn
noch gewarnt …”
„Inwiefern?”, fragte ich.
„Wegen seiner Auftritte in den Medien. Innerhalb weniger Tage
war er so bekannt wie ein bunter Hund. Und dass er unbedingt groß
in die Zeitung musste und dabei ein Kokain-Päckchen in die Kamera
hielt, war ganz sicher nicht besonders schlau. Aber das gibt
trotzdem niemanden das Recht, ihn zu quälen und umbringen.”
„Das sehen wir ganz genauso”, sagte ich. „Und ich verspreche
Ihnen, dass wir alles in unserer Macht stehende tun werden, um die
Hintergründe in Erfahrung zu bringen.”
Sie lächelte matt.
„Davon bin ich überzeugt”, meinte sie. „Der Fall ist bei Ihnen
sicher in guten Händen. Das habe ich im Gefühl.”
„Wir sind dabei auf Ihre Mithilfe angewiesen”, sagte Rudi.
„Alles, was Sie uns sagen, kann uns eventuell zu dem oder den
Tätern führen. Und selbst Beobachtungen, die Ihnen vielleicht
unwichtig erscheinen, können für unsere Aufklärungsarbeit eventuell
wichtig sein.”
„So wie das mit dem Hund”, ergänzte ich. Dass das Tier bei den
bisherigen Ermittlungen komplett durch den Rost gefallen war,
konnte ich immer noch kaum fassen. Aber so etwas kam vor. „Bislang
wissen wir nicht, wo und wann genau Ihr Vater in die Hände seiner
Entführer geriet”, erklärte ich. „Der Wagen stand bei dem
Ferienhaus, das er bewohnte. Insofern ist er vielleicht zu Fuß
unterwegs gewesen.”
„Mit dem Hund”, sagte Gina Bäumer. „Das sagte ich ja schon. Er
ist eigentlich nirgendwo ohne ihn hingegangen. Deswegen muss das
Tier auch dabei gewesen sein, als er überfallen wurde.”
„Hätte der Hund Ihren Vater dann nicht zu verteidigen
versucht?”
„Ja, das denke ich schon. Wenn jemand meinem Vater zu nahe
kam, hat er immer gleich die Zähne gefletscht und geknurrt.”
„Wo und von wem ist das Tier aufgefunden worden?”, fragte
ich.
„Das war zwei Tage, nachdem ich die Nachricht erhielt, dass
mein Vater umgebracht wurde. Billy - so heißt der Hund - ist
offenbar einem Bauern zugelaufen. Er heißt Günter Kendrick betreibt
einen Geflügelhof ein paar Kilometer landeinwärts.“
„Wie ist dieser Herr Kendrick darauf gekommen, wessen Hund das
ist und dass er sich an Sie wenden muss?”, fragte ich.
Sie sah mich einen Moment lang etwas irritiert an.
„Darauf ist er gar nicht gekommen. Der Kontakt lief über die
örtliche Polizei.”
„Über die Polizei?” Vermutlich war ich es jetzt, der irritiert
wirkte.
„Billy ist gechipt. Als der Hund zulief, hat es bis zum
nächsten Besuch des Tierarztes gedauert, bis die Daten ausgelesen
wurden und Billys Identität festgestellt werden konnte.
Glücklicherweise war ich für den Fall, dass der Hundebesitzer nicht
erreichbar ist, als Ersatzadresse angegeben worden, sonst hätte
sich das alles noch länger hingezogen, weil ich dann erst einmal
den Nachweis hätte erbringen müssen, dass ich das Tier auch geerbt
habe.”
„Wie auch immer: Es ist notwendig, dass Billy
kriminaltechnisch untersucht wird”, erklärte ich.
„Wie meinen Sie das denn?”
„Billy ist sozusagen ein wichtiger Zeuge. Leider kann er nicht
sprechen und uns schildern, was er beobachtet hat und wie es dazu
kam, dass er von Ihrem Vater getrennt wurde. Also wird man ihn
medizinisch untersuchen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wonach die
Kollegen alles suchen könnten, aber falls das Tier zum Beispiel
Kontakt mit dem Täter hatte, wäre es theoretisch möglich, dass noch
irgendwelche Fasern im Fell sind. Wir sind darauf angewiesen jeder
Spur nachzugehen …”
„Okay … Wie soll das ablaufen?”
„Billy wird von einem Kollegen abgeholt und nach Quardenburg
zu unserer BKA Bundesakademie gebracht. Dort steht uns ein
hochspezialisiertes Ermittlungsteam Erkennungsdienst zur Verfügung,
die alles Weitere in die Wege leiten.”
„Kann ich Billy begleiten? Ich würde mir Urlaub nehmen.”
„Das würde unseren Kollegen den Job sicherlich erleichtern”,
nickte ich.
8
„Es ist unfassbar!”, entfuhr es Rudi, als wir wieder im
Dienst-Porsche saßen. „Dieser Hund ist einfach vergessen worden -
oder wie immer man das bezeichnen will.”
„Na ja, ob er wirklich ein wichtiges Beweismittel darstellt,
müssen wir erst noch abwarten”, sagte ich.
„Trotzdem! Wie kann es sein, dass von diesem Hund bisher
nichts in den Akten steht? Und keiner der Kollegen, die sich bisher
mit dem Fall befasst haben, hielten es für nötig, sich überhaupt
darum zu kümmern, wo der Hund eigentlich geblieben ist, obwohl es
ja nun wirklich kein Geheimnis war, dass Dietrich Bäumer
Hundebesitzer war.”
Auf einigen der Fotos, die in der Presse und in den
Online-Medien verbreitet worden waren, war außer Dietrich Bäumer
und dem Kokain-Paket mit dem Aufdruck MKM SICILIANA auch Billy
abgebildet worden. Schließlich war der Hund ja der eigentliche
Finder des Kokains gewesen.
„Es ist nun mal, wie es ist. Wir werden diesen Spuren
nachgehen und vielleicht kommt ja auf diese Weise noch irgendetwas
ans Tageslicht, was den Kollegen bisher verborgen geblieben ist”,
sagte ich.
„Das Ferienhaus und die Wohnung von Herrn Bäumer wurden
durchsucht. Und selbst auf den davon dokumentierten Fotodateien,
die wir ja in unserem Datensatz haben, ist deutlich ein Fressnapf
zu sehen. Dass sich niemand gefragt hat, wo der dazugehörige Hund
eigentlich geblieben ist …”
Rudi hatte sich richtig in Rage geredet. Aber die Dinge laufen
nun einmal nicht immer perfekt.
Ein Anruf erreichte uns. Es war Kriminaldirektor Hoch. Rudi
nahm das Gespräch über die Freisprechanlage entgegen, so dass wir
beide mithören konnten.
„Ich habe gerade Neuigkeiten aus Hamburg übermittelt
bekommen”, erklärte unser Vorgesetzter. „Die Yacht eines gewissen
Georg Raimund lief in Den Haag aus und kehrte nie wieder. Unsere
Küstenwache hat Trümmerteile dieser Yacht gefunden und es gilt als
sicher, dass die Yacht durch eine oder mehrere Explosionen zerstört
wurde. Die ungefähre letzte Position konnte inzwischen anhand von
Satellitenbildern und dem Abgleich von Radar-Daten anderer Schiffe
festgestellt werden. Außerdem gab es wohl auch Maschinen der
Bundeswehr, die in dem Gebiet geflogen sind und Daten liefern
konnten.”
„Ist diese Yacht der Ursprung der Kokain-Pakete, die an die
Küsten gespült wurden?”, hakte ich sofort nach.
„Wir wissen, dass die Yacht in einem bestimmten Gebiet circa
vierzig bis fünfzig Kilometer vor der Küste gesunken sein muss.
Eine Strömungsanalyse ist noch in Arbeit und liegt möglicherweise
morgen vor. Prinzipiell haben bereits mehrere Marine-Fachleute und
Strömungsexperten den Kollegen aus Hamburg bestätigt, dass die
Yacht definitiv als Ursprung des Kokains in Frage kommt und
zweitens gab es zwar mehrere andere Seefahrzeuge im betreffenden
Gebiet - aber nur eins, dass mutmaßlich durch eine Explosion
zerstört wurde.”
„Was eine gewisse Nähe zu kriminellen Machenschaften
nahelegt”, schloss Rudi.
„So sehen das die Kollegen aus Hamburg auch”, bestätigte
Kriminaldirektor Hoch. „Beweise sind das nicht, aber Indizien, die
natürlich in eine gewisse Richtung deuten.”
„Weiß man, wer dieser Georg Raimund ist?”, fragte ich.
„Anscheinend ein unbeschriebenes Blatt. Die Kollegen aus
Hamburg haben bislang noch nicht einmal ein Foto von ihm.”
„Heißt das, er hat keinen Führerschein, keinen Ausweis oder
Pass?”
„So ungefähr. Möglicherweise ist diese Identität nicht echt,
aber da werden wir den weiteren Gang der Ermittlungen abwarten
müssen.”
„Wir müssen ohnehin morgen nach Hamburg, um mit Kollegen zu
sprechen, die an der Anti-Drogen-Operation beteiligt waren, bei der
ein Teil des Kokains mit dieser speziellen Zusammensetzung
konfisziert wurde”, sagte ich. „Möglicherweise weiß man dann schon
Näheres.”
9
Für den späten Nachmittag hatten wir ein Treffen mit Daniel
Altan vor uns. Daniel Altan hatte zu der Einheit in Frankfurt
gehört, die seinerzeit gegen Jörn Graumann ermittelt hatten.
Allerdings hatte Altan das BKA vor Jahren schon verlassen und sich
zusammen mit einem gewissen Erkan Piper eine Agentur für private
Ermittlungen gegründet.
Die Agentur war in Cuxhaven ansässig. Das Agenturbüro befand
sich in einer Büroetage, die man zu diesem Zweck angemietet
hatte.
Als wir dort auftauchten, hatten wir es zunächst mit Erkan
Piper zu tun.
Offenbar hielt er uns zunächst für potenzielle Klienten. Als
wir ihm unsere Ausweise gezeigt hatten, änderte sich das. Auf
seiner Stirn erschien eine deutlich sichtbare, v-förmige
Falte.
„Herr Altan erwartet uns”, erklärte ich.
„Komisch, davon hat er mir gar nichts gesagt”, sagte Piper.
„Kaffee ist alle. Wenn Sie also auf ihn warten wollen, dann
…”
„Wir sind mit ihm verabredet”, erklärte ich etwas irritiert.
„Er musste noch mal kurz weg, aber ich nehme an, dass er
gleich wieder da ist.”
Das will ich hoffen!, dachte ich. Eigentlich hatte ich
erwartet, dass ein ehemaliger Kollege wusste, was ein Termin war.
Und ich ging davon aus, dass er eigentlich auch wusste, wie negativ
es sich unter Umständen auf unsere Ermittlungen auswirken konnte,
wenn so ein fest vereinbarter Termin platzte.
Unterdessen verabschiedete sich die Sekretärin von Piper.
„Bis morgen”, meinte sie.
Piper schien an etwas anderes zu denken und wirkte abgelenkt.
„Darf man erfahren, worum es geht?”
„Das müssen wir mit Herrn Altan schon persönlich besprechen”,
erklärte ich.
Allerdings wunderte es mich insgeheim schon, dass Piper
offenbar nichts davon wusste, worum es ging. Ein Partner in einer
Privatdetektei ist schließlich etwas ähnliches wie ein
Dienstpartner. Dass Dietrich Altan ihn nicht eingeweiht hatte, war
ungewöhnlich.
Piper schien irritiert zu sein. Er zuckte mit den Schultern
und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
„Okay, ich nehme an, dass ich Sie nicht dazu überreden kann,
mir mehr zu sagen.”
„Fragen Sie Ihren Partner!”, sagte ich.
„Das werde ich tun”, versprach Piper.
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein Mann in den
Vierzigern kam herein. Ich hatte ein Bild von Altan in unseren
Daten gesehen, dass der Personalakte beim BKA entnommen war. Seit
seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst hatte er ein paar Kilo
zugelegt und seine Haare waren grau geworden. Aber er war trotzdem
auf den ersten Blick erkennbar geblieben.
„Diese Herren wollen dich sprechen, Daniel”, sagte Piper
unterdessen. „Ich muss noch die Fall-Dokumentation für einen
unserer Kunden zusammenstellen … Eigentlich hatte ich gedacht, dass
du mir dabei hilfst, Daniel, denn das ist noch ein ziemlich großer
Brocken. Und wie du weißt, muss das bis morgen fertig sein.”
Piper verließ den Raum und ließ uns mit Altan allein.
Ich zeigte Altan meinen Ausweis.
„Kriminalinspektor Kubinke, BKA”, sagte ich und deutete auf
auf Rudi. „Dies ist mein Partner Kriminalinspektor Meier. Wir
hatten kurz telefoniert.”
„Setzen Sie sich! Ich helfe Ihnen natürlich gerne weiter, wenn
ich kann”, sagte Altan. „Allerdings muss ich Ihnen sagen, dass ich
die entsprechenden Daten nicht mehr so präsent habe. Ich bin kein
Computer und der Fall, um den es geht, liegt schon sehr lange
zurück.”
„Keine Sorge”, sagte ich.
„Im Übrigen sollten Sie vielleicht besser mit meinen
ehemaligen Kollegen aus Frankfurt sprechen. Die meisten dürften
noch im Dienst sein.”
„Das haben wir uns für morgen vorgenommen”, sagte Rudi.
Wir nahmen Altans Einladung an und setzten uns. Der
Privatdetektiv selbst zog es allerdings vor stehen zu bleiben. Er
verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte kurz an der Fensterbank
und ging dann wieder zwei Schritte auf den Schreibtisch zu.
Insgesamt machte er auf mich einen ziemlich angespannten und
nervösen Eindruck.
„Der Fall Jörn Graumann ist eine der größten Niederlagen, die
ich während meiner Zeit bei der Polizei erleben musste. Und ganz
ehrlich, der Fall beschäftigt mich bis heute.”
„Inwiefern?”, fragte ich.
„Sie müssen sich einfach mal die Situation vorstellen. Wir
wussten davon, dass eine der größten, jemals nach Deutschland
eingeschleuste Menge an Kokain über Jörn Graumann ins Land gelangt
war. Wir wussten auch, dass Jörn Graumann gewaltige Ambitionen
hatte. Er wollte die Nummer eins in Deutschland werden, was den
Drogenhandel anging. Und das hätte bedeutet, dass er auch einen
Großteil von anderen europäischen Ländern beherrscht hätte.”
„Für kurze Zeit hatte er eines dieser Ziele ja auch erreicht”,
meinte Rudi.
Daniel Altan nickte.
„Ja, weil er so skrupellos war, das Vertrauen seines
wichtigsten Handelspartners Mario Ferrante auszunutzen. Der glaubt,
dass er reinstes Kokain bekommen hat, steht wenig später vor seinen
Partnern als Betrüger da und wird von denen als Konsequenz
liquidiert, was Graumann den Weg nach ganz oben frei gemacht
hat.”
„Aber Sie und Ihre Leute waren ihm auf den Fersen.”
„Wir hatten verdeckte Ermittler eingeschleust, wir haben
abhörtechnisch alles getan, was der Richter erlaubte und der Stand
der damaligen Technik möglich gemacht hat und trotzdem hat es
Graumann geschafft, uns doch irgendwie zu linken.”
„Wie genau ist das abgelaufen?”, fragte ich.
„Er muss etwas geahnt haben. Oder er wurde gewarnt. Jedenfalls
sollte einer der größten Deals der Drogengeschichte von Frankfurt
über die Bühne gehen. Die Informationen waren vertrauenswürdig, die
Informationen waren durch abgehörte Gespräche eigentlich auch
abgesichert und schienen wasserdicht zu sein und unser gesamtes
Team hat wohl schon insgeheim von der Beförderung geträumt.”
„Aber es ist anders gekommen”, stellte ich fest.
Daniel Altan nickte.
„Der Deal fand zwar statt, wir konnten ein Dutzend der
wichtigsten Leute aus der Drogenszene in flagranti festnehmen und
das alles war auch noch gerichtsfest dokumentiert, so dass die
Aussichten gut standen, diese Typen für sehr lange Zeit aus dem
Verkehr zu ziehen. Aber was geschah? Graumann erschien nicht zum
Deal. Und die Ware, die da den Besitzer wechselte, war noch nicht
die Hälfte von dem, was uns eigentlich hätte ins Netz gehen
müssen.”
„Und wie konnte das passieren?”, fragte ich.
Altan zuckte mit den Schultern.
„Wenn ich das wüsste. Glauben Sie mir, ich grüble bis heute
darüber nach. Die Sache verfolgt mich immer noch im Schlaf.”
„Sie habe doch sicher eine Theorie.”
„Ich habe sogar mehrere. Aber sie laufen eigentlich immer auf
dasselbe hinaus: Wir hatten damals mindestens einen Maulwurf bei
uns. Irgendjemand hat falsch gespielt und sich kaufen
lassen.”
„Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das gewesen sein
könnte?”
Er schüttelte den Kopf.
„Ein Kollege starb ein paar Monate später unter sehr
ungewöhnlichen Umständen an einer Überdosis. Möglicherweise wurde
er aus dem Weg geräumt, um diejenigen nicht zu gefährden, die da im
Hintergrund die Fäden gezogen haben. Der Fall ist nie richtig
aufgeklärt worden, und vermutlich ist das inzwischen auch
unmöglich.” Altan stockte. Es war spürbar, wie nah ihm der Fall
noch heute offensichtlich ging. Abgeschlossen hatte Altan damit
noch lange nicht. „Ob das wirklich der Verräter war, weiß ich
nicht. Ich nehme an, dass Sie auch diesen Fall früher oder später
noch mal untersuchen werden - im Zuge Ihrer jetzigen Ermittlungen,
meine ich.”
„Das ist durchaus möglich”, stimmte ich zu. „Und haben Sie
sich nicht auch gefragt, wo das restliche Kokain aus der
betreffenden Lieferung geblieben ist?”
„Doch, auch das hat mir keine Ruhe gelassen.”
„Haben Sie auch darüber eine Theorie?”
„Die habe ich allerdings!” Daniel Altans Gesicht bekam einen
verkniffenen, grimmigen Ausdruck. Er ballte unwillkürlich die Hände
zu Fäusten. „Nehmen wir an, Jörn Graumann wurde tatsächlich gewarnt
oder hatte meinetwegen auch hellseherische Fähigkeiten - was auch
immer! Er hat sich offenbar eiskalt überlegt, dass er einen Teil
des Rauschgifts irgendwo bunkert, bis wieder bessere Zeiten für ihn
kommen und Gras über die Sache gewachsen ist. Und der Gedanke hat
mich einfach nicht losgelassen, dass dieser Scheißkerl irgendwann
in aller Seelenruhe aus der Versenkung auftauchen könnte, um seinen
vergrabenen Schatz ganz einfach außer Landes zu bringen oder an
einheimische Drogenhändler zu verkaufen. Er wäre dann fein raus und
könnte am Ende noch einmal richtig Kasse machen.”
„Vielleicht ist genau das passiert”, meinte ich. Ich zeigte
ihm auf dem Smartphone ein Bild von Dietrich Bäumer. „Sie wissen,
wer das ist?”
„Der Mann hat nahezu jede Talkshow heimgesucht und sich mit
einem Päckchen Kokain in beinahe Lebensgröße fotografieren lassen”,
meinte Altan. „Im Moment kennt den wohl jeder.”
„Er wurde umgebracht. Jemand hat versucht, aus ihm
Informationen herauszuholen, jedenfalls wurde er schlimm
misshandelt.”
„Wer ist auch so dämlich und lässt sich mit dem Stoff
fotografieren, den er am Strand gefunden hat!”, meinte Altan. „Da
wird doch immer irgendjemand gierig.”
„Die Aufschrift auf dem Päckchen war zu erkennen”, sagte
ich.
Altan nickte.
„MKM SICILIANA - ich werde diese Buchstabenkombination nie
vergessen, glauben Sie mir.”
„Könnten Sie sich vorstellen, dass nicht in erster Linie die
Gier irgendwelcher Gangster geweckt wurde, sondern etwas
anderes.”
„Was soll das gewesen sein?”
„Rachegelüste zum Beispiel. Wenn jemand mit Jörn Graumann noch
eine Rechnung offen hatte und jetzt erkennt, dass dessen Stoff
offenbar aus der Versenkung aufgetaucht ist, wäre das ja auch ein
Anlass, Graumanns Spur wieder aufzunehmen”, war Rudi ein.
„Mit Jörn Graumann hatten sehr viele Leute Rechnungen offen”,
meinte Altan. „Seine Vorgehensweise war brutal. Der hat es nicht
umsonst innerhalb kürzester Zeit von ganz unten in die erste Reihe
des organisierten Verbrechens von Frankfurt geschafft. Dazu gehört
schon einiges an Skrupellosigkeit.” Altan atmete tief durch. „Aber
ich nehme an, da erzähle ich Ihnen ja nichts Neues. Sie kennen sich
ja sicher aus.”
„Den größten Schaden hat er mit sicher Mario Ferrante
zugefügt”, meinte ich.
„Weil er ihn mit dem verlängerten Stoff ins offene Messer
rennen ließ und als Betrüger dastehen ließ?”
„Genau.
„Aber Ferrante ist tot. Ansonsten hätten Sie recht.”
„Er war verheiratet, hatte Familie.“
„Ich denke, seine Witwe ist gut versorgt”, sagte Altan. „Wenn
Sie denken, dass da jemand noch eine Rechnung mit Jörn Graumann
offen hat und vielleicht dachte, dass Dietrich Bäumer die erste
vielversprechende Spur seit Jahren sein könnte, dann sollten sie
sich mal ein paar andere Leute gründlich vornehmen.“
„An wen dachten Sie da?“
„In erster Linie an alle diejenigen, die damals in den Knast
gewandert sind, als wir zugeschlagen haben. Denen muss doch klar
gewesen sein, dass Graumann sie sehenden Auges in die Falle tappen
ließ, während er sich selbst in Sicherheit brachte.“
„Scheint eine Verhaltensweise zu sein, die in Graumanns
Charakter verankert ist”, meinte ich.
„Die meisten der Personen, die damals einkassiert wurden,
dürften immer noch im Knast sitzen”, meinte Rudi.
„Was nicht heißt, dass sie von dort aus keinen Schaden
anrichten könnten?”, meinte Altan. „Wäre nicht das erste Mal, dass
Mordaufträge aus der Zelle kommen. So sicher ist kein Gefängnis.
Und davon abgesehen ist mindestens einer inzwischen frei.”
„So?”
„Ringo Olbrecht. Der hat damals alles für Graumann getan. War
so was wie sein bester Gefolgsmann und ich könnte mir denken, dass
er besonders sauer ist.”
„Woher wissen Sie, dass Olbrecht auf freiem Fuß ist?”, fragte
ich.
„Ich … verfolge die Dinge eben”, sagte Altan. „Und ich habe
nach wie vor beste Kontakte zu ehemaligen Kollegen, die noch im
Dienst sind. Man redet miteinander und hört so einiges.”
„Verstehe …”
„Wenn Sie keine weiteren Fragen haben …”
„Doch, die hätten wir”, meinte Rudi. Mir fiel auf, dass Altan
nervös auf die Uhr sah. Vielleicht hatte er noch irgendetwas vor.
Jedenfalls wirkte er angespannt.
„Bitte, dann fragen Sie, Herr Meier!” Altan fixierte Rudi mit
seinem Blick.
„Wir gehen davon aus, dass die Kokain-Päckchen, die in
mehreren Stränden gespült wurden, von einer havarierten Yacht
stammen, die einen Tag zuvor den Hafen von Den Haag verlassen
hat.”
„Klingt tatsächlich so, als hätte da jemand seinen Schatz in
Sicherheit bringen wollen.”
„Die Yacht gehört einem gewissen Georg Raimund. Haben Sie den
Namen schonmal gehört?”
„Nein. Jedenfalls ist das niemand, der damals in Frankfurt zu
der einschlägigen Szene gehörte.”
„Es gibt Hinweise, dass die Yacht gesprengt wurde.”
Altan hob die Augenbrauen.
„Dann hat es diesem Raimund offenbar jemand nicht gegönnt,
dass er mit einer Ladung Drogen in irgendein mediterranes
Sonnenparadies fährt!”
„Es wäre für uns wichtig zu erfahren, wer alles davon wusste,
dass es da noch einen großen Kokain-Schatz gab, Herr Altan.”
„So was macht doch die Runde, Herr Kubinke. Das ist wie eine
moderne Schatzsucher-Legende für Drogendealer. Und ich wette, schon
kurz nach den Ereignissen wäre es völlig unmöglich gewesen,
herauszufinden, was Realität war und was die Leute hinzu fantasiert
haben, die die Sache weitererzählten.”
Ich gab Altan meine Karte.
„Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, was unsere Arbeit
unterstützen könnte …”
„… werde ich Sie unverzüglich kontaktieren”, versprach Altan.
„Ich kenne das Geschäft, Herr Kubinke. Und mir ist sehr wohl
bewusst, dass man als Ermittler keine Chance hat, wenn man ohne
Unterstützung dasteht.”
10
„Hast du mir irgendwas zu sagen, Daniel?”, fragte Piper,
während er beobachtete, wie sein Partner in der Detektei damit
beschäftigt war, seine Waffe zu reinigen.
„Keine Ahnung, wovon du sprichst”, sagte Daniel Altan.
„Also ich hatte noch nie Besuch von zwei BKA-Beamten. Und wenn
du in etwas verwickelt bist, muss ich das wissen. Auch im
wohlverstandenen Interesse unserer Kunden.”
„Es geht um einen alten Fall. Weder du noch die Agentur haben
damit irgendetwas zu tun. Und ich auch nicht mehr.”
„Das freut mich zu hören.”
Daniel Altan sah auf.
„Du musst ein paar Tage hier allein klarkommen”, meinte er
dann. „Ich brauche mal eine Auszeit.”
„Auszeit, was soll das denn heißen?”
„Wir haben den letzten Fall erfolgreich abgeschlossen. Die
Präsentation der Ergebnisse für unseren Kunden wirst du sicher
allein hinkriegen …”
„Ja, schon, aber …”
„Bevor wir uns an das Sicherheitskonzept für die Supermärkte
machen, bin ich wieder an Bord. Aber bis dahin werden ohnehin noch
einige Entscheidungen getroffen werden müssen und wie ich diesen
Klienten kenne, wird sich das noch länger hinziehen, als uns beiden
lieb ist.”
„Moment mal! Du wirst mir schon etwas mehr zu deiner
sogenannten Auszeit sagen müssen”, meinte Piper. „So einfach kannst
du mich nicht abspeisen.”
„Was erwartest du?”
„Ich will wissen, was dahinter steckt, Daniel.”
„Nichts, was dich beschäftigen muss, Erkan!”
„Ach komm schon, da tauchen diese beiden Kriminalinspektoren
auf, befragen dich zu einem Uralt-Fall, und du willst plötzlich für
eine Weile verschwinden - und ich soll das einfach hinnehmen und
mich nicht wundern? Mal davon abgesehen, dass ich dann mit einem
nicht gerade einfachen Klienten bei der Ergebnisbesprechung allein
dastehe.”
„Du bist der geborene Diplomat, Erkan!”
„Ernsthaft: So einfach kommst du aus der Sache nicht raus,
Daniel.”
Daniel Altan atmete tief durch. Er wechselte einen Blick mit
Piper. Für einen Moment schien er noch abzuwägen, ob es nicht doch
eine Möglichkeit gab, das Thema einfach zu beenden. Aber Piper
kannte ihn zu gut. Die beiden arbeiteten schon so viele Jahre so
eng zusammen, dass jeder mitunter die Gedanken des anderen lesen
konnte. Zumindest konnte man hin und wieder den Eindruck
gewinnen.
„Okay”, sagte Daniel Altan schließlich. „Es ist was
Medizinisches.”
„Bist du krank?”
„Ich lass mich durchchecken und es werden ein paar Tests
gemacht. Nicht hier in der Gegend, weil ich den hiesigen Kliniken
nicht traue, was die Datensicherheit angeht.”
„Ist es etwas, worüber ich mir Sorgen machen muss?”
„Nein, nur Routine. Aber es dauert ein paar Tage.”
Erkan Piper verengte die Augen. Eine Falte erschien auf seiner
Stirn.
„Okay”, sagte er. Aber es klang nicht so, als wäre er mit
dieser Auskunft wirklich zufrieden.
11
Es war bereits nach Mitternacht. Aber unser Kollege Dr.
Friedrich G. Förnheim wollte uns unbedingt noch den jetzt
vollständig vorliegenden Bericht zu der Yacht-Havarie in der
Nordsee erläutern. Und wenn den Naturwissenschaftler mal etwas
gepackt hatte, dann kannte er keinen Feierabend.
Also waren wir noch am Abend nach Berlin geflogen und dann
nach Quardenburg gefahren, um uns die neuen Erkenntnisse im
Einzelnen erläutern zu lassen. Da wir am nächsten Tag nach
Frankfurt fahren wollten, war es sicher nicht schlecht, wenn wir
vorher über alles, was mit der Yacht und ihrer mysteriösen Havarie
zusammenhing, eingehend informiert waren.
Außer Friedrich war auch Dr. Lin-Tai Gansenbrink anwesend, die
die Mathematikerin und IT-Spezialistin des Ermittlungsteam
Erkennungsdiensts. Ohne ihre Hilfe wäre es wahrscheinlich kaum
möglich gewesen, aus der Vielzahl von inzwischen vorliegenden Daten
ein einigermaßen stimmiges Gesamtbild zu erstellen.
Zum wiederholten Mal spielte uns Lin-Tai ihre Simulation auf
einem großen Flachbildschirm vor. Man konnte den Weg der Yacht von
Den Haag aus Richtung Sylt verfolgen - bis zu ihrer Havarie.
„Sehen Sie, wie die vorhandenen Strömungen in Kombinationen
mit den Wetterbedingungen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit dafür
sorgten, dass die Kokain-Päckchen genau an den Küstenabschnitten an
Land gespült wurden, wo sie auch tatsächlich gefunden wurden”, fuhr
Lin-Tai fort. „Die Tatsache, dass ein Teil der Päckchen offenbar
Luftblasen enthielt, hat die Berechnungen natürlich
verkompliziert.”
„Die Strömungsanalyse an sich stammt in ihrer Rohversion von
der Marine”, sagte jetzt Friedrich. „Wir haben sie nur unter
kriminaltechnischen Aspekten aufbereitet.”
„Ich verstehe”, sagte ich, obwohl das im Grunde genommen
reichlich übertrieben war.
„Dass die Päckchen mit der Aufschrift MKM SICILIANA von dieser
besagten Yacht stammen, dürfte erwiesen sein. Die
Wahrscheinlichkeit, dass es nicht so sein könnte, spielt allenfalls
noch für Zeitgenossen eine Rolle, die ein übertrieben
detailversessenes Interesse an mathematischen Problemen haben.”
Friedrich rieb sich das Kinn und fuhr dann fort: „Interessanter ist
die Frage, was für eine Yacht das war und wem sie gehörte.”
„Allerdings!”, gab ich zu. xxx
„Zunächst mal ist die Yacht in Hamburg unter dem Namen RYSUM I
registriert worden. Der Besitzer ist ein Georg Raimund. Er hat das
Boot vor zwei Monaten erworben und auch den Liegeplatz im
Yachthafen übernommen.” Friedrich wandte sich an Lin-Tai.
„Vielleicht zeigen Sie unseren Kriminalinspektoren mal eine
Abbildung.”
„Kein Problem”, sagte Lin-Tai.
Sie ließ ihre Finger über eine Computertastatur gleiten. Wenig
später öffnete sich auf dem Großbildschirm ein Fenster, und wir
sahen eine typgleiche Abbildung.
„Für uns war die Frage von Interesse, ob die RYSUM I genug
Laderaum hatte, um das gesamte, noch fehlende Kokain aus der
betreffenden Lieferung zu laden.”
„Und?”, hakte ich nach.
„Der Stauraum reicht aus. Zumindest, wenn man nicht allzu viel
anderes mitnimmt”, sagte Friedrich. „Wie Sie sehen, handelt es sich
um eine Yacht, die sowohl gesegelt, als auch mit einem Motor
betrieben werden kann. Und sie verfügt über Navigationshilfen mit
GPS-Funktion. Und genau das ist der springende Punkt.”
„Diese Navigationshilfen gibt es inzwischen auf vielen
Wasserfahrzeugen - und sie sind in der Regel ausgesprochen schlecht
gesichert”, mischte sich Lin-Tai ein. „Ein Kinderspiel, sie zu
hacken. Theoretisch ist es für Hacker möglich, die Kontrolle über
die Steuerung zu übernehmen und wieso es nicht viel öfter vorkommt,
dass Gangster einfach einen großen Frachter mit wertvoller Ladung
an einem völlig falschen Ort ankommen lassen, um ihn dann in aller
Ruhe auszuräumen, weiß ich ehrlich gesagt nicht.”
„Nun, die Erklärung dafür ist ganz einfach”, erklärte
Friedrich G. Förnheim, und der unverkennbar hamburgische Akzent
ließ ihn dabei leicht überheblich wirken. „Erstens ist eine stabile
Datenverbindung auf See nicht immer gegeben, und zweitens würden
sich Seeleute niemals nur auf den Datenstrom einer Navigationshilfe
verlassen. Normalerweise ist jeder Skipper in der Lage, auch anhand
konventioneller seemännischer Hilfsmittel den Kurs zu halten. Auch
aus diesen Gründen wird der Datensicherheit bislang keine Priorität
zugemessen, wie sie bei Autos, Handys und Computern inzwischen
selbstverständlich ist. Der springende Punkt ist: Über die
Datenverbindung der Navigationshilfe ließe sich auch ein zuvor
angebrachter Sprengsatz zünden.”
„Voraussetzung ist natürlich, dass zum Zeitpunkt der
Signalübertragung eine stabile Verbindung besteht”, meinte
Lin-Tai.
Friedrich hob die Augenbrauen.
„Und genau das war der Fall”, stellte er nicht ohne Triumph
fest.
„Wie die Einwahlprotokolle des verwendeten Satelliten zeigen”,
erklärte Lin-Tai. „Wir wissen, wann die Verbindung bestand - und
wann sie urplötzlich und ohne einen technischen Grund
abriss.”
„Das wird dann wohl der Zeitpunkt der Explosion gewesen sein”,
stellte ich fest.
„So ist es”, bestätigte Lin-Tai. „Ich hätte natürlich gerne
den entsprechenden Steuerbefehl und und die in das System
eingeschleuste Schadsoftware isoliert - aber das wird wohl selbst
nicht mehr möglich ein, wenn die Taucher der Marine doch noch
weitere Teile des Wracks finden sollten.”
„Es ist nicht anzunehmen, dass irgendein Speichermedium diese
Explosion überlebt hat”, ergänzte Friedrich.
„Was wir allerdings haben, ist der Ausgangspunkt eines
Signals, dass kurz vor dem ermittelten Zeitpunkt der Explosion die
RYSUM I via Satellit erreicht haben muss.”
Ich atmete tief durch.
„Ich nehme an, das kam irgendwo aus Frankfurt”, schloss
ich.
„Exakt”, bestätigte Lin-Tai.
Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Ich trank meinen
Kaffee aus. Er war inzwischen kalt geworden und schmeckte nicht
mehr.
„Wer arbeitet so?”, fragte unterdessen Rudi.
„Es gibt einen bislang unbekannten Profi-Killer, auf den die
Kombination aus Sprengstoffeinsatz und Zündung mithilfe von
Online-Zugängen kennzeichnend ist”, sagte Friedrich.
Lin-Tai ließ auf einem kleinen Bildschirm ein
BKA-Fahndungs-Datenblatt erscheinen.
„Ein Kollege aus Frankfurt scheint einen besonderen Sinn für
Humor zu haben, und ein Dossier unter dem fiktiven Namen Johannes
Maria Killer angelegt. Natürlich gibt es bislang keinerlei
Informationen dazu, wer diese Person ist. Es könnte ein Mann, eine
Frau oder was auch immer sein”, meinte Friedrich und hielt kurz
inne. „Tatsache ist, dass möglicherweise mehrere Morde durch
Autobomben, eine durch ein havariertes Privatflugzeug und einer
durch eine gesunkene Yacht auf der Nordsee auf das Konto dieses
Unbekannten gehen.”
„Immer dieselbe Vorgehensweise?”, hakte ich nach.
„Vorsicht, das kann sein, ist aber nicht zwingend”, sagte
Friedrich. „Es gibt zwischen diesen Fällen einige
Übereinstimmungen: Die Verwendung von Sprengstoff in Verbindung mit
der Ausnutzung der jeweils vorhandenen Datenzugänge von Fahrzeugen,
Booten oder Flugzeugen zur Zündung. Und es gibt eine
Übereinstimmung, was die Opfer angeht.”
„Inwiefern?”, fragte ich.
„Sie sehen alle in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang
zum organisierten Verbrechen in Frankfurt.”
„Wobei man sagen sollte, dass diese Verbindung in einigen
Fällen nur sehr vage ist”, mischte sich Lin-Tai ein. „Und die
Annahme, dass all diese Taten vom selben Profi-Killer ausgeführt
wurden, dessen Auftraggeber mutmaßlich zum organisierten Verbrechen
in Frankfurt gehören, ist zwar auch unter mathematischen
Gesichtspunkten durchaus wahrscheinlich …”
„Das klingt, als würde da noch ein Aber kommen”, sagte ich,
als Lin-Tai stockte und aus irgendeinem Grund nicht weitersprach.
Ihre Augen verengten sich. Sie hatte auf dem Schirm irgendeine
Einzelheit entdeckt, die ihre Gedanken wohl im Moment etwas
ablenkten. Sie sah mich an.
„Es besteht auch die Möglichkeit einer Scheinrelation, Harry.
Wir haben nämlich letztlich keinen einzigen Beweis dafür, dass
diese Taten tatsächlich von unserem mysteriösen und bislang höchst
hypothetischen Johannes Maria Killer begangen wurden. Weder war es
möglich, Schadsoftware zu isolieren, noch haben wir Sprengstoff.
Von den mutmaßlich auslösenden Signalen wissen wir nur, dass es sie
gegeben haben muss. Aber nichts davon hinterlässt etwas, das auch
nur annähernd mit einem Fingerabdruck oder einer DNA-Spur
vergleichbar wäre.”
„Kommen wir zu diesem Georg Raimund”, sagte ich. „Konnten Sie
etwas über ihn herausfinden?”
„Außer, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine
Fake-Identität handelt? Nein. Aber dafür habe ich etwas
anderes.”
„Was?”
„Eine Person, die eine echte Identität besitzt und sehr
wahrscheinlich mit an Bord war.”
„Um wen handelt es sich?”
„Um eine gewisse Katrina Niermann”, sagte Frau Gansenbrink und
ließ auf einem anderen Bildschirm ein Polizei-Dossier erschienen.
„Und wie Sie an dem Dossier sehen können, ist sie kein
unbeschriebenes Blatt. Verurteilungen wegen Drogenbesitz und
Diebstahl. Und - sie war Stripperin einem Club, der früher unter
der Kontrolle von Mario Ferrante stand.”
„Da ergibt sich dann schon mal ein Zusammenhang”, meinte
Rudi.
„Sie wollen gar nicht wissen, wie ich herausgefunden habe,
dass diese Lady sehr wahrscheinlich mit an Bord war?”, wunderte
sich Lin-Tai. „Es ist immer dasselbe. Für die ästhetische Schönheit
reiner mathematischer Erkenntnis und perfekter Logik hat heute
niemand mehr einen Sinn. Es geht immer nur um das Ergebnis.”
„Könnte daran liegen, dass uns die andere Seite in der Regel
ein paar Schritte voraus ist und wir kaum Zeit haben, umso etwas
wirklich zu genießen”, sagte ich.
Lin-Tai Gansenbrink hob die Augenbrauen. Sie schien sich nicht
ganz sicher zu sein, ob ich das vielleicht ironisch oder
sarkastisch gemeint hatte. In diesem Punkt war sie des Öfteren
ziemlich unsicher. Vermutlich, weil es keinerlei algorithmische
Unterstützung gab, umso etwas beurteilen zu können.
„Nun sagen Sie es schon, wie haben Sie es herausbekommen,
Lin-Tai?”, fragte ich.
„Durch eine algorithmisch unterstützte Suche in verschiedenen
sozialen Netzwerken bin ich auf diese Katrina gestoßen. Sie hat
dort in einer geschlossenen Gruppe gepostet, dass sie die nächsten
Tage auf einer Yacht mit der Bezeichnung RYSUM I verbringen würde
und mit ihrem Freund in einem im Moment wohl ziemlich angesagten
Laden auf Sylt Schuhe kaufen wollte. Na ja, und so viele Yachten
mit dem Namen RYSUM I gibt es nicht - schon gar nicht im Hafen von
Den Haag.”
„Dann war das Ziel der Reise Sylt?”, hakte Rudi nach.
„Das sieht so aus, ja.”
„Ich hätte vermutet, dass dieser Herr Raimund versuchte, das
Rauschgift auf die Insel zu bringen”, meinte Rudi.
„Vielleicht hatte er einen Kunden auf Sylt, der bereit war,
einen großen Deal zu machen”, vermutete ich. Ich zuckte mit den
Schultern. „Wäre doch möglich.”
„Dann sollten wir die Kollegen in Kiel kontaktieren.
Möglicherweise gibt es dort ja schon Erkenntnisse, die mit dieser
Geschichte zusammenpassen”, schlug Rudi vor.
Friedrich G. Förnheim sah auf die Uhr an seinem Handgelenk.
„Es ist spät. Ein paar Stunden Schlaf sollten wir uns alle
gönnen …”
Ich wandte mich an den Naturwissenschaftler.
„Was ist eigentlich mit Billy?”, fragte ich.
„Billy?”, echote Friedrich.
„Das ist der Name des Hundes, den Dietrich Bäumer hinterlassen
hat”, sagte ich.
„Der Hund ist noch hier”, sagte Friedrich. „Er wird die
nächsten Tage hier in der Bundesakademie verbringen, damit weitere
Untersuchungen an ihm durchgeführt werden können. Dass wir lebende
Tiere als Beweismittel haben, kommt übrigens gar nicht so selten
vor.”
„Sie können noch nichts sagen?”, fragte ich. „Laut Aussage von
Bäumers Tochter hätte das Tier niemanden an ihren Vater
herangelassen, aber es gelang dem oder den Tätern, die Bäumer
entführt und misshandelt haben, den Hund auf irgendeine Weise
auszuschalten, abzulenken - was auch immer.”
„Er wurde höchstwahrscheinlich betäubt”, sagte
Friedrich.
Ich glaubte im ersten Moment mich verhört zu haben.
„Das sagen Sie jetzt einfach so in aller Seelenruhe in einer
Nebenbemerkung?”
„Es ist noch nicht sicher. Der Veterinär, den wir hier an der
Bundesakademie haben, muss noch ein paar Untersuchungen durchführen
und meine Tests im Labor sind auch noch nicht abgeschlossen. Ich
kann Ihnen also nichts dazu sagen, welche Substanz verwendet wurde
und …”
„FGF!”, unterbrach ich ihn.
Friedrich atmete tief durch.
„Der Hund hat eine kleine Verletzung an der Seite. Die ist
kaum zu sehen, obwohl sie sich etwas entzündet hat. Gina Bäumer,
die das Tier herbrachte, war das auch schon aufgefallen. Sie
vermutete den Befall durch einen Parasiten. Ihrer Aussage nach
hatte der Bauer, dem der Hund zugelaufen ist, dieselbe Vermutung
gehabt. Aber ich glaube, dass es sich um das Injektionsprojektil
einer Waffe handelt, wie sie zum Betäuben von wilden Tieren
verwendet wird. Beweisen kann ich das erst, wenn ich weiß, welche
Chemikalie verwendet wurde. Und da das Ganze schon etwas her ist,
ist der Nachweis jetzt sehr schwierig. Aber in Haaren und Urin
lassen sich solche Betäubungsmittel auch in geringer Konzentration
noch eine ganze Weile nachweisen, auch wenn die Analysemethoden
aufwändig und zeitraubend sind. Da ich aber weiß, wonach ich suchen
muss, bin ich insgesamt sehr zuversichtlich.”
12
Auch wenn Friedrich noch letzte Zweifel ausräumen wollte, so
machte die Annahme, dass der Hund betäubt worden war, durchaus
Sinn. Und er gab uns ein paar neue Rätsel auf, an denen wir zu
knabbern hatten.
Rudi und ich waren hundemüde, als wir uns auf dem Rückweg nach
Berlin befanden. Aber die bohrenden Fragen, die sich jetzt ergaben,
hielten uns wach.
„Dietrich Bäumer geht also mit seinem Hund spazieren”, fasste
Rudi zum wiederholten Mal das mutmaßliche Geschehen zusammen.
„Jemand lauert irgendwo an dem Weg, den er zu gehen pflegte,
betäubt den Hund mit einem Schuss aus einem Betäubungsgewehr und …
Tja, was dann?”
„Bäumer ist vermutlich nicht betäubt worden”, stellte ich
fest.
Unser Gerichtsmediziner Dr. Gerold M. Wildenbacher hatte zwar
nach Friedrichs Angaben zugesagt, die gerichtsmedizinischen Befunde
noch einmal unter diesem Aspekt zu überprüfen, aber es war nicht
anzunehmen, dass dadurch ein anderes Ergebnis zustande kam.
Wildenbacher hatte die Befunde des ursprünglich mit der Sektion
betrauten Pathologen ohnehin schon eingehend geprüft. Da schien
tatsächlich nichts übersehen worden zu sein. Und die Wunde einer
verschossenen Injektionsnadel sowieso nicht! Im Gegensatz zu Hunden
besaßen Menschen schließlich kein Fell. Der unweigerlich
auftretende Bluterguss wäre sofort aufgefallen.
„Vielleicht findet Gerold ja doch noch irgendetwas, das auch
näheren Aufschluss über den eigentlichen Tathergang geben kann”,
meinte Rudi. „Ich meine, wenn ich mir die Situation einfach konkret
vorstelle ...“
„Die entscheidende Frage ist doch: Wieso hat der Unbekannte
den Hund nicht einfach erschossen?”, fragte ich. „Warum macht er
sich die Mühe, ihn zu betäuben?”
„Vielleicht ist er selbst Hundeliebhaber und einfach etwas
sentimental?”
„Trotzdem! Da entführt, foltert und ermordet jemand einen
Mann, weil er offenbar glaubt, dass der weiß, wo sich noch mehr von
dem Kokain befinden könnte, aber bei dem Hund hat er offenbar
Skrupel.”
„Es gibt Veganer, die in Tränen ausbrechen, wenn jemand ein
Steak isst und die mehr Mitleid mit einem Schwein als mit einem
Obdachlosen haben, Harry. Das ist nicht immer logisch!”
„Trotzdem, diesen Aspekt müssen wir im Hinterkopf behalten.
Irgendwas passt da auch noch nicht so richtig zusammen.”
„Würde es besser passen, wenn wir annehmen, dass dieser
Unbekannte Dietrich Bäumer vielleicht gar nicht töten
sollte?”
„Du meinst, er war einfach nur ein schlechter Folterer?”
„So kann man es auch ausdrücken.”
„Gerold soll man überprüfen, ob man die Befunde in diese
Richtung interpretieren könnte”, schlug ich vor, denn ich fand
tatsächlich, dass diese Variante sehr viel mehr Sinn ergab.
„Ein Killer, der Mitleid mit Hunden hat. Was wissen wir noch
über ihn?”, fragte Rudi.
„Der Unbekannte muss allein gewesen sein”, schloss ich. „Ich
glaube nicht, dass er einen Helfer hatte.”
„Wie kommst du darauf?”
„Betäubungswaffen sind in der Regel einschüssig. Der
Unbekannte schaltet den Hund aus, kann danach aber unmöglich
schnell genug nachladen, um auch noch Dietrich Bäumer auf diese
Weise zu betäuben.”
„Die gerichtsmedizinischen Befunde lassen auch nichts in
dieser Richtung vermuten, Harry”, gab Rudi zu bedenken.
„Der Unbekannte könnte Bäumer mit vorgehaltener Waffe dazu
gezwungen haben, sich in einen Wagen zu begeben”, sagte ich. „Wenn
der Unbekannte einen Komplizen gehabt hätte, wäre es viel leichter
gewesen, Bäumer auch zu betäuben. Zu zweit kann man einen reglosen
Körper wegschaffen, wenn man allein ist, ist man darauf angewiesen,
dass der Entführte selbst läuft. Vielleicht hat er sogar den Wagen
steuern müssen, mit dem er weggebracht wurde.”
„Alles mehr oder minder Spekulationen, Harry!”
„Tja…”
„Ist so.”
„Wenn du das sagst.”
„Es fügt sich eben noch nicht alles so richtig
zusammen.”
„Kommt mit der Zeit.”
„Ja.”
„Anscheinend sind wir hier alle optimisten.”
„Sollten wir etwas anderes sein?”
„Wir werden uns in nächster Zeit nach Büsum begeben müssen”,
sagte ich. „Bislang kennen wir nicht einmal den genauen Tatort. Wie
will man da Spuren finden?”
„Ich nehme an, die örtliche Polizei werden hellauf begeistert
sein, wenn wir da auftauchen, Harry!”
„Darauf pfeif ich, Rudi.”
Rudi zuckte mit den Schultern. „Na ja, morgen sind wir ja erst
einmal in Frankfurt.”
13
Ringo Olbrecht steckte sorgfältig eine Patrone nach der
anderen in die Waffe. Dann lud er die Waffe durch und ließ sie im
Holster verschwinden. Er setzte die Schutzbrille auf und nahm sich
einen Ohrenschutz. Anschließend betrat er den Schießstand.
Ein hagerer Mann mit kantigen Gesichtszügen und sehr breit
wirkendem Kinn stand dort und feuerte. Das Gesicht wirkte
regungslos. Der Schütze war hochkonzentriert - und sehr gut.
„Das muss der Neid dir lassen, Mark”, sagte Ringo Olbrecht.
„So schnell kommt an dich wohl keiner heran.”
Der hagere Mann, den Ringo Olbrecht mit dem Namen Mark
angeredet hatte, drehte sich um und runzelte die Stirn. Seine Augen
verengten sich. Der Blick verriet Überraschung.
„Was willst du, Ringo?”
„Ich habe da so ein paar Gerüchte gehört, Mark.”
„Es wird viel erzählt.”
„Ich hatte immer das Gefühl, dass ich Jahre im Knast verbracht
habe, weil sich jemand anderes sehr elegant aus der Affäre gezogen
hat.”
„Das ist alles lange her, Ringo. Und ich wüsste auch nicht,
dass ich etwas damit zu tun hätte.”