Burmester und die
Verschwundene: Hamburg Krimi: Burmester ermittelt 11
Kriminalroman von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 104 Taschenbuchseiten.
Die Industriellen-Tochter Sina Maywald interessiert sich für
Okkultismus und Totenbeschwörung - und dann ist sie plötzlich
selbst kaum mehr als ein Gespenst!
Sina ist wie vom Erdboden verschluckt - als wäre sie
geradewegs ins Bermuda-Dreieck gesegelt, und die Spur der jungen
Frau scheint zunächst im Jenseits zu enden. Dann taucht plötzlich
ein Brief von ihr auf. Das Jenseits lässt aus Hannover grüßen und
Privatdetektiv Aldo Burmester bleibt nichts anderes übrig, als
einer Blutspur finsterer Rituale zu folgen, wo eine Serie seltsamer
Morde Aufmerksamkeit erregt hat. Der dortige Polizeichef ist
allerdings alles andere als begeistert von der Idee, Aldo zu
helfen. Ein Mann, der halb wahnsinnig ist vor Angst, wird von Aldo
Burmester aufgestöbert und hat wenig später auch schon eine Kugel
im Kopf - und auch Aldo muss sich alle Mühe geben, am Leben zu
bleiben. Er weiß, dass er alles auf eine Karte setzen muss und
entschließt sich zu einem riskanten Plan.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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1
Hamburg im Jahr 1995…
Aldo Burmester ließ die Zigarette zwischens einen Lippen
aufglimmen. Dann nahm er sie zwischen Daumen und Zeigefinger und
blies den Rauch hinaus.
Von seinem Büro in der Beenckstraße aus hatte der Hamburger
Privatdetektiv einen fantastischen Blick auf die Außenalster.
Segelboote bewegten sich dort. Ihre Segel sahen auf dem in der
Sonne glitzernden Wasser wie Schmetterlinge aus. Ein Frachter
quälte sich nordwärts. Möwen kreisten in der Luft.
“Das wird dich nochmal umbringen, Aldo!”, meldete sich Jana
Marschmann zu Wort. Seine Assistentin. Sie war blond und
kurvenreich. Und manchmal deutlich vernünftiger, als Aldo Burmester
selbst. Zumindest in manchen Punkten.
“Was?”, fragte er.
“Na, die Glimmstengel.”
“Kann schon sein.”
“Du kommst nicht davon los, nicht wahr?”
“Ich könnte jederzeit davon loskommen.”
“Ach!”
“Wenn ich wollte!”
“Und du willst nur nicht.”
“So ist es.”
Er blies ihr den Rauch ins Gesicht.
Sie drehte den Kopf zur Seite.
“Lass das.”
“Riecht das nicht gut?”
“Das verträgt sich nicht mit meinem Haarspray!”
“Fällt die Beton-Walle-Mähne dann in sich zusammen?”
“Das will ich nicht hoffen.”
“Na, dann…”
“Manche Menschen überspielen ihre Nervosität mit einer
Zigarette, Aldo…”
“Ich gebe zu: Ich bin nervös.”
“Warum?”
“Weil wir jetzt schon seit einer Woche keinen Auftrag haben.
Aber die Kosten laufen weiter.”
“Es gibt immer wieder mal Durststrecken, Aldo.”
“Ich weiß.”
“Willst du mich darauf vorbereiten, dass du mich entlassen
musst?”
“Nein, so schlimm ist es noch nicht.”
Jana Marschmann atmete tief durch. Ihre Brüste hoben und
senkten sich dabei.
“Dann bin ich ja beruhigt. Fürs Erste zumindest.”
“Ich wollte dich nicht beunruhigen. Aber ich mache mir meine
Gedanken.”
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
“Siehst du, Aldo! Jede Durststrecke geht auch mal zu Ende!”,
sagte Jana und ging dann an den den Apparat.
*
An einem anderen Ort…
"Wir müssen tanken, sonst bleibt uns der Wagen gleich
stehen!"
"Markus! Glaubst du, dass sie uns noch folgen?" Markus wandte
sich zu der jungen Frau um, die neben ihm auf dem Beifahrersitz des
klapprigen Kastenwagens saß. Dann lachte er kurz und heiser.
Verzweiflung klang in seiner Stimme mit.
"Was glaubst du denn!"
"Oh, mein Gott, wo sind wir da nur hineingeraten!" In ihren
Augen glitzerten Tränen. Sie schluchzte.
Markus schlug mit dem Handballen wütend gegen das
Lenkrad.
"Verliere jetzt nicht die Nerven, Sina!" In Wahrheit war er
fast genau so nahe daran wie sie.
"Was sollen wir denn tun, Markus?"
Er schluckte und wirkte ziemlich ratlos.
"Ich weiß es nicht!", gestand er ein. "Ich habe noch die
Pistole, die ich einem der Kerle abnehmen konnte. Ganz wehrlos sind
wir also nicht."
Sie blickte sich um und sah die Autobahn hinunter, die sie
entlang gerast waren, so schnell wie die alte Kutsche es schaffen
konnte. Bis zu den Bergen ein paar Kilometer südlich war nichts zu
sehen. Die Autobahn war ein gerader Strich in der kaum wechselnden
Landschaft. Die Luft flimmerte. Es war heiß.
"Kein auffälliger Wagen zu sehen", meinte sie.
"Ein gutes Zeichen", gab er zurück. Aber natürlich wusste er,
dass der Vorsprung, den sie hatten, minimal war und sehr schnell
wieder auf Null zusammenschrumpfen konnte. Markus drückte auf das
Gas. Dann deutete er mit der Hand nach vorne.
"Dort hinten! Das sieht aus wie eine Tankstelle!", rief er und
schöpfte ein wenig Hoffnung.
"Hast du Geld?", fragte Sina.
Er atmete tief durch.
"Keine Mark. Genau wie du, nehme ich an!"
"Sie werden nichts bekommen, wenn wir nicht bezahlen
können!"
Markus machte eine wegwerfende Geste.
"Wir können die Polizei anrufen!"
"Oh, Markus! Bis die hier draußen ist, sind wir längst
tot!"
Markus bremste den Wagen merklich ab und bog dann zu der
Tankstelle ein. Das Restaurant daneben war nicht besonders groß,
was auch kaum verwundern konnte. Mit vielen Gästen konnte man an
hier nicht rechnen. Ein paar LKW-Fahrer vielleicht, die hier Halt
machten, um einen starken Kaffee und ein paar Hamburger zu sich zu
nehmen. Im Augenblick war kaum Betrieb.
Umso besser!, dachte Markus und ließ den Blick über das
Gelände schweifen. Ein alter Ford stand an den Zapfsäulen. Eine
Frau in den mittleren Jahren saß auf dem Beifahrersitz und schien
darauf zu warten, dass ihr Mann vom Bezahlen zurückkam.
Fünf Sekunden später tauchte er auf, den Kopf gesenkt und den
Blick ins offene Portemonnaie gerichtet, wo er umständlich das
Wechselgeld einsortierte.
Markus wartete, bis er eingestiegen und davongefahren war.
Dann stellte er sich selbst neben die Zapfsäule.
"Was hast du vor?"
"Wart's ab, Sina! Ich weiß schon, was ich tue!"
Vor dem Restaurant stand ein Kleinlaster mit Verdeck, auf dem
das Markenzeichen eines Limonade-Herstellers zu sehen war.
Vielleicht jemand, der eine Kleinigkeit essen wollte,
möglicherweise auch ein Lieferant.
Ein Geschenk des Himmels!, dachte Markus. Wer immer hier den
Laden schmiss, er würde wohl erst einmal beschäftigt sein.
Markus schraubte den Tank auf und ließ das Benzin aus der
Zapfpistole laufen.
"Markus, was tust du!", hörte er Sinas Stimme, die inzwischen
begriffen hatte, welches Spiel ihr Gefährte zu spielen
beabsichtigte.
"Bis das jemand merkt, sind wir längst weg!" Markus zuckte mit
den Schultern. "Haben wir eine andere Wahl?"
"Komm, lass uns fahren!", forderte Sina.
"Augenblick noch! Jeder Liter, der im Tank ist, ist drin!"
Sina deutete in Richtung Restaurant.
"Markus!"
Aber es war schon so gut wie zu spät. Ein stämmiger Mann in
den mittleren Jahren kam schnellen Schrittes heran. Seine Glatze
war braungebrannt, seine Augen funkelten giftig.
"Hey, was soll das!"
"Ich dachte, hier wäre Selbstbedienung!" meinte Markus
schlagfertig.
"Steht doch extra dran: 'Keine Selbstbedienung'!"
"Habe ich nicht gesehen."
Markus nahm die Zapfpistole aus dem Wagen heraus. Der
braungebrannte Glatzkopf riss sie ihm aus der Hand und hängte sie
an die Säule.
"Sie sehen, was auf dem Zähler steht, Mann!"
Markus sah etwas ganz anderes - etwas, das ihn erbleichen
ließ.
Er musste unwillkürlich schlucken, als er den staubigen
Landrover bemerkte, der jetzt von der Autobahn herunterkam. Es war,
als ob sich ihm eine kalte Hand auf die Schulter legte. Todesangst
hatte ihn ergriffen und einen ganzen Augenblick lang war er
unfähig, irgendetwas zu tun. Er stand einfach nur bewegungslos
da.
"Ist Ihnen nicht gut?"
Das weckte Markus aus seiner Lethargie. Blitzartig zog er
seine Pistole hervor und hielt sie dem Glatzkopf unter die Nase.
Und nun verlor auch der seine frische Gesichtsfarbe.
"Machen Sie keine Dummheiten, Mann! Für die paar Mark lohnt
sich das doch nicht!"
"Gehen Sie weg!"
"Ist ja schon gut!" Er wich scheu und mit erhobenen Händen
zurück und schüttelte dabei stumm den Kopf. Markus' Gesicht war zu
einer Maske verzerrt. Jetzt ging es ums Ganze. Um Leben oder
Tod.
Markus schnellte um den Wagen herum, stieg ein und ließ ihn
an.
"Es ist vorbei", hörte er seine Begleiterin flüstern. Sie war
starr vor Angst. "Es ist vorbei, Markus, wir haben keine
Chance!"
"Red' keinen Unfug!"
Der Landrover kam heran und hielt direkt auf den Kastenwagen
zu, in dem Markus und Sina saßen. Es gab keine Möglichkeit, an ihm
vorbeizukommen.
Also setzte Markus zurück und versuchte zu drehen. Dabei eckte
er an eine der hinteren Zapfsäulen an, aber das spielte jetzt keine
Rolle. Drei Männer saßen in dem Landrover. Einer hatte ein Gewehr
im Arm, und die anderen beiden waren wahrscheinlich auch nicht
unbewaffnet. Markus wollte den Kastenwagen durchstarten, aber da
hatte der Landrover längst nachgesetzt und ehe sie sich versahen,
saßen sie vor dessen Stoßstange. Es gab ein hässliches
Geräusch.
Der Kerl, der den Landrover steuerte, verzog das Gesicht zu
einem hässlichen Grinsen.
"Raus!", rief Markus seiner Gefährtin zu. Indessen kletterte
der erste von den Kerlen bereits aus dem Landrover heraus. Es war
der mit dem Gewehr.
Markus und Sina ließen die Türen des Kastenwagens
auffliegen.
"Lauf, Sina! Zum Restaurant!"
Der Mann mit dem Gewehr hob seine Waffe, aber noch bevor er
irgendetwas tun konnte, hatte Markus bereits einen Schuss aus
seiner Pistole abgegeben. Sein Gegenüber taumelte rückwärts. Ein
ungezielter Schuss löste sich aus dem Gewehr und ging irgendwo ins
Nichts.
Markus hatte ihn im Bauch erwischt. Der Mann klappte zusammen
wie ein Taschenmesser.
Unterdessen waren die beiden anderen aus dem Landrover
gesprungen. Sie waren mit Pistolen bewaffnet. Markus hörte Sinas
Stimme und wirbelte herum. Sie hatte davonlaufen wollen, aber jetzt
hatte einer der Kerle sie gepackt und hielt sie wie einen Schild
vor sich, während der andere seine Waffe hob und losballerte.
Markus warf sich instinktiv zu Boden, während die Kugeln über
ihn hinwegfegte. Er rollte sich herum und hechtete sich dann hinter
einen Haufen alter Reifen. Er hörte Sina seinen Namen rufen.
"Markus! M..." Dann wurde sie abgewürgt.
Es schnitt ihm wie ein scharfes Messer in die Seele, aber was
sollte er tun?
Sina war in deren Hand. Er konnte nicht einfach seine Waffe
nehmen und drauflos ballern, ohne die Frau zu gefährden, die er
liebte - und das wollte er um keinen Preis!
Markus tauchte hinter den Reifen hervor und schoss ein paarmal
- aber nicht gezielt, sondern weit über seine Gegner hinweg.
Immerhin zogen sie erst einmal die Köpfe ein. Ein paar
Augenblicke gewann er dadurch und so startete Markus zu einem Spurt
in Richtung Restaurant.
Er hörte die Schüsse, die auf ihn abgegeben wurden, als er
rannte und dachte: Jetzt hilft nur noch Beten!
Zum Glück waren seine Gegner ebenso lausige Schützen wie er
selbst. Es war fast ein Wunder, aber er bekam nichts ab und konnte
sich bis zu dem Kleinlaster retten. Er dachte an Sina und daran,
was ihr jetzt bevorstand. Aber er konnte nichts tun, ohne sie zu
gefährden.
Markus verschanzte sich hinter dem Lastwagen. An der Tür des
Restaurants standen der Tankwart und noch ein Mann - wahrscheinlich
der Getränkefahrer - und gafften mit weit aufgerissenen Augen. Eine
Schießerei, dass war hier draußen, wo fast gar nichts passierte,
schon etwas, wo es sich lohnte hinzusehen. Selbst dann, wenn es
nicht ganz ungefährlich war. Markus öffnete die Tür des Lastwagens.
Zum Glück steckte der Schlüssel.
"Hey!", rief der Getränkefahrer. Er wollte einschreiten, ohne
darauf zu achten, dass von den Zapfsäulen vielleicht eine Kugel in
seine Richtung geschickt wurde.
Markus ließ die Pistole herumwirbeln.
"Zurück!"
Der Fahrer erstarrte. Markus brannte eine Kugel dicht vor ihm
in den Erdboden, und das brachte endlich Bewegung in seine
Beine.
Als er dann hinter dem Lenkrad saß und startete, sah er einen
Jeep von der Autobahn herankommen. Fünf Männer drängelten sich
darauf, manche mit Gewehren. Auch sie gehörten zu den Verfolgern,
Markus erkannte sie sofort.
Augen zu und durch!, schoss es ihm durch den Kopf. Er trat das
Gas durch und hielt direkt auf den Jeep zu. Der Motor heulte auf.
So ein Kleinlaster war eben kein Porsche. Der Jeep musste zur Seite
ausweichen und fuhr gegen einen Fahnenmast.
Die Männer sprangen heraus, aber Markus war jetzt durch.
Ein paar Schüsse wurden ihm hinterhergeschickt. Markus hörte
die Flaschen scheppern. Aber die Reifen bekamen glücklicherweise
nichts ab. Er ließ den Wagen über die Autobahn jagen, aber seine
Gedanken waren bei Sina. Tränen des Zorns traten ihm in die Augen,
und er musste schlucken.
Was Sina erwartete, war vielleicht schlimmer als der Tod. Aber
im Augenblick konnte er nichts weiter tun, als sein eigenes Leben
zu retten. Er schämte sich nicht dafür, so zu denken. Er hatte
einfach nur eine höllische Angst.
2
Das Haus des Industriellen Harald J. Maywald lag direkt an
einem der malerischen Sandstrände der Insel Fehmarn. Das Gelände
war eingezäunt. Ein bewaffneter Wachmann patrouillierte mit einem
Schäferhund an der Leine auf und ab.
Aldo Burmester war mit seinem champagnerfarbenen Mercedes 500
SL hier herausgefahren, und kam jetzt an das Gittertor. Für
gewöhnlich empfing der bekannte Hamburger Privatdetektiv Klienten
in seinem Büro, aber diesmal machte er eine Ausnahme.
Ein bisschen frischer Seewind - das konnte niemandem schaden,
der sonst vorzugsweise die Abgase von Hamburgs Straßen
atmete.
Aldo Burmester ließ die Scheibe des 500 SL herunter und langte
zu dem Knopf an der Sprechanlage hinaus.
"Ja bitte?", krächzte es.
"Aldo Burmester. Herr Maywald erwartet mich!"
Es folgte keine Antwort mehr. Stattdessen öffnete sich nach
ein paar Sekunden selbsttätig das Gittertor. Der Mann mit dem
Schäferhund stand in der Nähe herum. Der Hund kläffte etwas.
Vielleicht war ihm das Motorengeräusch von Aldos Wagen
unsympathisch.
Vor dem Haus stellte Aldo den Wagen ab und stieg aus. Ein
Mann, der aussah, als wäre er der Majordomus kam ihm entgegen.
"Herr Burmester?"
"Ja?"
"Herr Maywald erwartet Sie am Strand. Gehen Sie einfach
geradeaus! Hinter den Dünen werden Sie ihn sehen."
Aldo zuckte mit den Schultern. Der edle Zwirn, den er trug,
war sicherlich alles andere als die passende Kleidung für eine
Strandwanderung.
Über die Dünenkette gelangte er auf einem Weg aus Holzplanken.
Das Meeresrauschen war allgegenwärtig. Vom Meer her wehte ein
kräftiger Wind.
Zum Baden war es um diese Jahreszeit noch entschieden zu kalt.
Und so stand Harald J. Maywald, der Besitzer von Maywald Industries
auch in sicherer Entfernung von den auslaufenden Wellen und blickte
auf das Meer hinaus. Wenig später hatte Aldo ihn erreicht.
"Herr Maywald, nehme ich an!"
Maywald war ein untersetzter, stämmiger Mann um die sechzig,
der vor Energie nur so zu strotzen schien. Er drehte sich herum und
musterte Aldo kritisch von oben bis unten, so, als wollte er
abschätzen, ob dies der richtige Mann für ihn war. Nachdenklich
nickte er.
"Und Sie sind Burmester, Hamburgs bester
Privatdetektiv."
"Danke."
"Bedanken Sie sich nicht, Burmester! Das sagen andere über
Sie, nicht ich. Ich werde mit meinem Urteil warten, bis ich gesehen
habe, was Sie drauf haben."
Aldo lächelte dünn und zuckte mit den Schultern.
"Das ist Ihr gutes Recht. Ich schlage vor, wir kommen gleich
zur Sache."
Harald J. Maywald verengte ein wenig die Augen. Eine heftige
Windböe zerzauste sein schütteres graues Haar, aber er achtete
nicht darauf, sondern fixierte Aldo unverwandt mit seinem
Blick.
"Waren Sie früher bei der Polizei, Herr Burmester?"
"Ja. Sie haben sich erkundigt?"
"Ich habe einfach geraten."
Aldo grinste.
"Wie es scheint, sind Sie selbst kein schlechter Detektiv.
Warum brauchen Sie dann einen wie mich?"
"Nehmen Sie's mir nicht übel, Herr Burmester! Ich weiß immer
ganz gerne über die Leute Bescheid, mit denen ich umgehe."
"Das verstehe ich."
Sie gingen ein Stück den Strand entlang und Maywald erklärte:
"Es geht um Sina, meine Tochter."
"Was ist mit ihr?"
"Sie ist verschwunden. Wir hatten in der Vergangenheit unsere
Probleme miteinander und sie lebt auch schon lange nicht mehr bei
mir im Haus, aber ..."
Aldo kratzte sich am Hinterkopf und meinte: "Sehen Sie, Herr
Maywald, ich bin Privatdetektiv, kein Kindermädchen. Wenn Sie
Probleme mit Ihrer Tochter haben, bin ich wahrscheinlich die
falsche Adresse."
Eine verwöhnte Millionärstochter zur Räson zu bringen, das war
einfach nicht Aldos Ding.
Aber Maywald schüttelte energisch den Kopf.
"Nein, das glaube ich nicht!" Er atmete tief durch und machte
dann eine Geste mit den Händen, die seine ganze Hilflosigkeit
ausdrückte. "Ich fürchte, dass ihr etwas zugestoßen ist, Herr
Burmester." Sein Gesicht war ganz grau geworden. Trotz der frischen
Luft, die vom Meer herüberwehte.
Aldo nickte.
"Na gut. Erzählen Sie mir etwas über Ihre Tochter!"
"Sina ist fünfundzwanzig. Vor einigen Jahren haben wir uns
zerstritten. Sehen Sie, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Ich
habe eine Firma in Schleswig-Holstein, eine Niederlassung in
Niedersachsen und eine drüben in Niederlande. Und wenn man will,
dass die Dinge so laufen, wie man es für richtig hält, dann muss
man sich doch am Ende selbst darum kümmern."
"Verstehe..."
Maywald sog die Meeresluft ein, als gäbe es nur eine begrenzte
Menge davon, von der man sich besser etwas sicherte, solange der
Vorrat reichte. Mit der Rechten deutete er auf die Umgebung.
"Dies ist ein wunderbarer Ort, nicht wahr, Herr
Burmester?"
"Ja."
Wer hätte das auch ernsthaft leugnen wollen?
"Aber ich habe kaum Gelegenheit dazu, mich hier zu erholen.
Ich komme einfach nicht dazu!" Er zuckte mit den Schultern, blieb
stehen und blickte in sich gekehrt hinaus auf die Ostsee. "Und
genau so war es mit meiner Familie. Meine Frau hat die Konsequenzen
gezogen. Sie ist gegangen und ich habe nicht die geringste Ahnung,
wo sie steckt. Und Sina ... Ich habe sie auch verloren. Ich hätte
mich mehr um sie kümmern sollen. Aber zum Jammern ist es jetzt zu
spät."
"Wahrscheinlich haben Sie recht."
Aldo wartete mit wachsender Ungeduld darauf, dass sein
Gegenüber endlich zum Punkt kam und versuchte indessen, sich eine
Zigarette anzuzünden. Bei dem Wind war das allerdings eine Kunst
für sich war. Schließlich gelang es ihm jedoch, während Harald
Maywald fortfuhr: "Sina hat sich herumgetrieben, seit sie von zu
Hause ausgezogen ist. Erst wollte sie studieren, aber das war ihr
dann wohl zu anstrengend. Sie ist nicht zu den Vorlesungen
gegangen. Zwischendurch wurde sie von der Polizei wegen irgendeiner
Drogensache aufgegriffen, bei der meine Anwälte sie heraushauen
mussten. Vor zwei Jahren hatte sie sich dann etwas gefangen. Seit
der Zeit lebte sie in einer Künstlerkolonie in der Nähe von
Hamburg. Sie hat es mit Malerei versucht. Große Leinwände hat sie
vollgeschmiert."
"Konnte sie davon leben?", fragte Aldo.
Harald J. Maywald lachte heiser und freudlos. Er schüttelte
dabei energisch den Kopf.
"Wie kommen Sie nur auf den Gedanken?!"
"Es gibt Leute, die ein Vermögen für Kunst ausgeben."
"Ja, bei Malern, die Talent haben!"
Aldo hob die Augenbrauen.
"Und Sina hatte keines?"
Maywald zuckte mit den Schultern.
"Das kann ich nicht beurteilen. Ich kenne mich mit Kunst nicht
aus, aber großartige Verkaufserfolge kann sie nicht gehabt
haben."
"Wovon lebte sie?"
"Von meinem monatlichen Scheck." Er verzog bitter das Gesicht.
Seine Nasenflügel bebten ein wenig. "Sonst wollte sie wenig mit mir
zu tun haben, aber ich war immer noch gut genug dafür, ihren
Lebensunterhalt zu bestreiten." Er wandte sich zu Aldo um und sah
ihn offen an. "Es ist im Leben wie im Geschäft, Herr Burmester.
Genau wie ich sagte: Man muss sich um alles selbst kümmern! Ich
hätte mich auch selbst um Sina kümmern müssen."
"Weder ich noch Sie können die Zeit zurückdrehen, Herr
Maywald", stellte Aldo fest. Ein Unterton von Ungeduld war jetzt
nicht mehr zu überhören. "Aber Sie könnten mir jetzt sagen, weshalb
Sie so felsenfest davon überzeugt sind, dass Sina nicht einfach nur
Urlaub macht, ohne Ihnen etwas davon gesagt zu haben."
"Die Schecks der letzten drei Monate hat sie noch nicht
eingelöst. Ist doch merkwürdig, nicht? Sie war immer in Geldnot und
es würde mich nicht wundern, wenn sie noch immer hin und wieder
Kokain genommen hat - angeblich soll das ja die Kreativität
fördern. Jedenfalls ist es verdammt teuer. Sina hat nie gelernt,
sich Geld einzuteilen, weil sie immer im Überfluss davon hatte.
Manchmal hat sie mich angerufen und gefragt, ob der Scheck nicht
eine Woche früher kommen könnte. Sie hat keine Rücklagen, da bin
ich mir so gut wie sicher. Es mag ja Leute geben, die von wenig
oder gar keinem Geld leben können, aber Sina gehört ganz sicher
nicht dazu."
Aldo wurde hellhörig. Das mit uneingelösten Schecks war ein
Punkt, der tatsächlich merkwürdig klang.
Indessen fuhr Maywald fort: "Gestern hat mich ihr Vermieter
angerufen. Sie ist mit der Miete im Rückstand. Die Nachbarn haben
sie seit längerem nicht mehr gesehen."
"Waren Sie in der Wohnung?"
"Ja. Ich habe mir Zutritt verschafft."
"Und?"
Er zuckte die Achseln.
"Sie war nicht dort!"
"Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?"
"Das ist fast ein halbes Jahr her. Sie brauchte mal wieder
Geld. Das war nichts Ungewöhnliches, aber sie hatte sich doch in
erschreckender Weise verändert. Sie trug nur noch schwarze Sachen
und war im Gesicht weiß geschminkt. Wie eine Leiche. Ich war schon
einiges an modischen Verrücktheiten von ihr gewohnt, aber als ich
sie sah, war ich doch etwas erschrocken. Wie eine lebende Leiche
sah sie aus. Ich fragte sie, was mit ihr los sei."
"Was hat sie gesagt?"
"Ich hatte den Verdacht, dass sie wieder irgendetwas genommen
hätte. Vielleicht war es auch so, sie wirkte ziemlich high und
erzählte mir irgend so einen Unfug von Geisterbeschwörungen,
Gläserrücken, Séancen, Stimmen auf Tonbändern, die von Verstorbenen
stammen sollen und so weiter. Ich habe es nicht richtig verstanden
und war auch nicht weiter neugierig darauf. Sie war ganz erfüllt
von diesem Okkultismus-Zeug! So war das immer mit ihr, wenn sie auf
einem neuen Trip war."
"Haben Sie ein Foto von ihr?"
"Ich werde Ihnen gleich eins geben, wenn wir zurück ins Haus
gehen. Und dann bekommen Sie auch einen Scheck. Die Summe können
Sie selbst eintragen." Er lächelte matt. "Ich hoffe, Sie machen
mich nicht arm, Herr Burmester!"
"Ist das bei Ihnen überhaupt möglich?"
"Sie müssten sich schon einige Mühe geben." Dann atmete Harald
J. Maywald erleichtert durch und stellte fest: "Ich nehme also an,
dass Sie den Fall übernehmen."
Aldo nickte.
"… falls es tatsächlich ein 'Fall' ist!"
"Ich hoffe, dass sich Ihre Skepsis bewahrheitet, Herr
Burmester. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl."
3
Ehemalige Lager-und Fabrikhallen, die sich etwas außerhalb von
Hamburgs großen Wohnvierteln befanden, dienten zum Großteil seit
langem einem ganz anderen Zweck. Seit die Verwaltung dieses Gebiet
zum Wohnen freigegeben hatte, war hier Hamburgs jüngste
Künstlerkolonie entstanden, denn die zahlreich vorhandenen Hallen
und Lagerräume gaben hervorragende Ateliers ab.
Als Aldo Burmester am nächsten Tag Sina Maywalds Adresse
aufsuchte, fand er ihre Wohnung auf ungefähr hundert Quadratmetern,
die von einer Lagerhalle abgetrennt worden waren.
Für Aldo war es keine Schwierigkeit, das Türschloss zu öffnen.
Er blickte sich um. Der Raum war hoch. Aus den oberen Fenstern fiel
das Licht herein. Aldo konnte sich vorstellen, dass man hier gut
malen konnte.
Die Wohnung war zugleich Atelier, Schlaf- und Wohnraum. Es gab
keine Trennung zwischen den drei Funktionen. Das Bett war eine
große Doppelmatratze. Die Decke war zerwühlt, als ob Sina gerade
erst aufgestanden wäre und gleich aus dem Bad kommen müsste.
Aber so war es nicht. Es war niemand in der Wohnung.
Aldo fand ein paar kleinere Mengen Kokain und Haschisch, bei
denen Sina sich gar nicht erst die Mühe gemacht zu haben schien,
die kleinen Briefchen zu verstecken.
Harald J. Maywalds Verdacht, dass seine Tochter das Zeug immer
noch nahm, war also nicht aus der Luft gegriffen. In einem mit
Büchern gefüllten Regal fand Aldo dann eine kleine Bibliothek des
Erstaunlichen und Unerklärlichen: Okkultismus, Parapsychologie,
Erdstrahlen und was sich sonst noch in diese Reihe stellen ließ.
Sinas Interesse an diesen Phänomenen schien ziemlich ausgeprägt zu
sein.
Aldo blätterte in verschiedenen Bänden etwas herum. In einem
war ein Foto eingelegt, dass Sina zusammen mit einem jungen Mann
zeigte. Beide waren sie ganz in schwarz gekleidet.
Das Buch - das den Titel SATANSKULTE UND SCHWARZE MESSEN trug
- enthielt auch eine Widmung: Für Sina - in Liebe. Markus
Langwald.
Aldo fragte sich, ob der junge Mann auf dem Foto jener Markus
Langwald war, der die Widmung verfasst hatte. Wahrscheinlich war es
so. Leider war unter der Widmung kein Datum, so dass man nicht
ermessen konnte, ob diese Bekanntschaft noch aktuell war.
Etwas später nahm Aldo sich die Kunstwerke vor, die sich in
Sinas Wohnung stapelten.
Gleichgültig, ob sie nun Talent hatte oder nicht, Sina Maywald
hatte eine beträchtliche Quadratmeterzahl an Leinwand
vollgepinselt. Manche ihrer Werke waren fast drei Meter hoch.
Aldo sah sich kurz einige ihrer Gemälde an. Sie waren stets
penibel datiert, was in diesem Fall eine Hilfe war. Bis vor einem
halben Jahr, so konnte Aldo bei seiner flüchtigen Durchsicht
feststellen, hatte Sina ziemlich fleißig gemalt.
Ihre Sachen waren keine gegenständliche Kunst, sondern
abstrakte Farbgemenge. Rot, gelb und braun herrschten vor. Dann
hatte sich das fast schlagartig geändert.
Sina schien nur noch wenig zustande gebracht zu haben. Die
Farben waren düster. Schwarz wurde zum wichtigsten Bestandteil. Das
letzte Gemälde war ein riesiges, blutrotes Pentagramm auf schwarzem
Untergrund. Danach hatte sie ganz mit dem Malen aufgehört.
Jedenfalls fand Aldo kein Bild, das später datiert war. Und
die Annahme, dass ihr von einem Tag zum anderen die Galeristen auf
einmal die Türen eingerannt und alles weggekauft hatten, war wohl
mehr als unwahrscheinlich.
Aldo stolperte fast über einen Farbeimer. Die Farbe darin war
schon völlig getrocknet, der Pinsel endgültig verdorben. Da würden
auch noch so große Mengen an Nitroverdünnung nichts mehr
ausrichten.
Und dann fiel Aldos Blick plötzlich auf einen Fleck am Boden.
Es gab viele Flecken - Farbflecken, die über die ganze Wohnung
verteilt waren. Aber dieser Fleck sah anders aus. Blut!
Hundertprozentig sicher konnte Aldo sich da natürlich nicht
sein. Aber andererseits hatte er dutzendweise Tatorte mit solchen
Flecken gesehen.
Er ging zum Telefon und wählte die Nummer der Mordkommission.
Vielleicht war es schon zu spät, um Sina Maywald noch lebend
aufzufinden.
Als er den Anruf beendet hatte, fiel Aldo die Nummer auf, die
in der Nähe des Telefons mit Bleistift ganz klein an die Wand
geschrieben war. Aldo probierte einfach und wählte die Nummer. Es
meldete sich der automatische Anrufbeantworter eines gewissen Dr.
Samuel Vollmer mit der Bitte, doch nach dem Pfeifton eine Nachricht
zu hinterlassen.
Aldo legte auf.
4
"Hey, was machst du da!"
Es war eine feindselige Männerstimme, die Aldo Burmester
herumfahren ließ. Diese Stimme hatte einen ziemlich unsympathischen
Klang, der so scharf wie ein Rasiermesser durch die
sonnendurchflutete Stille des Wohnateliers schnitt.
Aldo verengte ein wenig die Augen und sah in das bleiche
Gesicht eines Dreißigjährigen. Seine fettigen Haare waren
zurückgestrichen, sein Bart etwa eine Woche alt. Die wässrig-blauen
Augen fixierten Aldo. Der Mann kam ein paar Schritte näher.
"Die Tür stand offen", sagte er. "Da bin ich hereingekommen,
weil ich dachte, dass Sina vielleicht zurück wäre."
"Wo ist Sina?", fragte Aldo.
Es war ein Versuchsballon, den er da steigen ließ. Aber
vielleicht kam ja etwas dabei heraus.
Der Mann verzog das Gesicht zu etwas, dass bei jemand anderem
vielleicht ein Lächeln gewesen wäre. Bei ihm war es nur ein
einziger Krampf. Er baute sich breitbeinig auf.
"Glaubst du, ich wäre hier, wenn ich wüsste, dass Sina
woanders ist?"
"Keine Ahnung. Was willst du denn von ihr?"
"Sie schuldet mir noch Geld."
Aldo wurde hellhörig. Er begann sich eins zum anderen zu
reimen.
"Für das Kokain?"
Der Mann erstarrte.
"Bist du ein Bulle?"
Aldo verzog das Gesicht. "Sehe ich so aus?"
"Wenn du schon so fragst: Ja! Ich glaube, ich gehe
besser!"
Jetzt war Aldo sich sicher. Er hatte mit seiner Vermutung ins
Schwarze getroffen. Aber wenn dieser Kerl tatsächlich Sinas
Drogenlieferant war, dann wusste er vielleicht noch mehr. Aldo
konnte ihn nicht so einfach gehen lassen.
"Halt! Einen Moment!", rief der Privatdetektiv.
Der Mann blieb stehen und drehte sich wieder herum. Er hielt
die Faust in seiner Jackentasche. Vielleicht hatte er dort
irgendeine Waffe. Eine Pistole oder ein Springmesser, so war zu
vermuten. Ganz gleich, was es auch war, Aldo wusste, dass er
vorsichtig sein musste.
"Was ist noch?", knurrte der Mann. Ihm gefiel das nicht, aber
noch blieb er ruhig.
Aldo kam gleich zur Sache.
"Sagt dir der Name Markus Langwald etwas?"
"Sinas letzter Freund hieß - glaube ich - Markus."
Aldo Burmester trat auf ihn zu. Er wartete erst einmal ab. Als
der Privatdetektiv direkt vor ihm stand, zeigte er dem Kerl das
Foto, das er aus dem Buch über Satanskulte herausgenommen
hatte.
"Ist er das?"
Er schaute kurz hin und nickte.
"Ja."
"Was weißt du noch über Sina?"
"Nichts!" Der Kerl schüttelte den Kopf. "Überhaupt nichts. Ich
werde jetzt gehen!"
"Du bleibst!", bestimmte Aldo in einem Ton, der keinen
Widerspruch duldete. "Du bleibst, bis ich von dir gehört habe, was
ich wissen will. Kapiert?"
"Du hast kein Recht dazu!", schnatterte er.
Burmester zuckte die Achseln.
"Die Mordkommission ist auf dem Weg hierhin. Wenn du wirklich
Sinas Lieferant warst - und davon gehe ich aus - dann hast du
wahrscheinlich kein Interesse daran, mit den Kollegen
zusammenzutreffen. Besser, du gibst deine Auskünfte etwas
schneller!"
Aldo stand dicht vor ihm. Vielleicht ein bisschen zu dicht.
Ihre Blicke begegneten sich und bohrten sich für einen Augenblick
ineinander.
"Okay ...", sagte der Mann zu Aldo. "Du hast gewonnen
..."
Aber das sagte er nur zur Ablenkung. In Wahrheit meinte er das
genaue Gegenteil. Blitzschnell kam die Faust aus seiner
Jackentasche heraus. Und in der Faust hatte er tatsächlich ein
Springmesser. Die Klinge schnellte so giftig hervor wie Zunge einer
Schlange.
Aldo erkannte die Gefahr im letzten Moment und wich zur Seite.
Die Klinge stieß an seinem Körper vorbei ins Leere.
Der Kerl bekam postwendend die Antwort.
Aldo nahm seinem Arm und drehte ihn herum. Der Kerl ächzte und
ließ das Messer fallen. Aldo schleuderte ihn dann ziemlich hart
gegen die Wand. Er rutschte zu Boden und bevor er wieder auf den
Beinen war, war Aldo schon über ihm und packte ihn am Kragen.
"So haben wir nicht gewettet, Freundchen!", meinte er.
"Was willst du wissen, Lackaffe?", knurrte der Kerl.
"Wer bist du!"
Es kam keine Antwort. Also musste Aldo den Druck etwas
erhöhen.
"Hören Sie gut zu!", begann er. "Einer wie Sie steht
garantiert in diesen schönen Bildbänden, die einem bei der Polizei
immer gezeigt werden. Wahrscheinlich hat man dich immer nur mit
kleinen Mengen erwischt und konnte dich deshalb nicht für länger
einbuchten." Aldo packte sein Gegenüber fester und durchsuchte mit
der anderen Hand die Taschen. Er wurde schon nach wenigen Sekunden
fündig. "Na bitte! Wer sagst es denn!", war Aldos Kommentar, als er
ein paar kleine Briefchen mit weißem Pulver herausfischte und sie
seinem Gegenüber unter die Nase hielt. "Wenn ich tatsächlich einen
halben Tag damit verschwenden muss, um mir auf irgendeinem zugigen
Revier Fotoalben anzuschauen, dann werde ich dir ein paar
Schwierigkeiten machen, die sich gewaschen haben! Dies hier ist
nämlich vielleicht ein Mordfall - und ich glaube nicht, dass du
darin gerne verwickelt werden möchtest."
Er schien ehrlich erstaunt.
"Was sagst du da? Mord?"
Aldo ging nicht darauf ein.
"Ich bekomme sowieso heraus, wer du bist - so oder so. Du hast
die Wahl!"
Der Kerl seufzte.
"Andy Reichelt", gab er als Name an.
"Wie oft bist du für gewöhnlich hier gewesen?"
"Immer, wenn Sina mich angerufen hat. Die Abstände waren
unterschiedlich. Es lag daran, ob sie gerade viel malte, wie sie
gerade privat zurechtkam und so weiter. Alle paar Wochen aber auf
jeden Fall. Manchmal, wenn der Scheck von ihrem Vater noch nicht da
war, dann habe ich ihr das Zeug erst einmal so überlassen. Bei ihr
konnte man das machen. Da war ja genug Geld im Hintergrund."
"Verstehe ..."
"Ist sie wirklich umgebracht worden?", fragte Reichelt dann.
Aldo Burmester ließ ihn los und sagte: "Ich weiß es noch
nicht. Aber ich werde es herausfinden."
"Das täte mir leid. Sie war ein nettes Mädchen ... Jedenfalls
früher."
Aldo legte die Stirn in Falten.
"Seit wann denn nicht mehr?"
"In letzter Zeit schien sie mir völlig durchgedreht. Wissen
Sie, was ein Gothic ist? Leute, die nur in Schwarz gehen, sich mit
Vorliebe auf Friedhöfen aufhalten und so etwas. Lebende Tote. Die
haben sogar schon ihre eigenen Diskotheken."
"Und Sina war so ein Gothic?"
"Sieh doch mal in ihren Bücherschrank oder schau mal die
Schallplatten durch, die sie hört! Dann weißt du Bescheid."
"Wann hast du Sina zum letzten Mal gesehen?"
Reichelt schien einen Augenblick nachzudenken. Dann sagte er:
"Das war vor drei Monaten, glaube ich. Ihr Scheck war noch nicht
da. Ich habe ihr das Zeug vorgestreckt. Ach ja, sie hatte sich da
so ein seltsames Zeichen auf den Handballen malen lassen.
Vielleicht war es auch eine kleine Tätowierung. Ich habe es nur
ganz kurz gesehen."
"Ein Zeichen? Was für ein Zeichen?"
Reichelt deutete mit der Hand auf eines der Gemälde, die in
Sinas Atelier standen.
"Genau so sah es aus!", meinte er.
Aldo Burmester wandte den Kopf zur Seite und verengte ein
wenig die Augen. Kein Zweifel, Reichelt meinte das Bild mit dem
überdimensionalen Pentagramm.
5
Bevor die zwei Kommissare von der Mordkommission kamen, war
Andy Reichelt verschwunden. Aldo Burmester hatte nichts dagegen,
dass er sich davonmachte. Es würde keine Schwierigkeit sein, ihn
wieder aufzuspüren, wenn es sein musste. Und vielleicht würde es
notwendig sein. Aldo war sich zwar ziemlich sicher, dass Andy
Reichelt nichts mit dem zu tun hatte, was mit Sina Maywald
geschehen war, aber bis jetzt war der kleine Dealer sein einziger
Anknüpfungspunkt. Ihn der Polizei zu übergeben, hatte ohnehin wenig
Sinn. Man konnte ihm damit ein bisschen Ärger machen, aber dann
würde er wieder freigelassen werden müssen, weil die Mengen an
Stoff, die bei sich führte, zu gering waren. Er war halt nur ein
kleiner Fisch.
Und Fische, so dachte Aldo, waren ja von Natur aus schon stumm
und ziemlich schwer zum Singen zu bringen.
Die beiden Kommissare hießen Kurtz und Ochmann. Kurtz war fast
zwei Meter groß. Aldo kannte ihn flüchtig. Ochmann hingegen war
klein, rothaarig und sommersprossig. Und noch ziemlich jung.
Vermutlich war er noch nicht allzu lange im Dienst. Jedenfalls
wirkte er recht unsicher.
Kurtz lächelte, als er Aldo Burmester die Hand
schüttelte.
"Sie sind Aldo Burmester - der spezielle Freund unseres
Kriminalhauptkommissars, nicht wahr? Ich habe schon viel von Ihnen
gehört."
Aldo grinste.
"Wie ich hoffe, nur Gutes! Kommt noch jemand, der etwas von
Spurensicherung versteht? Ich hatte am Telefon ..."
Kurtz deutete auf seinen Kollegen und meinte: "Das ist
Ochmanns Job!"
"Worum geht's denn?", fragte Ochmann.
Aldo führte sie zu dem Blutfleck - oder dem, was er dafür
hielt. Ochmann war allerdings auf den ersten Blick hin derselben
Meinung.
"Wie lange dauert es, bis Sie wissen, was es ist!"
Ochmann machte eine wegwerfende Geste.
"Am besten auch gleich, von wem - habe ich recht?"
"Zumindest die Blutgruppe wäre nicht schlecht!"
"Wir tun wie immer unser Bestes", mischte sich Kurtz
ein.
"Was denn sonst!", gab Aldo sarkastisch zurück.
6
Nachdem Aldo Burmester zusammen mit Kurtz noch einige von
Sinas Nachbarn besucht hatte, schaute er noch bei jenem Samuel
Vollmer vorbei, dessen Telefonnummer für die junge Frau offenbar so
wichtig gewesen war.
Dr. Samuel Vollmer war an diesem Tag eigentlich für niemanden
zu sprechen, denn es war sein freier Tag. Und so schaute er auch
ziemlich missmutig drein, als er den hochgewachsenen, gut
gekleideten Mann vor seiner Wohnungstür stehen sah.
"Mein Name ist Burmester. Ich hätte sie gerne kurz gesprochen,
Herr Vollmer. Darf ich hereinkommen?"
"Hören Sie ..."
Bevor er zu einem großangelegten Protest ausholen konnte,
hatte Aldo Burmester ihm bereits Sinas Foto unter die Nase
gehalten.
"Kennen Sie dieses Mädchen?"
"Nein."
"Sie haben es sich doch gar nicht richtig angesehen!"
Vollmer warf Aldo einen giftigen Blick zu. Dann nahm er das
Bild und sah es sich richtig an. "Ich kenne sie nicht. Und jetzt
verschwinden Sie bitte - wer auch immer Sie geschickt haben
mag!"
Aber Aldo hatte keineswegs die Absicht, sich so leicht
abwimmeln und ins Bockshorn jagen zu lassen.
"Wenn Sie sie überhaupt nicht kennen - wie kommt es dann, dass
diese junge Frau sich Ihre Telefonnummer aufgeschrieben hat?"
Er stutzte und wurde ein wenig unsicher. Gerade noch hatte er
Aldo die Tür vor der Nase zuschlagen wollen, jetzt schienen seine
Ohren ganz weit offen zu sein.
"Was weiß ich ...", murmelte er kaum hörbar. "Muss ich mir
darüber den Kopf zerbrechen?" Er musste. Und er tat es auch längst.
Aldo konnte es ihm deutlich ansehen. In Vollmers Kopf begann es zu
arbeiten. Er hob ein wenig die Augenbrauen fragte dann: "Sind Sie
von der Polizei?"
"Haarscharf daneben. Privatdetektiv. Aber vielleicht wird die
Polizei auch noch hier aufkreuzen. Wer weiß ..."
"Hat die Kleine irgendetwas ausgefressen?"
"Schon merkwürdig, dass Sie das wissen wollen, wo Sie sie doch
gar nicht kennen, Herr Vollmer. Ihr Name ist übrigens Sina. Sina
Maywald ..."
"Sina, sagen Sie ..." Er warf noch einen Blick auf das Foto,
aber Aldo wusste, dass das reine Show war. Er wollte seine Taktik
ändern. "Ich erinnere mich. Ja, jetzt erkenne ich sie! Sie ist wohl
beim Friseur gewesen, seit diese Aufnahme entstand. Was ist mit
ihr?"
Aldo zuckte die Achseln.
"Genau das möchte ich auch gerne wissen. Sie ist
verschwunden."
Das schien ihn neugierig zu machen.
"Kommen Sie herein!"
Vollmer führte Burmester in seine Wohnung und bot ihm einen
Platz in dem weiträumig angelegten Wohnzimmer an. Aldo bekam sogar
einen Drink angeboten, den er auch bereitwillig annahm, während
Vollmer nervös auf und ab ging.
"Sie sind Psychiater, nicht wahr?", fragte Aldo.
Vollmer nickte.
"Psychiater und Nervenarzt."
"War Sina Ihre Patientin?"
Vollmer zögerte. Dann erwiderte er: "Haben Sie noch nie etwas
von Schweigepflicht gehört?"
"Ich habe Sie ja nicht gefragt, was ihr fehlte!"
"Das spielt keine Rolle."
Aldo lächelte dünn. Diese Art von Versteckspielen kannte er zu
Genüge, aber seine Position in diesem Poker war gar nicht so
schlecht.
Samuel Vollmer baute sich breitbeinig auf, was ziemlich
lächerlich wirkte, denn er war klein und schmächtig.
"Wer ist Ihr Auftraggeber, Herr Burmester?"
"Hängt davon die Beantwortung meiner Fragen ab?"
Vollmer zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht."
Aldo begriff. Das Ganze sollte eine Art Handel werden, bei dem
Vollmer ihn über den Tisch ziehen wollte. Der Privatdetektiv erhob
sich und stellte sein inzwischen leeres Glas auf den niedrigen
Tisch.
"Bedaure ...", meinte er. "Ich habe das Gefühl, dass ich hier
meine Zeit verschwende. Aber wenn Sie schon nicht mir antworten
wollen - der Mordkommission werden Sie antworten müssen. Die werden
hier todsicher bald auftauchen und ich will in Ihrem Interesse
hoffen, dass Sie sich bis dahin eine überzeugende Story ausgedacht
haben."
Es war ein Bluff, denn es war keineswegs sicher, dass Kurtz
und Ochmann je vor Dr. Vollmers Tür stehen würden. Aber Aldo hatte
richtig gepokert. Er hatte noch nicht einmal den halben Weg zur Tür
zurückgelegt, da hatte Vollmer angebissen.
"Warten Sie, Herr Burmester!", rief er ihm hinterher. Aldo
drehte sich halb herum. "Habe ich richtig verstanden? Sagten Sie
Mordkommission?"
"In Sinas Wohnung hat man einen Blutfleck gefunden. Es besteht
der Verdacht, dass Sina umgebracht wurde."
"Ich habe nichts damit zu tun!"
"Warum spielen Sie dann Katz und Maus mit mir?"
Vollmer seufzte und trat näher an Aldo heran. Er wirkte jetzt
ziemlich kleinlaut.
"Setzen Sie sich wieder!" Aldo verzichtete darauf, während
Vollmer fortfuhr: "Ich habe Sina vor einem halben Jahr zum letzten
Mal gesehen. Und in meinen Patientenkarteien wird man sie nicht
finden. Das ist die Wahrheit."
Aldo Burmester ließ nicht locker. Zu offensichtlich hatte
Vollmer zu erkennen gegeben, dass ihn Sinas Schicksal
interessierte. Und genau deshalb hatte Aldo ihn am Haken.
"Trotzdem", stellte der Privatdetektiv fest. „Sie kennen Sina!
Und dafür wird es auch Zeugen geben."
"Ich habe sie aber nicht umgebracht", stieß er hervor und
atmete dann tief durch. Etwas ruhiger setzte er hinzu: "Vor etwa
einem Jahr habe ich sie auf einer Vernissage kennengelernt. Wir
verstanden uns ganz gut. Sie war sehr kunstinteressiert und ist
auch selbst als Malerin tätig. Ich sagte ihr, dass in meinem
Bekanntenkreis auch ein paar Galeristen seien, mit denen ich sie in
Kontakt bringen könnte ..."
"… und dafür ist sie dann mit Ihnen ins Bett gegangen!"
Vollmer schluckte und wurde knallrot. Aldo wusste, dass er ins
Schwarze getroffen hatte.
"Woher wissen Sie das?"
"Ich habe es nur vermutet. Hat das denn geklappt mit ihren
Bildern?"
"Ein, zwei Verkäufe habe ich ihr vermitteln können. Im Grunde
war es ein Anfang, aber dann begann sie sich zu verändern." Er
zuckte mit den Schultern. "Ich bot ihr ein paar kostenlose
Sitzungen an, denn mir war schon aufgefallen, dass sie immense
seelische Probleme haben musste. Aber es war zu spät ..."
"Was meinen Sie damit?"
"Plötzlich verschloss sie sich vor mir. Sie veränderte sich,
schien mir manchmal sehr depressiv und niedergeschlagen zu sein,
obwohl sie doch auf dem Kunstmarkt einen Anfang gemacht hatte -
wenn auch einen bescheidenen. Sie malte auch kaum noch. Wir
verloren uns aus den Augen."
Jetzt wandte sich Aldo endgültig zum Gehen.
"War es meine Frau, die Sie auf mich angesetzt hat, Herr
Burmester?", fragte Vollmer zuvor noch. Aldo hob die Augenbrauen
und schüttelte den Kopf.
"Keine Sorge", meinte er.
7
Aldo legte den Hörer auf und lehnte sich nachdenklich
zurück.
"Und?", fragte Jana Marschmann, Aldos hinreißende Assistentin,
wobei sie sich ihren knappen Rock glatt strich. "War es wirklich
Blut?"
Aldo nickte.
"Ja. Blutgruppe Null!"
Jana atmete tief durch.
"Wer hat die nicht!"
"Du sagst es, Jana."
"Und Sina Maywald?"
"Wir werden ihren Vater fragen müssen."
"Wenn sie dieselbe Blutgruppe hat, könnte ihr etwas zugestoßen
sein", meinte Jana, der Aldo von seinem Besuch bei Dr. Vollmer
erzählt hatte. "Ein Eifersuchtsdrama vielleicht! Die Frau dieses
Psychiaters könnte von Vollmers Verhältnis erfahren und ihrer
Nebenbuhlerin einen unfreundlichen Besuch abgestattet haben."
"Daran habe ich auch schon gedacht", nickte Aldo.
"Aber Vollmer sagte, er hätte Sina seit einem halben Jahr
nicht gesehen."
"Vielleicht hat er gelogen, Aldo. Das liegt doch nahe. Sina
ist möglicherweise ermordet worden und er hat keine Lust, darin
verwickelt zu werden - ganz gleich, ob er nun seine Frau in
Verdacht hat oder nicht. Er hat schließlich einen Ruf und gut
zahlende Patienten zu verlieren." Jana machte eine kurze Pause und
setzte dann hinzu: "Und wenn es genau umgekehrt ist?"
"Wie meinst du das?"
"Vollmer könnte von Sina erpresst worden sein. Vielleicht
drohte sie ihm damit, seiner Frau etwas von der Verbindung zu
sagen. War sie nicht immer in Geldsorgen? Vollmer könnte es zu viel
geworden sein ..."
Aber Aldo schüttelte energisch den Kopf.
"Mir war gleich klar, dass er Sina kannte, aber er schien mir
wirklich überrascht darüber zu sein, dass sie vielleicht ermordet
wurde. Bis jetzt fehlt uns auch noch die Leiche ..."
"Die kann ja noch auftauchen", gab Jana den Ball zurück.
Aldo zuckte mit den Schultern und stand auf.
"Ich bin mir da nicht ganz sicher", erklärte er nachdenklich.
"Erstens könnte das Blut auch dann von jemand anderem stammen, wenn
die Blutgruppe übereinstimmt und zweitens ..."
Jana verschränkte die Arme vor der Brust.
"Da bin ich aber gespannt!", meinte sie provozierend.
"Sina war auf einer Art Okkultismus-Trip. In diesen Kreisen
werden oft ziemlich blutige Rituale durchgeführt."
Jana machte große Augen und lachte dann.
"Menschenopfer? Aldo, wir sind hier Hamburg, nicht auf
irgendeiner Kannibaleninsel!"
Aber Aldo schüttelte energisch den Kopf.
"Soweit muss man gar nicht gehen, Jana. Ich spreche von
Verletzungen, mit Messern beigebrachte Hautritzen und solchen
Dingen. In Verbindung mit Musik und vielleicht auch Drogen wird
eine Art Ekstase erreicht."
Jana schüttelte energisch den Kopf und warf dann ihre blonde
Mähne in den Nacken.
"Du bist verrückt!"
"Ich habe mich informiert, Jana. Diese Phänomene gibt es
wirklich - zum Beispiel bei dem sogenannten Tanz der Derwische, bei
dem sich die Teilnehmer auch eigenhändig verletzen. So stecken sie
sich spitze Messer durch die Wangen, ohne dabei irgendwelchen
Schmerz zu empfinden."
Jana zuckte mit den Schultern und stemmte ihre schlanken Arme
in die schmale Wespentaille. Bei der Arbeit in einer
Detektiv-Agentur kam man ja zwangsläufig mit allerhand
erstaunlichen Dingen in Berührung, aber irgendwo gab es da auch für
sie eine unsichtbare Grenze. Und dies hier ging ihr nun wirklich
über die Hutschnur.
"Meine Vorstellung von Ekstase ist das aber nicht", meinte
sie.
Aldo grinste.
"Die Geschmäcker sind eben verschieden!"
"Du sagst es!"
"Lange Rede, kurzer Sinn: Sina Maywald könnte auch selbst für
diesen Blutfleck verantwortlich sein. Jedenfalls meinte das dieser
neunmalkluge Kurtz gerade am Telefon. Die zuständige Mordkommission
wird die Sache wohl erst einmal auf die lange Bank schieben. Ich
war mit diesem Kurtz bei einigen Nachbarn, und die haben natürlich
den armen Kommissar ganz kopfscheu gemacht mit ihren Stories von
den seltsamen Zusammenkünften, die in Sinas Atelier stattgefunden
haben sollen."
"Was haben die denn so erzählt?"
Aldo zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen
Lungenzug, während sein Blick hinaus in den Himmel über dem
Wilhelmsburger Inselpark ging und genoss für zwei Sekunden den
fantastischen Ausblick, den er aus seinem Büro in der Beenckstraße
hatte.
"Einer will an ihren Armen frische Schnittwunden gesehen
haben, ein anderer behauptete, sie hätte eine tote und verstümmelte
Katze in den Müll geworfen."
"Scheußlich!"
"Dort wohnen jede Menge schräger Vögel, aber so schräg wie
Sina scheint niemand zu sein."
Aldos Blick ging zum Telefon und er dachte an das, was ihm
noch bevorstand: Er würde Harald J. Maywald über die Sache mit dem
Blutfleck informieren müssen und ihm damit wahrscheinlich einen
mittelschweren Schock versetzen. Keine angenehme Aussicht. Aber wie
es schien, konnte Aldo dem Industriellen die Hiobsbotschaft nicht
ersparen. Doch er brauchte sich gar nicht die Mühe zu machen,
Maywalds Nummer zu wählen, denn der rastlose Workaholic selbst war
es, der in diesem Moment Aldos Apparat klingeln ließ.
"Es gibt eine Neuigkeit, die vielleicht für Ihre Ermittlungen
wichtig sein kann, Herr Burmester", meldete er sich.
Aldo hob die Augenbrauen.
"Ich höre!"
"Heute hat mich ein Brief von Sina erreicht. Ich schlage vor,
Sie schauen sich das mal an! Ich kann in einer Viertelstunde in
Ihrem Büro sein."
8
"Und Sie sind sich absolut sicher, dass das die Schrift Ihrer
Tochter ist?", erkundigte sich Aldo, während er den Blick noch
immer auf das Blatt Papier gerichtet hielt, welches Harald J.
Maywald ihm zugereicht hatte.
Lieber Papa! war dort zu lesen. Ich schreibe dir, damit du dir
keine Sorgen um mich machst. Markus und ich machen eine kleine
Reise in den Süden, um neue Eindrücke zu gewinnen. Wahrscheinlich
werden wir dort eine ganze Weile bleiben. Alles Liebe. Deine
Sina.
Wenn es wirklich Sina Maywald war, die das zu Papier gebracht
hatte, dann war Aldo Burmesters Job erledigt.
Sie war nach diesem Brief wohlauf, und ihr Vater hatte völlig
unnötig Sorgen gemacht. Und das Kokain, den schlechten Umgang und
die seltsamen Gewohnheiten, die Sinas Nachbarschaft aufgefallen
waren - das alles waren Dinge, die Harald J. Maywald seiner Tochter
schon selbst abgewöhnen musste. Wenn es dazu nicht längst zu spät
war!
"Ich habe hier ein paar Vergleichsproben, Herr Burmester. Für
mich ist die Sache eindeutig. Es ist ihre Schrift. Was mich nur
wundert, ist die Tatsache, dass sie mir überhaupt geschrieben hat."
Harald Maywald fuhr nervös mit der Hand über das Gesicht. Dann rieb
er sich die Nase. Er machte einen müden und abgespannten Eindruck.
Sein täglicher Job war wahrscheinlich allein schon kräftezehrend
genug. Und wenn dann noch so eine Geschichte dazukam. Er zuckte mit
den Schultern und schien die Welt nicht mehr zu verstehen. "Ich
kann es nicht erklären, aber da stimmt etwas nicht! Es hat Sina
nichts ausgemacht, mir Sorgen zu machen. Sie hat es oft geradezu
darauf angelegt, damit ich mich mehr um sie kümmerte. Das war schon
so, als sie noch Kind war." Er schien fast mehr zu sich selbst zu
sprechen, als zu denen, die ihm zuhörten. Tiefer Schmerz schwang in
diesen Worten mit. Der große Harald J. Maywald blickte ins Leere
und schien mit den Gedanken sehr weit weg zu sein.
Aldo holte tief Luft und begann: "Herr Maywald ..." Er wollte
eigentlich noch etwas hinzufügen, aber der Industrielle kam ihm
dann doch noch zuvor. Er schüttelte sehr energisch den Kopf.
"Vielleicht halten Sie mich jetzt für einen Verrückten, dem
der Gedanke, dass er sich zu wenig um seine Tochter gekümmert hat,
langsam aber sicher um den Verstand zu bringen droht."
"Haben Sie schon einmal in Betracht gezogen, dass Ihre Tochter
eine erwachsene junge Frau ist, Herr Maywald?"
Maywald blickte auf und Aldo wusste, dass der Boss von Maywald
Industries jetzt wieder in der Wirklichkeit angekommen war.
"Ich möchte, dass Sie weiter recherchieren."
"Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Aber andererseits bin ich
dafür, auf Nummer sicher zu gehen. Lassen Sie mir den Brief und die
Schriftproben da!"
"Was haben Sie vor?"
Aldo machte eine unbestimmte Geste.
"Meine Beziehungen zur Hamburger Polizei sind nicht die
schlechtesten. Ich werde dafür sorgen, dass sich ein
Schriftsachverständiger dieses Stück Papier mal ansieht. Wenn etwas
damit faul ist, werden die Kollegen es herausbekommen."
"Sie werden schon wissen, was richtig, ist, Herr Burmester.
Ich setze mein ganzes Vertrauen in Sie!"
"Das weiß ich zu schätzen. Haben Sie noch den Umschlag, in dem
der Brief gekommen ist?"
Harald Maywald griff in die Innentasche seines Jacketts und
zog das Kuvert augenblicklich hervor.
"Hier!"
"Hm ...", machte Aldo. "Abgestempelt in Hannover. Kennen Sie
übrigens diesen Markus, der im Brief erwähnt ist?"
"Flüchtig. Ich glaube Langwald ist sein Nachnahme. Sina ist
mal mit ihm bei mir vorbeigekommen, um mich um einen Extra-Scheck
anzubetteln. Ich habe ihn nie wieder gesehen." Er machte eine
unbestimmte Geste mit den Händen. "Irgendwie ..."
Aldo zog die Augenbrauen hoch.
"Ja?"
"Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber dieser
Langwald schien einen sehr starken Eindruck auf Sina gemacht zu
haben." Er blickte Aldo offen an und setzte dann nach einer kleinen
Pause hinzu: "Ein seltsamer Kauz. Trug nur schwarze Sachen - genau
wie Sina später auch. Und als ich ihm die Hand gab, sah ich, dass
er so eine seltsame Tätowierung auf dem Handballen hatte. Sah fast
aus wie ein Sheriff-Stern."
"Ein Pentagramm", stellte Aldo fest.
9
Aldo brachte den Brief bei Kriminalhauptkommissar Dankwers von
der Mordkommission Hamburg-Mitte vorbei. Sven Dankwers war nicht
nur sein Freund, sondern ihm auch noch mehr als einen Gefallen
schuldig. Der übergewichtige Kriminalhauptkommissar würde Sinas
Brief unter die Lupe nehmen lassen. Ein Foto von Sina ließ er auch
dort. Immerhin war es ja möglich, dass ihre Leiche plötzlich
irgendwo auftauchte. Wunder konnten allerdings alle Experten und
Labore zusammen nicht vollbringen. Vor morgen Mittag war das
Ergebnis nicht zu erwarten, selbst wenn Dankwers Dampf
machte.
Und er würde Dampf machen, darauf konnte sich Aldo
verlassen.
Die Zeit bis dahin würde Aldo allerdings keineswegs ungenutzt
verstreichen lassen. Markus Langwald, Sinas Freund, war es
sicherlich wert, sich ein bisschen genauer mit ihm zu befassen.
Seine Adresse hatte Aldo Burmester aus dem Adressbuch, das in Sinas
Nachttisch gelegen hatte. Langwalds Wohnung befand auch in dieser
Künstlerkolonie – war aber längst nicht so nobel wie die von Sina
Maywald, was wohl daran lag, dass er keine reichen Eltern im
Hintergrund hatte. Langwald bewohnte ein Zimmer zur Untermiete.
Wahrscheinlich aber würde man ihm die Sachen bald vor die Tür
setzen, denn er war mit der Miete im Rückstand und zudem
unauffindbar. Wenn es stimmte, was in dem Brief stand, dann war er
jetzt mit Sina unterwegs 'in den Süden'. Eine reichlich vage
Angabe, die ganz danach klang, als sollte dadurch jeder entmutigt
werden, der eventuell auf die Idee kam, ihr nachzureisen.
Aldo sprach mit der Vermieterin. Sie war eine kräftige,
untersetzte Frau mit mehreren halbwüchsigen Kindern, die einen Teil
ihrer Wohnung vermietete, um über die Runden zu kommen. Sie war auf
die Einnahmen angewiesen, seit ihr Mann sich vor einem Jahr auf
Nimmerwiedersehen aus dem Staub gemacht hatte. Jedenfalls erzählte
sie das Aldo.
Aldo deutete auf die Tür zu Markus Langwalds Zimmer.
"Haben Sie einen Schlüssel?"
"Ja. Aber ich weiß nicht, ob ich Sie da so hineinlassen darf.
Schließlich sind sie ja ..."
"… ein Privatschnüffler, ich weiß." Aldo lächelte gewinnend.
"Aber vielleicht ist dort irgendein Hinweis, durch den ich Ihren
Untermieter schneller finde. Und das kann doch auch nur in Ihrem
Interesse sein, oder? Schließlich schuldet er Ihnen ja noch Geld,
wenn ich recht verstanden habe."
Das leuchtete ihr ein, und so machte sie ihm auf.
Zusammen gingen sie in das Zimmer, in dem es ziemlich dunkel
war. Die Vorhänge waren fast gänzlich vor die Fenster gezogen. Auf
der einen Seite des Raumes hing ein manngroßes Poster, das ein
blutrotes Pentagramm zeigte, ein Motiv, wie Sina es in Öl gebracht
hatte. Auf der anderen Seite hing ein ähnliches Bild. Es zeigte ein
umgedrehtes Kreuz - das Symbol Satans.
Während Aldo den Blick umhergleiten ließ und dann in einem
Stapel von Zeitschriften und Broschüren herumstöberte, erzählte
Langwalds Vermieterin ihm einen halben Roman über das Leben ihres
Mitbewohners.
Danach war Langwald ein mehr oder weniger arbeitsloser
Schauspieler. Sein Traum war das Theater gewesen und er hatte es
auch tatsächlich geschafft, einmal eine Nebenrolle zu ergattern.
Aber dann war nichts mehr gelaufen, von ein paar Werbespots
abgesehen. Das Geschäft war eben ziemlich hart.
"Und dann", so berichtete seine Vermieterin, "dann hat er
angefangen, völlig durchzudrehen. Sie sehen ja! Dies ist das Zimmer
von jemandem, bei dem es nicht mehr richtig tickt."
Da mochte Aldo nicht widersprechen.
"Hat Langwald irgendetwas von einer Reise gesagt, die er
machen wollte?", fragte Burmester.
"Er hat nie viel geredet. Mir hat er nichts gesagt. Es hätte
mich auch gewundert, wovon er das hätte bezahlen sollen."
Aldo wollte schon gehen, da fiel ihm eine Broschüre in die
Hände; ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN UND PERSÖNLICHKEITSBILDUNG
stand dort.
Aldo blätterte ein bisschen darin herum. Das Ganze war nicht
ernst zu nehmen. Unbewiesene Behauptungen und Theorien gemischt mit
einfacher Mystik für den Hausgebrauch. Alles war natürlich mit
eindrucksvollen Illustrationen versehen. DURCH DIE BEGEGNUNG MIT
DEN UNFASSBAREN MÄCHTEN DER FINSTERNIS GEWINNST DU INNERE STÄRKE
UND FREIHEIT!, stand dort zu lesen.
Wahrscheinlich steckte irgendeine obskure Sekte
dahinter.
Es ist doch immer dasselbe, dachte Aldo grimmig. Erst wird mit
Freiheit geworben, am Ende bekommen die Leute von diesen Vereinen
dann das genaue Gegenteil.
"Hatte Langwald Kontakte zu irgendeiner Sekte?", fragte
Aldo.
"Keine Ahnung. Er hatte merkwürdigen Umgang, aber ich weiß
nicht, was das für Leute waren. Und viel Kontakt hatten wir nicht.
Ich hatte immer das Gefühl, dass er in seinem Innersten glaubte,
dass niemand ihn wirklich verstehen könnte. Dadurch wirkte er
ziemlich arrogant und verschlossen."
"Vielleicht ist er in Wahrheit ein ganz armer Hund", murmelte
Aldo.
Die Vermieterin bestätigte das mit einem Nicken.
"Das ist auch meine Meinung. Aber wenn er nicht bald
auftaucht, um seine Miete zu zahlen - dann muss ich ihn
hinauswerfen. Halten Sie mich nicht für herzlos, aber um auf die
Einnahmen verzichten zu können, dazu bin ich selbst ein zu armer
Hund."
"Verstehe", murmelte Aldo, während sein Blick zurück zu der
Broschüre ging. Und dann fiel ihm etwas ins Auge, das zwar verdammt
klein gedruckt, dafür aber auch viel interessanter war, als das
ganze Gewäsch von Finsternis, Tod und Jenseits. Das sogenannte
ZENTRUM hatte nämlich auch eine Adresse.
Ein Postfach in Hannover.
Aldo pfiff durch die Zähne.
10
Am nächsten Mittag saß Aldo Burmester im Büro seines Freundes
Sven Dankwers. Der Kriminalhauptkommissar der Mordkommission
Hamburg Mitte ließ sein beträchtliches Gewicht auf einen Stuhl
plumpsen und machte ein ziemlich verknittertes Gesicht.
"Was ist los, Sven?", fragte Aldo. "Welche Laus ist dir denn
über die Leber gelaufen?"
Dankwers atmete tief durch und schnappte erst einmal nach
Luft. Als er genug davon eingesogen hatte, schnaubte er: "Welche
Laus mag das schon gewesen sein, Aldo?"
"Ich bin gespannt!"
"Du natürlich! Mit deinen verdammten Extrawürsten. Herr
Stollberg, unser Schrift-Experte wird wahrscheinlich für mindestens
ein halbes Jahr sauer auf mich sein, weil ich durchgesetzt habe,
dass deine Sache vorgezogen wird."
Aldo zuckte mit den Schultern. "Dieser Herr Stollberg wird
sich schon wieder beruhigen. Da bin ich mir sicher!"
"Du kennst ihn nicht. Er ist ein Könner seines Fachs, aber
auch der schlimmste Giftzwerg, den ich in unserem Laden
kenne."
Aldo erwiderte ironisch: "Ich kenne aber dein diplomatisches
Geschick, Sven. Du wirst das schon wieder hinbiegen."
Dankwers knurrte etwas Unverständliches und machte eine
eindeutig ärgerliche Geste.
"Ich hoffe, du revanchierst dich mal", kam es unwirsch
zwischen seinen Lippen hindurch. Dann lachten sie beide.
"Bei nächster Gelegenheit. Das weißt du doch, Sven!"
"Ich werde dich beim Wort nehmen, Aldo!"
"Nun komm schon, Sven! Heraus damit! Was ist bei der Sache
herausgekommen?"
Dankwers lehnte sich etwas zurück. Er schien es zu genießen,
Aldo jetzt ein paar Sekunden zappeln lassen zu können. Dann sagte
er: "Zunächst eine gute Nachricht, Aldo."
"Das höre ich gerne!"
"Dieses Mädchen - Sina Maywald - ist bisher noch nicht
irgendwo als Leiche aufgetaucht. Ich weiß, dass das nichts heißen
muss, aber immerhin liegt sie noch in keinem Hamburger
Leichenschauhaus aufgebahrt."
"Und die schlechte Nachricht?", erkundigte sich der
Privatdetektiv.
Sven Dankwers zuckte mit den breiten Schultern und machte:
"Tja ... Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber unser
Experte sagt, dass dieser Brief auf keinen Fall von Sina
geschrieben wurde. Die Vergleichsproben belegen das."
Aldo stutzte.
"Er ist sich absolut sicher?"
"Ja. Dieser Brief wurde gefälscht und es scheint ganz so, als
hätte sich jemand damit ziemlich große Mühe gemacht, um ein
überzeugendes Ergebnis vorzulegen."
Aldo nickte nachdenklich. Immerhin war ja auch Sinas Vater
felsenfest davon überzeugt gewesen, dass der Brief von seiner
Tochter geschrieben worden war.
"Waren noch irgendwelche anderen Spuren zu finden?
Fingerabdrücke oder so etwas?"
Dankwers schüttelte den Kopf.
"Nein, Fehlanzeige."
Aldo seufzte.
"Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein!"
Dankwers lachte heiser.
"Wenn jemand schon einen so großen Aufwand treibt, um einen
Brief zu fälschen, wird er auch peinlich genau darauf achten, nicht
gewissermaßen seine Unterschrift zu hinterlassen."
"Auch wieder wahr." Aldo erhob sich und knöpfte sich sein
Jackett zu.
"Was hast du vor, Aldo?"
Aldo ließ ein dünnes Lächeln über seine Lippen huschen und
erwiderte: "Eine kleine Reise nach Hannover."
"Was du zu finden versuchst, ist die berühmte Stecknadel im
Heuhaufen, nicht wahr?"
"Ja, aber wahrscheinlich steht dieser Heuhaufen dort und
Umgebung. Der angeblich von Sina geschriebene Brief kam von dort.
Es gibt dort ein ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN UND
PERSÖNLICHKEITSBILDUNG. Ein Postfach. Könntest du nicht mal bei
deinen Kollegen dort anfragen, ob die etwas über diesen Verein
vorliegen haben?"
Dankwers blies erst die fleischigen Wangen auf, als wäre er
Louis Armstrong und seufzte dann gut hörbar.
"Okay, Aldo! Weil du es bist!"
Aldo ging zur Tür und drehte sich vor dem Gehen noch einmal
um.
"Könnte ja sein, dass dieses ZENTRUM nicht ganz sauber
ist."
11
"Hat Sven Dankwers’ Anfrage in Hannover eigentlich irgendetwas
gebracht?", erkundigte sich Jana Marschmann an ihren Chef Aldo
Burmester gewandt, der am Steuer seines Mercedes saß.
"Nein", antwortete Aldo. "Aus irgendeinem Grund wurde Svens
Fax gar nicht beantwortet." Er zuckte mit den Schultern.
Von Hamburg aus fuhren sie die A7 in Richtung Süden. Die
Automatik hatte er auch im Gepäck.
"Wo fangen wir an, Aldo?", fragte Jana, die ein Gähnen nicht
unterdrücken konnte. Kein Wunder, denn sie hatten sich sehr früh
auf den Weg gemacht. "Vielleicht ist der Brief nur aus Hannover
abgeschickt worden, um jeden irrezuführen, der versucht, Sinas Spur
zu folgen." Aldo nickte.
"Ja, daran habe ich schon gedacht. Aber da war noch dieses
Postfach. Es könnte Zufall sein, aber daran mag ich irgendwie nicht
so recht zu glauben."
Im Postgebäude standen beide dann wenig später vor einer Wand
mit nummerierten Fächern.
Die Nummer des ZENTRUMS FÜR ESOTERISCHE STUDIEN war auch
dabei. Aldo warf einen Blick in eines der ausliegenden
Telefonbücher. Aber das ZENTRUM hatte weder Telefonnummer noch
Adresse in Hannover und Umgebung. Merkwürdig war das schon.
"Vielleicht ist dieser komische Verein nicht an
Öffentlichkeitsarbeit interessiert", meinte Jana.
"Und die Broschüre in Markus Langwalds Zimmer?", wandte Aldo
ein und schüttelte dann energisch den Kopf.
Jana verschränkte die Arme vor der Brust.
"Stimmt auch wieder." Sie verdrehte etwas ihre blauen Augen.
"Und was machen wir jetzt mit diesem Postfach? Es scheint mir
irgendwie eine Sackgasse zu sein."
Aber da war Aldo ganz anderer Ansicht.
"So ein Postfach wird doch vermutlich regelmäßig von seinem
Besitzer geleert."
"Anzunehmen, Aldo."
"Also braucht man nur abzuwarten."
"Und wenn der Betreffende das Fach nur einmal monatlich
leert?"
Aldo verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
"Dann haben wir Pech gehabt."
Sie stemmte die Arme in die Hüften und legte ihre ganze
Empörung in diese Geste.
"Das ist doch dein Ernst! Wir sollen uns hier auf unbestimmte
Zeit die Beine in den Bauch stehen?"
Aldo versuchte, es ihr schonend beizubringen.
"Ich dachte, dass du hier erst einmal ein bisschen die Augen
aufhältst, während ich beim örtlichen Polizeichef vorbeischaue, um
..."
"Um dich zu verdrücken, Aldo! Ich hab's doch geahnt!"
Aldo fasste seine schmollende Assistentin bei den zierlichen
Schultern. Einen begeisterten Eindruck machte sie nun wirklich
nicht.
"Ist ja nicht für lange! Ich bin bald wieder zurück!" Und
damit war er schon weg.
12
Als Aldo der Polizei von Hannover seinen Besuch abstattete,
musste er sich wohl oder übel mit den niederen Chargen abgeben,
weil die größeren Tiere gerade ausgeflogen waren oder vielleicht
auch schlicht und ergreifend keine Lust hatten, sich seine
Geschichte anzuhören.
Der Mann auf der anderen Seite des völlig überfüllten und
nicht besonders aufgeräumten Schreibtischs hieß Landhof und war
groß und schlaksig.
Aldo hielt ihm Fotos von Sina Maywald und Markus Langwald
unter die Nase. Und als der Privatdetektiv dann das Wort
Okkultismus fallen ließ, da war Landhof plötzlich hellwach.
"Ich will Ihnen keine Angst machen, Herr ..."
"Burmester. Aldo Burmester."
"… aber wir haben hier in der Gegend eine ganze Reihe von
Leichen gefunden, bei denen wir vermuten, dass sie möglicherweise
Ritualmorden zum Opfer gefallen sind."
Aldo hob die Augenbrauen. Eine Spur war das noch nicht, aber
vielleicht ein Punkt, an dem es lohnte, noch etwas
nachzubohren.
"Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, wer dahinterstecken
könnte?", fragte er.
Landhof machte kein glückliches Gesicht und Aldo konnte sich
an zwei Fingern ausrechnen, wie erfolgreich die Polizei in dieser
Sache bislang gearbeitet haben musste.
"Die Täter konnten nie gefasst werden. Wir hatten so etwas vor
Jahren schon einmal. Damals steckte ein afrikanischer Geisterkult
dahinter, den ein Migrant hierhergebracht hatten. Aber dies scheint
mir etwas anderes zu sein."
"Gibt es in der Umgebung irgendwelche Sekten oder Kulte, die
infrage kämen?"
Landhof lachte.
"Jede Menge. Wir sind ein freies Land, da darf jeder an das
glauben, was er will - selbst wenn es grober Unfug ist."
"Aber Menschen umzubringen, das fällt nicht unter diese
Freiheit" stellte Aldo ernst fest.
Landhof fixierte Aldo mit einem nachdenklichen Blick und
nickte dann.
"Sie sagen es!"
"Kennen Sie ein ZENTRUM FÜR ESOTERISCHE STUDIEN?"
"Nein."
"Es hat aber ein Postfach hier in Hannover."
Landhof zuckte desinteressiert die Schultern.
"Muss ich es deshalb kennen?"
Aldo lächelte dünn.
"Ich dachte, dass Sie sich als Polizist etwas
auskennen."
"Tu ich auch. Hat dieses Zentrum etwas mit den beiden Figuren
zu tun, die Sie mir gezeigt haben?"
Aldo wusste, dass es zwecklos war, an dieser Stelle
weiterzumachen. Deshalb fragte er: "Haben Sie Fotos von den Opfern
dieser Ritualmorde?"
"Mutmaßlichen Ritualmorde!", verbesserte Landhof. "Absolute
Sicherheit haben wir da nicht. Nur Indizien!" Er zuckte mit den
Schultern und setzte noch zynisch hinzu: "Wahrscheinlich wird unser
Chef die Akten am Ende unter 'ungeklärte Morde' ablegen. Die gibt
es nämlich überall. Das macht nicht so viel Aufsehen."
Aldo begleitete Landhof dann ins Archiv, wo das Bildmaterial
aufbewahrt wurde.
"Insgesamt sind es circa dreißig Fälle gewesen", meinte
Landhof fast wie beiläufig. "Die Opfer sind oft vergraben und nur
durch Zufall entdeckt worden. Wahrscheinlich gibt es noch mehr, die
nicht gefunden wurden. Der Letzte ist vor einer Woche von Campern
entdeckt worden." Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht sind
Ihre Leute ja dabei, Herr Burmester!"
"Ich will es nicht hoffen!"