5 Gute Morde zum Weihnachtsfest 2024 - Alfred Bekker - E-Book

5 Gute Morde zum Weihnachtsfest 2024 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: Peter Haberl / Chris Heller: Commissaire Marquanteur, seine Kollegin und der Mörder Thomas West / Chris Heller: Commissaire Marquanteur und der Rennbahn-Erpresser Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und Ronjas letzte Entdeckung Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und Walters Ende Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und der Tote in der Speicherstadt Ein toter Jockey und zwei Polizistenmorde rufen die Force spéciale de la police criminelle, kurz FoPoCri, auf den Plan. Die Kriminalkommissare Pierre Marquanteur und François Leroc aus Marseille ermitteln gegen eine skrupellose Bande, die die Wettgeschäfte unter die eigene Kontrolle bringen will. Zur gleichen Zeit versuchen ein paar Polizisten, mit krummen Geschäften an das große Geld zu gelangen. Aber dieser Plan geht schief, und die FoPoCri ermittelt plötzlich in den Reihen der Polizei. Aber auch die Bande will es sich nicht bieten lassen, dass ausgerechnet Polizisten in ihrem Revier wildern.

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5 Gute Morde zum Weihnachtsfest 2024

5 Gute Morde zum Weihnachtsfest 2024

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Inhaltsverzeichnis

5 Gute Morde zum Weihnachtsfest 2024

Copyright

​Commissaire Marquanteur, seine Kollegin und der Mörder:

​Commissaire Marquanteur und der Rennbahn-Erpresse

Kommissar Jörgensen und Ronjas letzte Entdeckung

Kommissar Jörgensen und Walters Ende

Kommissar Jörgensen und der Tote in der Speicherstadt

5 Gute Morde zum Weihnachtsfest 2024

von Alfred Bekker, Peter Haberl, Chris Heller, Thomas West

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Peter Haberl / Chris Heller: Commissaire Marquanteur, seine Kollegin und der Mörder

Thomas West / Chris Heller: Commissaire Marquanteur und der Rennbahn-Erpresser

Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und Ronjas letzte Entdeckung

Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und Walters Ende

Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und der Tote in der Speicherstadt

Ein toter Jockey und zwei Polizistenmorde rufen die Force spéciale de la police criminelle, kurz FoPoCri, auf den Plan. Die Kriminalkommissare Pierre Marquanteur und François Leroc aus Marseille ermitteln gegen eine skrupellose Bande, die die Wettgeschäfte unter die eigene Kontrolle bringen will. Zur gleichen Zeit versuchen ein paar Polizisten, mit krummen Geschäften an das große Geld zu gelangen. Aber dieser Plan geht schief, und die FoPoCri ermittelt plötzlich in den Reihen der Polizei. Aber auch die Bande will es sich nicht bieten lassen, dass ausgerechnet Polizisten in ihrem Revier wildern.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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​Commissaire Marquanteur, seine Kollegin und der Mörder:

Peter Haberl & Chris Heller

Commissaire Marquanteur, seine Kollegin und der Mörder: Frankreich Krimi

von Peter Haberl & Chris Heller
Christine Jeannot, die Kollegin der Marseiller Kriminalkommissare Pierre Marquanteur und François Leroc, wird von einem gewissenlosen Verbrecher als Geisel genommen. Um das Leben der Frau nicht zu gefährden, müssen sich die Ermittler im Hintergrund halten – bis die Situation eskaliert.
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Kapitel 0/1: Der Schuss in der Stille
Die graue Decke über Marseille war ein stummer Zeuge, als ich an diesem sonnigen Montagmorgen, der nur in der Theorie ein schöner Tag sein sollte, im Kriminalkommissariat eintraf. Der rettende Duft von frisch gebrühtem Kaffee begrüßte mich, als ich meinen Platz an der Fensterfront einnahm, von wo aus ich einen Blick auf das geschäftige Treiben der Straße hatte. Der Hafen war nicht weit, und ich wusste, dass irgendwo zwischen den Docks der neue Fall auf mich und meinen Kollegen François Leroc wartete.
»Pierre«, rief François, als ich mich gerade mit einem Notizblock aufmachte, um die neuesten Berichte zu sichten. Seine Gestalt und die blitzenden Augen hinter der Brille machten ihn schnell als meinen treuen Partner in der Kripo Marseille erkenntlich.
»Ich habe das Gefühl, dass der Tag nicht lange friedlich bleibt«, murmelte ich in einer Mischung aus Vorahnung und Routine, als ich auf dem Stuhl Platz nahm. Das Büro war wie immer ein Sammelsurium aus Akten, Kaffeetassen und dem dauerhaften Geruch von altem Papier.
Monsieur Marteau, unser Chef, trat ein, gefolgt von einem Schutzpolizisten, dessen gestresstes Gesicht uns schon die erste Nachricht des Tages brachte. »Monsieur Marteau, worum geht’s?«
»Wir wurden zu einem Secondhandshop in Pointe-Rouge gerufen.« Er drückte seine rechte Hand auf den Tisch und schaute uns an, als wollte er uns die Schwere der Situation übermitteln. »Der Besitzer wurde erschossen aufgefunden.«
Das Wort erschossen hallte in meinem Kopf nach. Pointe-Rouge war für seine lebhafte Atmosphäre bekannt, die von den Klängen der Musik und dem Rauschen der Menschen lebte. Aber dass dort ein Mord geschehen war, machte mich weniger neugierig und zugleich mehr alarmiert. »Haben Sie Details?«
Der Polizeibeamte schnarrte mit den Lippen. »Er wurde hinter dem Tresen aufgefunden, anscheinend während der Öffnungszeiten. Ein paar Zeugen haben den Schuss gehört.«
»Wo ist der Laden genau?«, fragte ich, während ich mich griffbereit machte. François hatte bereits seinen Block in der Hand und die Augen auf mich gerichtet, bereit, das Gespräch in Gang zu bringen.
»In der Nähe der Rue d’Acoste, direkt gegenüber dem alten Bürgerhaus«, antwortete Monsieur Marteau. »Gehen Sie gleich hin und sprechen Sie mit den Zeugen. Ich komme nach, wenn ich die ersten Informationen aufbereitet habe.«
Dreißig Minuten später standen François und ich vor dem kleinen Magasin de seconde main mit der unauffälligen Fassade. Der Laden lag zwischen zwei viel frequentierten Kneipen, und der Lärm der Stadt war in der Luft allgegenwärtig. Mir wurde bewusst, dass ich hier vermutlich ganz andere Klänge erwartet hatte als das Knallen einer Waffe.
Die Haupttür war mit roten Absperrband geschützt. Eine junge Polizistin stand am Eingang und warf uns einen fragenden Blick zu. »Haben Sie Ausweispapiere?«
»Klar, hier.« Ich streckte meinen Ausweis aus, gefolgt von François, der seinen sekundär vorfischte. Plötzlich wurde die Atmosphäre drückend, als wir den Laden betraten. Mehrere Schaulustige standen an den Grenzen des Absperrbandes und beobachteten neugierig das Geschehen.
Der Secondhandshop - das “Magasin de seconde main” - war in ein kaltes Licht getaucht. Überall lagen alte Bücher, Kleider und Trödel in geschmackvoll chaotischer Anordnung. Der Geruch von abgestandenem Alkohol und frisch gegrillten Würstchen aus einer Brasserie in der Nähe vermischte sich in der Luft. Mein Blick fiel auf die kleine Verkaufstheke, hinter der, jetzt mit einem weißen Tuch abgedeckt, der tote Besitzer lag.
»Nehmen wir die Zeugen zur Seite, François«, sagte ich, während ich mich der Theke näherte. »Ich will mir ein Bild vom Tatort machen.«
François nickte.
Ein paar Momente später hörte ich François, der die Zeugen mit den richtigen Fragen konfrontierte. »Wann haben Sie den Schuss gehört? Haben Sie etwas gesehen?« Seine Stimme war ruhig, und ich wusste, dass es ihm helfen würde, den ersten Eindruck der Situation zu verarbeiten.
Ich betrachtete den Raum, untersuchte die Regale und versuchte, die Atmosphäre aufzunehmen. Hier hatten Menschen Geschichten entdeckt, weiße Träume gewünscht oder sich an alte Erinnerungen erinnert. Und jetzt lag hier ein Mann, ein Leben beendet durch Gewalt. Ich hatte noch keine Antworten, aber die ewige Gewissheit, wie wertvoll und fragil unser Dasein war, lastete schon jetzt schwer auf meinen Schultern.
»Pierre, die Zeugen sind bereit, ich werde jetzt mit dir sprechen.« François trat an mich heran und begann, den ersten Schritt zu machen, da er spürte, dass ich etwas Unausgesprochenes in der Luft wahrnahm.
Ich nickte, nahm einen tiefen Atemzug und trat hinter die Verkaufs-Theke, wo nun der tote Besitzer lag. Ich hatte das Gefühl, dass die Straßen von Pointe-Rouge mir noch einiges an Schmerz und Mysterien offenbaren würden – und es lag an uns, das Licht ins Dunkel dieser Tragödie zu bringen.
Kapitel 02: Die ersten Fäden
Ich kniete mich nieder, um einen genaueren Blick auf den Tatort zu werfen. Die Leiche des Ladenbesitzers lag in einer merkwürdigen Pose hinter der Theke, die vom Abstellraum in den Verkaufsbereich führte. An einem seiner Hände klebte eine rötlich-braune Flüssigkeit, die für mich nicht nur Blut, sondern auch das Ende eines ganz normalen Tages verkörperte. Auf der Theke selbst lag ein zerknitterter Zettel – ein letzter Hinweis auf das, was vielleicht geschehen war.
»Pierre, ich habe ein paar interessante Informationen von den Zeugen bekommen«, sagte François, als er zu mir trat. »Die meisten haben nur geschrien und waren geschockt, als der Schuss fiel, aber eine ältere Dame hat etwas gesehen. Sie behauptet, dass ein Mann in einem dunkelblauen Kapuzenpullover kurz davor aus dem Laden gerannt ist.«
Ich erhob mich und wischte mir die Knie ab. »Das ist ein Ansatz. Haben wir eine physische Beschreibung oder irgendeine besonderen Merkmale?«
»Sie hat gesagt, dass er eine auffällige Gitarre bei sich hatte. Die muss sie irgendwie bemerkt haben, als er vorbeirannte«, erklärte François. »Das könnte auf einen Straßenmusiker hindeuten. Hast du dir das hier schon angeschaut?«
Ich beugte mich über den Zettel auf der Theke und begann ihn vorsichtig zu untersuchen. Er war handgeschrieben, fast hastig, als ob der Besitzer noch etwas mitteilen wollte. Die Buchstaben waren ordentlich, aber unruhig, die Linien schwankten leicht: »Lass uns das Ende der Woche besprechen. Ich werde alles klären.«
Als ich den Zettel umdrehte, bemerkte ich, dass auf der Rückseite eine Telefonnummer notiert war. »Könnte das wichtig sein?«
»Möglich. Lass uns die Nummer prüfen, sobald wir hier fertig sind«, sagte François, während er sich umschaut. »Vielleicht gibt es in den Regalen etwas, das uns mehr über den Besitzer verraten kann.«
Wir durchsuchten den Laden und durchstöberten die Regale. Die meisten Artikel schienen gewöhnlich, aber das Gesamtbild des Ladens schien ein solches Durcheinander von Geschichte und Vergangenem zu sein, dass ich mich fragte, welche Geheimnisse er verbarg. Zwischen ein paar alten Vinyl-Platten fand ich ein abgerissenes Stück eines Puzzles – ein ganz normales Foto eines Pärchens, das in den Hafen von Marseille blickte. Ihre Gesichter waren unkenntlich, aber der Ausblick im Hintergrund sprach Bände über die Stadt, die ich kannte und liebte. Hier hielt ich einen Teil der Vergangenheit in der Hand, den ich nie verstehen könnte.
»Pierre, schau dir das an!« François rief und hielt mir eine alte Quittung entgegen. »Das ist von vor zwei Wochen. Der Besitzer hat Bücher in rauen Mengen verkauft. Einer der Titel ist«, er prüfte die Quittung und hielt inne, »eine erste Auflage von einem alten Krimi, und hier steht Wenigstens 500 Euro. Das könnte uns auch zu einem Motiv führen.«
»Ich wusste gar nicht, das Trödel so wertvoll sein kann.«
»Da kannst du mal sehen!«
»Ich lese nur noch E-Books.«
»Vielleicht entgeht dir da was.«
»Was denn? Der Schimmel im holzhaltigen Papier?«
»Pierre!«
»Ist doch wahr.«
Ich nahm die Quittung und betrachtete die Schrift: »Vor zwei Wochen – das ist merkwürdig. Möglicherweise sind wir hier auf etwas gestoßen, das jemandem wertvoll war.«
In diesem Moment spürte ich, wie die Gedanken in mir zu einem Muster zusammenfanden. »Hast du die letzten Verkäufe für diesen Laden geprüft? Wer hat das Buch gekauft? Gibt es irgendwelche Hinweise auf Probleme oder Konflikte?«
François nahm sofort sein Notizbuch hervor. »Ich kann die Buchung und den gesamten Kassenbericht anfordern. Vielleicht finden wir ja mehr über die Kaufhistorie.«
»Ja, das wäre gut«, antwortete ich und zog das Handydisplay hervor. Ich wählte die Nummer des zuständigen Ermittlers, um die Datenbank zu durchsuchen und die letzten Bewegungen in diesem Geschäft abzugleichen.
In der Zwischenzeit hatten wir den alten Mann und die beiden Frauen, die zur Tatzeit im Laden waren, noch einmal befragt. Besonders die alte Dame hatte uns einen Namen genannt, der mir merkwürdig bekannt vorkam. »Germaine Renard. Er soll ein alter Bekannter des Besitzers gewesen sein. Angeblich gab es Streitigkeiten zwischen den beiden.«
»Renard«, murmelte François. »Wir sollten einen Blick in seine Vergangenheit werfen und herausfinden, ob er eine Verbindung zur Gitarre oder dem Laden hat. Hat die Frau etwas über seine Erscheinung gesagt?«
»Nichts Konkretes, aber sie erwähnte, dass er oft mit einer Gitarre umherzog«, ergänzte ich nachdenklich. »Aber es ist so, dass wir es hier möglicherweise mit einem Stammgast zu tun haben, der mehr wusste, als er uns offenbarte.«
*
Gerade als ich den Zettel auf die Theke zurücklegte, betrat Monsieur Marteau den Laden. Sein Blick war nachdenklich. »Haben Sie Neuigkeiten?«
»Der Besitzer hat kürzlich einige wertvolle Bücher verkauft«, erwiderte ich. »Wir haben die Kontaktdaten des Käufers, und es gibt Information zu einem Mann namens Germaine Renard, der möglicherweise eine Rolle spielt.«
»Gut, setzen Sie die Ermittlungen fort. Ich werde Ihnen weitere Ressourcen zur Verfügung stellen. Wir müssen da dringend rankommen – es kann sein, dass sich der Fall ausweiten wird, wenn wir nicht schnell handeln.«
Ich nickte und sah François an. »Wir sollten die Spur nicht verlieren. Es gibt genug Verdächtige, und wir müssen jetzt alles abklappern, bevor alles im Nebel der Zeit verschwindet.«
Wir waren entschlossen, das Geheimnis hinter dem Mord im Magasin de seconde main zu entschlüsseln. Während wir uns ins pulsierende Leben von Pointe-Rouge mischten, wurde mir klar, dass die Straßen nicht nur unsere Ermittlungen enthüllen würden, sondern auch einige der dunkleren Geheimnisse der Stadt selbst.
Kapitel 0/3: Die Fäden ziehen sich zusammen
»Lass uns direkt nach dem Germaine Renard sehen«, sagte François und schnappte sich seine Jacke. Als er zur Tür trat, spürte ich ein unerklärliches Kribbeln in der Magengegend. Es fühlte sich an, als würde der Fall uns bereits unaufhaltsam in seine Tiefen ziehen.
Wir verließen den Magasin de seconde main und traten hinaus in die belebten Straßen von Pointe-Rouge. Die Sonne strahlte hell, aber ich konnte den Schatten der Ereignisse nicht abschütteln, die sich in einem der ansässigen Geschäfte abgespielt hatten. Menschen drängten sich vorbei, einige auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, andere auf dem Weg zum nächsten Café, während wir uns weiter dem Ziel näherten: einem heruntergekommenen Wohnblock am Ende einer schmalen Gasse.
»Laut dem, was ich über ihn herausgefunden habe, lebt Renard in einer kleinen Wohnung hier«, murmelte ich, während ich die Fassade des alten Gebäudes musterte. »Er scheint mit der Zeit ein bisschen verwittert zu sein.«
»Man könnte sagen, dass die Gitter vor den Fenstern ein Stück weit zu seinem Erscheinungsbild passen«, erwiderte François sarkastisch. »Ist er Musiker oder ein Künstler?«
»Irgendetwas in dieser Richtung. Der alte Mann könnte uns tatsächlich etwas über den Mord verraten oder sogar eine Verbindung zwischen dem Ladenbesitzer und irgendeinem der verlorenen Schätze herstellen, die wir noch nicht kennen.«
Wir betraten das Gebäude, das von der Zeit gezeichnet war. Der muffige Geruch von feuchten Mauern schwang uns entgegen, während die knarrenden Stufen uns in den zweiten Stock führten, wo Renards Tür stand. Kaum hatten wir geklopft, wollte ich die Nasenlöcher schließen und alles vergessen – nur um dem Geruch nicht direkt zu begegnen. Doch ich wusste, dass das unmöglich war.
Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen, das die Stille durchbrach. Vor uns stand ein älterer Mann, der, so schien es, schon bessere Tage gesehen hatte. Er trug einen abgewetzten Pullover, und die Hände waren knorrig, wie die Wurzeln eines alten Baumes. »Ja? Was wollt ihr?« Er schielte misstrauisch durch die offene Tür.
»Guten Tag, mein Name ist Marquanteur, und das ist mein Kollege Leroc von der FoPoCri. Wir würden gerne ein paar Fragen zu Monsieur Breton, dem Besitzer des Magasins de seconde main, stellen; der ist nämlich erschossen worden«, sagte ich höflich, während ich mich vorstellte.
Sein Gesicht verzog sich für einen Moment, und ich war mir nicht sicher, ob das durch Angst oder Verärgerung bedingt war. »Breton? Was hat der Todesschütze denn mit mir zu tun?«
»Nun, es gibt einige Hinweise, die Sie betreffen. Wären Sie bereit, mit uns zu sprechen?« François trat einen Schritt vor, und ich merkte, dass er den Mann ruhig und unvoreingenommen ansprach.
»Ich habe nichts zu sagen. Und ich habe auch nichts mit diesem Typen zu tun«, antwortete Renard und wollte die Tür schließen.
»Bitte, wir wollen nur helfen«, sagte ich schnell, als ich einen Fuß in die Tür stellte.
Er starrte uns an, und nach kurzem Zögern trat er zurück. »Kommen Sie rein, aber nicht lang!«
Wir traten in seine kleine, düstere Wohnung, die im Gegensatz zur Helle der Straßen draußen, ein Gefühl der Erdrücktheit verbreitete.
Sobald wir eintraten, fiel mein Blick sofort auf die Wände, die mit gelben und bräunlichen Farbtönen getüncht waren. Es wirkte fast so, als wären sie von der Zeit und der Einsamkeit gezeichnet. Eine Sammlung von Fotos hing dort, viele von ihnen verwackelt oder stark verblasst. Die Bilder zeigten verschiedene Zeitabschnitte aus Renards Leben: eine junge Frau mit schulterlangen Haaren, die unsinnig vor einer kleinen Bühne posierte; ein Bildungsurlaub mit Freunden auf einem alten Boot; schließlich Renard selbst, wie er in der Innenstadt von Marseille Gitarre spielte.
Den Boden bedeckte ein schmutziges, abgewetztes Linoleum, dessen Muster nicht mehr zu erkennen war. Überall lagen unordentlich Stapel von Zeitschriften, Schallplatten und krumm gefalteten Papieren, als ob der Raum selbst von einer nachlässigen Kreativität überwältigt worden wäre. Morgendliches Licht fiel schüchtern durch das Fenster, das mit einem schäbigen, grau gemusterten Vorhang verhangen war, und sorgte dafür, dass die Atmosphäre der Wohnung kaum etwas von der Strahlkraft der Stadt draußen behalten hatte.
In einer Ecke stand eine ausgediente Couch, die nach Jahren des Gebrauchs ungemütlich und durchgesessen wirkte. Auf ihr lagen zerknitterte Überreste von Decken und ein abgewetztes Kissen, als hätte Renard oft in diesem Raum gelebt, ohne eine Idee, wie er einen Neuanfang gestalten könnte. Daneben stand ein Tisch, auf dem ein paar leere Kaffeetassen standen, fast wie stille Zeugen des Lebens eines einsamen Künstlers. Ein kleiner Holzschrank quälte sich mit dem Gewicht zahlreicher Bücher und Notenblätter, und ich sah sofort, dass die Musik eine große Rolle in Renards Alltag spielte.
Besonders auffällig war die Gitarre, die in der linken Ecke der Wohnung stand. Sie war von einer dickeren Schicht Staub bedeckt, aber ich konnte das zarte Holz und die bunten Bünde erkennen, die auf viele Auftritte und Stunden des Übens hindeuteten. Diese Gitarre war wahrscheinlich mehr als nur ein Instrument für Renard – sie schien für ihn eine Art Verbindung zur Welt zu sein, die er nur noch selten spielte.
In der Küche lag ein Chaos aus nicht abgewaschenem Geschirr, und der Kühlschrank war im Vergleich zu den anderen Möbeln eine freudlose Erinnerung an Vergangenheit und Gegenwart. An den Wänden hingen alte Plakate von vergangenen Konzerten und Musikfestivals, die für einen kurzen Moment den Eindruck einer glanzvollen Zeit vermittelten, die in der Gegenwart jedoch längst verblasst war.
Insgesamt strahlte die Wohnung eine seltsame Mischung aus Nostalgie und Melancholie aus. Es war der Rückzugsort eines Mannes, der irgendwann in der Zeit gefangen schien – verloren zwischen den Erinnerungen an gescheiterte Träume und dem täglichen Überlebenskampf im hektischen Treiben von Pointe-Rouge
»Wie lange kannten Sie Monsieur Breton?«, fragte ich, während ich mich umschaute.
»Ich kenne ihn schon lange. Er hat die besten Second-Hand-Bücher, die man finden kann, und er hat mir immer einen Rabatt gegeben, als ich ihm bei den Sammlungen half«, murmelte Renard. Seine Stimme zitterte, doch er war bereit, mehr als nur Bruchstücke von seiner Beziehung preiszugeben.
»Ein Rabatt also. Haben Sie in letzter Zeit mit ihm gesprochen?« François war direkt.
»Ich … wir hatten einen Streit. Das war vor ein paar Wochen. Etwas über ein wertvolles Buch, das ich ihm abkaufen wollte, aber er wollte nicht verkaufen. Es war ein alter Krimi aus einer ersten Auflage. Ich war wütend, weil ich dachte, er hätte es nur für den Laden gefunden und weggeworfen.«
»Hatten Sie noch weiteren Kontakt nach diesem Streit?« Ich stellte die Frage, während ich die kleine Wohnung auf Hinweise durchforstete.
Renard sah missmutig zu den Fenstern, deren Vorhänge ihn vor den neugierigen Blicken der Nachbarn schützten. »Ich habe ihm ein paar SMS geschrieben, aber er hat nie geantwortet.«
Ich zog mein Handy heraus und öffnete die Notizen. »Könnten Sie uns Ihre Nachrichten zeigen? Vielleicht können wir mehr über den Konflikt herausfinden, der ihn getroffen haben könnte.«
»Was, wenn ich Ihnen sage, ich habe sie gelöscht? Was dann?« Er starrte uns entgegen mit einer Art abwehrender Haltung.
»Ich kann das nicht beurteilen«, meinte ich, und seine Augen weiteten sich.
»Ich wusste, dass er etwas vorhatte, aber ich habe nichts, absolut nichts damit zu tun«, murmelte Renard und senkte die Stimme.
»Was meinen Sie?«
»Gute Frage. Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
Ich war mir im Klaren, dass es hier mehr gab. »Kennen Sie irgendwelche anderen Leute in der Umgebung, die was mit Breton zu tun hatten?«
»Ja, da gibt es Coriand. Er ist ein Straßenmusiker und hat eine Gitarre. Manchmal singen sie zusammen. Er kann hinter irgendwelchem Kram stecken, aber ich kenne ihn nicht gut.«
Coriand. Der Name leuchtete wie ein neonfarbener Wegweiser in meinem Kopf. Das war der unauffällige, aber charmante Musiker, von dem man viele Geschichten hörte, der aber normalerweise im Schatten von Pointe-Rouge lebte. Früher hatten wir Kontakt.
»Könnten Sie uns seine Kontaktdaten geben?«
Nach einem langen Moment der Stille, in dem ich seine Gedanken zu deuten versuchte, gab Renard nach. »Ich habe eine alte Nummer. Er hat gerade einen Gig im Club Miracle. Wenn ich ehrlich bin, habe ich im Club nicht viel mit ihm gemacht. Aber wenn Sie ihn ansprechen, gehen Sie vorsichtig damit um.«
Wir dankten Renard für die Informationen und verließen seine Wohnung. Während wir die Treppen hinunterstiegen, winkte ich François näher heran. »Lass uns dort hinfahren. Wenn Coriand eine Verbindung zu unserem Mord hat, müssen wir alles Mögliche herausfinden.«
Wir fuhren in mein Auto und machten uns auf den Weg zum Miracle, einem der vielen anderen Nachtclubs, die Marseilles Rue d’Acoste so lebendig machten. Der Weg dorthin war ein Mix aus Vorfreude und dem unangenehmen Gefühl, dass wir uns in die dunkelsten Ecken der Stadt wagten. Aber das war das Wesen unserer Arbeit – tief in die Schatten zu dringen, um das Licht der Wahrheit zu finden. Und ich war fest entschlossen, die Fäden in diesem Mordfall zu entwirren.
Kapitel 0/4: Die Spuren der Vergangenheit
Wir verließen Germaine Renards Wohnung mit einem Gefühl der drängenden Neugier und schweren Gedanken. Während wir die Treppen hinunterstiegen, sprachen wir über die Bedeutung seiner Aussagen. François schüttelte den Kopf. »Es klingt, als wäre er sehr an den alten Büchern interessiert gewesen. Aber was kann die Gitarre damit zu tun haben? Vielleicht wusste er konkret, was in der Nacht des Mordes vor sich ging?«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte ich und öffnete die Autotür auf der Fahrerseite. »Die Tatsache, dass er ein älterer Freund des Besitzers war und der Streit über das Buch, könnte durchaus eine grundlegende Motivation darstellen. Doch wir müssen das Puzzle zusammenfügen. Lass uns zu dem Club Miracle fahren und den Musiker Coriand aufsuchen.«
Der Verkehr in Marseille war typischerweise chaotisch, aber etwas in der Luft fühlte sich an wie ein stiller Hinweis auf das, was noch kommen sollte.
»Du glaubst also nicht an Zufälle, oder?«, fragte François, während wir durch die lebhaften Straßen fuhren, die von Lichtern und Geräuschen von Leuten, die in die Kneipen strömten, gefüllt waren.
»Eher an unglückliche Wahrscheinlichkeiten«, antwortete ich. »Es scheint mir, als ob sowohl Renard als auch der tote Ladenbesitzer in einem Netz gefangen sind, das sich weiter ziehen könnte, als wir es bislang erkannt haben.«
Als wir den Club erreichten, war die gruselige Atmosphäre der Bar sofort zu spüren. Der Eingang war schmal und von bunten Lichtern geschmückt, die dem Ort etwas Lebhaftes und zugleich Düsteres gaben. Drinnen drang der Klang einer akustischen Gitarre und einer feinen Jazzstimme durch die Raumluft, während sich eine Menge Menschen dicht gedrängt um die kleine Bühne versammelte.
»Da ist er«, murmelte François, als wir den Musiker entdeckten, der tief in die Klänge seiner Musik versunken war. Coriand hatte eine schmächtige Gestalt, und sein schulterlanges, zerzaustes Haar reflektierte viele Facetten der Lichtspiele im Raum. An der Wand hinter ihm hingen weitere Gitarren, und die energetische, melancholische Melodie bot einen reizvollen Kontrast zu den Gesprächen und dem Gelächter rundherum.
»Wir sollten ihn während einer Pause ansprechen – sein Set könnte gleich zu Ende sein«, sagte ich und wies auf die Menge. Tatsächlich endete das Lied gerade, und die Zuschauer applaudierten begeistert.
Als Coriand eine kurze Pause einlegte, schickten wir uns an, ihn zu kontaktieren. »Entschuldigen Sie, Monsieur Coriand«, begann ich, als ich an die Bühne trat und François dicht an meiner Seite hatte. »Könnten wir einen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen? Wir sind von der FoPoCri.«
Coriand zuckte kurz zusammen und sah uns mit überraschtem Blick an. »Polizei? Was ist denn passiert?«
»Wir ermitteln im Mordfall von Monsieur Breton, dem Besitzer des Magasins de seconde main in Pointe-Rouge. Wir haben einige Hinweise, die Sie betreffen könnten«, erklärte ich und sah in seine durchdringend klaren Augen.
»Monsieur Breton? Das ist schrecklich«, murmelte Coriand und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das zugestoßen ist. Er war ein netter Typ.«
»Uns interessiert Ihre Verbindung zu ihm. Monsieur Renard hat erwähnt, dass Sie manchmal zusammen gespielt haben. Was können Sie uns darüber sagen?«, fragte François weiter.
Coriand wirkte etwas angespannt, als er aus dem Publikum herausstieg und auf uns zukam. »Wir haben uns in der Vergangenheit getroffen und zusammen Musik gemacht. Aber das war alles einfach … Du weißt schon, mehr so beiläufig. Ich habe nie wirklich einen eigenen Platz hier gefunden. Und nachdem er diesen Streit hatte, ist alles irgendwie auseinandergegangen.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass Renard und Leroc ein gutes Verhältnis hatten, bevor es zu dem Streit kam?«, führte ich das Gespräch weiter.
»Das ist schwer zu sagen. Sie sind alte Freunde, aber ich habe nie wirklich mitbekommen, wie die Dynamik zwischen den beiden war«, erklärte Coriand und sah dabei nervös umher, als störten wir den Fluss der Feierlichkeit um uns herum. »Aber ich kann Ihnen sagen, dass Monsieur Breton mehr mit seiner Musiksammlung beschäftigt war als mit seinen Geschäften. Er war ein leidenschaftlicher Sammler.«
»Wissen Sie, ob Renard mit ihm über den Streit gesprochen hat? Vielleicht sogar in einer emotionalen Weise?«, fragte ich weiter, während ich sein Gesicht genau beobachtete. Eine Anspannung schien deutlich auf seinem Gesicht zu liegen.
»Wie gesagt, ich habe da nicht weiter auf die beiden geachtet. Es gab nicht viel Kommunikation nach dem Vorfall«, antwortete Coriand und ließ den Blick auf den Boden sinken. »Aber er ist nicht der einzige Mensch, der sich für alte wertvolle Bücher interessiert. Viele wissen über ihre Werte Bescheid.«
Hinter uns bemerkte ich, wie die Mauer der Zuschauer wieder aufbrach und ein paar neugierige Ohren unsere Konversation belauschten. »In Ordnung, ich verstehe. Wenn Sie sich erinnern, wenden Sie sich bitte an uns«, sagte ich. »Es könnte sehr wichtig sein.«
»Ja, klar«, sagte Coriand und eilte zurück zur Bühne. Ein Teil von mir war frustriert, dass wir nur an der Oberfläche gekratzt hatten.
»Komm, lass uns sehen, ob wir noch weitere Informationen sammeln können. Vielleicht hat jemand etwas gehört oder gesehen, was wir bisher übersehen haben«, schlug François vor, während wir uns durch die Menge zurück zum Ausgang drängten.
»Wir müssen auch Renard wieder auf den Plan rufen, bevor wir zu umfassend von dieser Spur abweichen«, erwiderte ich. »Etwas sagt mir, dass da mehr dahintersteckt. Vielleicht sind wir nur peripher an dem aufgetauchten Verdächtigungen vorbeigegangen.«
Als wir die Bar verließen und uns wieder hinaus in die pulsierende Nacht Marseilles begaben, fühlte ich, wie eine kühlere Brise über mein Gesicht strich. Es war eine Stadt voller Geheimnisse, Lügen und der schillernden Wahrheit, und ich wusste, dass es an uns war, jeden einzelnen der Fäden zu entwirren und das verborgene Netz aufzudecken, das uns in die Dunkelheit zu ziehen drohte. Unser Weg war noch nicht zu Ende – er war erst der Anfang, und in den Verstrickungen dieser Stadt lebte ein verworrenes Geheimnis, das darauf wartete, aufgedeckt zu werden.
Kapitel 0/5: Das Netz zieht sich zu
Die nächsten Tage waren geprägt von hektischen Nachforschungen und ständigen Verhören, die uns durch die schummerigen Straßen und schattigen Ecken von Pointe-Rouge führten. Wir kontaktierten alte Kunden und Vertraute des Magasins de seconde main, um weitere Hinweise zu sammeln und das Puzzle weiter zusammenzufügen. Coriand hatte uns jedoch keine neuen Informationen geliefert, und auch Renard ließ uns im Ungewissen.
Doch dann erhielt ich einen Anruf von einem meiner Kollegen, der im Hintergrund des Kriminalfalles nachforschte. »Pierre, ich habe etwas für dich, das vielleicht der Schlüssel zu unserem Fall sein könnte.«
Ich setzte mich mit einem Notizblock an meinen Schreibtisch und hörte gespannt zu. »Was hast du?«
»Die Autopsie von Monsieur Breton. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Schuss aus kurzer Distanz abgegeben wurde. Es könnte bedeuten, dass er den Täter kannte oder diesen nicht als Bedrohung wahrgenommen hat.«
»Das passt zu dem, was wir über die Beziehungen im Umfeld wissen. Hast du auch etwas über die Ballistik?«
»Ja, wir konnten die Kugel identifizieren. Sie gehört zu einem bestimmten Modell, das schon mal in einem Fall von Notwehr benutzt wurde«, erklärte er. »Und rate mal, wer der Besitzer ist?«
»Germaine Renard?«
»Genau. Der arbeitet nämlich zeitweilig nebenbei als Nachtwächter bei einer Sicherheitsfirma und hat deswegen einen Waffenschein. Der Kollege hat gerade seine Wohnung durchsuchen lassen.«
In diesem Augenblick spürte ich, wie sich ein Knoten in meinem Magen bildete. »Könnten wir ihn verhaften?«
»Wir haben genug Beweise, um den Haftbefehl zu erwirken. Die zuständigen Richter sind bereits informiert. Wir sollten uns beeilen, bevor er verschwindet.«
Ich schnappte mir François, und wir stürzten uns ins Auto, bereit zur Verhaftung. Die Sorge, dass Renard verschwinden könnte, nagte an mir. Die Straßen von Pointe-Rouge wirkten jetzt fremd und feindselig, als wir die blinkenden Lichter hinter uns ließen.
Als wir vor Renards Wohnung ankamen, war der Zorn und die Dringlichkeit in mir wie ein Schatten, der nicht verblassen wollte. »Noch einmal darauf hinweisen, wenn wir ihn verhaften, er könnte alles leugnen und uns aus dem Konzept bringen«, murmelte ich.
»Das machen wir nicht. Bleib einfach ruhig, Pierre«, beruhigte François mich und sprang als erster aus dem Auto.
Die Tür der Wohnung stand leicht offen, als wir eintraten. Die Polizei vor uns hatte keine Zeit verloren, um die Ermittlungen aufzunehmen. Mehrere Beamte durchsuchten den Raum.
Renard saß auf der Couch, sein Blick war leer, als er uns sah. »Was ist los? Was wollt ihr von mir?«
Ich trat vor ihn. »Germaine Renard, Sie werden wegen des Mordes an Monsieur Breton verhaftet.«
Sein Gesicht erhellte sich in einer Mischung aus Schock und Unglauben. »Ich habe mit diesem Mord nichts zu tun! Was für ein Unsinn!«
»Die Beweise sprechen für sich, Renard. Ihr Streit war laut mehreren Zeugen bekannt, und jetzt haben wir auch die Ballistik, die Ihren Namen mit dem Mord verbindet«, sagte ich und hielt ihm die Unterlagen vor die Nase.
François legte ihm Handfesseln an. »Die tödlichen Verletzungen von Breton hängen mit Ihrer Schusswaffe zusammen. Das wissen Sie, und schließlich haben Sie noch eine weitere Verbindung zur Gitarre und den Treffen in der Bar eingeräumt.«
Renard zuckte zusammen, als die Realität einbrach. »Ich habe nie gewollt, dass es so weit kommt. Wir hatten nur einen Streit und ich …«
»Und das hat Sie nicht daran gehindert, ihn zu töten!«, warf ich ihm vor.
»Es war nicht so, wie es scheint. Ich wollte ihn nicht umbringen! Das war alles völlig falsch!«
Sein Bestreiten war vergebens, und obwohl es in mir fordernd arbeitete, empfand ich auch ein gewisses Mitgefühl für das gebrochene Wesen vor mir. Er war ein Mann, der von seiner Vergangenheit und seinen Entscheidungen gefangen war.
»Sie haben in einem Moment des Zorns gehandelt und sehen nun die Konsequenzen dieser Entscheidung«, sprach ich leise, während die Beamten Renard von der Couch aufstanden und ihn mitnahmen. Die Atmosphäre in der Wohnung war jetzt schwer wie bleierne Luft, und ich konnte nur darüber nachdenken, wie viele andere Geschichten in diesen Wänden verborgen waren.
Als wir die Wohnung verließen, war ich mir sicher, dass die Ermittlung beendet war, und doch wusste ich, dass Marseille weiter in Bewegung blieb – mit seinen Schatten und den geheimnisvollen Nächten, die noch zu erzählen hatten.
François sagte: »Jeder ist ein Produkt seiner Entscheidungen und seiner Umgebung. Aber nur wenige bekommen eine zweite Chance«, murmelte ich, während wir uns in das Auto setzten.
Das Licht der Stadt umrahmte uns, während wir zurück zur Wache fuhren. Der Fall war geschlossen, aber ich wusste, dass ich die Verantwortlichkeit für all das, was geschehen war, nicht einfach ablegen konnte. Es gab noch immer viele, die in den Schatten lebten, Abdrücke vergangener Geschichten und unerfüllter Träume.
Und ich war fest entschlossen, dem Stadtteil Pointe-Rouge weiterhin die Aufmerksamkeit zu schenken, die er verdiente. In den labyrinthartigen Gassen würde ich immer einen Teil von Bretons und Germaine Renards Geschichte mit mir tragen, und, während die Nacht in ein sanftes Morgenlicht überging, wusste ich, dass mich die Geschichte Marseilles nie ganz loslassen würde – eine Stadt, geformt von der Vergangenheit und bereit zu offenbaren, was nicht gesagt werden konnte.
1
Unsere Mission war klar. Vor dem Hochhaus, in dem André Mussoni als Anlageberater und privater Geldverleiher ein Büro betrieb, bremste ich den Sportwagen. Ich fand sogar eine Parklücke, was in den Straßen Marseilles fast schon mit einem Haupttreffer in der Lotterie vergleichbar war, und manövrierte den Wagen hinein.
Wir hatten den Verdacht, dass Mussoni ein käuflicher Mörder war.
Finden Sie heraus, ob etwas dran ist an dem Verdacht, Pierre, François! Wenn ja, dann stellen Sie André Mussoni kalt.
Das war der Auftrag, den uns Monsieur Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police, der Chef der Force spéciale de la police criminelle, kurz FoPoCri, mit Nachdruck im Tonfall erteilt hatte.
Es war kein schwieriger Auftrag. Mussoni rechnete nicht mit uns. Dennoch verspürte ich Anspannung. Und auch um François’ Mund glaubte ich einen angespannten Ausdruck wahrzunehmen.
Wir standen vor dem Wegweiser in der Halle des Bürohochhauses. In der 4. Etage hatten André Mussoni und sein Partner ihren Betrieb etabliert.
Ich holte ein Walkie-Talkie aus der Jackentasche, ging auf Frequenz und murmelte in die Sprechmuschel: »Team eins an Team zwei. Kommen!«
»Hier Team zwei. Alles klar?« Es war die Stimme Christine Jeannots, der hübschen Kollegin, die aus dem Lautsprecher erklang.
Sie und Anne Francine warteten in einem Dienstwagen vor dem Hochhaus, für den Fall, dass André Mussoni François und mir durch die Lappen gehen sollte.
»Gut, Christine«, sagte ich. »Wir gehen jetzt hinauf. Macht euch für den Fall des Falles bereit!«
»In Ordnung, Pierre. Wir postieren uns am Eingang. Over.«
»Wir bleiben in Verbindung. Over.«
Ich steckte das Funkgerät ein, in der Überzeugung, dass wir die beiden Kolleginnen nicht bemühen mussten.
Der Mann hinter der Rezeption beobachtete uns desinteressiert. Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als hinter uns jemand die Halle betrat und zielstrebig zur Rezeption ging. Es war überhaupt ein Kommen und Gehen hier. Die beiden Aufzüge standen fast keinen Moment lang still. Manche Leute benutzten die Treppe. Die Drehtür des Eingangs war ständig in Bewegung.
Ich sagte: »Nimm du den Lift, François! Ich nehme die Treppe.«
»Hoffentlich trifft dich nicht der Schlag«, knurrte François mit Galgenhumor. »Vier Stockwerke sind in deinem Alter kein Pappenstiel.« Er grinste gallig.
»Deine Sorge um mich rührt mich zu Tränen«, gab ich mit schiefem Grinsen zurück. »Dennoch können wir ja ‘ne Wette abschließen, wer zuerst oben ist.«
»Na schön. Was wetten wir?«
»Ich wette einen Hunderter, dass du zuerst oben bist.«
François schaute mich verblüfft an. Plötzlich zuckten seine Brauen in die Höhe.
»Ha, ha«, machte er dann. »Unter die Witzbolde gegangen, wie?« Er legte den Daumen auf den beleuchteten Knopf, der den Aufzug ins Erdgeschoss holte.
Ich schaute auf die Stockwerksanzeige des Fahrstuhls. Er befand sich in der 13. Etage. Der andere Aufzug stand im Moment sogar im 21. Stockwerk.
»Bis gleich.«
Ich sprach es und schritt zur Treppe.
Als ich einen Blick über die Schulter warf, war der Aufzug, auf den François wartete, in der 11. Etage.
Mein Ehrgeiz war herausgefordert. Ich beeilte mich. Und als ich von unten nicht mehr zu sehen war, nahm ich immer zwei Stufen gleichzeitig. Etwas atemlos kam ich oben an. Der Aufzug befand sich im Erdgeschoss. Unwillkürlich grinste ich vor mich hin.
Ich orientierte mich.
Gegenüber der Treppe waren die Lifts. Linker Hand führte eine doppelflügelige Glastür in den Korridor mit den Büroräumen einer privaten Entsorgungsfirma. Rechts waren hinter einer identischen Glastür die Büroräume der Star Finance Capital Management & Consultation Compagnie, wie André Mussoni und sein Kompagnon das Unternehmen getauft hatten.
Ich ging zu der Tür, auf deren rechtem Flügel in schwarzen Druckbuchstaben der Firmenname, die Öffnungszeiten, Telefon- und Faxnummer sowie ein Werbeslogan angebracht waren.
Ich musste fast schmunzeln. Wir kamen während der Öffnungszeit. Andernfalls hätte es einer besonderen Terminvereinbarung bedurft. Uns bei André Mussoni anzumelden wäre allerdings nicht ratsam gewesen.
Ich warf einen Blick auf die Leuchtziffern über der Aufzugtür. Der Lift befand sich im 2. Stock. Die Nummer 3 leuchtete auf, dann hielt die Kabine in der 4. Etage. Die Edelstahltüren fuhren lautlos auseinander. Ich sah vier Leute in der Kabine. François trat ins Treppenhaus, hinter ihm schloss sich die Tür wieder.
»Ich kriege hundert Euro von dir«, grinste mein Partner schief.
»Haben wir vielleicht gewettet?«, versetzte ich. »Aber wir können das gerne nachholen. Wetten, dass Mussoni sich nicht kampflos ergibt, wenn er das ist, wofür wir ihn halten.«
»Diese Wette würdest du gewinnen«, winkte François ab und holte die Walther P 99 aus dem Holster. »Auf in den Kampf, Torero«, tönte er.
Auch ich zog blank. Dann stieß ich die Tür auf.
Es war Punkt 9 Uhr. Wir betraten die Anmeldung. Die nicht mehr ganz taufrische Dame hinter dem Tresen schaute uns durch funkelnde Brillengläser verdutzt an. Der Anblick der Pistolen in unseren Fäusten ließ ihren Mund aufklaffen. Hielt sie uns für Einbrecher? Der Schrei, der sich in ihr hochkämpfte, erstickte in der Kehle und reduzierte sich auf ein klägliches Stöhnen.
»Zu Monsieur André Mussoni«, stieß ich hervor.
Sie war wie gelähmt. Ihre Lippen bewegten sich. Eine unsichtbare Hand schien sie zu würgen.
In diesem Moment – wahrscheinlich hatte der Teufel die Hand im Spiel – öffnete sich die Tür zum anschließenden Büro. In ihrem Rahmen stand – André Mussoni.
Für die Spanne zweier Herzschläge starrte er François und mich entsetzt an. Dann kam bei ihm das Begreifen, denn die Glätte in seinem Gesicht zerbrach, er knirschte eine Verwünschung, wirbelte herum und warf die Tür zu.
François und ich schüttelten unsere Überraschung ab. Wir setzten uns gleichzeitig in Bewegung. Mit zwei Schritten waren wir bei der Tür. Mit dem dritten Schritt glitten wir auseinander und bauten uns an der Wand auf.
Keinen Sekundenbruchteil zu früh, denn in dem Raum, in dem sich Mussoni befand, begann eine Pistole trocken zu wummern. Die Kugeln stanzten einige Löcher in die Türfüllung. Der Krach war infernalisch. Holzsplitter flogen. Ich dankte dem Himmel, dass die Sekretärin nicht in der Schusslinie stand.
Eine Tür schlug nebenan.
Unser Verdacht, dass André Mussoni alles andere war als ein rechtschaffener und hart arbeitender Anlage- und Vermögensberater, hatte sich auf brutale Weise bestätigt. So wie er reagierte nur ein eiskalter Mörder.
Ich bedeutete François, hier zu bleiben, verließ das Büro und stand wieder auf dem Flur. Mussoni hatte sein Büro durch die Tür zum Korridor verlassen und rannte zur Glastür. Ich hob die Walther P 99. »Stehenbleiben! FoPoCri!«
Mussoni wirbelte herum und legte auf mich an. Ich stieß mich ab, überquerte mit einem kraftvollen Satz den Flur und landete in der Türnische auf der anderen Seite. Mussonis Schuss dröhnte wie eine Explosion. Die Kugel schrammte über die Wand und schlug an der Stirnseite des Korridors ein Loch in die Fensterscheibe.
Mussoni warf sich gegen die Glastür. Sie flog auf. Der Verbrecher hechtete ins Treppenhaus. Der Flügel der Glastür schloss sich automatisch. Ich wagte nicht zu feuern, denn wenn ich den Verbrecher verfehlte, würde meine Kugel die Glastür auf der anderen Seite des Treppenhauses durchschlagen, und dort konnten Beschäftigte der Entsorgungsfirma herumstehen.
Mussoni hatte nicht so viele Gewissensbisse. Ich sah ihn auf die Beine schnellen und die Waffe hochreißen. Der Schuss dröhnte, Scherben klirrten. Die Kugel pfiff an mir vorbei und hämmerte am Ende des Korridors ein zweites Loch in die Fensterscheibe. Auch in dem Türflügel mit den Öffnungszeiten war jetzt ein Loch. Und Mussoni war verschwunden.
Auf der anderen Seite sah ich François in der offenen Tür zum Sekretariat. Die Mündung seiner Waffe wies senkrecht nach oben.
Ich schob mich an der Wand nach vorne bis zur Glastür. Das Treppenhaus war, soweit ich es einsehen konnte, leer. Ich winkte François. Als er bei mir war, stieß ich die Tür auf und schob mich hinaus.
Ich hörte auf der Treppe die hallenden Schritte des fliehenden Mörders. Jetzt waren Christine Jeannot und Anne Francine gefordert. Ich fischte das Walkie-Talkie aus der Jackentasche. »Team zwei, bitte kommen.«
»Team eins, was ist? Habt ihr ihn?«
»Nein. Er flieht über die Treppe. Sobald er das Gebäude verlässt, greift ihr zu. Vorsicht! Er hat eine Pistole und macht rücksichtslos davon Gebrauch.«
»Verstanden, Pierre! Verbaut ihm den Rückweg!«
»Klar. Hals- und Beinbruch, Christine!«
François und ich folgten dem Verbrecher die Treppe hinunter. Weit unter uns hörten wir ihn laufen. Den Geräuschen nach, die er verursachte, musste er immer mehrere Stufen auf einmal nach unten springen.
2
Christine Jeannot und Anne Francine postierten sich zu beiden Seiten des Eingangs in das Bürogebäude. Sie hatten ihre Waffen gezogen. Die beiden Kolleginnen waren nicht mit der schweren P 99, sondern mit der leichteren P 228 ausgerüstet.
Soeben kamen zwei junge Frauen aus der Drehtür. Eine Gruppe Männer und Frauen stiegen die fünf Stufen zum Eingang empor.
»FoPoCri!«, rief Christine. »Verlassen Sie die Treppe! Das ist ein Polizeieinsatz. Beeilen Sie …«
In der Drehtür erschien André Mussoni.
»Waffe weg, Mussoni! FoPoCri!«, schrie Anne Francine und schlug die Pistole auf den Verbrecher an.
Mussoni fackelte nicht lange, gab einen kaum gezielten Schuss ab und verschwand sofort wieder im Gebäude. Schreiend flüchteten die Menschen von der Treppe auf die Straße. Panik griff um sich.
Plötzlich erschien Mussoni wieder. Vor sich hielt er eine junge Frau als lebendes Schutzschild. Sein linker Arm lag um ihren Hals. Er drückte ihr die Mündung der Pistole unter das Kinn. Das Entsetzen versiegelte die Lippen der Frau. Ihre Augen waren ein Abgrund des Grauens und der Verzweiflung. Die Angst lähmte sie und machte sie wehrlos.
»Ich knalle ihr den Kopf von den Schultern!«, brüllte der Francoitaliener. »Kommt mir bloß nicht zu nahe! Verschwindet, ihr verdammten Bullen-Schlampen! Fort mit euch!« Der nötigte seine Geisel die obersten beiden Stufen hinunter. Halb besinnungslos hing die Frau in seinem Arm. Brutal schnürte er ihr die Luft ab. Ihre Augen quollen aus den Höhlen. Sie japste erstickend.
François und ich verließen das Gebäude.
Mussoni wirbelte die Geisel herum, sodass ihr Körper ihn gegen uns deckte.
»Na los, schießt schon, ihr verdammten Bullen!«, hechelte er und schleppte die arme Frau wieder eine Stufe nach unten.
»Geben Sie auf, Mussoni!«, rief ich. »Lassen Sie die Frau frei! Wir haben Verstärkung angefordert. Sie kommen nicht weit. Wenn Sie der Frau auch nur ein Haar krümmen, machen Sie alles nur noch viel schlimmer. Sie haben keine Chance.« Ich rief es eindringlich, fast beschwörend.
Der Verbrecher lachte scheppernd auf.
»Ja, Bulle, ich lasse sie frei. Sicher, sie kann gehen, wohin sie will. Ich werde der Kleinen auch kein Haar krümmen.« Wieder lachte er auf. Es klang widerwärtig und brachte meinen Blutdruck auf 180. Dann ließ Mussoni wieder seine Stimme erklingen. »Für die Dame will ich allerdings Ersatz, Bulle. Und zwar deine blonde Kollegin. Sie gefällt mir. Ja, sie wird mich an Stelle der Dame begleiten. Komm her, Blondie, komm schon!«
Der Verbrecher meinte Christine Jeannot.
Er richtete an seiner Geisel vorbei die Pistole auf mich, dann auf François und schließlich auf Anne Francine.
»Na, was ist, Blondie? Muss ich erst deine Kollegin umlegen, damit du spurst? Schmeiß deine Knarre weg und komm her! Ich warte noch drei Sekunden. Dann fange ich an zu schießen. Erst glaubt deine hübsche Kollegin dran. Dann die beiden Commissaires. Und dann diese kleine Madame hier.«
»Keine Chance, Mussoni!«, schrie ich. »Du …«
Der Verbrecher feuerte. Die Kugel klatschte neben Annes linkem Knöchel gegen die Treppe und zog jaulend als Querschläger davon. Steinsplitter spritzten. Steinstaub wallte auf.
Mein Herz übersprang einen Schlag. Ein eiserner Ring schien sich um meine Brust zu legen. Ich schluckte trocken. Den Kloß in meinem Hals vermochte ich jedoch nicht hinunterzuwürgen.
Der verdammte Hundesohn machte Ernst. Er benahm sich wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. Er biss um sich, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Nun, er wusste, was ihm blühte, wenn wir ihn festnahmen. Er würde wahrscheinlich nie wieder die Freiheit sehen. Und weil das so war, reagierte er unberechenbar und tödlich gefährlich.
Christine Jeannot rief erregt: »In Ordnung, Mussoni. Es ist in Ordnung. Ich stelle mich Ihnen als Geisel zur Verfügung.«
»Ich wusste es doch«, triumphierte der Verbrecher. »Na, worauf wartest du? Wirf deine Bleispritze weg und komm her! Pronto, pronto! Ich will hier keine Wurzeln schlagen. – Ihr anderen Bullen legt eure Waffen ebenfalls auf den Boden. Ich spaße nicht, und ich wiederhole mich auch nicht. Runter mit den Kanonen! Und denkt dran, dass es mir nichts ausmachen wird, euch nacheinander in die Hölle zu schicken.«
Das irrsinnige Flackern in seinen dunklen Augen verlieh seinen Worten Nachdruck. Nein, André Mussoni würde nicht einen Lidschlag lang zögern.
Christine legte ihre Pistole auf die Stufe, auf der sie stand, richtete sich auf, hob die Hände in Schulterhöhe und stieg langsam die Treppe hinunter.
François, Anne und ich legten unsere Waffen gleichfalls weg. Wir standen da wie begossene Pudel. Damit hatten wir bei Gott nicht gerechnet. Als wir den Auftrag erhielten, André Mussoni hops zu nehmen, gingen wir von einem Routinefall aus. Wir hatten uns zu sehr auf das Überraschungsmoment und den Überrumpelungseffekt verlassen. Ein gravierender, nicht wieder gutzumachender Fehler. Mussoni hatte uns einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.
Und jetzt führte er uns sogar vor.
Mein Kopf dröhnte vor hilfloser Wut.
Christine näherte sich dem Verbrecher. Er zielte auf sie. Ein triumphierendes Grinsen zog seine Lippen in die Breite. Ein Grinsen, das nicht über die erwartungsvolle, drohende Spannung hinwegtäuschen konnte, die uns bannte und unsere Herzen schneller schlagen ließ. Hohn lag in diesem Grinsen, kalte Ironie. Aber da war noch mehr – da war bewusste Bosheit, und da war eine tödliche Prophezeiung.
Als Christine einen halben Schritt vor dem Verbrecher stehenblieb, lachte er rasselnd und von böser Freude erfüllt auf.
»Sehr schön, Blondie. Wir beide werden uns jetzt an einen stillen Ort zurückziehen. Und wenn deine Kollegen klug sind und nichts herausfordern, wird dir auch nichts geschehen.«
Mit dem letzten Wort versetzte er seiner Geisel einen derben Stoß in den Rücken. Die junge Frau taumelte mit einem zerrinnenden Aufschrei an Christine vorbei. Mussoni machte einen langen Schritt und war bei der Kollegin. Wir mussten tatenlos zusehen, wie er nun sie als lebendiges Schutzschild an sich heranriss und ihr die Mündung seiner Pistole gegen die Schläfe drückte. Er zerrte Christine die Treppe hinunter.
»Mit welchem Auto seid ihr gekommen?«, zischte der Verbrecher dicht neben dem Ohr der blonden Frau.
»Mit dem metallic-grünen Ford.« Christines Organ klang rasselnd und belegt. Unter ihrem linken Auge zuckte ein Nerv. Sie deutete auf das Fahrzeug, das wenige Meter weiter am Bordstein abgestellt war.
Christine zeigte nicht, dass sie kalte, verzehrende Furcht verspürte. Sie war dem Verbrecher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden. André Mussoni war ein eiskalter, skrupelloser Mörder. Seine Reaktionen waren kaum einzuschätzen.
Die Kollegin hielt ihre Empfindungen eisern im Griff. Sich in jeder Situation zu beherrschen gehörte zum Ausbildungsprogramm, das jeder künftige Commissaire in Paris durchlief.
»Hast du den Schlüssel?«, fauchte Mussoni.
»Ja. In der Jackentasche.«
»Rührt euch nur nicht!«, brüllte Mussoni drohend in unsere Richtung. »Ich melde mich bei euch, sobald ich mich in Sicherheit befinde. Die Kleine lasse ich natürlich noch nicht laufen. Sie ist im Moment für mich so etwas wie eine Lebensversicherung. Ihr hört von mir!«
Er drängte Christine zu dem metallic-grünen Dienst-Ford. Nichts an dem Fahrzeug verriet, dass es ein Einsatzfahrzeug der FoPoCri war. Sogar die Zulassungsnummer war neutral.
Christine musste auf der Beifahrerseite einsteigen und hinüber auf den Fahrersitz rutschen. Mussoni bedrohte sie mit der Pistole. Es war eine Glock. Er schwang sich auf den Beifahrersitz. Der Motor wurde gestartet. Christine steuerte den Wagen aus der Parklücke und fädelte sich in den vorbeifließenden Verkehr ein. Der Ford wurde in der Blechlawine weggeschwemmt, die sich auf der Straße durch das Viertel wälzte.
Der Ford verschwand.
3
Mit dem zitternden Atemzug lähmenden Entsetzens, der sich meiner Brust entrang, schüttelte ich den Bann ab, der mich fest im Griff hielt. Ich hob meine Pistole auf und steckte sie ein. Auch François und Anne bückten sich nach ihren Waffen. Anne holte Christines Pistole. In den Gesichtern meiner Kollegen konnte ich lesen wie in aufgeschlagenen Büchern. Sie drückten Ratlosigkeit, Erschütterung, Hilflosigkeit, Wut und eine Reihe weiterer Gemütsbewegungen aus.
Die junge Frau, die sich zunächst in der Gewalt des Verbrechers befunden hatte, saß schluchzend auf der Treppe. François und Anne kümmerten sich um sie. Möglicherweise stand sie unter Schock. Auf jeden Fall würde sie für einige Zeit psychologische Betreuung notwendig haben. Geiselnahmen lösten bei den Betroffenen fast immer Traumata aus. Oft waren langwierige, kostenintensive Behandlungen erforderlich.
Ich holte mein Handy aus der Jacke und klickte die eingespeicherte Nummer Monsieur Marteaus her, dann drückte ich die OK-Taste. Es tutete zweimal, dann hatte ich den Chef der FoPoCri in der Leitung.
Mein Hals war wie zugeschnürt, als ich sagte: »Chef, wir haben einen schwerwiegenden Fehler begangen. André Mussoni ist uns entkommen.« Alles in mir sträubte sich dagegen, weiterzusprechen und dem Chef die ungeschminkte Wahrheit zu berichten. Aber ich konnte sie nicht verschweigen, und so würgte ich hervor: »Er hat Commissaire Jeannot als Geisel in seiner Gewalt, Chef. Um Christines Leben nicht zu gefährden, unternahmen wir nichts – gar nichts.«
Ich glaubte, den Chef japsen zu hören. Dann herrschte sekundenlang Stille – Sekunden, die Monsieur Marteau benötigte, um das Ungeheuerliche zu verarbeiten. Schließlich hörte ich ihn rau und abgehackt flüstern: »Gütiger Gott, Pierre, wie konnte das passieren?«
Er war fassungslos. Ich hörte es ganz deutlich am Klang seiner Stimme.
Ich erzählte es ihm.
»Wir haben Mussoni unterschätzt, Chef«, schloss ich. »Nicht wir überraschten ihn, sondern er uns, und zwar in dem Moment, als wir mit den gezogenen Waffen sein Büro betreten wollten. Er reagierte ansatzlos. Christine begab sich freiwillig in seine Gewalt, weil er drohte, eine unbeteiligte Geisel zu ermorden.«
»Mussoni sagte, dass er sich melden wird?«, kam es fragend von Monsieur Marteau. Ich glaubte, ein unterdrücktes Zittern in seiner Stimme zu vernehmen.
»Ja, Chef.«
»Dann bleibt uns nur abzuwarten und zu beten, dass er Christine kein Leid zufügt. Ich informiere die Kollegen von der Spurensicherung. Sie sollen die Büroräume der Agentur auf den Kopf stellen. Wir haben zwar die Aussage des verhafteten Thibault Kramer, aber vielleicht finden sich noch weitere Beweise für die Verbrechen Mussonis. Kommen Sie, François und Anne, sobald die Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen sind, ins Präsidium, Pierre! In Sachen Christine Jeannot können wir im Moment nichts tun. Wir sind zur Tatenlosigkeit verflucht.«
Mochte es auch noch so hart und brutal klingen. Es war so. Wir waren zur Untätigkeit verdammt.
Kein Wort des Vorwurfs von Seiten des Chefs. Keine Vorhaltungen. Wir hatten Fehler gemacht. Es war mein und François’ Versagen, das Christine dem Verbrecher auslieferte. Ich machte mir selbst die bittersten Vorwürfe, ich zerfleischte mich geradezu innerlich.
François machte ein Gesicht, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Er schaute mich an. Anne Francine sprach beruhigend auf die weinende Frau ein. Die Neugierigen und Sensationshungrigen wagten sich aus ihren Löchern.
»Ist in Ordnung, Chef«, sagte ich, nachdem ich vergeblich versucht hatte, mir den Hals freizuräuspern. »Die Kollegen vom Polizeikommissariat sollen einen Psychologen mitbringen. Die junge Frau, die sich in der Gewalt Mussonis befand, ist psychisch ziemlich am Ende. Außerdem sollte auch Mussonis Wohnung durchsucht werden.«
»Ich werde mich drum kümmern, Pierre«, versprach Monsieur Marteau. »Und noch etwas: Sie sollten sich nicht mit Selbstvorwürfen quälen. Wir alle haben die Verhaftung des Mörders viel zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Aber selbst wenn wir das Gebäude mit einem ganzen Einsatzzug umstellt hätten – es hätte genauso enden können.«
»Vielen Dank, Chef. Bis später, also.«
»Bis später.«
Ich betätigte die Trenntaste. Die Leitung war tot. Die Worte Monsieur Marteaus konnten mich nicht über das Gefühl, versagt zu haben, hinwegtrösten. Meine Stimmung tendierte gegen Null. Nein, ich befand mich in der schrecklichsten Stimmung meines Lebens. Die Ereignisse der vergangenen Viertelstunde lagerten bleischwer auf meinem Gemüt.
Als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, wandte ich mich um. Es war François.
»Wir holen Christine raus«, murmelte er, und es klang wie ein Schwur. »Wir holen sie raus, Pierre. Und wehe Mussoni, wenn er unserem Mädchen ein Haar krümmt.«
Ich nickte.
Wir gingen zu Anne und der jungen Frau hin. Annes hilfloser Blick verkrallte sich an meinen Zügen. »Ihr Name ist Carola Weinberg«, sagte Anne mit brüchiger Stimme. »Mehr konnte ich nicht aus ihr herausbekommen. Ich denke, sie steht unter Schock.«
»Kommen Sie, Carola«, sagte ich und legte den Arm um die bebenden Schultern der Frau. Ihr schmales Gesicht war kreidebleich. Ihre Lippen zuckten. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen. In der Tiefe ihrer blauen Augen wütete nach wie vor das blanke Grauen. Die schrecklichen Minuten der Geiselnahme und der Todesangst würden sie sicher ein Leben lang bis in den Schlaf verfolgen. Sie tat mir leid. Ihr Anblick schnitt mir tief ins Herz. Banditen wie André Mussoni konnten gar nicht ermessen, was sie mit ihrer skrupellosen Brutalität anrichteten, was sie in anderen Menschen zerstörten.
Zusammen mit Anne führte ich die junge, völlig aufgelöste Frau in das Gebäude. Mit sanfter Gewalt drückten wir sie in einen der Sessel, die in der Halle um einen niedrigen Tisch herum gruppiert waren. François drängte die Neugierigen zurück, die uns folgen wollten.
Als die Jungs vom Polizeikommissariat kamen, überließen wir die weinende und schluchzende Frau der Obhut einer Polizeipsychologin und fuhren mit den Kollegen hinauf in die 4. Etage. In den Büroräumen von Finance Capital trafen wir auf die beiden Mitarbeiter Mussonis. Es waren die Sekretärin, die François und ich schon kennengelernt hatten, sowie ein Mann namens Robin Pêcheur, der Kompagnon André Mussonis.
Wir überließen es den Männern des Polizeikommissariats, die beiden einzuvernehmen. Wir, also François, Anne und ich, fuhren zum Präsidium. Die Sorge um Christine Jeannot verschloss unsere Lippen. Das Schweigen aber machte alles noch bedrückender und unerträglicher.
4
André Mussoni war nicht zu seiner Wohnung gefahren. Er ließ Christine abbiegen und anhalten. Nach wie vor hielt er seine Waffe unverrückbar auf die blonde Frau angeschlagen.
»Ich muss telefonieren«, knurrte der Verbrecher. »Und dir, Cherie, rate ich, die Hände auf dem Lenkrad liegen und jeden krummen Gedanken sausen zu lassen. Du bist zwar verteufelt hübsch und sexy, und ich wüsste ganz sicher etwas Besseres mit dir anzufangen als dich abzuknallen, aber letztendlich bist du ein Bulle, und das stört den ganzen guten Eindruck, den deine Erscheinung vermittelt, aus meiner Sicht ganz gravierend.«
Das kalte Flirren in seinen dunkeln Augen ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er gnadenlos schießen würde, sollte von Christine auch nur ein missverständlicher Wimpernschlag ausgehen.
Die Frau schwieg. Sie war alles andere als eine Selbstmörderin, die das Schicksal leichtsinnigerweise herausforderte.
Mussoni holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Er klickte eine Nummer her und ging auf Verbindung. Im nächsten Moment meldete sich ein Mann.
Mussoni knurrte: »Gib mir Foucault! Es ist wichtig.«
Eine halbe Minute verstrich, in der Mussoni wartete und Christine anstarrte. Die Frau zerbrach sich unablässig den Kopf nach einem Ausweg aus ihrer prekären Situation. Sie fragte sich auch immer wieder, was von Seiten ihrer Dienststelle wohl veranlasst werden würde, um sie aus der Gewalt des Verbrechers zu befreien. Aber sie kam zu keinem Ergebnis. Und sie fand auch keine Antwort auf ihre Fragen.
Im Moment gestaltete sich für sie die Lage als aussichtslos. Dieser Gedanke verursachte keine Furcht in Christine, sondern vielmehr ein Gefühl der Resignation.
Plötzlich erklang wieder Mussonis Organ. Er rief in die Sprechmuschel: »Salut, Foucault. Es gibt ein Problem. Soeben erhielt ich wenig erfreulichen Besuch von der FoPoCri. Und jetzt befinde ich mich auf der Flucht.«
Am anderen Ende der drahtlosen Leitung herrschte kurze Zeit verblüfftes Schweigen. Dann stieß Sylvain Foucault heiser hervor: »Verdammt, ja, die dreckigen Schnüffler haben Kramer hops genommen. Sollte er …«
»Kramer!«, echote Mussoni, und es klang geradezu entsetzt. »Sie haben ihn geschnappt? Wann war das?«