Dampfmosers dritter Fall –
Kommissar Dampfmoser ermittelt
Alpenkrimi 3
Roman von Peter Haberl & Robert Gruber
nach einem Exposé von Robert Gruber
Wer hat Thomas Oberbichler ermordet? Der Immobilienmakler gilt
als seriöser und ehrlicher Mann, doch als zwei seiner Freunde
ebenfalls ermordet werden, kommt eine schreckliche Wahrheit aus der
Vergangenheit ans Licht. Kommissar Dampfmoser und sein Kollege
suchen einen mehrfachen Mörder, der sich gut tarnt.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
Exposé: Robert Gruber
Robert Gruber ist ein Pseudonym von Alfred Bekker
Kommissar Dampfmoser wurde erfunden von Alfred Bekker
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
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Alles rund um Belletristik!
1
Kriminalhauptkommissar Ludwig Dampfmoser nahm im Büro seines
Vorgesetzten Platz. Kriminaldirektor Schrotz machte ein ernstes
Gesicht, und schon dadurch war Dampfmoser klar, dass der Anlass
dieses Gesprächs ganz sicher nicht erfreulich sein konnte.
Also kein Angebot einer Beförderung zum Beispiel, dachte
Dampfmoser. Dass es um einen neuen Fall ging, hielt Dampfmoser für
ausgeschlossen. Dann wäre nämlich sein Kollege Roderich Berger mit
Sicherheit dabei gewesen. Der saß jetzt allein im Büro.
Kriminaldirektor Schrotz wollte also ausdrücklich unter vier
Augen mit Dampfmoser reden.
„Grüß Gott, Herr Dampfmoser“, sagte Schrotz auf eine Art und
Weise, die selbst für ihn förmlich wirkte.
Und Schrotz war eigentlich schon ohnehin die Förmlichkeit in
Person.
„Servus, Herr Schrotz“, gab Dampfmoser zurück.
„Herr Dampfmoser … Wie soll ich jetzt anfangen?“
„Am besten immer gleich direkt zur Sache, Herr Schrotz, meinen
Sie net?“
Schrotz atmete tief durch.
Ein deutlich hörbares Seufzen war das.
„Genau das ist ja schon das Problem, Herr Dampfmoser.“
„Das verstehe ich jetzt net“, meinte er. „Aber naja, man muss
ja auch net alles verstehen.“
„Es liegen hier jetzt einige Beschwerden vor, die sich so
angesammelt haben.“
„Beschwerden?“
„Von Kollegen, von Verdächtigen, die von Ihnen befragt wurden,
von Behörden, mit denen wir kooperieren müssen, und von Reportern
und Lokalpolitikerin, die ein paar Auskünfte von Ihnen wollten
…“
„Beschwerden?“ Dampfmoser runzelte die Stirn.
„Also jetzt mal gleich zur Sache, Herr Dampfmoser: Können Sie
nicht vielleicht mal etwas umgänglicher und diplomatischer
sein?“
„Ich, Herr Schrotz, ich bin sensibel und rücksichtsvoll, wie
jeder weiß, der mit mir zu tun hat.“
„Naja, diese Beschwerden sprechen da eine andere Sprache, Herr
Dampfmoser! Eine deutlich andere Sprache!“
„Ich bin die Diplomatie persönlich, Herr Schrotz – aber immer
nur, so lange es geht. Und manchmal, da kommt man auf die sanfte
Tour einfach net weiter, Herr Schrotz!“
„Herr Dampfmoser, ich habe Ihnen mal ein Fortbildungsseminar
herausgesucht.“
„Fortbildung?“
„Ja.“
„Brauch ich net.“
„Aber …“
„Ich bin lange genug im Dienst, Herr Schrotz. Ich kann alles,
und ich weiß alles, was es da zu wissen gibt. Der Mord wird net neu
erfunden!“
„Die Fortbildung richtet sich an die Mitarbeiter aller
möglichen staatlichen Behörden. Nicht nur an die Polizei. Die
dahinterstehende Idee ist, die Menschen, mit denen wir es zu tun
haben, als Kunden zu begreifen – und auch so zu behandeln.“
Dampfmosers buschige Augenbrauen zogen sich jetzt so stark
zusammen, dass sie sich in der Mitte berührten.
Seine Skepsis war unübersehbar.
„Als Kunden?“, vergewisserte er sich, so als glaubte er, sich
verhört zu haben.
„Als Kunden, deren Bedürfnisse wir in unser
Kommunikationsverhalten einbeziehen müssen.“
„Und der Kunde ist bekanntlich König!“
„So ist es, Herr Dampfmoser.“
„Also auf Hochdeutsch heißt das: Ich soll in den Verbrechern
jetzt Kunden sehen.“
„Herr Dampfmoser …“
„Als ob ich denen was verkaufen wollte! Stattdessen soll ich
mich jetzt von denen für dumm verkaufen lassen?“
„Herr Dampfmoser, das haben Sie jetzt in den falschen Hals
gekriegt, würde ich sagen.“
„Nein, das würde ich net sagen!“
„Hier sind die Unterlagen zur Fortbildung, Herr Dampfmoser.
Ich habe Sie schon angemeldet.“
„Was?“
„Sehen Sie Ihre Teilnahme als dienstlich angeordnet, Herr
Dampfmoser.“
„Und wenn jetzt ein Fall dazwischenkommt?“
„Für die paar Seminarsitzungen ist immer Zeit genug, Herr
Dampfmoser.“
Dampfmoser atmete tief durch. Aber richtig Luft machen konnte
er sich erst draußen auf dem Flur. „Himmel, Sakra noch einmal!“,
donnerte es aus ihm heraus. So laut, dass eigentlich auch
Kriminaldirektor Schrotz dies gehört haben musste.
2
Der sechsundfünfzigjährige Thomas Oberbichler trat auf die
Terrasse seiner feudalen Villa, die ein ganzes Stück vom Ortsrand
entfernt inmitten eines parkähnlichen Gartens errichtet worden war,
und blinzelte in das letzte Licht der Sonne, das über die Berge im
Westen flutete.
Oberbichler hatte die Abendnachrichten im Wohnzimmer
angeschaut. Nun wollte er mit seiner Frau, die noch im Haus zu tun
hatte, auf der Terrasse den lauen Abend genießen und ein Glas Wein
trinken. Er schien ein problemloses Leben zu führen, der
schwerreiche Immobilienmakler, dennoch war er unzufrieden, nachdem
er vor einigen Monaten die Geschäftsführung an seinen Sohn Kai
übergeben hatte.
Thomas Oberbichler war nämlich der Meinung, dass es ohne ihn
im Betrieb nicht lief. Kai hingegen war der festen Überzeugung,
dass ihm sein Vater so ziemlich alles beigebracht hatte, was er
wissen musste, um in der Branche erfolgreich zu sein.
Die sich ständig wiederholenden, tagtäglichen Anrufe seines
Vaters empfand Kai als immens störend, um nicht zu sagen, lästig.
Unablässig versuchte ihm sein Vater am Telefon zu erklären, wie
dieses oder jenes richtig zu erledigen sei, immerzu hatte der
Senior an der Arbeit Kais etwas auszusetzen. Kai war genervt, wenn
ihn sein Vater immer wieder mit den gleichen Worten auf sein
Unvermögen hinwies, oft drei- bis viermal in derselben
Angelegenheit. Der alte Herr hatte die vorhergehenden Anrufe
schlicht und einfach vergessen.
Thomas Oberbichler setzte sich in einen der gepolsterten
Stühle, die um einen Glastisch herum gruppiert waren, lehnte sich
zurück, reckte die Schultern, hob die Arme und legte die flachen
Hände gegen den Hinterkopf. Er-folg-reich! Er zerlegte den Begriff
in seine Silben. Erfolg war die Voraussetzung, um reich zu sein.
Doch ohne Schweiß kein Preis! Den Schweiß vermisste er bei seinem
Sohn. Den hatte seiner Meinung nach nur er vergossen.
Außerdem war da noch das verdammte Handicap, das ihn seit
mehreren Wochen plagte. Er vergaß viel, erkannte manche Leute nicht
mehr mit letzter Sicherheit, und manches Mal hatte er selbst das
Gefühl, wirres Zeug zu reden. Dem Rat seiner Frau, einen Arzt
aufzusuchen, folgte er nicht, denn er fürchtete eine
niederschmetternde Diagnose. Er wollte einfach nichts davon wissen,
dass er unter einer Demenz im Anfangsstadium litt, verdrängte es
einfach und war davon überzeugt, dass die Krankheit stagnierte,
wenn er sie einfach ignorierte.
Der Abendsonnenschein hüllte das Land in gleißendes Licht. Die
Blätter an den Bäumen und Büschen, die in dem Garten ausgesprochen
üppig wuchsen, zitterten leicht in der lauen Brise, die vom Dorf
her wehte. Er hatte damals weit weg von der Stadt sein Haus
errichtet, denn er liebte die Idylle zwischen Wäldern, Wiesen,
Feldern und Äckern. Thomas Oberbichler war ein Naturmensch und tat
viel für den Umweltschutz. Im Dorf und auch in der Stadt wurde er
bei den Zeitgenossen, die über sein Engagement Bescheid wussten,
als Gutmensch gehandelt.
Seine Frau trat mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern in
den Händen lächelnd durch die Terrassentür und wollte etwas sagen,
als ein peitschender Knall durch den Garten stieß. Ihr Mann wurde
samt Stuhl umgerissen. Noch zwei– dreimal erklang das Echo des
Schusses, bis es mit geisterhaftem Geflüster verebbte.
Thomas Oberbichler hatte keinen Laut von sich gegeben. Reglos
lag er auf der Terrasse, die Augen wie im letzten Schrecken seines
Lebens weit aufgerissen, das T-Shirt über seiner Brust war zerfetzt
und färbte sich rot von seinem Blut.
Wie zur Salzsäule erstarrt stand Kerstin Oberbichler da, einen
stupiden Ausdruck der Verständnislosigkeit in den Augen und in den
Gesichtszügen, zu keiner Reaktion fähig. Sie sah nicht die über
einem dichtbelaubten Busch im lauen Wind zerflatternde
Pulverdampfwolke am Rand des Gartens. Sie nahm auch nicht den
Schützen wahr, der sich lautlos zurückzog, durch ein Loch im
Drahtzaun kroch und im Wald verschwand.
Erst nach einer ganzen Weile stellte sich bei Kerstin
Oberbichler das Begreifen ein, und es kam mit einer geradezu
schmerzlichen Schärfe. „Thomas!“, brach es fast kreischend über
ihre bleichen Lippen. „Gütiger Gott …“
Sie eilte zu dem Reglosen hin und fiel neben ihm auf die Knie
nieder. Ihrem Entsetzen gesellte sich die Verzweiflung hinzu. Mit
beiden Händen packte sie ihn an den Schultern und rüttelte ihn.
„Sag was, Thomas, mein Gott, sag doch etwas!“
Sie war vollkommen konfus, wusste nicht, wo ihr der Kopf
stand.
Thomas Oberbichler war tot. Sein Mund war für immer
versiegelt, die gebrochenen Augen starrten ins Leere. Kerstin kam
hoch, taumelte und musste sich am Tisch festhalten. Ihr Herz raste
und jagte das Blut durch ihre Adern, vor ihren Augen verschwammen
die Dinge. Eine den Bruchteil einer Sekunde andauernde Blutleere im
Gehirn löste bei ihr Benommenheit aus.
Du musst Kai anrufen, hämmerte eine innere Stimme. Nein,
zuerst den Rettungsdienst, und dann Kai. Sie griff sich an die
Stirn und versuchte ihre wirbelnden Gedanken zu ordnen und
koordiniert vorzugehen. Auf Beinen, die sie kaum zu tragen
vermochten, wankte sie zurück ins Haus.
3
Es war Freitag, und es ging auf zwanzig Uhr zu. Hauptkommissar
Ludwig Dampfmoser hatte um siebzehn Uhr Feierabend gemacht, sich
auf dem Nachhauseweg im Gasthaus Zum Bierdümpfl eine Halbe Weißbier
genehmigt, zu Hause eine Kleinigkeit gegessen und sich dann auf die
Couch in seinem Wohnzimmer gelegt, wo er vor sich hin döste. Der
Fernseher lief.
Ludwig versah seinen Job bei der Kriminalpolizei zwar gern, er
liebte aber auch die Entspannung und das Nichtstun. Eigentlich war
in dem Landstrich, in dem er lebte und arbeitete, inmitten der
Berge, umgeben von schier grenzenloser Natur und Ursprünglichkeit,
die Welt noch in Ordnung.
Er freute sich auf das Wochenende. Vielleicht ein bisschen
angeln gehen, sich die eine oder andere Halbe Weizen genehmigen, am
Samstagabend im Bierdümpfl am Stammtisch einen zünftigen Schafskopf
klopfen …
Wenn das elende Diensthandy nicht gewesen wäre. Zunächst
einmal musste er sich sammeln, denn das Klingeln hatte ihn ziemlich
unsanft aus dem Halbschlaf gerissen. Nachdem der dritte Klingelton
verhallt war, schnappte er sich das Mobiltelefon und nahm das
Gespräch an. Es war jemand von der Dienststelle, der seine Ruhe
störte.
„Servus, Ludwig“, erklang die Stimme des Kollegen vom
Bereitschaftsdienst. „Es tut mir leid, aber du musst noch einmal
ran heute. Du kennst doch den Thomas Oberbichler?“
„Wer kennt den net, den Immobilienmogul hier im Tal?“, fragte
Ludwig. „Was ist mit ihm?“
„Er ist vor einer Stunde erschossen worden.“
„Was?“ Ludwig hielt den Atem an. „Ich hör‘ wohl net recht“,
stieß er dann zusammen mit einem Schwall verbrauchter Atemluft
hervor. „Wer sollt‘ Interesse dran haben, den Oberbichler vom Leben
zum Tod zu befördern? Er war doch gar nimmer aktiv in seinem Job.
Das macht doch jetzt der Junior.“
„Du wirst verstehen, Ludwig, dass ich dir diese Frage net
beantworten kann. Denn wenn wir wüssten, wer hinter dem Mord
steckt, dann würden wir den Täter sicherlich dingfest gemacht
haben, und du wärst nimmer gefordert.“
„Schon gut, schon gut“, sagte Ludwig. „Ich hab lediglich laut
gedacht. Wo ist der Mord geschehen? Sind die Spurensicherung und
die Staatsanwaltschaft schon verständigt? Weiß mein Kollege, der
Roderich, Bescheid?“
„Der Oberbichler hat auf der Terrasse seiner Villa gesessen,
als ihn der Schuss traf“, antwortete der Kollege. „Seine Frau war
Zeugin. Der Täter hatte sich scheinbar im Garten versteckt. Mehr
kann ich dir im Moment auch net sagen, Ludwig. Am besten, du setzt
dich in dein Auto und fährst zum Tatort. Wo der Oberbichler wohnt,
das muss ich dir ja net sagen. – Natürlich sind die Kollegen von
der Spurensicherung und die Staatsanwaltschaft verständigt worden.
Deinen Kollegen Berger ruf‘ ich jetzt gleich an.“
„Ich mach das schon“, erklärte sich Ludwig bereit. „Ich fahr
dann gleich bei ihm vorbei und nehm‘ ihn mit.“
„In Ordnung. Viel Erfolg bei der Suche nach dem Täter,
Ludwig.“
„Danke. Es wird sicher net schaden, wenn du mir und dem
Roderich die Daumen drückst.“
„Schaden wird‘s net, ob‘s was bringt, ist allerdings fraglich.
Servus, Ludwig.“
„Habe die Ehre“, knurrte der Hauptkommissar, dann rief er
Kommissar Roderich Berger an und klärte ihn auf. „Feierabend ade“,
sagte Ludwig am Ende seines Kurzberichts. „Ich hol‘ dich ab,
Roderich, und dann fahren wir gemeinsam zur Villa
Oberbichlers.“
„Das Verbrechen kennt halt keinen Feierabend und kein
Wochenende“, gab Roderich zu verstehen. „Okay, Ludwig, ich wart‘
auf dich.“
„Bis dann“, brummte der Hauptkommissar, dann beendete er das
Gespräch. Eine Viertelstunde später hielt er sein Auto vor
Roderichs Wohnung an, der Kollege stieg zu, und weitere zwanzig
Minuten später erreichten sie die Villa Oberbichler. Einige
Dienstfahrzeuge der Polizei parkten vor dem riesigen Grundstück, da
waren auch der Kastenwagen der Spurensicherung und eine Ambulanz
sowie der Pkw des Notarztes.
„Wir sind scheinbar die letzten, die am Tatort ankommen“,
murmelte Roderich.
„Wahrscheinlich hat man uns auch zuletzt verständigt“,
rechtfertigte Ludwig ihr spätes Kommen. „Außerdem sind wir eh außen
vor, solang die Kollegen von der Spurensicherung am Werk
sind.“
„Das ist auch wieder wahr“, pflichtete Roderich dem
Hauptkommissar bei. „Also stürzen wir uns ins Getümmel.“
Im Garten waren einige Kollegen in weißen, sterilen
Einwegoveralls auszumachen. Auf der Terrasse trafen die beiden
Kripobeamten den Notarzt, zwei Sanitäter sowie zwei Kollegen in den
weißen Schutzanzügen der Spurensicherer. Auch ein Vertreter der
Staatsanwaltschaft war anwesend, außerdem die bleiche Gattin des
Ermordeten und sein Sohn Kai, der nur fünf Gehminuten entfernt
einen eigenen Bungalow besaß.
Der Tote lag noch auf der Terrasse. Mit Kreide war seine
Kontur nachgezeichnet worden. Roderich verzog das Gesicht, als er
den Blick auf die von einer Schrotladung zerfetzte Brust des
Getöteten warf. Es war in der Tat kein schöner Anblick.
Der Staatsanwalt wandte sich Ludwig und Roderich zu. „Wie es
ausschaut“, sagte er, „wurde er mit einem Jagdgewehr erschossen. Er
hat die Schrotladung in die Brust bekommen. Nach ersten
Erkenntnissen hat sich der Täter dort hinten …“, der Staatsanwalt
wies in eine bestimmte Richtung, „… verborgen gehabt. Da haben die
Leute von der Spurensicherung ein Loch im Zaun gefunden, und das
Gras ist an einer Stelle zwischen dem Buschwerk
niedergetreten.“
„Hat schon jemand mit Frau Oberbichler und dem Sohn des
Ermordeten gesprochen?“, erkundigte sich Ludwig.
„Die Frau kam gerade aus dem Haus, als der Schuss fiel. Ihr
Mann kippte samt Stuhl um. Frau Oberbichler war, wie Sie sich
denken können, schockiert und wie gelähmt. Sie hat dann, nachdem
sie feststellen musste, dass ihr Mann kein Lebenszeichen mehr von
sich gab, den Rettungsdienst und ihren Sohn verständigt. Der
Notarzt konnte allerdings nur noch den Tod feststellen.
Tatzeitpunkt war viertel sieben Uhr.“
„So richtig ausgefragt hat sie also noch niemand“,
konstatierte der Hauptkommissar. „Und den Sohn hat auch noch
niemand gesprochen. Nun, wir werden das unverzüglich nachholen. Es
ist net auszuschließen, dass die Frau eine Beobachtung gemacht hat,
die uns vielleicht weiterhilft.“
„Ich hab den Leichnam beschlagnahmt“, erklärte der
Staatsanwalt. „Er wird in die Gerichtsmedizin überführt und
obduziert. Einen Bestatter haben wir bereits informiert. Er wird
den Toten abholen.“
„Sehr gut“, lobte Ludwig, dann ging er zur Gattin des
Getöteten und dessen Sohn hin. Kerstin Oberbichler war krankhaft
bleich, ihre Augen waren gerötet und verquollen. Sie saß in einem
der gepolsterten Gartenstühle und beobachtete, was sich im Garten
und auf der Terrasse abspielte. Dabei mutete sie völlig
geistesabwesend an. Wahrscheinlich versuchte sie immer noch zu
begreifen, dass ihr Mann auf gewaltsame Weise aus dem Leben
gerissen worden war.
Kai Oberbichler, der seinem Vater sehr ähnlich sah, schien das
Geschehene ebenfalls noch nicht verarbeitet zu haben. Er schaute
den Hauptkommissar an wie einer, der aus dem Tiefschlaf erwacht,
als dieser ihn ansprach: „Entschuldigen S‘, Herr Oberbichler. Ich
bin Hauptkommissar Dampfmoser von der Mordkommission. Können wir
Sie und Ihre Frau Mutter kurz sprechen?“
Es dauerte eine Weile, bis die Frage bei Kai Oberbichler durch
war. Dann nickte er. „Bitte, wir stehen Ihnen zur Verfügung. Nehmen
Sie aber ein bisschen Rücksicht auf meine Mutter. Sie kann es noch
immer net so recht begreifen …“
„Natürlich“, erklärte der Hauptkommissar. „Hier ist aber net
der richtige Ort für unser Gespräch. Drum würd‘ ich sagen, wir
gehen ins Haus …“
Kai nickte, beugte sich zu seiner Mutter hinunter und sagte
leise: „Die Herren von der Kripo wollen mit uns beiden reden. Komm,
Mama, wir gehen hinein. Ich helf‘ dir.“
Er stützte seine Mutter, geleitete sie durch die Terrassentür
ins Wohnzimmer und wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann bot er
Ludwig und Roderich Plätze zum Sitzen an und ließ sich selbst auch
nieder. „Es – es ist furchtbar“, stöhnte er. „Wer kann meinen
armen, kranken Vater so sehr gehasst haben, dass er net davor
zurückgescheut ist, ihn aus dem Hinterhalt zu ermorden?“
Er schlug die Hände vor das Gesicht, und seine Schultern
zuckten, als würde er weinen.
Fast ein bissel zu theatralisch, sinnierte Ludwig. Ich will
ihm aber nix unterstellen. Möglicherweise ist er wirklich so
sensibel.
4
Sie warteten, bis Kai nach einiger Zeit seine Hände wieder
sinken ließ. Seine Augen waren tatsächlich feucht.
„Tja, wenn wir das wüssten“, ging Roderich, der bisher noch
kein Wort gesprochen hatte, nunmehr auf Kais Frage ein. „Das könnt‘
uns womöglich einen Haufen Ermittlungsarbeit ersparen.“
Ludwig nickte und sagte: „Ihre Äußerung von eben sagt mir,
Herr Oberbichler, dass Sie keinen Verdacht haben.“ Während er
sprach, ließ er den Sohn des Ermordeten nicht aus den Augen.
Dampfmoser sagte sich, dass der Mord, nachdem kein Raubmord vorlag,
eventuell auf familiäre Probleme zurückzuführen war. Daher achtete
er sehr auf Körpersprache. Sie konnte oftmals recht ausdrucksstark
sein. Abgesehen davon, dass Kai nach dem Mord an seinem Vater
nervlich stark in Anspruch genommen war, zeigte er jedoch keine
Anzeichen von Nervosität oder Unsicherheit.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich könnt‘ Ihnen net sagen, ob
er einen Feind hatte. Wenn ihn jemand bedroht hätt‘, dann glaub‘
ich net, dass er das mir oder der Mama gegenüber verheimlicht
hätt‘. Im Gegenteil! Er würd‘ jeden, der ihm gedroht hätt‘,
wahrscheinlich sofort angezeigt haben. Der Papa war ziemlich
unduldsam und konnt‘ recht ungemütlich werden, wenn ihm jemand
ungerechtfertigterweise gegen die Karre fahren wollte.“
„Sie wissen auch nix, Frau Oberbichler?“, fragte Ludwig. „Ich
mein‘, ob‘s jemand gibt, der Ihrem Mann net wohlgesinnt war.“
„Ich – ich hab keine Ahnung“, kam es lahm über die Lippen der
Dreiundfünfzigjährigen. „Der Thomas hat jedenfalls nie erwähnt,
dass er in Gefahr wär‘ oder dass er einen Feind hat.“
„Hatte er Freunde?“, fragte Roderich. „Vielleicht haben sie
den einen oder anderen Tipp für uns.“
„Er hat sich fast jeden Freitag mit drei alten Freunden zum
Schafskopf getroffen“, murmelte Kerstin. „Und zwar mit dem Bernd
Dübner, der hat zwei oder drei Taxis laufen, dem Peter Reininger,
der einen Kiosk betreibt, und dem Markus Drehwinkel, einem
Bauunternehmer in der Nachbargemeinde.“
Roderich holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus
der Innentasche seiner leichten Sommerjacke und schrieb die Namen
auf. „Können S‘ mir auch die Adressen der drei Herren nennen?“,
fragte er.
Kerstin schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Wir werden sie auch so ausfindig machen“, erklärte Ludwig und
heftete den Blick auf Kai Oberbichler. „Sie haben vorhin
angedeutet, dass Ihr Vater krank war. An was für einer Krankheit
hat er denn gelitten?“
„Er ist langsam aber sicher dement geworden. Die Krankheit
befand sich zwar erst im Anfangsstadium, doch sie war nimmer zu
verleugnen. Er hat einige Dinge vergessen, andere Sachen hat er
drei- und viermal erzählt, oft redete er auch wirres Zeug. Die
Krankheit trat schubweise auf. Das war ja auch der Grund, aus dem
er mir die Geschäftsführung in der Immobilienfirma übertragen hat.
Er hätte andernfalls doch mit Mitte fünfzig niemals das Zepter aus
der Hand gegeben.“
„Interessant“, murmelte der Hauptkommissar. „Er hat die
Geschäfte somit mehr oder weniger gezwungenermaßen an Sie
übergeben“, konstatierte er dann.
„Aus gesundheitlichen Gründen“, betonte Kai.
„Sicher“, versetzte Ludwig. „Die Demenz hat der Teufel
erschaffen. Derjenige, den sie befällt, der ist net zu beneiden. –
Ziehen S‘ jetzt bitte keine falschen Schlüsse, Herr Oberbichler,
wenn wir Ihnen ein paar Routinefragen stellen.“
Kais Gesichtszüge drohten für einen Moment zu entgleisen.
„Routinefragen?“, echote er fast ein wenig hysterisch. „Ich steh‘
doch net etwa im Verdacht, meinen eigenen Vater …“
Seine Stimme versagte, als weigerten sich seine Stimmbänder,
das Ungeheuerliche auszusprechen. Entsetzt starrte er den
Hauptkommissar an.
„Wir müssen jeden aus dem unmittelbaren Umfeld des Getöteten
befragen“, erklärte Ludwig mit ruhiger Stimme. „Sie, Ihre Mutter,
seine Freunde, die Bedienung in dem Wirtshaus, in dem sich Ihr
Vater zum Schafskopf mit seinen Freunden getroffen hat … Einfach
jeden, der in irgendeinem Zusammenhang mit ihrem Vater stand. –
Eigentlich sind es nur zwei Fragen, Herr Oberbichler, die ich
habe.“
„Wenn‘s sein muss, dann fragen S‘“, brummte Kai.
„Wo waren S‘ um neunzehn Uhr?“, erkundigte sich Ludwig.
„Daheim. Mein Haus liegt ungefähr einen halben Kilometer von
hier entfernt.“
„Kann das jemand bestätigen?“, fragte Roderich.
„Ich leb‘ alleine“, antwortete Kai.
„Okay, zweite Frage“, stieß Ludwig hervor. „Wie war das
Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Vater?“
Er ließ Kai nicht aus den Augen. Die Erfahrung hatte ihn
gelernt, auf jede Reaktion in den Gesichtern zu achten und Zeichen
von Unruhe, schlechtem Gewissen und unnatürlichem Verhalten zu
deuten.
Kai bog die Mundwinkel nach unten. „Oft hat er meine Art, die
Geschäfte zu führen, gemaßregelt. Du machst das nicht richtig, du
machst alles falsch, du musst mit den Kunden anders umgehen … Er
hatte ständig etwas an mir auszusetzen, und es ist schon das eine
oder andere Mal zum Streit gekommen.“ Kai atmete durch. „Er hat
mich auch genervt, weil er immer wieder die gleichen Beschwerden
vorgetragen hat, oft mehrere Male an einem Tag. Er wusste oft um
elf Uhr nicht mehr, was er mit mir um neun Uhr gesprochen
hat.“
„Sind solche Streitigkeiten eskaliert?“, fragte
Roderich.
„Nein, ich hab einfach aufgelegt, wenn es zu schlimm geworden
ist, weil ich mir gedacht hab, dass er in einer Stunde eh nimmer
weiß, dass er mit mir telefoniert hat.“
„Das war für den Moment von meiner Seite alles“, gab Ludwig zu
verstehen. „Hast du noch irgendwelche Fragen, Roderich?“
„Ja“, antwortete der Kommissar. „Hat Ihr Mann eine
Lebensversicherung abgeschlossen?“
Es war Kai, der antwortete. „Ja, zwei sogar. Eine über
hunderttausend Euro, eine weitere über fünfzigtausend. Sie wären
mit seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr fällig geworden.“
„Bei welcher Versicherung wurden sie abgeschlossen?“
Kai nannte den Namen der Versicherungsgesellschaft.
Der Kommissar bedankte sich und schaute die Witwe an. „Ich
nehme an, die Versicherungen wurden zu Ihren Gunsten abgeschlossen,
falls der Versicherte vor Ablauf der Zeit verstirbt, Frau
Oberbichler.“
„Ja“, murmelte Kerstin Oberbichler. „Das ist für Sie doch
hoffentlich kein Grund, anzunehmen, dass ich was mit dem Mord zu
tun hab?“, entrang es sich ihr. „Ich – ich kann Ihnen die Auszüge
unseres gemeinsamen Kontos zeigen, damit Sie sehen, dass wir genug
Geld haben …“
Roderich winkte ab. „Auch die Frage nach eventuellen
Lebensversicherungen ist ebenfalls Routine, Frau Oberbichler. Wir
haben net vor, aus Ihren Antworten ein Motiv zu konstruieren.“ Er
wandte sich an Ludwig. „Ich hab keine weiteren Fragen.“
Ludwig erhob sich. „Dann dürfen wir uns empfehlen.“ Er schaute
Kerstin Oberbichler an. Sie sah in der Tat krank und mitgenommen
aus. „Ich darf Ihnen noch einmal meine Anteilnahme ausdrücken, Frau
Oberbichler.“ Jetzt suchte sein Blick Kai. „Ihnen natürlich auch,
Herr Oberbichler. Uns wird sich im Rahmen der Ermittlungen sicher
noch die eine oder andere Frage stellen. Erschrecken S‘ dann net,
wenn wir plötzlich bei Ihnen auf dem Teppich stehen.“
5
Dampfmoser und Berger fuhren in die Polizeiinspektion und
verfassten einen Kurzbericht. Am folgenden Morgen, am Samstag also,
wollten sie sich die Stammtischfreunde des Getöteten vornehmen.
Ludwig brachte seinen Kollegen nach Hause, und ehe sie sich
voneinander verabschiedeten, fragte Ludwig: „Was hältst eigentlich
du von der ganzen Sache, Roderich?“
Der Kommissar wiegte den Kopf. „Fakt ist lediglich, dass wir
eine Leiche haben, in deren Brust eine Schrotladung steckt. Dazu
kommen eine Witwe, die ziemlich gefasst zu sein scheint, und ein
Sohn, dem sein Vater mit zunehmender Krankheit immer mehr auf die
Nerven gegangen ist.“
„Kann das ein Grund sein, seinen alten Herrn vom Leben zum Tod
zu befördern?“, fragte Dampfmoser.
Roderich zuckte mit den Schultern. „Es sind schon Morde
geschehen, bei denen der Mörder eine noch viel geringere
Veranlassung hatte“, gab er schließlich zu bedenken. „Aber wir
wollen objektiv bleiben und das Ergebnis der Spurensicherung
abwarten. Außerdem gilt es noch einige Leute zu vernehmen.
Vielleicht finden wir einen Hebel, an dem wir ansetzen
können.“
„Lassen wir es einfach auf uns zukommen.“ Ludwig schaute auf
die Uhr im Armaturenbrett seines Autos. „Zeit, ins Bett zu kommen“,
knurrte er. „Morgen wartet ein Haufen Arbeit auf uns.“
„Ich denk‘“, brummte Roderich, „das Wochenende können wir
knicken.“ Er stieg aus dem Auto und schaute in die Runde. Über ihm
entfaltete sich ein sternenklarer Nachthimmel, und auf den
Berghängen rings um das Tal glühten die Lichter verschiedener
Anwesen. Die Konturen der Berge zeichneten sich schwarz und scharf
gegen die Kulisse des Sternenhimmels ab. Im Südosten hing die
Sichel des Mondes; sein spärliches Licht erreichte die Erde
kaum.
„Das ist eben unser Schicksal“, erwiderte Ludwig. „Wir sollten
uns eben auf nix freuen. Aber was soll‘s? Wir haben den Job
gewählt, und drum dürfen wir uns net beklagen.“
„Wie wahr, wie wahr“, stimmte Roderich zu. „Komm gut heim,
Ludwig. Bis morgen früh dann – Servus.“
„Pfüat di.“
Roderich warf die Autotür zu, und Ludwig fuhr an.
Nicht nur er und Roderich mussten am nächsten Tag ran; auch
die Kollegen von der Spurensicherung mussten die sichergestellten
Hinweise auswerten. Kurz nachdem er den Dienst angetreten hatte,
telefonierte Ludwig schon mit dem Teamleiter der Profiler.
„Wir haben einige Fußspuren gefunden“, berichtete der Kollege,
„und dort, wo der Schütze gestanden hat, als er den Schuss
abfeuerte, hat sich Pulverschmauch auf den Blättern eines Strauchs
abgelagert. Der Mord ist mit einer Schrotbüchse ausgeführt worden,
wahrscheinlich mit einer Jagdwaffe. Den Todeszeitpunkt wissen wir.
Alles andere muss noch ausgewertet werden. Ach ja, das Loch im
Drahtzaun muss schon vor längerer Zeit hineingeschnitten worden
sein. An den Drahtenden haben wir Haar sichergestellt, dem ersten
Augenschein nach sind es aber Haare aus dem Fell eines
Hundes.“
„Das ist net viel“, grummelte Ludwig. „Der Leichnam befindet
sich in der Gerichtsmedizin, wie?“
„Natürlich. Der Gerichtsmediziner wird ihn sich aber erst im
Lauf der kommenden Woche zu Gemüte führen.“
„Wir fangen heut‘ an, einige Leut‘ aus dem engsten Umfeld des
Getöteten zu vernehmen“, erklärte Ludwig. „Wenn ihr was habt, was
von Interesse sein könnt‘, dann teilt es uns mit. Du weißt ja
selber, Kollege, dass die Ermittlungen, je mehr Zeit verstreicht,
net einfacher werden.“
„Sobald wir neue Erkenntnisse haben, kriegst du sie auf den
Tisch, Kollege“, versprach der Teamleiter.
Ludwig legte auf und schaute seinen Kollegen Berger an, mit
dem er sich das Büro teilte. „Ich würd‘ sagen, wir fangen bei dem
Taxiunternehmer an, Roderich. Wie war gleich wieder sein Name? Du
hast ihn notiert.“
„Ich hab ihm mir sogar gemerkt“, erklärte der Kommissar. „Sein
Name ist Dübner – Bernd Dübner.“
„Danke.“ Ludwig nahm das Telefonbuch, das griffbereit auf dem
Schreibtisch lag, blätterte kurz darin, sein suchender Blick glitt
über eine Seite, dann brummte er: „Da haben wir ihn ja. Ich
diktier‘ dir die Nummer. Vermerk‘ sie bitte bei seinem Namen in
deinem Notizbüchl.“
Roderich nahm das Büchlein und einen Kugelschreiber aus der
Jackentasche, schlug es auf und sagte: „Ich höre.“
Ludwig nannte ihm die Nummer, und Roderich schrieb sie Zahl
für Zahl auf. Dann wählte er sie an. Eine Dame meldete sich.
„Polizeiinspektion, mein Name ist Berger“, stellte sich Roderich
vor. „Ist Herr Dübner zu sprechen?“
„Einen Moment, bitte“, erhielt Roderich zur Antwort, dann
herrschte eine ganze Weile Stille im Äther. Schließlich aber
meldete sich eine männliche Stimme. „Dübner. Es geht sicherlich um
den Mord am Thomas.“
„Sie wissen Bescheid?“
„Heut‘ früh um sieben hat‘s der lokale Radiosender in den
Nachrichten gebracht. Das ist ja ein Hammer! Erschossen soll ihn
jemand haben. Ich – ich kann‘s noch immer net glauben.“
„Sie waren sehr gut mit ihm bekannt, Herr Dübner“, sagte
Roderich. „Darum haben wir einige Fragen an Sie. Allerdings können
wir das net auf die lange Bank schieben. Wie schaut‘s aus? Können
S‘ bei uns vorbeikommen, oder ist es Ihnen lieber, wenn wir Sie zu
Hause besuchen?“
Dübner überlegte kurz, dann sagte er: „Wenn S‘ mir schon die
freie Wahl zugestehen, dann werd‘ ich zu Ihnen kommen. Ich kann in
zwanzig Minuten bei Ihnen in der PI sein.“
„Gut, ich sag‘ den Kollegen am Eingang Bescheid. Bis dann,
Herr Dübner.“
Es dauerte in der Tat nur etwa zwanzig Minuten, bis ein
Beamter, der in Portiersloge Dienst versah, anrief und mitteilte,
dass Bernd Dübner eingetroffen sei. „Schick‘ ihn herauf“, bat
Roderich, der den Anruf entgegengenommen hatte. „Ich nehm‘ ihn auf
dem Flur in Empfang.“
Hübner war ein mittelgroßer, untersetzter Mann, Mitte fünfzig,
mit fleischigem Gesicht und Halbglatze. Er trug eine etwas
zerknitterte Stoffhose und ein hellblaues Poloshirt.
Roderich fing ihn auf dem Flur ab und geleitete ihn ins Büro,
wo sich der Taxiunternehmer dem prüfenden Blick Ludwigs ausgesetzt
fühlte. Der Hauptkommissar machte sich ein erstes Bild von dem
Mann, verriet aber mit keiner Miene, wie seine Einschätzung
ausgefallen war.
„Grüß Gott, Herr Dübner“, erwiderte er den Gruß des
Eintretenden. „Bitte, setzen S‘ sich.“ Er wies auf einen Stuhl
neben den zusammengestellten Schreibtischen. Als Dübner saß,
stellte sich der Hauptkommissar vor und sagte dann: „Da Sie wissen,
aus welchem Grund wir Sie sprechen möchten, muss ich keine großen
Vorreden halten. Ihr guter Bekannter Thomas Oberbichler ist gestern
am frühen Abend aus dem Hinterhalt erschossen worden. Er hat auf
seiner Terrasse gesessen, der Mörder hatte sich in seinem Garten
versteckt. Tatwaffe war wahrscheinlich ein Jagdgewehr.“
Dübner saß vornübergebeugt auf dem Stuhl, hatte die Unterarme
auf den Oberschenkeln liegen und ließ die Hände zwischen seinen
Knien baumeln. „Der Thomas und ich kennen uns schon, seit wir
Kinder waren“, murmelte er. „Nach der Schule hatten wir uns ein
bissel aus den Augen verloren, doch später haben wir die alte
Freundschaft aufgefrischt, und seitdem treffen wir uns jeden
Samstagabend auf eine Runde Schafskopf im Gasthof Bergblick. – Es
will mir einfach net in den Kopf, dass der Thomas tot sein soll.
Ermordet! Ich frag‘ mich unablässig, wer ein Interesse dran haben
könnt‘, dass er stirbt. Ich komm‘ net drauf. Haben S‘ denn schon
einen Verdacht?“
„Bis jetzt tappen wir noch im Dunkeln“, gestand Ludwig. „Wir
reden mit den Leuten, die dem Herrn Oberbichler nahegestanden
haben, Leuten wie Ihnen, und hoffen, den einen oder anderen
brauchbaren Hinweis zu erhalten.“
„Ich kann Ihnen wahrscheinlich nix sagen“, murmelte Dübner.
„Ich wüsst‘ auch net, dass der Thomas einen Feind gehabt hätt‘. Er
hat auch nie drüber gesprochen, dass er sich von jemand bedroht
fühlen würd‘. Vielleicht war‘s einer, der zum Zeitvertreib Leut‘
totschießt. Hört man doch immer wieder, dass Menschen grundlos
niedergestochen und erschossen werden, einfach nur, weil s‘ zur
falschen Zeit am falschen Ort waren.“
„Nach so einer Tat schaut der Mord an Thomas Oberbichler net
aus“, entgegnete Roderich. „So, wie das Geschehen abgelaufen ist,
dürft‘ der Mord wohlüberlegt gewesen sein. Wichtig für uns wär‘s,
das Motiv zu kennen, denn über das Motiv führt möglicherweise der
Weg zum Mörder.“
„Ich kann mir keinen Grund vorstellen, der jemand veranlasst
haben könnt‘, sich in Thomas‘ Garten auf die Lauer zu legen und den
Thomas zu erschießen“, murmelte Dübner versonnen.
„Kennen Sie jemanden aus seinem Bekanntenkreis, der ein
Jagdgewehr besitzt?“, fragte Ludwig.
„Der Kai ist Jäger“, antwortete Dübner. „Thomas‘ Sohn hat eine
Jagd gepachtet, und sicher verfügt er auch über entsprechende
Waffen.“
„Besitzen Sie ein Jagdgewehr?“, erkundigte sich der
Kommissar.
„Nein. Ich hab weder ein Jagdgewehr noch einen Grund, den
Thomas vom Leben zum Tod zu befördern.“ Dübner hielt Roderichs
forschendem Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand. „Außerdem
weiß ich, dass der Mord gestern Abend gegen sieben Uhr geschehen
ist. Das hat der Nachrichtensprecher des lokalen Senders ebenfalls
in den Nachrichten verraten. Und um diese Zeit hab ich nachweislich
vor dem Bahnhof in meinem Taxi gesessen und auf Kundschaft
gewartet. Ich kann Ihnen die Namen mehrerer Kollegen nennen, die
das bestätigen können.“
„Gut, sagen S‘ uns die Namen“, bat Ludwig.
Roderich griff nach seinem Notizbüchlein und dem
Kugelschreiber …
6
Nachdem die beiden Beamten einige der genannten Kollegen des
Taxifahrers vernommen hatten, war Bernd Dübner aus dem Schneider.
Jeder der Befragten bestätigte, dass er zum Tatzeitpunkt mit seinem
Taxi vor dem Bahnhof gestanden habe.
„Okay“, murmelte Dampfmoser, während er den Dienstwagen vom
Bahnhof zurück zum Dienstgebäude steuerte, „den können wir von
unserer Liste streichen. Aber wir sollten wohl noch einmal den
jungen Oberbichler vernehmen und eventuell seine Jagdgewehre
beschlagnahmen.“
„Dazu müsst‘ ein konkreter Verdacht vorhanden sein“, gab
Roderich zu bedenken. „Allein die Tatsache, dass er wahrscheinlich
einige Schrotflinten besitzt, wird net ausreichen, um einen
Beschlagnahmebeschluss zu erwirken. Schrotkugeln kannst du nämlich
net ballistisch auswerten, und Gebrauchsspuren an dem Gewehr werden
auf die Ausübung der Jagd zurückgeführt werden müssen. Die
Mordwaffe kannst du in einem Fall wie diesem net bestimmen.“
Ludwig nahm die Ausführungen seines Kollegen wortlos zur
Kenntnis. Es gab dem nichts hinzuzufügen, denn es war genauso, wie
Roderich es zum Ausdruck gebracht hatte.
In der PI telefonierte Ludwig noch einmal mit einem Kollegen
von der Spurensicherung, musste aber zu seinen Leidwesen zur
Kenntnis nehmen, dass bis jetzt nicht eine einzige brauchbare Spur
gefunden worden war. Bei den Haaren, die in dem Loch im Zaun
gefunden worden waren, handelte es sich tatsächlich um Hundehaare.
Ein Rückruf bei Kerstin Oberbichler brachte die endgültige
Gewissheit.
„Ja, wir besitzen einen altdeutschen Schäferhund“, sagte sie.
„Das Loch hat mein Mann vor längerer Zeit in den Zaun geschnitten,
damit der Hund hindurchschlüpfen und in den Wald laufen konnte, um
sein Geschäft zu verrichten.“
„Und er ist wieder zurückgekommen?“, fragte Ludwig.
„Ja. Wir haben ihn gut abgerichtet.“
„Wer wusste von dem Loch, außer Ihnen und Ihrem Mann?“, fragte
Ludwig.
„Unser Sohn. Ansonsten hab ich keine Ahnung, wer noch davon
gewusst hat.“
„Wo war denn der Hund, als wir bei Ihnen waren?“
„Er mag keine Leute und hat sich in seine Ecke im Keller
zurückgezogen. Er ist schon elf Jahre alt und hat Probleme mit den
Hüften.“
„Mehr wollt‘ ich net wissen, Frau Oberbichler“, erklärte der
Hauptkommissar. „Vielen Dank.“
„Moment“, rief die Frau ins Telefon. „Ich hab an Sie eine
Frage. Gibt es schon Ergebnisse bezüglich des Täters? Sie müssen
doch mehr gefunden haben als nur ein paar Hundehaare.“
„Nein. Wir sind erst im Anfangsstadium mit unseren
Ermittlungen. Der einzige Augenzeuge des Mordes waren Sie, und Sie
haben vom Täter nicht einmal die Nasenspitze zu sehen gekriegt.
Aber wir ruhen net, Frau Oberbichler, das kann ich Ihnen
versichern. Bei uns hier im Tal geschehen zwar nur selten Morde,
aber die wenigen Morde, die bisher passiert sind, die haben wir
aufgeklärt. Also hüllen S‘ sich bitte ein bissel in Geduld.“
„Mir wird wohl nix anderes übrig bleiben“, versetzte die
Witwe, und ihrem Tonfall war anzuhören, dass sie unzufrieden
war.
„Auf Wiedersehen, Frau Oberbichler“, verabschiedete sich der
Hauptkommissar.
„Wenn wir uns wiedersehen, hoff‘ ich, dass Sie was zu bieten
haben“, blaffte die Witwe.
„Entweder ist das wirklich so eine Bissgurn“, erregte sich
Ludwig, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Sein Schnauzbart
zitterte regelrecht vor Grimm. „Oder sie ist vor lauter Gram und
Trauer tatsächlich so sehr aufgewühlt, dass sie die Regeln des
guten Benehmens vergisst.“
„Oder sie hat Interesse daran, dass der Fall so schnell wie
möglich aufgeklärt wird, weil die Versicherung wahrscheinlich erst
dann bezahlt“, gab Roderich zu bedenken.
Ludwig schaute ihn nachdenklich an. „Vielleicht sollten wir
uns die Policen mal etwas intensiver zu Gemüte führen. Bei
Unfalltod gibt es oft die doppelte Versicherungssumme. Und Mord
dürfte unter die Kategorie Unfalltod fallen. Das heißt, die
Versicherungssumme würde schon mal dreihunderttausend Euro – ohne
irgendwelche Zinsen oder andere Erträge – betragen.“
„Das heißt, dass wir uns auch mit der finanziellen Situation
der Witwe auseinandersetzen sollten“, gab Roderich zu
verstehen.
„Und auch mit der des Sohnes“, fügte Ludwig hinzu.
„Möglicherweise hatte der Ermordete Grund, die Geschäftsführung
seines Sohnes ständig zu kritisieren. Immerhin hat er die Firma
aufgebaut und zum Erfolg geführt. Es ist net auszuschließen, dass
es für ihn Grund zu der Annahme gegeben hat, dass sein Nachfolger
auf dem Chefsessel auf dem besten Weg war, den Erfolg ins Gegenteil
zu verkehren.“
„Reden wir erst noch mit dem Wirt oder eventuell einer
Bedienung des Gasthauses Bergblick, und dann mit den anderen
Stammtischfreunden des Getöteten“, schlug Roderich vor. „Ich bin
mir fast sicher, dass wir den Reininger und den Drehwinkel ebenso
wie den Dübner als Täter ausschließen und uns auf die Witwe und den
Sohn Kai stürzen können.“
„Du hast sie in Verdacht?“, fragte Ludwig.
„Net direkt, von der Hand zu weisen ist ein Motiv allerdings
net“, antwortete Roderich. „Von Kai Oberbichler wissen wir, dass
sein Vater an beginnender Demenz litt. Irgendwann hätte er sich zum
Pflegefall entwickelt und wäre seiner Familie entweder in
pflegerischer Hinsicht oder finanziell zur Last gefallen. Im Falle,
dass er an den Folgen der Krankheit gestorben wäre, hätte die
Versicherung seiner Gattin nur die einfache Versicherungssumme,
also hundertfünfzigtausend plus Zinsen und Ertragsanteile,
ausgezahlt. Das Gleiche gilt für den Fall, dass Oberbichler den
Ablauf der Versicherungszeit noch erlebt hätt‘. Warum sich also mit
einem Demenzkranken abplagen und hundertfünfzigtausend kassieren,
wenn man sich die Arbeit mit ihm sparen und dreihunderttausend
kassieren kann.“
„Gesetzt den Fall, du hast recht mit deiner Annahme …“,
murmelte Ludwig. „Dass die Frau net selber geschossen hat, dürft‘
so gut wie erwiesen sein. Sie müsste also jemanden mit dem Mord
beauftragt haben.“
„Der Sohn ist Jäger und besitzt Jagdwaffen, und er hat kein
Alibi für den Tatzeitpunkt. Und er wär‘ wahrscheinlich ebenso
Nutznießer vom vorzeitigen …“, Roderich malte zwei
Anführungszeichen in die Luft, „ … Unfalltod seines alten
Herrn.“
„Du meinst, Mutter und Sohn stecken unter einer Decke?“
„Kann man‘s ausschließen?“, kam Roderichs Gegenfrage.
Ludwig versank in Nachdenklichkeit.
7
Roderich hatte die Nummer des Festnetzanschlusses von Peter
Reininger mindestens fünfmal angewählt, doch niemand hob ab.
„Er wird in seinem Kiosk anzutreffen sein“, vermutete
Roderich.
„Also versuchen wir‘s dort“, erwiderte Ludwig. „Ein Telefon
gibt‘s da oben wohl net.“
„Nein. Er wird das Handy benutzen.“
„Na dann“, tönte Ludwig, „unternehmen wir einen Ausflug auf
den Berg.“
Reininger betrieb seinen Kiosk auf der Aussichtsplattform
eines Zweitausenders, von denen einige das Tal säumten. Der Kiosk
hatte zwar am Samstag geöffnet, aber es stand nicht Peter Reininger
hinter dem Tresen, sondern Sandra Wolfinger, seine
Lebensgefährtin.
„Ich bin heute Morgen heraufgefahren“, erzählte sie den
Kripobeamten, „und seitdem hab ich nix mehr von Peter gehört. Er
war ziemlich fertig, nachdem sein Freund, der Oberbichler Josef,
gestern erschossen worden ist. Drum hab ich mich bereiterklärt,
heut‘ seinen Posten im Kiosk zu übernehmen.“
„Können S‘ uns sagen, wo Herr Reininger gestern, am frühen
Abend, um genau zu sein, um neunzehn Uhr, war?“, erkundigte sich
Ludwig.
„Er war hier aufm Berg, im Kiosk, und hat verkauft. Der Kiosk
hat während der Hauptsaison bis um zwanzig Uhr geöffnet.“ Sandra
Wolfinger lachte fast belustigt auf. „Sie denken doch net etwa,
dass der Peter den Oberbichler erschossen hat. Die beiden waren ein
Herz und eine Seele. Von denen hat keiner auf den anderen was
kommen lassen.“
„Besitzt Ihr Lebensgefährte ein Jagdgewehr?“, wollte Roderich
wissen.
„Nein. Wozu auch? Er hat keiner Fliege was zuleide getan. Auf
ein Reh oder einen Hasen zu schießen hätt‘ er niemals übers Herz
gebracht.“
„Können S‘ mir seine Handynummer verraten?“, fragte Ludwig.
„Wir würden ihn gern persönlich sprechen. Vielleicht gelangen wir
an den einen oder anderen Hinweis, der uns weiterhilft. Außerdem
hätte ich gern seine Privatadresse.“
Die Lebensgefährtin, eine Frau von etwa fünfzig Jahren, nannte
ihm beides, und Roderich bemühte wieder einmal seinen
Kugelschreiber, indem er Handynummer und Adresse in seinem
Notizbüchlein vermerkte.
Sie bedankten sich bei Sandra Wolfinger, setzten sich ins Auto
und fuhren den Berg wieder hinunter. Während Ludwig den Dienstwagen
die engen Serpentinen hinuntersteuerte, versuchte Roderich, Peter
Reininger unter seiner Handynummer zu erreichen. Es meldete sich
jeweils nur die Mailbox.
„Komisch“, murmelte der Kommissar. „Laut seiner
Lebensgefährtin müsst‘ er daheim sein. Er ist aber net ans Telefon
gegangen, als ich es unter seinem Festnetzanschluss probiert hab,
und jetzt geht er net ans Mobiltelefon.“
„In der Tat – komisch“, brummte Ludwig. „Weißt du was,
Kollege? Wir fahren einfach zu der Adresse, die uns seine
Lebensgefährtin gegeben hat, und schauen nach.“
Es handelte sich um ein großes, im alpenländischen Stil
erbautes Wohnhaus mit Doppelgarage am Rand des Tales, Hanglage,
sehr feudal, auf einem etwa tausend Quadratmeter großen Grundstück.
An dem Haus war sehr viel Holz verbaut worden. Am kunstvoll
geschnitzten Balkongeländer und auf den Fensterbänken blühten in
hölzernen Blumenkästen verschiedenfarbige Geranien und Petunien um
die Wette; eine wahre Blütenpracht.
„Oha“, entfuhr es Roderich, „mit so einem Kiosk muss ja ganz
schön was verdient sein.“
Die beiden Beamten waren im gepflasterten Hof des Anwesens aus
dem Auto gestiegen und schauten sich um. Eine der Garagen stand
offen, und das Heck eines schweren SUV von Mercedes war zu
sehen.
„In der Tat“, staunte auch Ludwig. „Ich glaub‘ wir haben uns
den falschen Beruf ausgesucht. Sakra, sakra! Von so was können wir
nur träumen.“
„Das ist das Problem“, sagte Roderich. „Mit unserer
Verbeamtung haben wir das Gelübde der ewigen Armut abgelegt, und
daran wird sich auch nix ändern. Jedenfalls net in diesem
Leben.“
„Ich schätz‘, bei dem SUV in der Garage handelt es sich um
Reiningers Auto“, verlieh Ludwig seiner Vermutung Ausdruck. „Er
könnt‘ also daheim sein. Läuten wir einfach mal.“
Sie gingen zur Haustür, und Roderich legte den Daumen auf die
Klingel. Er läutete zweimal – dreimal und ein viertes Mal. Die
Gegensprechanlage blieb stumm.
„Vielleicht schläft er und hört die Klingel net“, knurrte
Ludwig. „Versuchen wir‘s nochmal mit dem Smartphone.“
Aber auch dieser Versuch war vergebens. Wieder meldete sich
nur die Mailbox.
„Da stimmt was net“, stieß Ludwig hervor und rüttelte an der
Haustür. Sie ließ sich nicht öffnen. „Ich geh‘ mal zur Rückseite“,
erklärte der Hauptkommissar. „Versuch du es noch einige Male mit
Läuten, Roderich.“
Der Angesprochene zuckte nur mit den Schultern.
Ludwig ging um das Haus herum. Auf der Rückseite, zum Garten
hin, befand sich eine große Terrasse, an diese schloss sich ein
Pool an. Stühle, ein Tisch und eine Hollywoodschaukel standen hier.
Eine Glastür führte ins Haus. Aber auch sie war verschlossen.
Ludwig trat dicht an die Tür heran, in der sich das
Sonnenlicht spiegelte, beschattete seine Augen mit der flachen Hand
und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Er konnte einen
Sessel und die Ecke eines Tisches erkennen und vermutete, dass es
sich bei dem Raum um das Wohnzimmer handelte.
Mehr war nicht zu erkennen. Also ging er zu einem Fenster
rechts von der Tür, mehrere Schritte von dieser entfernt, und
schaute hindurch. Hier war der Einfall des Sonnenlichts nicht so
stark, denn das Fenster lag im Schatten einer Baumkrone.
Der Hauptkommissar hatte das Gefühl, einen Stromschlag zu
erhalten, als er auf dem Teppich hinter einem zweiten Sessel einen
Fuß, der in einem weißen Sportschuh steckte, hervorragen sah. Der
dazugehörige Körper lag, verdeckt von den beiden Sesseln, zwischen
diesen und dem Tisch.
„Ich werd‘ ja nimmer!“, brach es aus Ludwig heraus. Er legte
beide Hände seitlich an den Kopf und schaute noch einmal durch das
Fenster, denn er wollte sichergehen, dass er keinem Trugbild,
hervorgerufen durch Lichtreflexe, zum Opfer gefallen war.
Er hatte sich nicht getäuscht. Da war der Fuß in dem
Sportschuh und darüber ein Knöchel, der aus einem hellen Hosenbein
ragte. Ein Irrtum war ausgeschlossen. „Da legst dich nieder“,
entfuhr es Ludwig. „Ich fress‘ einen Besen, wenn da drin net der
Reininger liegt.“
In die Gestalt des Hauptkommissars geriet Leben. So schnell es
seine Beine und der beachtliche Bauch zuließen, rannte er zur
Vorderseite des Hauses, wo Roderich tatenlos und mit vor der Brust
verschränkten Armen herumstand und mit der Schuhspitze in der Ritze
zwischen zwei Pflastersteinen herumbohrte. Als er Ludwig wie einen
geölten Blitz um die Ecke kommen sah, nahm er die Arme aus der
Verschränkung, reckte die Schultern und stand gerade. „Was …“
„Wir brauchen Verstärkung!“, rief Ludwig. „Im Wohnzimmer,
zwischen zwei Sesseln und dem Tisch, liegt einer und rührt sich
net. Ich ruf‘ in der Dienststelle an. Alarmier‘ du den
Rettungsdienst.“
„Na sauber!“, brummte Roderich, der augenblicklich begriff,
und angelte sein Handy aus der Jackentasche.
Ludwig hatte sein Smartphone bereits in der Hand und wählte
die Nummer der Polizeiinspektion an.
8
Zuerst tauchten die Ambulanz und der Notarztwagen auf, gleich
darauf kam auch schon ein Team der Einsatzbereitschaft der
Polizeiinspektion. Man verschaffte sich Zutritt zum Haus, und
Ludwig ordnete an, dass zunächst nur er und der Notarzt das
Wohnzimmer betraten. Ein Verbrechen war nicht auszuschließen, und
der Hauptkommissar wollte verhindern, dass Spuren zerstört
wurden.
Ein Mann, grauhaarig und Mitte fünfzig, lag bäuchlings
zwischen dem Tisch und den beiden Sesseln, deren Rückenlehnen zur
Terrassentür wiesen, am Fußboden. Sein Hinterkopf war nur noch eine
blutige Masse, und es bedurfte keines Gerichtsmediziners, um
erkennen zu können, dass ihm der Schädel zerschmettert worden
war.
Die Hoffnung Ludwigs, dass eine Kreislaufschwäche oder
eventuell auch ein Herzinfarkt den Mann umgeworfen hatte,
zerflatterte wie Rauch im Sturmwind. Die Erkenntnis, dass er vor
einem weiteren Mordfall stand, elektrisierte ihn regelrecht. Dass
der Tote Peter Reininger war, daran bestand kein Zweifel, und dass
der Mord an Reininger in einer engen Beziehung mit dem Mord an
Thomas Oberbichler stand, war für den Hauptkommissar keine
Frage.
Nachdem der Notarzt nur noch den Tod Reiningers feststellen
konnte, gab Ludwig den Kollegen von der Einsatzbereitschaft grünes
Licht. Ein Staatsanwalt wurde informiert und ein Gerichtsmediziner
kam. Wenig später fuhr auch der schwarze Kombi eines
Bestattungsunternehmens vor. Zunächst aber wurden die Beamten der
Spurensicherung tätig.
Ludwig und Roderich warteten auf der Terrasse. Sie wollten den
Kollegen nicht im Weg herumstehen, aber auch keine Spuren
vernichten oder neue legen, was nur zu zusätzlicher und
gleichzeitig überflüssiger Arbeit für die Profiler geführt
hätte.
Die Lebensgefährtin Reiningers, die an diesem Tag oben auf dem
Zweitausender den Kiosk des Getöteten betrieb, war verständigt
worden. Ihre Handynummer hatte Ludwig auf dem Smartphone des
Ermordeten, das auf dem Tisch im Wohnzimmer gelegen hatte,
gefunden.
Der Staatsanwaltschaft und der Arzt des Gerichts kamen auf die
Terrasse. „Der Tod dürfte dem ersten Augenschein nach zwischen ein
Uhr und zwei Uhr mittags eingetreten sein“, äußerte der Arzt.
„Reininger wurde mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf
getroffen. Der Schlag wurde mit derartiger Wucht geführt, dass der
Schädelknochen am Hinterkopf regelrecht zertrümmert wurde. Der Mann
muss sofort tot gewesen sein.“
„Es besteht kein Zweifel, dass es sich um Peter Reininger
handelt“, sagte der Staatsanwalt. „Es gibt keine Kampfspuren im
Haus, und den Gegenstand, mit dem Reininger erschlagen worden ist,
muss der Täter mitgenommen haben.“
„Beide Türen waren versperrt“, murmelte Ludwig wie in
Gedanken. „Einbruchsspuren gibt es nicht. Auch sämtliche Fenster
sind heil. Das sagt mir, dass Reininger seinen Täter nichtsahnend
ins Haus gelassen hat. Also handelt es sich um jemanden, den er
gekannt und von dem er sich nichts Böses erwartet hat. Nach der Tat
hat der Mörder wahrscheinlich mit Reiningers Schlüssel die Haustür
abgesperrt und samt Mordwerkzeug und Schlüssel das Weite
gesucht.“
„So kann es sich abgespielt haben“, pflichtete Roderich seinem
Freund und Kollegen bei und kratzte sich am Kinn. „Seit dem Mord an
Oberbichler waren allenfalls zwanzig Stunden vergangen, als der
Täter hier zuschlug, und zwar, ehe wir Reininger in der Mordsache
Oberbichler vernehmen konnten.“
Ludwig musterte seinen Kollegen mit grüblerischem
Augenausdruck. „Du meinst, er wurde zum Schweigen gebracht?“, kam
es fragend über seinen Lippen.
„Ich schließe es zumindest nicht aus“, erwiderte
Roderich.
„Und warum hat jemand den Oberbichler ins Jenseits befördert?
Aus dem gleichen Grund?“
Roderich zuckte mit den Schultern. „Kann sein, kann aber auch
sein, dass er lästig geworden ist. Habgier kann eine Rolle spielen,
aber auch Hass.“
„Sehr richtig“, sagte Ludwig. „Drum sollten wir uns noch
einmal die Witwe Oberbichlers und seinen Sohn vornehmen. Und an die
Lebensgefährtin Reiningers hab ich sicher auch noch die eine oder
andere Frage. Außerdem gibt es noch einen vierten Mann, der zu der
Stammtisch- oder Kartenrunde gehört, die sich in der Regel freitags
im Gasthof Bergblick getroffen hat, nämlich Markus
Drehwinkel.“
„Ich schlag‘ vor, wir gehen die Sache der Reihe nach an“, gab
Roderich zu verstehen. „Als erstes würd‘ ich sagen, wir reden mal
mit jemand vom Bergblick. Dann nehmen wir uns den Drehwinkel vor,
und dann widmen wir uns den beiden im Moment
Hauptverdächtigen.“
„Der Witwe und dem Sohn“, fügte Ludwig hinzu. „Okay,
einverstanden. Wir warten auf die Lebensgefährtin Reiningers, reden
mit ihr und fahren dann von hier aus gleich zu dem Wirtshaus.
Morgen früh kommt der Drehwinkel in die PI. Er hat auf eine
förmliche Vorladung verzichtet. Am Telefon hat er mir bereits
angekündigt, dass er uns kaum etwas zu dem Mord sagen kann.“
„Er wird staunen, wenn er hört, dass den Reininger nunmehr das
gleiche Schicksal ereilt hat wie den Oberbichler.“
Ludwigs Brauen schoben sich zusammen. „Hoffentlich geht das
net weiter“, kleidete er die Befürchtung, die sich mehr und mehr
bei ihm einnistete, in Worte. „Ich mein‘, hoffentlich hat‘s der
Täter net auf den ganzen Stammtisch abgesehen – aus welchem Grund
auch immer.“
„Ein Auto nähert sich dem Anwesen!“, rief einer der Kollegen
durchs rückwärtige Fenster. Ludwig und Roderich begaben sich zur
Vorderseite des Hauses.
9
Ein weißer Kleinwagen fuhr auf den Hof des Anwesens, wurde
abgebremst, der Motor erstarb, und gleich darauf entstieg Peter
Reiningers Lebensgefährtin dem Auto. Die Nachricht, dass Reininger
tot in seinem Haus aufgefunden worden war, hatte sie offensichtlich
sehr mitgenommen. Sie war kreidebleich und wirkte um zehn Jahre
gealtert. Ihre geröteten Augen verrieten, dass sie geweint
hatte.
Sandra Wolfinger stand neben ihrem Auto und schien total
verunsichert zu sein.
„Komm“, forderte Ludwig seinen Kollegen Berger auf, ihm zu
folgen. Sie gingen auf die Frau zu und erregten ihre
Aufmerksamkeit. Doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Die beiden
Beamten hielten einen Schritt vor ihr an. Sie erkannten, dass die
Frau psychisch am Ende war. Ihre Mundwinkel zuckten, ihre Hände
zitterten, ihre Augen flackerten. Sie wollte etwas sagen, doch sie
brachte kein Wort hervor. Ihre Stimmbänder versagten.
„Es ist wohl besser“, murmelte Ludwig, „wenn sich zuerst mal
der Arzt um Frau Wolfinger kümmert. – Kommen S‘, Frau Wolfinger,
wir bringen Sie auf die Terrasse. Sie sind ja völlig aufgelöst. Der
Arzt, der noch vor Ort ist, wird sich Ihrer annehmen.“
„Das – das ist net nötig“, stammelte sie. „Was – was ist
geschehen? Man – man hat mir am Telefon lediglich gesagt, dass der
Peter tot in seinem Wohnzimmer gelegen hat. Warum ist so ein großes
Polizeiaufgebot hier?“
„Reden wir auf der Terrasse“, erwiderte Ludwig. „Sind S‘ in
der Lage, den Weg ohne Hilfe zurückzulegen, oder möchten S‘ sich
bei uns einhängen?“
„Ich schaff‘ das schon.“
Sandra Wolfinger und die beiden Beamten gingen um das Haus
herum. Auf der Terrasse angekommen setzten sie sich. Sandra
Wolfinger schaute Ludwig und Roderich abwechselnd an. Sie erwartete
eine Antwort auf die Fragen, die sie im Hof gestellt hatte.
Es kostete Ludwig Überwindung, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber
ihm blieb nichts anderes übrig. „Ihr Lebensgefährte ist einer
Gewalttat zum Opfer gefallen“, formulierte er vorsichtig seine
Aussage. „Jemand, wir wissen noch nicht, wer, hat ihm einen Besuch
abgestattet und wahrscheinlich seine Arglosigkeit
ausgenutzt.“
Sandra Wolfingers Kinn sank auf die Brust. Sie weinte leise,
Tränen rollten ihre Wangen hinunter. Schließlich schaute sie Ludwig
an, wischte mit dem Handrücken die Augenhöhlen aus und murmelte:
„Gestern der Thomas, heut‘ der Peter. Da muss doch ein Zusammenhang
bestehen. Als er von dem Mord an Thomas heut‘ früh gehört hat, war
er plötzlich wie ausgewechselt. Ich hatt‘ das Gefühl, dass er
nimmer in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.“
Sandra Wolfingers Stimme hatte an Festigkeit gewonnen. Sie
schien sich langsam zu beruhigen und wieder sicherer in ihrem
Auftreten zu werden.
„Hat er irgendwelche Äußerungen gemacht?“, fragte
Roderich.
„Haben Sie ihn nicht gefragt, warum ihn die Nachricht vom
gewaltsamen Tod seines Freundes derart aus der Fassung gebracht
hat?“, fügte Ludwig eine weitere Frage hinzu. „Dass ihn die
Hiobsbotschaft betroffen und fassungslos gemacht hat, ist
verständlich. Aber dass es ihn derart trifft, dass er nimmer klar
denken kann, das ist schon außergewöhnlich. Noch ungewöhnlicher
ist, dass er wenige Stunden später selber tot ist.“
„Ich hab gehört, wie er telefoniert hat. Thema war der Mord an
Thomas. Er war total aufgeregt. Als er gemerkt hat, dass ich im
Nebenzimmer bin, hat er die Tür zugemacht. Mit wem er telefoniert
hat und was gesprochen wurde, weiß ich net.“
„Das finden wir heraus“, murmelte Roderich. „Hatte Herr
Reininger Feinde? Wurde er bedroht?“
„Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte Sandra Wolfinger mit
lahmer Stimme.
„Hat er mit Ihnen über den Mordfall Oberbichler gesprochen?“,
hakte Ludwig nach.
„Nein. Er meinte nur, dass er net in der Lage sei, heut‘ im
Kiosk zu stehen. Drum hat er mich gebeten, heut‘ seinen Job dort
oben zu machen. Ich hab ihn noch gefragt, ob ich net lieber bei ihm
bleiben sollt‘, aber er hat geantwortet, dass er schon
zurechtkomme. Er müsse die Hiobsbotschaft verarbeiten und das wär‘
ihm im Kiosk, wo er ständig gefordert ist, net möglich.“
„Nun ja, ich kann mir vorstellen, dass es einen trifft, wenn
man aus dem Radio hört, dass einer seiner besten Freunde eines
gewaltsamen Todes gestorben ist“, erklärte Ludwig.
„Der Peter war fix und fertig“, murmelte Sandra Wolfinger.
„Jetzt bereu‘ ich es, dass ich auf ihn gehört und ihn allein
gelassen hab.“
„Ich halt‘s eher für einen Glücksfall, dass Sie net anwesend
waren, als der Mörder ins Haus gekommen ist, Frau Wolfinger“,
versetzte Ludwig im Brustton der Überzeugung.
10
Sandra Wolfinger konnte ihnen nichts sagen, das sie
weitergebracht hätte. Also fuhren die beiden Polizisten zum Gasthof
Bergblick. Es war inzwischen später Nachmittag. Der Inhaber des
Gasthofs, Karl Pfleiderer, stellte sich Ludwig und Roderich für ein
Gespräch zur Verfügung. Er wusste von dem Mord an Oberbichler; dass
auch Reininger tot war, erfuhr er durch Ludwig. Die Mitteilung
sorgte bei Pfleiderer für Bestürzung.
Sie saßen an einem Tisch im ansonsten verwaisten Nebenzimmer,
und die Ermittler stellten ihre Fragen. Zunächst wollten sie
wissen, ob der Gastwirt eine Ahnung hatte, wer Oberbichler und
Reininger nach dem Leben getrachtet haben könnte. Pfleiderer
verneinte spontan. „Sie hatten weder Streit untereinander“, sagte
er, „noch mit einem anderen Gast. Kleine Zwistigkeiten, wenn einer
mal die falsche Karte ausgespielt hat, gab‘s natürlich. Aber das
gehört zum Spiel und ist sicherlich kein Grund, jemand zu
ermorden.“
„Mit Sicherheit net“, stimmte Ludwig zu, der das Problem des
Nachtarockens beim Schafskopf nur zu gut kannte. Er formulierte
seine nächste Frage im Kopf und stellte sie sogleich: „Haben Sie
bemerkt, dass der Thomas Oberbichler in letzter Zeit öfter mal was
vergaß oder wirres Zeug geredet hat?“
Karl Pfleiderer schob die Unterlippe vor und dachte kurz nach.
Dann antwortete er: „Na ja, ein bissel sonderbar ist der Thomas
schon gewesen in letzter Zeit. Zweimal ist er der Kartenrunde schon
ohne jede Entschuldigung ferngeblieben und hat sich später damit
entschuldigt, dass er die Verabredung vergessen habe. Einmal hat er
geäußert, als die Rede auf einen mehrfachen Bankräuber gekommen
ist, den die Polizei dingfest gemacht hat, dass es früher viel
einfacher war, eine Bank zu überfallen und net erwischt zu werden.
Er könnt‘ ein Beispiel nennen, hat er sogar getönt, aber dann ist
ihm der Bernd ins Wort gefallen und hat ihn angefahren, er möge
endlich ausspielen und keine Volksreden halten.“
„Sie meinen den Bernd Dübner, wie?“, fragte Roderich.
„Genau. Zu mir hat der Bernd mal gesagt, dass der Thomas immer
vergesslicher werd‘ und viel dummes Zeug redet. Es sei wohl nur
noch eine Frage der Zeit, bis man ihn nimmer allein auf die Straße
lassen kann, weil zu befürchten ist, dass er nimmer
heimfindet.“
„Er deutete damit sicherlich an, dass er bei Thomas
Oberbichler eine beginnende Demenz vermutete“, schloss
Ludwig.
„Das nehm‘ ich an. Er hat auch beim Schafskopf immer mehr
Fehler gemacht. Ich glaub‘, wir alle haben diese Vermutung
gehabt.“
„Hat er sich vielleicht mal darüber ausgelassen, dass er mit
seinem Sohn Probleme hat?“, fragte der Hauptkommissar.
„Über den Kai hat er des Öfteren gemeckert. Mit der Art, wie
der Kai den Betrieb leitet, konnt‘ er sich net anfreunden, und
seine größte Angst war immer, dass der Kai das Unternehmen in den
Ruin führt.“
„Können S‘ mir etwas über das Verhältnis zu seiner Gattin
sagen?“, erkundigte sich Ludwig. „Nachdem er sich ziemlich abfällig
über seinen Sohn geäußert hat, wird er doch auch mal ein Wort
bezüglich seiner Frau verloren haben.“
„Sie haben doch net seine eigene Familie in Verdacht, den
Thomas auf‘m Gewissen zu haben, Herr Dampfmoser!“, platzte es aus
dem Gastwirt heraus. Er schaute den Beamten geradezu empört
an.
„Wir müssen den Fall nach allen Seiten abklopfen“,
rechtfertigte sich Ludwig. „Als Täter kommt jeder in Frage, der
sich im Dunstkreis des Opfers bewegt hat.“
„Ich etwa auch?“, entfuhr es Pfleiderer.
„Wo waren Sie denn gestern am frühen Abend um sieben Uhr?“,
wollte Roderich wissen.
Pfleiderers Gesicht zuckte zu dem Kommissar herum. „Ich war
hier!“, keifte er. „Ich glaub‘, es schlägt dreizehn! Haben Sie mich
wirklich im Verdacht? Ich glaub‘, ich spinn‘! Ich hab gestern und
heut‘ das Haus net verlassen. Das können meine Frau und meine
beiden Töchter bestätigen.“
„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte Ludwig. „Dass Sie mit
den Taten was zu tun haben, denkt keiner von uns.“
„Fragen S‘ ruhig meine Frau und beiden Madeln“, versetzte
Pfleiderer. „Ich war gestern und heut‘ daheim. Das können die
beschwören.“
„Regen S‘ sich net auf, Herr Pfleiderer“, beruhigte Ludwig den
Gastwirt. „Mein Kollege hat sich lediglich beiläufig nach Ihrem
Alibi erkundigt. Beantworten S‘ bitte meine Frage, ob der
Oberbichler Bemerkungen bezüglich seines Verhältnisses zu seiner
Gattin gemacht hat.“
„Eigentlich net. Zwei- oder dreimal hat er erwähnt, dass er
mit seiner Meinung über die Geschäftsführung seines Sohnes ganz
allein dastehe, woraus man vielleicht schließen kann, dass die
Kerstin zum Kai gehalten hat. Aber das ist nur eine Vermutung.
Sonst hat er sich net über seine Frau ausgelassen. Ich glaub‘, die
beiden waren über dreißig Jahre miteinander verheiratet und hatten
sich längst zusammengerauft.“
„Dreißig Jahre“, brummte Dampfmoser und nickte anerkennend.
„Eine verdammt lange Zeit. Dass einem nach dreißig Jahren der
Ehepartner vielleicht zum Hals raushängt, ist net mal so abwegig,
wie?“
„Der Thomas hat sich nie abfällig über die Kerstin geäußert“,
erklärte der Gastwirt.
„Das war auch nur eine rein rhetorische Aussage“, entgegnete
der Hauptkommissar. „Aus dem Leben gegriffen …“
Die Brauen Pfleiderers hoben sich ein wenig, aber er
kommentierte das Gesagte nicht. Stattdessen sagte er: „Das
Schafskopfquartett, wie ich es genannt hab, kennt sich – glaub‘ ich
– schon seit der Schulzeit, vielleicht sogar noch länger. Von denen
bringt keiner den anderen um. Warum auch? Jedem von ihnen geht es
gut, keiner muss dem anderen neidisch sein.“
Aus Karl Pfleiderer war nichts herauszuholen. Ludwig
unterstellte dem Gastwirt auch nicht, dass er ihm und Roderich
wissentlich etwas verschwieg. Er wusste nichts! Die familiären
Verhältnisse der vier Stammtischler kannte er nur am Rande. Das
einzige, was er den beiden Kriminalbeamten mit auf den Weg geben
konnte, war, dass Thomas Oberbichler hin und wieder eine negative
Äußerung über die Geschäftspraktiken seines Sohnes zum Besten
gegeben hatte.
Ludwig war der Meinung, dass es nur vergeudete Zeit war, zu
versuchen, mehr aus dem Gastwirt herauszuholen. „Von meiner Seite
wär‘s das, Herr Pfleiderer. Wenn mein Kollege keine Fragen mehr
hat, würden wir uns empfehlen. Sollt‘ Ihnen was einfallen, das
möglicherweise für uns von Nutzen sein könnt‘, dann rufen S‘ mich
bitte an.“
Er gab Pfleiderer eine von seinen Visitenkarten.
„Ich hab auch keine Fragen mehr“, erklärte Roderich.
Sie verabschiedeten sich. Im Auto sagte der Kommissar: „Meinst
du net auch, dass sich die Schlinge um den Hals Kai Oberbichlers
immer mehr zusammenzieht, Ludwig?“
„Ja, könnt‘ man fast meinen. Er besitzt Jagdgewehre, hat
sicher die Gewohnheiten seines Vaters und das Loch für den Hund im
Zaun gekannt, ist zunächst von seinem Vater genervt, weil der ihm
ständig dreinredet, und beginnt ihn zu hassen, als er immer wieder
hört, dass ihn sein Vater auch in der Öffentlichkeit negativ
kennzeichnet.“ Ludwig nickte. „Da kommen ein paar Motive
zusammen.“
„Und die Mutter Kais könnte in dieser Inszenierung auch eine
Rolle spielen“, spann Roderich den Faden weiter. „Thomas
Oberbichler drohte zum Pflegefall zu werden, im Falle eines
Unfalltodes wird die doppelte Lebensversicherungssumme fällig, und
sie hält von Haus aus mehr zu ihrem Sohn als zu ihrem Mann.“
Ludwig schaute auf die Uhr. „Heut‘ rentiert es sich nimmer,
dass wir noch was anfangen. Wir könnten zwar Kai Oberbichler und
seine Mutter noch ein bissel in die Mangel nehmen, aber hinterher
werden wir genauso weit sein wie jetzt. Außerdem frag‘ ich mich,
welche Rolle Peter Reininger in dem Mordfall Oberbichler einnehmen
sollt‘. Dass beide Morde in einem Zusammenhang stehen, ist für mich
keine Frage. Reininger passt net in die Geschichte, die wir eben
bezüglich eines Motivs von Seiten Kai Oberbichlers gestrickt
haben.“
„Vielleicht will man uns auf eine falsche Fährte locken“, gab
Roderich zu bedenken.
„Meinst du net, dass das ziemlich an den Haaren herbeigezogen
ist, Kollege?“, streute Ludwig seine Zweifel aus. „Das ist eine
Konstruktion, die mich an einen schlechten Krimi erinnert.“
„Wer weiß denn, was im Kopf mancher Leute vorgeht“, knurrte
Roderich leicht pikiert. „Es liegt im Bereich des Möglichen, und
daher können wir es net von vornherein ausschließen.“
„Reg‘ dich net auf, Kollege“, erwiderte Ludwig. „Es wird sich
zeigen, was dahintersteckt. Warten wir das Ergebnis der
Spurensicherung ab, reden wir morgen mit dem Drehwinkel und danach
noch einmal mit der Witwe und Kai Oberbichler, und wenn wir alles
an Material beisammen haben, selektieren wir, was wichtig für uns
ist und was net, setzen aus den Teilchen ein Mosaik zusammen und
nehmen auf diese Art und Weise vielleicht die richtige Spur
auf.“
„Dann machen wir für heut‘ Feierabend, wie?“, konstatierte
Roderich.
„So ist es. Übers Knie können wir in dieser Angelegenheit nix
brechen, und morgen ist auch noch ein Tag.“
„Von mir aus“, sagte Roderich. „Also fahren wir zur PI,
stellen den Dienstwagen in den Fuhrpark und versuchen ein paar
Stunden zu relaxen.“
Die Sonne war hinter den zerklüfteten Bergen im Westen
verschwunden, vergoldete mit ihrem Licht aber noch die Gipfel der
Felsen. Nicht mehr lange, dann würde sich der Tag nach und nach
verabschieden und dem Abend Platz machen.
11
Zu Hause angekommen stellte sich Ludwig Dampfmoser unter die
Dusche, zog sich einen bequemen Trainingsanzug an, machte sich ein
Weißbier auf, goss es in ein Weizenbierglas – und zerkaute eine
Verwünschung, weil sein Diensthandy dudelte. Er nahm das Gespräch
an. Es war ein Kollege, der Bereitschaftsdienst versah, der sich
meldete und sagte: „Man hat einen Mann namens Bernd Dübner tot in
seinem Taxi aufgefunden. Er war auf dem Weg zur Brombeerhütte, um
jemanden von dort oben abzuholen. Auf halbem Weg zu der Hütte muss
der Schütze gelauert haben. Das Taxi ist an der Leitplanke zum
Stehen gekommen. Wär‘ sie net gewesen, wär‘s mehr als hundert Meter
in den Abgrund gestürzt.“
„Mach‘ mich net verrückt!“, entfuhr es Ludwig. „Erst der
Oberbichler, dann der Reininger, und jetzt auch noch der Dübner!
Sie gehören zu ein und demselben Stammtisch. Sakra, Sakra! Das
Schafskopfquartett hat der Wirt vom Bergblick die vier genannt.
Jetzt fehlt‘s nur noch, dass dem Drehwinkel auch noch das Licht
ausgeblasen wird. – Ist schon jemand auf dem Weg zum Tatort?“
„Spurensicherung, Arzt, Staatsanwalt, Bestatter – alle sind
informiert. Den Roderich in Kenntnis zu setzen überlass‘ ich
dir.“
„Ausgerechnet jetzt, wo ich mir eine Halbe Weiße eingeschenkt
hab“, beschwerte sich Ludwig. „Na ja, ich werd‘ sie in den Ausguss
schütten. Schad‘ um das edle Getränk.“
„Es wär‘ net gut, würdest du eine Fahne haben, wenn du dort
oben ankommst und mit dem Staatsanwalt oder dem Medizinmann
sprichst“, sagte der Kollege lachend. „Nimm‘s leicht, Ludwig. Es
kommen auch wieder andere Zeiten.“
„Ja, ja, ausgesprochen tröstend. Okay, ich zieh‘ mich wieder
an und fahr los. Servus. Lass‘ dir die Zeit in der Dienststelle net
lang werden.“
Ludwig beendete das Gespräch, rief seinen Kollegen Berger an,
der mindestens ebenso betroffen und genauso wenig erfreut war, dass
die paar Stunden der Ruhe dahin waren, dann tauschte er den
Trainingsanzug gegen Straßenkleidung und verließ die Wohnung.
Einige Zeit später stieg Roderich zu, dann ging es in Richtung
der Berge, die das Tal nach Süden begrenzten. Sie wussten, dass die
Brombeerhütte auf einer Höhe von sechzehnhundert Metern lag. Eine
Wirtschaftsstraße führte hinauf, über die die Gaststätte mit allem
Notwendigen versorgt wurde.
Die Serpentinen waren ziemlich eng, alle zweihundert Meter
ungefähr gab es Ausweichstellen. Linkerhand erhob sich die
Steilwand, rechts war der Abgrund. Nur eine Leitplanke bot
Sicherheit. Wer hier fuhr, durfte nicht eine Sekunde in seiner
Achtsamkeit nachlassen. Es war ein lebensgefährliches
Unterfangen.