Commissaire Marquanteur,
seine Kollegin und der Mörder: Frankreich Krimi
von Peter Haberl & Chris Heller
Christine Jeannot, die Kollegin der Marseiller
Kriminalkommissare Pierre Marquanteur und François Leroc, wird von
einem gewissenlosen Verbrecher als Geisel genommen. Um das Leben
der Frau nicht zu gefährden, müssen sich die Ermittler im
Hintergrund halten – bis die Situation eskaliert.
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress
Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing
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Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Kapitel 0/1: Der Schuss in der Stille
Die graue Decke über Marseille war ein stummer Zeuge, als ich
an diesem sonnigen Montagmorgen, der nur in der Theorie ein schöner
Tag sein sollte, im Kriminalkommissariat eintraf. Der rettende Duft
von frisch gebrühtem Kaffee begrüßte mich, als ich meinen Platz an
der Fensterfront einnahm, von wo aus ich einen Blick auf das
geschäftige Treiben der Straße hatte. Der Hafen war nicht weit, und
ich wusste, dass irgendwo zwischen den Docks der neue Fall auf mich
und meinen Kollegen François Leroc wartete.
»Pierre«, rief François, als ich mich gerade mit einem
Notizblock aufmachte, um die neuesten Berichte zu sichten. Seine
Gestalt und die blitzenden Augen hinter der Brille machten ihn
schnell als meinen treuen Partner in der Kripo Marseille
erkenntlich.
»Ich habe das Gefühl, dass der Tag nicht lange friedlich
bleibt«, murmelte ich in einer Mischung aus Vorahnung und Routine,
als ich auf dem Stuhl Platz nahm. Das Büro war wie immer ein
Sammelsurium aus Akten, Kaffeetassen und dem dauerhaften Geruch von
altem Papier.
Monsieur Marteau, unser Chef, trat ein, gefolgt von einem
Schutzpolizisten, dessen gestresstes Gesicht uns schon die erste
Nachricht des Tages brachte. »Monsieur Marteau, worum
geht’s?«
»Wir wurden zu einem Secondhandshop in Pointe-Rouge gerufen.«
Er drückte seine rechte Hand auf den Tisch und schaute uns an, als
wollte er uns die Schwere der Situation übermitteln. »Der Besitzer
wurde erschossen aufgefunden.«
Das Wort erschossen hallte in meinem Kopf nach. Pointe-Rouge
war für seine lebhafte Atmosphäre bekannt, die von den Klängen der
Musik und dem Rauschen der Menschen lebte. Aber dass dort ein Mord
geschehen war, machte mich weniger neugierig und zugleich mehr
alarmiert. »Haben Sie Details?«
Der Polizeibeamte schnarrte mit den Lippen. »Er wurde hinter
dem Tresen aufgefunden, anscheinend während der Öffnungszeiten. Ein
paar Zeugen haben den Schuss gehört.«
»Wo ist der Laden genau?«, fragte ich, während ich mich
griffbereit machte. François hatte bereits seinen Block in der Hand
und die Augen auf mich gerichtet, bereit, das Gespräch in Gang zu
bringen.
»In der Nähe der Rue d’Acoste, direkt gegenüber dem alten
Bürgerhaus«, antwortete Monsieur Marteau. »Gehen Sie gleich hin und
sprechen Sie mit den Zeugen. Ich komme nach, wenn ich die ersten
Informationen aufbereitet habe.«
Dreißig Minuten später standen François und ich vor dem
kleinen Magasin de seconde main mit der unauffälligen Fassade. Der
Laden lag zwischen zwei viel frequentierten Kneipen, und der Lärm
der Stadt war in der Luft allgegenwärtig. Mir wurde bewusst, dass
ich hier vermutlich ganz andere Klänge erwartet hatte als das
Knallen einer Waffe.
Die Haupttür war mit roten Absperrband geschützt. Eine junge
Polizistin stand am Eingang und warf uns einen fragenden Blick zu.
»Haben Sie Ausweispapiere?«
»Klar, hier.« Ich streckte meinen Ausweis aus, gefolgt von
François, der seinen sekundär vorfischte. Plötzlich wurde die
Atmosphäre drückend, als wir den Laden betraten. Mehrere
Schaulustige standen an den Grenzen des Absperrbandes und
beobachteten neugierig das Geschehen.
Der Secondhandshop - das “Magasin de seconde main” - war in
ein kaltes Licht getaucht. Überall lagen alte Bücher, Kleider und
Trödel in geschmackvoll chaotischer Anordnung. Der Geruch von
abgestandenem Alkohol und frisch gegrillten Würstchen aus einer
Brasserie in der Nähe vermischte sich in der Luft. Mein Blick fiel
auf die kleine Verkaufstheke, hinter der, jetzt mit einem weißen
Tuch abgedeckt, der tote Besitzer lag.
»Nehmen wir die Zeugen zur Seite, François«, sagte ich,
während ich mich der Theke näherte. »Ich will mir ein Bild vom
Tatort machen.«
François nickte.
Ein paar Momente später hörte ich François, der die Zeugen mit
den richtigen Fragen konfrontierte. »Wann haben Sie den Schuss
gehört? Haben Sie etwas gesehen?« Seine Stimme war ruhig, und ich
wusste, dass es ihm helfen würde, den ersten Eindruck der Situation
zu verarbeiten.
Ich betrachtete den Raum, untersuchte die Regale und
versuchte, die Atmosphäre aufzunehmen. Hier hatten Menschen
Geschichten entdeckt, weiße Träume gewünscht oder sich an alte
Erinnerungen erinnert. Und jetzt lag hier ein Mann, ein Leben
beendet durch Gewalt. Ich hatte noch keine Antworten, aber die
ewige Gewissheit, wie wertvoll und fragil unser Dasein war, lastete
schon jetzt schwer auf meinen Schultern.
»Pierre, die Zeugen sind bereit, ich werde jetzt mit dir
sprechen.« François trat an mich heran und begann, den ersten
Schritt zu machen, da er spürte, dass ich etwas Unausgesprochenes
in der Luft wahrnahm.
Ich nickte, nahm einen tiefen Atemzug und trat hinter die
Verkaufs-Theke, wo nun der tote Besitzer lag. Ich hatte das Gefühl,
dass die Straßen von Pointe-Rouge mir noch einiges an Schmerz und
Mysterien offenbaren würden – und es lag an uns, das Licht ins
Dunkel dieser Tragödie zu bringen.
Kapitel 02: Die ersten Fäden
Ich kniete mich nieder, um einen genaueren Blick auf den
Tatort zu werfen. Die Leiche des Ladenbesitzers lag in einer
merkwürdigen Pose hinter der Theke, die vom Abstellraum in den
Verkaufsbereich führte. An einem seiner Hände klebte eine
rötlich-braune Flüssigkeit, die für mich nicht nur Blut, sondern
auch das Ende eines ganz normalen Tages verkörperte. Auf der Theke
selbst lag ein zerknitterter Zettel – ein letzter Hinweis auf das,
was vielleicht geschehen war.
»Pierre, ich habe ein paar interessante Informationen von den
Zeugen bekommen«, sagte François, als er zu mir trat. »Die meisten
haben nur geschrien und waren geschockt, als der Schuss fiel, aber
eine ältere Dame hat etwas gesehen. Sie behauptet, dass ein Mann in
einem dunkelblauen Kapuzenpullover kurz davor aus dem Laden gerannt
ist.«
Ich erhob mich und wischte mir die Knie ab. »Das ist ein
Ansatz. Haben wir eine physische Beschreibung oder irgendeine
besonderen Merkmale?«
»Sie hat gesagt, dass er eine auffällige Gitarre bei sich
hatte. Die muss sie irgendwie bemerkt haben, als er vorbeirannte«,
erklärte François. »Das könnte auf einen Straßenmusiker hindeuten.
Hast du dir das hier schon angeschaut?«
Ich beugte mich über den Zettel auf der Theke und begann ihn
vorsichtig zu untersuchen. Er war handgeschrieben, fast hastig, als
ob der Besitzer noch etwas mitteilen wollte. Die Buchstaben waren
ordentlich, aber unruhig, die Linien schwankten leicht: »Lass uns
das Ende der Woche besprechen. Ich werde alles klären.«
Als ich den Zettel umdrehte, bemerkte ich, dass auf der
Rückseite eine Telefonnummer notiert war. »Könnte das wichtig
sein?«
»Möglich. Lass uns die Nummer prüfen, sobald wir hier fertig
sind«, sagte François, während er sich umschaut. »Vielleicht gibt
es in den Regalen etwas, das uns mehr über den Besitzer verraten
kann.«
Wir durchsuchten den Laden und durchstöberten die Regale. Die
meisten Artikel schienen gewöhnlich, aber das Gesamtbild des Ladens
schien ein solches Durcheinander von Geschichte und Vergangenem zu
sein, dass ich mich fragte, welche Geheimnisse er verbarg. Zwischen
ein paar alten Vinyl-Platten fand ich ein abgerissenes Stück eines
Puzzles – ein ganz normales Foto eines Pärchens, das in den Hafen
von Marseille blickte. Ihre Gesichter waren unkenntlich, aber der
Ausblick im Hintergrund sprach Bände über die Stadt, die ich kannte
und liebte. Hier hielt ich einen Teil der Vergangenheit in der
Hand, den ich nie verstehen könnte.
»Pierre, schau dir das an!« François rief und hielt mir eine
alte Quittung entgegen. »Das ist von vor zwei Wochen. Der Besitzer
hat Bücher in rauen Mengen verkauft. Einer der Titel ist«, er
prüfte die Quittung und hielt inne, »eine erste Auflage von einem
alten Krimi, und hier steht Wenigstens 500 Euro. Das könnte uns
auch zu einem Motiv führen.«
»Ich wusste gar nicht, das Trödel so wertvoll sein
kann.«
»Da kannst du mal sehen!«
»Ich lese nur noch E-Books.«
»Vielleicht entgeht dir da was.«
»Was denn? Der Schimmel im holzhaltigen Papier?«
»Pierre!«
»Ist doch wahr.«
Ich nahm die Quittung und betrachtete die Schrift: »Vor zwei
Wochen – das ist merkwürdig. Möglicherweise sind wir hier auf etwas
gestoßen, das jemandem wertvoll war.«
In diesem Moment spürte ich, wie die Gedanken in mir zu einem
Muster zusammenfanden. »Hast du die letzten Verkäufe für diesen
Laden geprüft? Wer hat das Buch gekauft? Gibt es irgendwelche
Hinweise auf Probleme oder Konflikte?«
François nahm sofort sein Notizbuch hervor. »Ich kann die
Buchung und den gesamten Kassenbericht anfordern. Vielleicht finden
wir ja mehr über die Kaufhistorie.«
»Ja, das wäre gut«, antwortete ich und zog das Handydisplay
hervor. Ich wählte die Nummer des zuständigen Ermittlers, um die
Datenbank zu durchsuchen und die letzten Bewegungen in diesem
Geschäft abzugleichen.
In der Zwischenzeit hatten wir den alten Mann und die beiden
Frauen, die zur Tatzeit im Laden waren, noch einmal befragt.
Besonders die alte Dame hatte uns einen Namen genannt, der mir
merkwürdig bekannt vorkam. »Germaine Renard. Er soll ein alter
Bekannter des Besitzers gewesen sein. Angeblich gab es
Streitigkeiten zwischen den beiden.«
»Renard«, murmelte François. »Wir sollten einen Blick in seine
Vergangenheit werfen und herausfinden, ob er eine Verbindung zur
Gitarre oder dem Laden hat. Hat die Frau etwas über seine
Erscheinung gesagt?«
»Nichts Konkretes, aber sie erwähnte, dass er oft mit einer
Gitarre umherzog«, ergänzte ich nachdenklich. »Aber es ist so, dass
wir es hier möglicherweise mit einem Stammgast zu tun haben, der
mehr wusste, als er uns offenbarte.«
*
Gerade als ich den Zettel auf die Theke zurücklegte, betrat
Monsieur Marteau den Laden. Sein Blick war nachdenklich. »Haben Sie
Neuigkeiten?«
»Der Besitzer hat kürzlich einige wertvolle Bücher verkauft«,
erwiderte ich. »Wir haben die Kontaktdaten des Käufers, und es gibt
Information zu einem Mann namens Germaine Renard, der
möglicherweise eine Rolle spielt.«
»Gut, setzen Sie die Ermittlungen fort. Ich werde Ihnen
weitere Ressourcen zur Verfügung stellen. Wir müssen da dringend
rankommen – es kann sein, dass sich der Fall ausweiten wird, wenn
wir nicht schnell handeln.«
Ich nickte und sah François an. »Wir sollten die Spur nicht
verlieren. Es gibt genug Verdächtige, und wir müssen jetzt alles
abklappern, bevor alles im Nebel der Zeit verschwindet.«
Wir waren entschlossen, das Geheimnis hinter dem Mord im
Magasin de seconde main zu entschlüsseln. Während wir uns ins
pulsierende Leben von Pointe-Rouge mischten, wurde mir klar, dass
die Straßen nicht nur unsere Ermittlungen enthüllen würden, sondern
auch einige der dunkleren Geheimnisse der Stadt selbst.
Kapitel 0/3: Die Fäden ziehen sich zusammen
»Lass uns direkt nach dem Germaine Renard sehen«, sagte
François und schnappte sich seine Jacke. Als er zur Tür trat,
spürte ich ein unerklärliches Kribbeln in der Magengegend. Es
fühlte sich an, als würde der Fall uns bereits unaufhaltsam in
seine Tiefen ziehen.
Wir verließen den Magasin de seconde main und traten hinaus in
die belebten Straßen von Pointe-Rouge. Die Sonne strahlte hell,
aber ich konnte den Schatten der Ereignisse nicht abschütteln, die
sich in einem der ansässigen Geschäfte abgespielt hatten. Menschen
drängten sich vorbei, einige auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz,
andere auf dem Weg zum nächsten Café, während wir uns weiter dem
Ziel näherten: einem heruntergekommenen Wohnblock am Ende einer
schmalen Gasse.
»Laut dem, was ich über ihn herausgefunden habe, lebt Renard
in einer kleinen Wohnung hier«, murmelte ich, während ich die
Fassade des alten Gebäudes musterte. »Er scheint mit der Zeit ein
bisschen verwittert zu sein.«
»Man könnte sagen, dass die Gitter vor den Fenstern ein Stück
weit zu seinem Erscheinungsbild passen«, erwiderte François
sarkastisch. »Ist er Musiker oder ein Künstler?«
»Irgendetwas in dieser Richtung. Der alte Mann könnte uns
tatsächlich etwas über den Mord verraten oder sogar eine Verbindung
zwischen dem Ladenbesitzer und irgendeinem der verlorenen Schätze
herstellen, die wir noch nicht kennen.«
Wir betraten das Gebäude, das von der Zeit gezeichnet war. Der
muffige Geruch von feuchten Mauern schwang uns entgegen, während
die knarrenden Stufen uns in den zweiten Stock führten, wo Renards
Tür stand. Kaum hatten wir geklopft, wollte ich die Nasenlöcher
schließen und alles vergessen – nur um dem Geruch nicht direkt zu
begegnen. Doch ich wusste, dass das unmöglich war.
Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen, das die Stille
durchbrach. Vor uns stand ein älterer Mann, der, so schien es,
schon bessere Tage gesehen hatte. Er trug einen abgewetzten
Pullover, und die Hände waren knorrig, wie die Wurzeln eines alten
Baumes. »Ja? Was wollt ihr?« Er schielte misstrauisch durch die
offene Tür.
»Guten Tag, mein Name ist Marquanteur, und das ist mein
Kollege Leroc von der FoPoCri. Wir würden gerne ein paar Fragen zu
Monsieur Breton, dem Besitzer des Magasins de seconde main,
stellen; der ist nämlich erschossen worden«, sagte ich höflich,
während ich mich vorstellte.
Sein Gesicht verzog sich für einen Moment, und ich war mir
nicht sicher, ob das durch Angst oder Verärgerung bedingt war.
»Breton? Was hat der Todesschütze denn mit mir zu tun?«
»Nun, es gibt einige Hinweise, die Sie betreffen. Wären Sie
bereit, mit uns zu sprechen?« François trat einen Schritt vor, und
ich merkte, dass er den Mann ruhig und unvoreingenommen
ansprach.
»Ich habe nichts zu sagen. Und ich habe auch nichts mit diesem
Typen zu tun«, antwortete Renard und wollte die Tür
schließen.
»Bitte, wir wollen nur helfen«, sagte ich schnell, als ich
einen Fuß in die Tür stellte.
Er starrte uns an, und nach kurzem Zögern trat er zurück.
»Kommen Sie rein, aber nicht lang!«
Wir traten in seine kleine, düstere Wohnung, die im Gegensatz
zur Helle der Straßen draußen, ein Gefühl der Erdrücktheit
verbreitete.
Sobald wir eintraten, fiel mein Blick sofort auf die Wände,
die mit gelben und bräunlichen Farbtönen getüncht waren. Es wirkte
fast so, als wären sie von der Zeit und der Einsamkeit gezeichnet.
Eine Sammlung von Fotos hing dort, viele von ihnen verwackelt oder
stark verblasst. Die Bilder zeigten verschiedene Zeitabschnitte aus
Renards Leben: eine junge Frau mit schulterlangen Haaren, die
unsinnig vor einer kleinen Bühne posierte; ein Bildungsurlaub mit
Freunden auf einem alten Boot; schließlich Renard selbst, wie er in
der Innenstadt von Marseille Gitarre spielte.
Den Boden bedeckte ein schmutziges, abgewetztes Linoleum,
dessen Muster nicht mehr zu erkennen war. Überall lagen
unordentlich Stapel von Zeitschriften, Schallplatten und krumm
gefalteten Papieren, als ob der Raum selbst von einer nachlässigen
Kreativität überwältigt worden wäre. Morgendliches Licht fiel
schüchtern durch das Fenster, das mit einem schäbigen, grau
gemusterten Vorhang verhangen war, und sorgte dafür, dass die
Atmosphäre der Wohnung kaum etwas von der Strahlkraft der Stadt
draußen behalten hatte.
In einer Ecke stand eine ausgediente Couch, die nach Jahren
des Gebrauchs ungemütlich und durchgesessen wirkte. Auf ihr lagen
zerknitterte Überreste von Decken und ein abgewetztes Kissen, als
hätte Renard oft in diesem Raum gelebt, ohne eine Idee, wie er
einen Neuanfang gestalten könnte. Daneben stand ein Tisch, auf dem
ein paar leere Kaffeetassen standen, fast wie stille Zeugen des
Lebens eines einsamen Künstlers. Ein kleiner Holzschrank quälte
sich mit dem Gewicht zahlreicher Bücher und Notenblätter, und ich
sah sofort, dass die Musik eine große Rolle in Renards Alltag
spielte.
Besonders auffällig war die Gitarre, die in der linken Ecke
der Wohnung stand. Sie war von einer dickeren Schicht Staub
bedeckt, aber ich konnte das zarte Holz und die bunten Bünde
erkennen, die auf viele Auftritte und Stunden des Übens
hindeuteten. Diese Gitarre war wahrscheinlich mehr als nur ein
Instrument für Renard – sie schien für ihn eine Art Verbindung zur
Welt zu sein, die er nur noch selten spielte.
In der Küche lag ein Chaos aus nicht abgewaschenem Geschirr,
und der Kühlschrank war im Vergleich zu den anderen Möbeln eine
freudlose Erinnerung an Vergangenheit und Gegenwart. An den Wänden
hingen alte Plakate von vergangenen Konzerten und Musikfestivals,
die für einen kurzen Moment den Eindruck einer glanzvollen Zeit
vermittelten, die in der Gegenwart jedoch längst verblasst
war.
Insgesamt strahlte die Wohnung eine seltsame Mischung aus
Nostalgie und Melancholie aus. Es war der Rückzugsort eines Mannes,
der irgendwann in der Zeit gefangen schien – verloren zwischen den
Erinnerungen an gescheiterte Träume und dem täglichen
Überlebenskampf im hektischen Treiben von Pointe-Rouge
»Wie lange kannten Sie Monsieur Breton?«, fragte ich, während
ich mich umschaute.
»Ich kenne ihn schon lange. Er hat die besten
Second-Hand-Bücher, die man finden kann, und er hat mir immer einen
Rabatt gegeben, als ich ihm bei den Sammlungen half«, murmelte
Renard. Seine Stimme zitterte, doch er war bereit, mehr als nur
Bruchstücke von seiner Beziehung preiszugeben.
»Ein Rabatt also. Haben Sie in letzter Zeit mit ihm
gesprochen?« François war direkt.
»Ich … wir hatten einen Streit. Das war vor ein paar Wochen.
Etwas über ein wertvolles Buch, das ich ihm abkaufen wollte, aber
er wollte nicht verkaufen. Es war ein alter Krimi aus einer ersten
Auflage. Ich war wütend, weil ich dachte, er hätte es nur für den
Laden gefunden und weggeworfen.«
»Hatten Sie noch weiteren Kontakt nach diesem Streit?« Ich
stellte die Frage, während ich die kleine Wohnung auf Hinweise
durchforstete.
Renard sah missmutig zu den Fenstern, deren Vorhänge ihn vor
den neugierigen Blicken der Nachbarn schützten. »Ich habe ihm ein
paar SMS geschrieben, aber er hat nie geantwortet.«
Ich zog mein Handy heraus und öffnete die Notizen. »Könnten
Sie uns Ihre Nachrichten zeigen? Vielleicht können wir mehr über
den Konflikt herausfinden, der ihn getroffen haben könnte.«
»Was, wenn ich Ihnen sage, ich habe sie gelöscht? Was dann?«
Er starrte uns entgegen mit einer Art abwehrender Haltung.
»Ich kann das nicht beurteilen«, meinte ich, und seine Augen
weiteten sich.
»Ich wusste, dass er etwas vorhatte, aber ich habe nichts,
absolut nichts damit zu tun«, murmelte Renard und senkte die
Stimme.
»Was meinen Sie?«
»Gute Frage. Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
Ich war mir im Klaren, dass es hier mehr gab. »Kennen Sie
irgendwelche anderen Leute in der Umgebung, die was mit Breton zu
tun hatten?«
»Ja, da gibt es Coriand. Er ist ein Straßenmusiker und hat
eine Gitarre. Manchmal singen sie zusammen. Er kann hinter
irgendwelchem Kram stecken, aber ich kenne ihn nicht gut.«
Coriand. Der Name leuchtete wie ein neonfarbener Wegweiser in
meinem Kopf. Das war der unauffällige, aber charmante Musiker, von
dem man viele Geschichten hörte, der aber normalerweise im Schatten
von Pointe-Rouge lebte. Früher hatten wir Kontakt.
»Könnten Sie uns seine Kontaktdaten geben?«
Nach einem langen Moment der Stille, in dem ich seine Gedanken
zu deuten versuchte, gab Renard nach. »Ich habe eine alte Nummer.
Er hat gerade einen Gig im Club Miracle. Wenn ich ehrlich bin, habe
ich im Club nicht viel mit ihm gemacht. Aber wenn Sie ihn
ansprechen, gehen Sie vorsichtig damit um.«
Wir dankten Renard für die Informationen und verließen seine
Wohnung. Während wir die Treppen hinunterstiegen, winkte ich
François näher heran. »Lass uns dort hinfahren. Wenn Coriand eine
Verbindung zu unserem Mord hat, müssen wir alles Mögliche
herausfinden.«
Wir fuhren in mein Auto und machten uns auf den Weg zum
Miracle, einem der vielen anderen Nachtclubs, die Marseilles Rue
d’Acoste so lebendig machten. Der Weg dorthin war ein Mix aus
Vorfreude und dem unangenehmen Gefühl, dass wir uns in die
dunkelsten Ecken der Stadt wagten. Aber das war das Wesen unserer
Arbeit – tief in die Schatten zu dringen, um das Licht der Wahrheit
zu finden. Und ich war fest entschlossen, die Fäden in diesem
Mordfall zu entwirren.
Kapitel 0/4: Die Spuren der Vergangenheit
Wir verließen Germaine Renards Wohnung mit einem Gefühl der
drängenden Neugier und schweren Gedanken. Während wir die Treppen
hinunterstiegen, sprachen wir über die Bedeutung seiner Aussagen.
François schüttelte den Kopf. »Es klingt, als wäre er sehr an den
alten Büchern interessiert gewesen. Aber was kann die Gitarre damit
zu tun haben? Vielleicht wusste er konkret, was in der Nacht des
Mordes vor sich ging?«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte ich und öffnete
die Autotür auf der Fahrerseite. »Die Tatsache, dass er ein älterer
Freund des Besitzers war und der Streit über das Buch, könnte
durchaus eine grundlegende Motivation darstellen. Doch wir müssen
das Puzzle zusammenfügen. Lass uns zu dem Club Miracle fahren und
den Musiker Coriand aufsuchen.«
Der Verkehr in Marseille war typischerweise chaotisch, aber
etwas in der Luft fühlte sich an wie ein stiller Hinweis auf das,
was noch kommen sollte.
»Du glaubst also nicht an Zufälle, oder?«, fragte François,
während wir durch die lebhaften Straßen fuhren, die von Lichtern
und Geräuschen von Leuten, die in die Kneipen strömten, gefüllt
waren.
»Eher an unglückliche Wahrscheinlichkeiten«, antwortete ich.
»Es scheint mir, als ob sowohl Renard als auch der tote
Ladenbesitzer in einem Netz gefangen sind, das sich weiter ziehen
könnte, als wir es bislang erkannt haben.«
Als wir den Club erreichten, war die gruselige Atmosphäre der
Bar sofort zu spüren. Der Eingang war schmal und von bunten
Lichtern geschmückt, die dem Ort etwas Lebhaftes und zugleich
Düsteres gaben. Drinnen drang der Klang einer akustischen Gitarre
und einer feinen Jazzstimme durch die Raumluft, während sich eine
Menge Menschen dicht gedrängt um die kleine Bühne
versammelte.
»Da ist er«, murmelte François, als wir den Musiker
entdeckten, der tief in die Klänge seiner Musik versunken war.
Coriand hatte eine schmächtige Gestalt, und sein schulterlanges,
zerzaustes Haar reflektierte viele Facetten der Lichtspiele im
Raum. An der Wand hinter ihm hingen weitere Gitarren, und die
energetische, melancholische Melodie bot einen reizvollen Kontrast
zu den Gesprächen und dem Gelächter rundherum.
»Wir sollten ihn während einer Pause ansprechen – sein Set
könnte gleich zu Ende sein«, sagte ich und wies auf die Menge.
Tatsächlich endete das Lied gerade, und die Zuschauer applaudierten
begeistert.
Als Coriand eine kurze Pause einlegte, schickten wir uns an,
ihn zu kontaktieren. »Entschuldigen Sie, Monsieur Coriand«, begann
ich, als ich an die Bühne trat und François dicht an meiner Seite
hatte. »Könnten wir einen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen? Wir
sind von der FoPoCri.«
Coriand zuckte kurz zusammen und sah uns mit überraschtem
Blick an. »Polizei? Was ist denn passiert?«
»Wir ermitteln im Mordfall von Monsieur Breton, dem Besitzer
des Magasins de seconde main in Pointe-Rouge. Wir haben einige
Hinweise, die Sie betreffen könnten«, erklärte ich und sah in seine
durchdringend klaren Augen.
»Monsieur Breton? Das ist schrecklich«, murmelte Coriand und
strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich kann mir nicht
vorstellen, dass ihm das zugestoßen ist. Er war ein netter
Typ.«
»Uns interessiert Ihre Verbindung zu ihm. Monsieur Renard hat
erwähnt, dass Sie manchmal zusammen gespielt haben. Was können Sie
uns darüber sagen?«, fragte François weiter.
Coriand wirkte etwas angespannt, als er aus dem Publikum
herausstieg und auf uns zukam. »Wir haben uns in der Vergangenheit
getroffen und zusammen Musik gemacht. Aber das war alles einfach …
Du weißt schon, mehr so beiläufig. Ich habe nie wirklich einen
eigenen Platz hier gefunden. Und nachdem er diesen Streit hatte,
ist alles irgendwie auseinandergegangen.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass Renard und Leroc ein gutes
Verhältnis hatten, bevor es zu dem Streit kam?«, führte ich das
Gespräch weiter.
»Das ist schwer zu sagen. Sie sind alte Freunde, aber ich habe
nie wirklich mitbekommen, wie die Dynamik zwischen den beiden war«,
erklärte Coriand und sah dabei nervös umher, als störten wir den
Fluss der Feierlichkeit um uns herum. »Aber ich kann Ihnen sagen,
dass Monsieur Breton mehr mit seiner Musiksammlung beschäftigt war
als mit seinen Geschäften. Er war ein leidenschaftlicher
Sammler.«
»Wissen Sie, ob Renard mit ihm über den Streit gesprochen hat?
Vielleicht sogar in einer emotionalen Weise?«, fragte ich weiter,
während ich sein Gesicht genau beobachtete. Eine Anspannung schien
deutlich auf seinem Gesicht zu liegen.
»Wie gesagt, ich habe da nicht weiter auf die beiden geachtet.
Es gab nicht viel Kommunikation nach dem Vorfall«, antwortete
Coriand und ließ den Blick auf den Boden sinken. »Aber er ist nicht
der einzige Mensch, der sich für alte wertvolle Bücher
interessiert. Viele wissen über ihre Werte Bescheid.«
Hinter uns bemerkte ich, wie die Mauer der Zuschauer wieder
aufbrach und ein paar neugierige Ohren unsere Konversation
belauschten. »In Ordnung, ich verstehe. Wenn Sie sich erinnern,
wenden Sie sich bitte an uns«, sagte ich. »Es könnte sehr wichtig
sein.«
»Ja, klar«, sagte Coriand und eilte zurück zur Bühne. Ein Teil
von mir war frustriert, dass wir nur an der Oberfläche gekratzt
hatten.
»Komm, lass uns sehen, ob wir noch weitere Informationen
sammeln können. Vielleicht hat jemand etwas gehört oder gesehen,
was wir bisher übersehen haben«, schlug François vor, während wir
uns durch die Menge zurück zum Ausgang drängten.
»Wir müssen auch Renard wieder auf den Plan rufen, bevor wir
zu umfassend von dieser Spur abweichen«, erwiderte ich. »Etwas sagt
mir, dass da mehr dahintersteckt. Vielleicht sind wir nur peripher
an dem aufgetauchten Verdächtigungen vorbeigegangen.«
Als wir die Bar verließen und uns wieder hinaus in die
pulsierende Nacht Marseilles begaben, fühlte ich, wie eine kühlere
Brise über mein Gesicht strich. Es war eine Stadt voller
Geheimnisse, Lügen und der schillernden Wahrheit, und ich wusste,
dass es an uns war, jeden einzelnen der Fäden zu entwirren und das
verborgene Netz aufzudecken, das uns in die Dunkelheit zu ziehen
drohte. Unser Weg war noch nicht zu Ende – er war erst der Anfang,
und in den Verstrickungen dieser Stadt lebte ein verworrenes
Geheimnis, das darauf wartete, aufgedeckt zu werden.
Kapitel 0/5: Das Netz zieht sich zu
Die nächsten Tage waren geprägt von hektischen Nachforschungen
und ständigen Verhören, die uns durch die schummerigen Straßen und
schattigen Ecken von Pointe-Rouge führten. Wir kontaktierten alte
Kunden und Vertraute des Magasins de seconde main, um weitere
Hinweise zu sammeln und das Puzzle weiter zusammenzufügen. Coriand
hatte uns jedoch keine neuen Informationen geliefert, und auch
Renard ließ uns im Ungewissen.
Doch dann erhielt ich einen Anruf von einem meiner Kollegen,
der im Hintergrund des Kriminalfalles nachforschte. »Pierre, ich
habe etwas für dich, das vielleicht der Schlüssel zu unserem Fall
sein könnte.«
Ich setzte mich mit einem Notizblock an meinen Schreibtisch
und hörte gespannt zu. »Was hast du?«
»Die Autopsie von Monsieur Breton. Es gibt Anzeichen dafür,
dass der Schuss aus kurzer Distanz abgegeben wurde. Es könnte
bedeuten, dass er den Täter kannte oder diesen nicht als Bedrohung
wahrgenommen hat.«
»Das passt zu dem, was wir über die Beziehungen im Umfeld
wissen. Hast du auch etwas über die Ballistik?«
»Ja, wir konnten die Kugel identifizieren. Sie gehört zu einem
bestimmten Modell, das schon mal in einem Fall von Notwehr benutzt
wurde«, erklärte er. »Und rate mal, wer der Besitzer ist?«
»Germaine Renard?«
»Genau. Der arbeitet nämlich zeitweilig nebenbei als
Nachtwächter bei einer Sicherheitsfirma und hat deswegen einen
Waffenschein. Der Kollege hat gerade seine Wohnung durchsuchen
lassen.«
In diesem Augenblick spürte ich, wie sich ein Knoten in meinem
Magen bildete. »Könnten wir ihn verhaften?«
»Wir haben genug Beweise, um den Haftbefehl zu erwirken. Die
zuständigen Richter sind bereits informiert. Wir sollten uns
beeilen, bevor er verschwindet.«
Ich schnappte mir François, und wir stürzten uns ins Auto,
bereit zur Verhaftung. Die Sorge, dass Renard verschwinden könnte,
nagte an mir. Die Straßen von Pointe-Rouge wirkten jetzt fremd und
feindselig, als wir die blinkenden Lichter hinter uns ließen.
Als wir vor Renards Wohnung ankamen, war der Zorn und die
Dringlichkeit in mir wie ein Schatten, der nicht verblassen wollte.
»Noch einmal darauf hinweisen, wenn wir ihn verhaften, er könnte
alles leugnen und uns aus dem Konzept bringen«, murmelte ich.
»Das machen wir nicht. Bleib einfach ruhig, Pierre«, beruhigte
François mich und sprang als erster aus dem Auto.
Die Tür der Wohnung stand leicht offen, als wir eintraten. Die
Polizei vor uns hatte keine Zeit verloren, um die Ermittlungen
aufzunehmen. Mehrere Beamte durchsuchten den Raum.
Renard saß auf der Couch, sein Blick war leer, als er uns sah.
»Was ist los? Was wollt ihr von mir?«
Ich trat vor ihn. »Germaine Renard, Sie werden wegen des
Mordes an Monsieur Breton verhaftet.«
Sein Gesicht erhellte sich in einer Mischung aus Schock und
Unglauben. »Ich habe mit diesem Mord nichts zu tun! Was für ein
Unsinn!«
»Die Beweise sprechen für sich, Renard. Ihr Streit war laut
mehreren Zeugen bekannt, und jetzt haben wir auch die Ballistik,
die Ihren Namen mit dem Mord verbindet«, sagte ich und hielt ihm
die Unterlagen vor die Nase.
François legte ihm Handfesseln an. »Die tödlichen Verletzungen
von Breton hängen mit Ihrer Schusswaffe zusammen. Das wissen Sie,
und schließlich haben Sie noch eine weitere Verbindung zur Gitarre
und den Treffen in der Bar eingeräumt.«
Renard zuckte zusammen, als die Realität einbrach. »Ich habe
nie gewollt, dass es so weit kommt. Wir hatten nur einen Streit und
ich …«
»Und das hat Sie nicht daran gehindert, ihn zu töten!«, warf
ich ihm vor.
»Es war nicht so, wie es scheint. Ich wollte ihn nicht
umbringen! Das war alles völlig falsch!«
Sein Bestreiten war vergebens, und obwohl es in mir fordernd
arbeitete, empfand ich auch ein gewisses Mitgefühl für das
gebrochene Wesen vor mir. Er war ein Mann, der von seiner
Vergangenheit und seinen Entscheidungen gefangen war.
»Sie haben in einem Moment des Zorns gehandelt und sehen nun
die Konsequenzen dieser Entscheidung«, sprach ich leise, während
die Beamten Renard von der Couch aufstanden und ihn mitnahmen. Die
Atmosphäre in der Wohnung war jetzt schwer wie bleierne Luft, und
ich konnte nur darüber nachdenken, wie viele andere Geschichten in
diesen Wänden verborgen waren.
Als wir die Wohnung verließen, war ich mir sicher, dass die
Ermittlung beendet war, und doch wusste ich, dass Marseille weiter
in Bewegung blieb – mit seinen Schatten und den geheimnisvollen
Nächten, die noch zu erzählen hatten.
François sagte: »Jeder ist ein Produkt seiner Entscheidungen
und seiner Umgebung. Aber nur wenige bekommen eine zweite Chance«,
murmelte ich, während wir uns in das Auto setzten.
Das Licht der Stadt umrahmte uns, während wir zurück zur Wache
fuhren. Der Fall war geschlossen, aber ich wusste, dass ich die
Verantwortlichkeit für all das, was geschehen war, nicht einfach
ablegen konnte. Es gab noch immer viele, die in den Schatten
lebten, Abdrücke vergangener Geschichten und unerfüllter
Träume.
Und ich war fest entschlossen, dem Stadtteil Pointe-Rouge
weiterhin die Aufmerksamkeit zu schenken, die er verdiente. In den
labyrinthartigen Gassen würde ich immer einen Teil von Bretons und
Germaine Renards Geschichte mit mir tragen, und, während die Nacht
in ein sanftes Morgenlicht überging, wusste ich, dass mich die
Geschichte Marseilles nie ganz loslassen würde – eine Stadt,
geformt von der Vergangenheit und bereit zu offenbaren, was nicht
gesagt werden konnte.
1
Unsere Mission war klar. Vor dem Hochhaus, in dem André
Mussoni als Anlageberater und privater Geldverleiher ein Büro
betrieb, bremste ich den Sportwagen. Ich fand sogar eine Parklücke,
was in den Straßen Marseilles fast schon mit einem Haupttreffer in
der Lotterie vergleichbar war, und manövrierte den Wagen
hinein.
Wir hatten den Verdacht, dass Mussoni ein käuflicher Mörder
war.
Finden Sie heraus, ob etwas dran ist an dem Verdacht, Pierre,
François! Wenn ja, dann stellen Sie André Mussoni kalt.
Das war der Auftrag, den uns Monsieur Jean-Claude Marteau,
Commissaire général de police, der Chef der Force spéciale de la
police criminelle, kurz FoPoCri, mit Nachdruck im Tonfall erteilt
hatte.
Es war kein schwieriger Auftrag. Mussoni rechnete nicht mit
uns. Dennoch verspürte ich Anspannung. Und auch um François’ Mund
glaubte ich einen angespannten Ausdruck wahrzunehmen.
Wir standen vor dem Wegweiser in der Halle des Bürohochhauses.
In der 4. Etage hatten André Mussoni und sein Partner ihren Betrieb
etabliert.
Ich holte ein Walkie-Talkie aus der Jackentasche, ging auf
Frequenz und murmelte in die Sprechmuschel: »Team eins an Team
zwei. Kommen!«
»Hier Team zwei. Alles klar?« Es war die Stimme Christine
Jeannots, der hübschen Kollegin, die aus dem Lautsprecher
erklang.
Sie und Anne Francine warteten in einem Dienstwagen vor dem
Hochhaus, für den Fall, dass André Mussoni François und mir durch
die Lappen gehen sollte.
»Gut, Christine«, sagte ich. »Wir gehen jetzt hinauf. Macht
euch für den Fall des Falles bereit!«
»In Ordnung, Pierre. Wir postieren uns am Eingang.
Over.«
»Wir bleiben in Verbindung. Over.«
Ich steckte das Funkgerät ein, in der Überzeugung, dass wir
die beiden Kolleginnen nicht bemühen mussten.
Der Mann hinter der Rezeption beobachtete uns desinteressiert.
Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als hinter uns jemand die
Halle betrat und zielstrebig zur Rezeption ging. Es war überhaupt
ein Kommen und Gehen hier. Die beiden Aufzüge standen fast keinen
Moment lang still. Manche Leute benutzten die Treppe. Die Drehtür
des Eingangs war ständig in Bewegung.
Ich sagte: »Nimm du den Lift, François! Ich nehme die
Treppe.«
»Hoffentlich trifft dich nicht der Schlag«, knurrte François
mit Galgenhumor. »Vier Stockwerke sind in deinem Alter kein
Pappenstiel.« Er grinste gallig.
»Deine Sorge um mich rührt mich zu Tränen«, gab ich mit
schiefem Grinsen zurück. »Dennoch können wir ja ‘ne Wette
abschließen, wer zuerst oben ist.«
»Na schön. Was wetten wir?«
»Ich wette einen Hunderter, dass du zuerst oben bist.«
François schaute mich verblüfft an. Plötzlich zuckten seine
Brauen in die Höhe.
»Ha, ha«, machte er dann. »Unter die Witzbolde gegangen, wie?«
Er legte den Daumen auf den beleuchteten Knopf, der den Aufzug ins
Erdgeschoss holte.
Ich schaute auf die Stockwerksanzeige des Fahrstuhls. Er
befand sich in der 13. Etage. Der andere Aufzug stand im Moment
sogar im 21. Stockwerk.
»Bis gleich.«
Ich sprach es und schritt zur Treppe.
Als ich einen Blick über die Schulter warf, war der Aufzug,
auf den François wartete, in der 11. Etage.
Mein Ehrgeiz war herausgefordert. Ich beeilte mich. Und als
ich von unten nicht mehr zu sehen war, nahm ich immer zwei Stufen
gleichzeitig. Etwas atemlos kam ich oben an. Der Aufzug befand sich
im Erdgeschoss. Unwillkürlich grinste ich vor mich hin.
Ich orientierte mich.
Gegenüber der Treppe waren die Lifts. Linker Hand führte eine
doppelflügelige Glastür in den Korridor mit den Büroräumen einer
privaten Entsorgungsfirma. Rechts waren hinter einer identischen
Glastür die Büroräume der Star Finance Capital Management &
Consultation Compagnie, wie André Mussoni und sein Kompagnon das
Unternehmen getauft hatten.
Ich ging zu der Tür, auf deren rechtem Flügel in schwarzen
Druckbuchstaben der Firmenname, die Öffnungszeiten, Telefon- und
Faxnummer sowie ein Werbeslogan angebracht waren.
Ich musste fast schmunzeln. Wir kamen während der
Öffnungszeit. Andernfalls hätte es einer besonderen
Terminvereinbarung bedurft. Uns bei André Mussoni anzumelden wäre
allerdings nicht ratsam gewesen.
Ich warf einen Blick auf die Leuchtziffern über der Aufzugtür.
Der Lift befand sich im 2. Stock. Die Nummer 3 leuchtete auf, dann
hielt die Kabine in der 4. Etage. Die Edelstahltüren fuhren lautlos
auseinander. Ich sah vier Leute in der Kabine. François trat ins
Treppenhaus, hinter ihm schloss sich die Tür wieder.
»Ich kriege hundert Euro von dir«, grinste mein Partner
schief.
»Haben wir vielleicht gewettet?«, versetzte ich. »Aber wir
können das gerne nachholen. Wetten, dass Mussoni sich nicht
kampflos ergibt, wenn er das ist, wofür wir ihn halten.«
»Diese Wette würdest du gewinnen«, winkte François ab und
holte die Walther P 99 aus dem Holster. »Auf in den Kampf, Torero«,
tönte er.
Auch ich zog blank. Dann stieß ich die Tür auf.
Es war Punkt 9 Uhr. Wir betraten die Anmeldung. Die nicht mehr
ganz taufrische Dame hinter dem Tresen schaute uns durch funkelnde
Brillengläser verdutzt an. Der Anblick der Pistolen in unseren
Fäusten ließ ihren Mund aufklaffen. Hielt sie uns für Einbrecher?
Der Schrei, der sich in ihr hochkämpfte, erstickte in der Kehle und
reduzierte sich auf ein klägliches Stöhnen.
»Zu Monsieur André Mussoni«, stieß ich hervor.
Sie war wie gelähmt. Ihre Lippen bewegten sich. Eine
unsichtbare Hand schien sie zu würgen.
In diesem Moment – wahrscheinlich hatte der Teufel die Hand im
Spiel – öffnete sich die Tür zum anschließenden Büro. In ihrem
Rahmen stand – André Mussoni.
Für die Spanne zweier Herzschläge starrte er François und mich
entsetzt an. Dann kam bei ihm das Begreifen, denn die Glätte in
seinem Gesicht zerbrach, er knirschte eine Verwünschung, wirbelte
herum und warf die Tür zu.
François und ich schüttelten unsere Überraschung ab. Wir
setzten uns gleichzeitig in Bewegung. Mit zwei Schritten waren wir
bei der Tür. Mit dem dritten Schritt glitten wir auseinander und
bauten uns an der Wand auf.
Keinen Sekundenbruchteil zu früh, denn in dem Raum, in dem
sich Mussoni befand, begann eine Pistole trocken zu wummern. Die
Kugeln stanzten einige Löcher in die Türfüllung. Der Krach war
infernalisch. Holzsplitter flogen. Ich dankte dem Himmel, dass die
Sekretärin nicht in der Schusslinie stand.
Eine Tür schlug nebenan.
Unser Verdacht, dass André Mussoni alles andere war als ein
rechtschaffener und hart arbeitender Anlage- und Vermögensberater,
hatte sich auf brutale Weise bestätigt. So wie er reagierte nur ein
eiskalter Mörder.
Ich bedeutete François, hier zu bleiben, verließ das Büro und
stand wieder auf dem Flur. Mussoni hatte sein Büro durch die Tür
zum Korridor verlassen und rannte zur Glastür. Ich hob die Walther
P 99. »Stehenbleiben! FoPoCri!«
Mussoni wirbelte herum und legte auf mich an. Ich stieß mich
ab, überquerte mit einem kraftvollen Satz den Flur und landete in
der Türnische auf der anderen Seite. Mussonis Schuss dröhnte wie
eine Explosion. Die Kugel schrammte über die Wand und schlug an der
Stirnseite des Korridors ein Loch in die Fensterscheibe.
Mussoni warf sich gegen die Glastür. Sie flog auf. Der
Verbrecher hechtete ins Treppenhaus. Der Flügel der Glastür schloss
sich automatisch. Ich wagte nicht zu feuern, denn wenn ich den
Verbrecher verfehlte, würde meine Kugel die Glastür auf der anderen
Seite des Treppenhauses durchschlagen, und dort konnten
Beschäftigte der Entsorgungsfirma herumstehen.
Mussoni hatte nicht so viele Gewissensbisse. Ich sah ihn auf
die Beine schnellen und die Waffe hochreißen. Der Schuss dröhnte,
Scherben klirrten. Die Kugel pfiff an mir vorbei und hämmerte am
Ende des Korridors ein zweites Loch in die Fensterscheibe. Auch in
dem Türflügel mit den Öffnungszeiten war jetzt ein Loch. Und
Mussoni war verschwunden.
Auf der anderen Seite sah ich François in der offenen Tür zum
Sekretariat. Die Mündung seiner Waffe wies senkrecht nach oben.
Ich schob mich an der Wand nach vorne bis zur Glastür. Das
Treppenhaus war, soweit ich es einsehen konnte, leer. Ich winkte
François. Als er bei mir war, stieß ich die Tür auf und schob mich
hinaus.
Ich hörte auf der Treppe die hallenden Schritte des fliehenden
Mörders. Jetzt waren Christine Jeannot und Anne Francine gefordert.
Ich fischte das Walkie-Talkie aus der Jackentasche. »Team zwei,
bitte kommen.«
»Team eins, was ist? Habt ihr ihn?«
»Nein. Er flieht über die Treppe. Sobald er das Gebäude
verlässt, greift ihr zu. Vorsicht! Er hat eine Pistole und macht
rücksichtslos davon Gebrauch.«
»Verstanden, Pierre! Verbaut ihm den Rückweg!«
»Klar. Hals- und Beinbruch, Christine!«
François und ich folgten dem Verbrecher die Treppe hinunter.
Weit unter uns hörten wir ihn laufen. Den Geräuschen nach, die er
verursachte, musste er immer mehrere Stufen auf einmal nach unten
springen.
2
Christine Jeannot und Anne Francine postierten sich zu beiden
Seiten des Eingangs in das Bürogebäude. Sie hatten ihre Waffen
gezogen. Die beiden Kolleginnen waren nicht mit der schweren P 99,
sondern mit der leichteren P 228 ausgerüstet.
Soeben kamen zwei junge Frauen aus der Drehtür. Eine Gruppe
Männer und Frauen stiegen die fünf Stufen zum Eingang empor.
»FoPoCri!«, rief Christine. »Verlassen Sie die Treppe! Das ist
ein Polizeieinsatz. Beeilen Sie …«
In der Drehtür erschien André Mussoni.
»Waffe weg, Mussoni! FoPoCri!«, schrie Anne Francine und
schlug die Pistole auf den Verbrecher an.
Mussoni fackelte nicht lange, gab einen kaum gezielten Schuss
ab und verschwand sofort wieder im Gebäude. Schreiend flüchteten
die Menschen von der Treppe auf die Straße. Panik griff um sich.
Plötzlich erschien Mussoni wieder. Vor sich hielt er eine
junge Frau als lebendes Schutzschild. Sein linker Arm lag um ihren
Hals. Er drückte ihr die Mündung der Pistole unter das Kinn. Das
Entsetzen versiegelte die Lippen der Frau. Ihre Augen waren ein
Abgrund des Grauens und der Verzweiflung. Die Angst lähmte sie und
machte sie wehrlos.
»Ich knalle ihr den Kopf von den Schultern!«, brüllte der
Francoitaliener. »Kommt mir bloß nicht zu nahe! Verschwindet, ihr
verdammten Bullen-Schlampen! Fort mit euch!« Der nötigte seine
Geisel die obersten beiden Stufen hinunter. Halb besinnungslos hing
die Frau in seinem Arm. Brutal schnürte er ihr die Luft ab. Ihre
Augen quollen aus den Höhlen. Sie japste erstickend.
François und ich verließen das Gebäude.
Mussoni wirbelte die Geisel herum, sodass ihr Körper ihn gegen
uns deckte.
»Na los, schießt schon, ihr verdammten Bullen!«, hechelte er
und schleppte die arme Frau wieder eine Stufe nach unten.
»Geben Sie auf, Mussoni!«, rief ich. »Lassen Sie die Frau
frei! Wir haben Verstärkung angefordert. Sie kommen nicht weit.
Wenn Sie der Frau auch nur ein Haar krümmen, machen Sie alles nur
noch viel schlimmer. Sie haben keine Chance.« Ich rief es
eindringlich, fast beschwörend.
Der Verbrecher lachte scheppernd auf.
»Ja, Bulle, ich lasse sie frei. Sicher, sie kann gehen, wohin
sie will. Ich werde der Kleinen auch kein Haar krümmen.« Wieder
lachte er auf. Es klang widerwärtig und brachte meinen Blutdruck
auf 180. Dann ließ Mussoni wieder seine Stimme erklingen. »Für die
Dame will ich allerdings Ersatz, Bulle. Und zwar deine blonde
Kollegin. Sie gefällt mir. Ja, sie wird mich an Stelle der Dame
begleiten. Komm her, Blondie, komm schon!«
Der Verbrecher meinte Christine Jeannot.
Er richtete an seiner Geisel vorbei die Pistole auf mich, dann
auf François und schließlich auf Anne Francine.
»Na, was ist, Blondie? Muss ich erst deine Kollegin umlegen,
damit du spurst? Schmeiß deine Knarre weg und komm her! Ich warte
noch drei Sekunden. Dann fange ich an zu schießen. Erst glaubt
deine hübsche Kollegin dran. Dann die beiden Commissaires. Und dann
diese kleine Madame hier.«
»Keine Chance, Mussoni!«, schrie ich. »Du …«
Der Verbrecher feuerte. Die Kugel klatschte neben Annes linkem
Knöchel gegen die Treppe und zog jaulend als Querschläger davon.
Steinsplitter spritzten. Steinstaub wallte auf.
Mein Herz übersprang einen Schlag. Ein eiserner Ring schien
sich um meine Brust zu legen. Ich schluckte trocken. Den Kloß in
meinem Hals vermochte ich jedoch nicht hinunterzuwürgen.
Der verdammte Hundesohn machte Ernst. Er benahm sich wie ein
in die Enge getriebenes Raubtier. Er biss um sich, und zwar ohne
Rücksicht auf Verluste. Nun, er wusste, was ihm blühte, wenn wir
ihn festnahmen. Er würde wahrscheinlich nie wieder die Freiheit
sehen. Und weil das so war, reagierte er unberechenbar und tödlich
gefährlich.
Christine Jeannot rief erregt: »In Ordnung, Mussoni. Es ist in
Ordnung. Ich stelle mich Ihnen als Geisel zur Verfügung.«
»Ich wusste es doch«, triumphierte der Verbrecher. »Na, worauf
wartest du? Wirf deine Bleispritze weg und komm her! Pronto,
pronto! Ich will hier keine Wurzeln schlagen. – Ihr anderen Bullen
legt eure Waffen ebenfalls auf den Boden. Ich spaße nicht, und ich
wiederhole mich auch nicht. Runter mit den Kanonen! Und denkt dran,
dass es mir nichts ausmachen wird, euch nacheinander in die Hölle
zu schicken.«
Das irrsinnige Flackern in seinen dunklen Augen verlieh seinen
Worten Nachdruck. Nein, André Mussoni würde nicht einen Lidschlag
lang zögern.
Christine legte ihre Pistole auf die Stufe, auf der sie stand,
richtete sich auf, hob die Hände in Schulterhöhe und stieg langsam
die Treppe hinunter.
François, Anne und ich legten unsere Waffen gleichfalls weg.
Wir standen da wie begossene Pudel. Damit hatten wir bei Gott nicht
gerechnet. Als wir den Auftrag erhielten, André Mussoni hops zu
nehmen, gingen wir von einem Routinefall aus. Wir hatten uns zu
sehr auf das Überraschungsmoment und den Überrumpelungseffekt
verlassen. Ein gravierender, nicht wieder gutzumachender Fehler.
Mussoni hatte uns einen dicken Strich durch die Rechnung
gemacht.
Und jetzt führte er uns sogar vor.
Mein Kopf dröhnte vor hilfloser Wut.
Christine näherte sich dem Verbrecher. Er zielte auf sie. Ein
triumphierendes Grinsen zog seine Lippen in die Breite. Ein
Grinsen, das nicht über die erwartungsvolle, drohende Spannung
hinwegtäuschen konnte, die uns bannte und unsere Herzen schneller
schlagen ließ. Hohn lag in diesem Grinsen, kalte Ironie. Aber da
war noch mehr – da war bewusste Bosheit, und da war eine tödliche
Prophezeiung.
Als Christine einen halben Schritt vor dem Verbrecher
stehenblieb, lachte er rasselnd und von böser Freude erfüllt auf.
»Sehr schön, Blondie. Wir beide werden uns jetzt an einen
stillen Ort zurückziehen. Und wenn deine Kollegen klug sind und
nichts herausfordern, wird dir auch nichts geschehen.«
Mit dem letzten Wort versetzte er seiner Geisel einen derben
Stoß in den Rücken. Die junge Frau taumelte mit einem zerrinnenden
Aufschrei an Christine vorbei. Mussoni machte einen langen Schritt
und war bei der Kollegin. Wir mussten tatenlos zusehen, wie er nun
sie als lebendiges Schutzschild an sich heranriss und ihr die
Mündung seiner Pistole gegen die Schläfe drückte. Er zerrte
Christine die Treppe hinunter.
»Mit welchem Auto seid ihr gekommen?«, zischte der Verbrecher
dicht neben dem Ohr der blonden Frau.
»Mit dem metallic-grünen Ford.« Christines Organ klang
rasselnd und belegt. Unter ihrem linken Auge zuckte ein Nerv. Sie
deutete auf das Fahrzeug, das wenige Meter weiter am Bordstein
abgestellt war.
Christine zeigte nicht, dass sie kalte, verzehrende Furcht
verspürte. Sie war dem Verbrecher auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden. André Mussoni
war ein eiskalter, skrupelloser Mörder. Seine Reaktionen waren kaum
einzuschätzen.
Die Kollegin hielt ihre Empfindungen eisern im Griff. Sich in
jeder Situation zu beherrschen gehörte zum Ausbildungsprogramm, das
jeder künftige Commissaire in Paris durchlief.
»Hast du den Schlüssel?«, fauchte Mussoni.
»Ja. In der Jackentasche.«
»Rührt euch nur nicht!«, brüllte Mussoni drohend in unsere
Richtung. »Ich melde mich bei euch, sobald ich mich in Sicherheit
befinde. Die Kleine lasse ich natürlich noch nicht laufen. Sie ist
im Moment für mich so etwas wie eine Lebensversicherung. Ihr hört
von mir!«
Er drängte Christine zu dem metallic-grünen Dienst-Ford.
Nichts an dem Fahrzeug verriet, dass es ein Einsatzfahrzeug der
FoPoCri war. Sogar die Zulassungsnummer war neutral.
Christine musste auf der Beifahrerseite einsteigen und hinüber
auf den Fahrersitz rutschen. Mussoni bedrohte sie mit der Pistole.
Es war eine Glock. Er schwang sich auf den Beifahrersitz. Der Motor
wurde gestartet. Christine steuerte den Wagen aus der Parklücke und
fädelte sich in den vorbeifließenden Verkehr ein. Der Ford wurde in
der Blechlawine weggeschwemmt, die sich auf der Straße durch das
Viertel wälzte.
Der Ford verschwand.
3
Mit dem zitternden Atemzug lähmenden Entsetzens, der sich
meiner Brust entrang, schüttelte ich den Bann ab, der mich fest im
Griff hielt. Ich hob meine Pistole auf und steckte sie ein. Auch
François und Anne bückten sich nach ihren Waffen. Anne holte
Christines Pistole. In den Gesichtern meiner Kollegen konnte ich
lesen wie in aufgeschlagenen Büchern. Sie drückten Ratlosigkeit,
Erschütterung, Hilflosigkeit, Wut und eine Reihe weiterer
Gemütsbewegungen aus.
Die junge Frau, die sich zunächst in der Gewalt des
Verbrechers befunden hatte, saß schluchzend auf der Treppe.
François und Anne kümmerten sich um sie. Möglicherweise stand sie
unter Schock. Auf jeden Fall würde sie für einige Zeit
psychologische Betreuung notwendig haben. Geiselnahmen lösten bei
den Betroffenen fast immer Traumata aus. Oft waren langwierige,
kostenintensive Behandlungen erforderlich.
Ich holte mein Handy aus der Jacke und klickte die
eingespeicherte Nummer Monsieur Marteaus her, dann drückte ich die
OK-Taste. Es tutete zweimal, dann hatte ich den Chef der FoPoCri in
der Leitung.
Mein Hals war wie zugeschnürt, als ich sagte: »Chef, wir haben
einen schwerwiegenden Fehler begangen. André Mussoni ist uns
entkommen.« Alles in mir sträubte sich dagegen, weiterzusprechen
und dem Chef die ungeschminkte Wahrheit zu berichten. Aber ich
konnte sie nicht verschweigen, und so würgte ich hervor: »Er hat
Commissaire Jeannot als Geisel in seiner Gewalt, Chef. Um
Christines Leben nicht zu gefährden, unternahmen wir nichts – gar
nichts.«
Ich glaubte, den Chef japsen zu hören. Dann herrschte
sekundenlang Stille – Sekunden, die Monsieur Marteau benötigte, um
das Ungeheuerliche zu verarbeiten. Schließlich hörte ich ihn rau
und abgehackt flüstern: »Gütiger Gott, Pierre, wie konnte das
passieren?«
Er war fassungslos. Ich hörte es ganz deutlich am Klang seiner
Stimme.
Ich erzählte es ihm.
»Wir haben Mussoni unterschätzt, Chef«, schloss ich. »Nicht
wir überraschten ihn, sondern er uns, und zwar in dem Moment, als
wir mit den gezogenen Waffen sein Büro betreten wollten. Er
reagierte ansatzlos. Christine begab sich freiwillig in seine
Gewalt, weil er drohte, eine unbeteiligte Geisel zu
ermorden.«
»Mussoni sagte, dass er sich melden wird?«, kam es fragend von
Monsieur Marteau. Ich glaubte, ein unterdrücktes Zittern in seiner
Stimme zu vernehmen.
»Ja, Chef.«
»Dann bleibt uns nur abzuwarten und zu beten, dass er
Christine kein Leid zufügt. Ich informiere die Kollegen von der
Spurensicherung. Sie sollen die Büroräume der Agentur auf den Kopf
stellen. Wir haben zwar die Aussage des verhafteten Thibault
Kramer, aber vielleicht finden sich noch weitere Beweise für die
Verbrechen Mussonis. Kommen Sie, François und Anne, sobald die
Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen sind, ins Präsidium,
Pierre! In Sachen Christine Jeannot können wir im Moment nichts
tun. Wir sind zur Tatenlosigkeit verflucht.«
Mochte es auch noch so hart und brutal klingen. Es war so. Wir
waren zur Untätigkeit verdammt.
Kein Wort des Vorwurfs von Seiten des Chefs. Keine
Vorhaltungen. Wir hatten Fehler gemacht. Es war mein und François’
Versagen, das Christine dem Verbrecher auslieferte. Ich machte mir
selbst die bittersten Vorwürfe, ich zerfleischte mich geradezu
innerlich.
François machte ein Gesicht, als würde er jeden Moment in
Tränen ausbrechen. Er schaute mich an. Anne Francine sprach
beruhigend auf die weinende Frau ein. Die Neugierigen und
Sensationshungrigen wagten sich aus ihren Löchern.
»Ist in Ordnung, Chef«, sagte ich, nachdem ich vergeblich
versucht hatte, mir den Hals freizuräuspern. »Die Kollegen vom
Polizeikommissariat sollen einen Psychologen mitbringen. Die junge
Frau, die sich in der Gewalt Mussonis befand, ist psychisch
ziemlich am Ende. Außerdem sollte auch Mussonis Wohnung durchsucht
werden.«
»Ich werde mich drum kümmern, Pierre«, versprach Monsieur
Marteau. »Und noch etwas: Sie sollten sich nicht mit
Selbstvorwürfen quälen. Wir alle haben die Verhaftung des Mörders
viel zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Aber selbst wenn
wir das Gebäude mit einem ganzen Einsatzzug umstellt hätten – es
hätte genauso enden können.«
»Vielen Dank, Chef. Bis später, also.«
»Bis später.«
Ich betätigte die Trenntaste. Die Leitung war tot. Die Worte
Monsieur Marteaus konnten mich nicht über das Gefühl, versagt zu
haben, hinwegtrösten. Meine Stimmung tendierte gegen Null. Nein,
ich befand mich in der schrecklichsten Stimmung meines Lebens. Die
Ereignisse der vergangenen Viertelstunde lagerten bleischwer auf
meinem Gemüt.
Als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, wandte ich mich
um. Es war François.
»Wir holen Christine raus«, murmelte er, und es klang wie ein
Schwur. »Wir holen sie raus, Pierre. Und wehe Mussoni, wenn er
unserem Mädchen ein Haar krümmt.«
Ich nickte.
Wir gingen zu Anne und der jungen Frau hin. Annes hilfloser
Blick verkrallte sich an meinen Zügen. »Ihr Name ist Carola
Weinberg«, sagte Anne mit brüchiger Stimme. »Mehr konnte ich nicht
aus ihr herausbekommen. Ich denke, sie steht unter Schock.«
»Kommen Sie, Carola«, sagte ich und legte den Arm um die
bebenden Schultern der Frau. Ihr schmales Gesicht war kreidebleich.
Ihre Lippen zuckten. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen. In der
Tiefe ihrer blauen Augen wütete nach wie vor das blanke Grauen. Die
schrecklichen Minuten der Geiselnahme und der Todesangst würden sie
sicher ein Leben lang bis in den Schlaf verfolgen. Sie tat mir
leid. Ihr Anblick schnitt mir tief ins Herz. Banditen wie André
Mussoni konnten gar nicht ermessen, was sie mit ihrer skrupellosen
Brutalität anrichteten, was sie in anderen Menschen
zerstörten.
Zusammen mit Anne führte ich die junge, völlig aufgelöste Frau
in das Gebäude. Mit sanfter Gewalt drückten wir sie in einen der
Sessel, die in der Halle um einen niedrigen Tisch herum gruppiert
waren. François drängte die Neugierigen zurück, die uns folgen
wollten.
Als die Jungs vom Polizeikommissariat kamen, überließen wir
die weinende und schluchzende Frau der Obhut einer
Polizeipsychologin und fuhren mit den Kollegen hinauf in die 4.
Etage. In den Büroräumen von Finance Capital trafen wir auf die
beiden Mitarbeiter Mussonis. Es waren die Sekretärin, die François
und ich schon kennengelernt hatten, sowie ein Mann namens Robin
Pêcheur, der Kompagnon André Mussonis.
Wir überließen es den Männern des Polizeikommissariats, die
beiden einzuvernehmen. Wir, also François, Anne und ich, fuhren zum
Präsidium. Die Sorge um Christine Jeannot verschloss unsere Lippen.
Das Schweigen aber machte alles noch bedrückender und
unerträglicher.
4
André Mussoni war nicht zu seiner Wohnung gefahren. Er ließ
Christine abbiegen und anhalten. Nach wie vor hielt er seine Waffe
unverrückbar auf die blonde Frau angeschlagen.
»Ich muss telefonieren«, knurrte der Verbrecher. »Und dir,
Cherie, rate ich, die Hände auf dem Lenkrad liegen und jeden
krummen Gedanken sausen zu lassen. Du bist zwar verteufelt hübsch
und sexy, und ich wüsste ganz sicher etwas Besseres mit dir
anzufangen als dich abzuknallen, aber letztendlich bist du ein
Bulle, und das stört den ganzen guten Eindruck, den deine
Erscheinung vermittelt, aus meiner Sicht ganz gravierend.«
Das kalte Flirren in seinen dunkeln Augen ließ keinen Zweifel
darüber aufkommen, dass er gnadenlos schießen würde, sollte von
Christine auch nur ein missverständlicher Wimpernschlag
ausgehen.
Die Frau schwieg. Sie war alles andere als eine
Selbstmörderin, die das Schicksal leichtsinnigerweise
herausforderte.
Mussoni holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Er
klickte eine Nummer her und ging auf Verbindung. Im nächsten Moment
meldete sich ein Mann.
Mussoni knurrte: »Gib mir Foucault! Es ist wichtig.«
Eine halbe Minute verstrich, in der Mussoni wartete und
Christine anstarrte. Die Frau zerbrach sich unablässig den Kopf
nach einem Ausweg aus ihrer prekären Situation. Sie fragte sich
auch immer wieder, was von Seiten ihrer Dienststelle wohl
veranlasst werden würde, um sie aus der Gewalt des Verbrechers zu
befreien. Aber sie kam zu keinem Ergebnis. Und sie fand auch keine
Antwort auf ihre Fragen.
Im Moment gestaltete sich für sie die Lage als aussichtslos.
Dieser Gedanke verursachte keine Furcht in Christine, sondern
vielmehr ein Gefühl der Resignation.
Plötzlich erklang wieder Mussonis Organ. Er rief in die
Sprechmuschel: »Salut, Foucault. Es gibt ein Problem. Soeben
erhielt ich wenig erfreulichen Besuch von der FoPoCri. Und jetzt
befinde ich mich auf der Flucht.«
Am anderen Ende der drahtlosen Leitung herrschte kurze Zeit
verblüfftes Schweigen. Dann stieß Sylvain Foucault heiser hervor:
»Verdammt, ja, die dreckigen Schnüffler haben Kramer hops genommen.
Sollte er …«
»Kramer!«, echote Mussoni, und es klang geradezu entsetzt.
»Sie haben ihn geschnappt? Wann war das?«