: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Das Team um Commissaire Marquanteur hat einen neuen
Fall.
Wer tötet die Verbrecher, die von der Polizei trotz Anklagen
wieder freigelassen werden müssen? In Marseille macht sich Panik im
Unterwelt-Milieu breit, weil die entstehenden Lücken offenbar nicht
von einer rivalisierenden Bande aufgefüllt werden. Auch die FoPoCri
sucht zunächst vergeblich – bis ein Kollege getötet wird und neue
Spuren auftauchen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jenny
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
»Bonjour«, sagte ich. »Mein Name ist Commissaire Pierre
Marquanteur, Kripo Marseille, Spezialabteilung. Und ich habe ein
paar Fragen an Sie.« Ich befand mich in der JVA Les Baumettes.
Der Mann, der mir gegenübersaß, war über und über mit Tattoos
bedeckt. Er war Rausschmeißer im Amüsierviertel Pointe-Rouge
gewesen. Weil er jemanden zu heftig rausgeschmissen hatte, saß er
jetzt hier. Der Betreffende war nämlich gestorben. Der Inhaftierte
hieß bürgerlich Jacques Malinois. Aber in Pointe-Rouge war er immer
schon als Queequeg-Jacques bekannt gewesen. Queequeq – wie der
tätowierte Harpunist in Moby Dick.
Queequeg-Jacques hatte gute Ohren. Er bekam alles mit, und
viele erzählten ihm vieles. Darum lohnte es sich manchmal, ihm
zuzuhören, wenn man was erfahren wollte.
»Sie sind das also«, sagte er.
»Ja, ich bin das.«
»Ich meine: Sie sind der Kerl, auf den es der Albaner
abgesehen hat, wie man so hört.«
»So was hört man«, bestätigte ich.
Der Albaner war ein bekannter Profi-Killer. Niemand kannte
seine wahre Identität. Aber ich war gewarnt worden. Jemand hatte
dem Albaner den Auftrag gegeben, mich zu töten. Jemand, der sich an
mir rächen wollte. Jemand vielleicht, den ich nach Les Baumettes
gebracht hatte und der mir das einfach nicht verzeihen konnte.
Jemand mit sehr viel Geld im Hintergrund natürlich, denn der
Albaner war nicht billig.
Natürlich interessierte es mich, wer den Albaner beauftragt
hatte.
Und Queequeg-Jacques behauptete, dazu etwas sagen zu
können.
»Ich habe gehört, dass dieser Ukrainer dahinterstecken soll:
Selnikow. Ich denke, der Name sagt Ihnen was.«
»Oligarchen-Wlad?«
»Genau: Oligarchen-Wlad. Ist eine fiese Socke. Wissen Sie,
Leute wie Oligarchen-Wlad oder diese Tschetschenen-Schweine
vertreiben die guten alten Zuhälter, die noch Respekt hatten und
niemanden ohne Grund umbringen. Die brauchen keinen Grund.«
»Immer eine Sache der Perspektive.«
»Ja.«
»Wie kommen Sie darauf, dass dieser Selnikow
dahintersteckt?«
»Ich habe es gehört. So wie ich auch gehört habe, dass jemand
einen Killer namens Der Albaner auf einen Kripo-Mann namens
Marquanteur losgehetzt hat. Ich schlage vor, Sie sehen zu, dass Sie
Selnikow irgendwie aus dem Verkehr ziehen. Dann sind Sie das
Problem mit dem Albaner auch los.«
»Danke für den Tipp«, sagte ich.
So einfach war das nicht.
Die Marseiller Geschäfte von Wladimir Selnikow waren nämlich
nach außen hin ziemlich sauber. Da perlten unsere Maßnahmen für
gewöhnlich ab wie Fett an Teflon.
»Ich mach das völlig uneigennützig«, sagte Queequeg-Jacques.
»Leider muss ich ja noch ein bisschen Zeit hier in Les Baumettes
verbringen. Ich will keine Vergünstigungen und ich weiß auch, dass
ich kaum damit rechnen kann, wegen guter Führung oder sowas
vorzeitig entlassen zu werden.«
»Und warum helfen Sie mir dann?«
»Wegen der Kollegen«, sagte er. »Ich mag Leute wie
Oligarchen-Wlad nicht. Die haben keine Ehre, verstehen Sie?«
Mehr Konkretes konnte er mir nicht sagen.
»Seltsam ist, dass ich nie etwas mit Selnikow zu tun
hatte.«
»Vielleicht nicht direkt.«
»Tja.«
»Vielleicht haben Sie einfach seine Geschäfte gestört, weil
Sie jemanden verhaftet haben, der für ihn wichtig war und von dem
Sie noch nicht mal wussten, dass er zu ihm gehört.«
»Vielleicht sollte ich an Selnikow tatsächlich ein paar Fragen
stellen.«
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Monsieur
Selnikow nicht mehr in der Lage sein würde, sie zu beantworten
…
*
Ich verließ die Haftanstalt Les Baumettes. Bevor ich in den
Dienstwagen steigen konnte, mit dem ich hier war, explodierte das
Fahrzeug. Eine Bombe zerriss ihn.
Es hätte nicht viel gefehlt …
Ob das der Albaner war?
Vermutlich.
Einen Tag später erfuhr ich, dass Queequeg-Jacques in seiner
Zelle erwürgt worden war. Auch danach hätte ich Oligarchen-Wlad
gerne gefragt.
Es kam nicht mehr dazu.
*
Die Männer trugen blaue Overalls und hatten Werkzeugkoffer in
den Händen. Der eine war hochgewachsen, hatte kurzgeschorenes
blondes Haar, und sein Gesicht wirkte eckig und brutal. Der andere
Kerl war dunkelhaarig, breitschultrig und untersetzt.
Der Blonde hatte die Rechte in der Tasche seines Overalls
versenkt. Seine Faust umklammerte den harten Stahl einer Automatik
mit aufgesetztem Schalldämpfer.
Die beiden Männer wechselten einen kurzen Blick, als sie den
Aufzug verließen. Dann gingen sie den Korridor entlang auf die
Wohnungstür eines Penthouse zu.
Vor der Tür stand ein riesiger Kerl. Seine Bodybuilderfigur
sprengte beinahe den grauen Flanellanzug.
Das Gesicht war eine konturlose Maske, die völlig bewegungslos
blieb.
Er hob die Arme und die Ausbeulung, die sich dabei unter
seiner Schulter abzeichnete, zeigte, dass er unter dem Jackett eine
Waffe trug.
»Halt!«, sagte der Riese, und die beiden Männer in den
Overalls blieben einige Schritte vor ihm stehen.
»Wir wollen zu Monsieur Selnikow«, sagte der Blonde. »Wegen
der Heizung.«
Aus den Augen des Riesen wurden schmale Schlitze. Sein Gesicht
verzog sich etwas. Seine Züge drückten leichtes Misstrauen
aus.
»Sie sind früh«, meinte er.
»Monsieur Selnikow erwartet uns.«
»Dann nehmen Sie bitte die Hände hoch, damit ich Sie abtasten
kann. Setzen Sie die Werkzeugkoffer ganz langsam auf den Boden ab
und öffnen Sie die Dinger.«
Der Blonde runzelte die Stirn.
»Was soll das?«
»Anordnung von Monsieur Selnikow. Hier kommt keiner rein, der
nicht genau durchsucht worden ist! Also, machen Sie keine
Schwierigkeiten.«
Der Blonde atmete tief durch, während der Untersetzte bereits
seinen Werkzeugkoffer absetzte und damit begann, die
Schnappverschlüsse zu öffnen.
Der Riese an der Tür beobachtete ihn dabei genau.
In diesem Augenblick passierte es.
Die Bewegungen des blonden Overallträgers schienen zu
explodieren, er riss die Automatik hervor, war mit einem Schritt
bei dem Riesen vor der Tür und presste ihm den Schalldämpfer unter
das Kinn noch bevor der Bodyguard reagieren konnte.
Der Riese erstarrte zur Salzsäule.
Er war klug genug, um zu wissen, dass er in diesem Moment
keine Chance hatte und jetzt am besten gar nichts tat.
Der Untersetzte hatte nun ebenfalls seine Waffe hervorgeholt.
Auch er trat an den Riesen heran, griff unter dessen Jackett und
holte dessen Pistole zum Vorschein.
Für den Bruchteil einer Sekunde kam es dem Riesen in den Sinn,
den Blonden mit einem gezielten Handkantenschlag zu töten. Er
konnte das, hatte es lange trainiert. Aber das Risiko war zu groß,
die anderen waren zu zweit, der Untersetzte würde sofort schießen,
und man würde den Schuss drinnen im Penthouse nicht mal hören.
Schweißtropfen bildetet sich auf der Stirn des Riesen.
»Sie gehen voran«, befahl der blonde Overallträger, und seine
Stimme war wie das Zischen einer Kobra.
Der Riese drehte sich langsam um.
Beinahe provozierend langsam, wenn man die Lage bedachte, in
der er sich befand. Der Schalldämpfer wurde ihm jetzt in den Nacken
gedrückt.
»Was immer Sie auch vorhaben, es ist ein Fehler«, sagte der
Riese, aber seine Stimme klang dabei brüchig, denn er wusste, dass
er keine Chance hatte. Er hatte es mit Profis zu tun und das hieß,
dass sie ihn mit Sicherheit nicht am Leben lassen würden. So ging
das Spiel nun mal. Der Riese hatte es selbst schon gespielt.
»Mund halten!«, erwiderte der Blonde kalt.
»Man kann über alles reden und Monsieur Selnikow …«
»Mund halten! Und Tür öffnen!«
2
Der Blonde schob den Riesen vor sich her, drückte ihm noch
immer die Waffe in den Nacken.
Der Untersetzte schloss hinter ihnen die Tür.
Die lichtdurchflutete Penthousewohnung mit dem traumhaften
Blick auf den Seepark war sehr weiträumig und hatte mehrere
Zimmer.
Im Empfangsraum befand sich eine moderne Sitzecke.
Futuristisches Design. Viel Plastik in geschwungenen Formen,
dafür wenig Polster.
Ein Mann saß dort, er hätte der Zwilling des Riesen sein
können, zumindest was den Körperbau betraf. Allerdings war er
rothaarig.
»Heh! Was ist denn …« Er blickte von der Zeitung auf, in der
er gelesen hatte, dann sprang er hoch, griff unter sein
Jackett.
Er reagierte schnell, aber doch nicht schnell genug.
Er hatte die Waffe noch nicht hervorgezogen, da ertönte ein
Geräusch, das wie ein kräftiges Niesen klang.
Der Schuss einer Schalldämpferwaffe.
Auf der Stirn des Rothaarigen bildete sich ein roter Punkt,
der Leibwächter wurde in den futuristischen Sessel zurückgeworfen.
Seine Arme fielen zur Seite, die Waffe entglitt seiner kraftlosen
Hand, fiel zu Boden, der weiche Teppich dämpfte den Aufprall.
»Wo ist er?«, fragte der Blonde den Riesen, den er immer noch
mit der Waffe im Schach hielt. Er flüsterte es so leise, dass man
es kaum hören konnte. Sein Kumpan, der untersetzte Schwarzhaarige,
hatte den anderen Leibwächter erschossen. Auch seine Waffe hatte
einen Schalldämpfer.
»Wo ist er?«, wiederholte der Blonde.
»Wer?«
»Selnikow.«
»Weiß … weiß nicht.«
Man konnte die Angst, die der Hüne empfand, beinahe
riechen.
»Du willst doch am Leben bleiben«, sagte der Blonde, und seine
Stimme klang wie fernes Donnergrollen.
»Ihr werdet mich sowieso töten.«
»Warte es doch ab.«
Der Riese atmete tief durch. »Ich … ich glaube, dass er im
Schlafzimmer ist.« Dabei deutete er mit der Linken auf eine der
Türen, die vom Empfangsraum abzweigten.
»Danke.«
Wieder ertönte dieses Niesen. Zweimal kurz
hintereinander.
Und der Riese sackte in sich zusammen, blieb reglos am am
Boden liegen, während sich eine rote Lache um ihn bildete.
Der Blonde stieg über die Leiche hinweg zur Schlafzimmertür,
während sein Komplize mit der Waffe in der Hand an der Wohnungstür
verharrte.
Mit einem wuchtigen Tritt ließ der Blonde die Schlafzimmertür
aufspringen.
Ein Mann in den Fünfzigern, grauhaarig und mit Oberlippenbart,
saß aufrecht in einem breiten Doppelbett, vor sich ein üppiges
Frühstück auf einem Tablett. Er zuckte erschrocken zusammen,
blickte auf, und eine Tasse entglitt seinen Fingern.
Selnikow.
Er hatte nicht mal mehr Gelegenheit aufzuschreien, bevor ihn
zwei Schüsse förmlich ans Bett nagelten. Sein gefrorener Blick
drückte Verwunderung aus.
Der Blonde atmete tief durch. »Abschaum«, murmelte er.
Das dumpfe Niesen einer Waffe mit Schalldämpfer ließ ihn
plötzlich herumfahren. Aus einer der anderen Türen war eine Frau im
Bademantel herausgetreten. Sie war blond und ziemlich grell
geschminkt.
Der Schuss hatte sie zusammenklappen lassen wie ein
Taschenmesser, und jetzt lag auch sie leblos und mit starren Augen
auf dem Boden.
»Sie … Sie kam so plötzlich aus dem Bad«, sagte der
Untersetzte fast entschuldigend.
»Schon gut«, erwiderte der Blonde tonlos. »Auch sie war
Abschaum.«
3
»Marquanteur, FoPoCri!« Ich zeigte meinen Dienstausweis dem
uniformierten Polizisten, der die undankbare Aufgabe hatte,
Unbefugte vom Betreten des Tatortes abzuhalten.
Mein Freund und Kollege François Leroc tat es mir gleich, und
der Uniformierte nickte, ließ uns vorbei.
Wir waren die letzten am Tatort, einer noblen
Penthouse-Adresse am Seepark. Eine Wohnung in traumhafter Lage, mit
einem Ausblick, für den man sicher viel Geld berappen musste.
Jetzt sah sie aus wie ein Schlachtfeld.
Ich sah die zusammengekrümmten Leichen einer Frau und zwei
Männern, die offenbar als Leibwächter für den Besitzer dieses
Penthouses gearbeitet hatten.
In der Mitte des Raums stand ein Mann in einem grauen
Wollmantel, den Kragen hochgeschlagen. Er drehte sich jetzt zu uns
um, und ich sah, dass sein Gesicht ziemlich zerfurcht war. Er
bedachte uns mit einem abschätzenden Blicken.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«, fragte etwas
unwirsch.
»FoPoCri«, sagte François. »Dies ist der Kollege Marquanteur,
mein Name ist Leroc.«
»FoPoCri?«, fragte der Mann im Wollmantel nachdenklich zurück
und atmete tief durch. Seine Augenbrauen zogen sich zu einer
Schlangenlinie zusammen.
Ich fragte mich, warum der Kerl so gereizt auf uns reagierte.
Ich sah seine Dienstmarke durch den offenen Mantel und das
ebenfalls geöffnete Jackett an seinem Gürtel hängen.
Wir zeigten ihm unsere Ausweise, die ihn aber nicht zu
interessieren schienen.
»Sind Sie Monsieur Debordes?«, fragte ich.
»Ja«, knurrte er. »Mordkommission. Woher …?«
»Ihr Chef sagte mir, dass Sie den Fall bearbeiten.« Ich hatte
schon von Debordes gehört. Vor allem dann, wenn von Beförderungen
die Rede war. Er musste gut sein. Jedenfalls war er die
Karriereleiter ziemlich schnell hinaufgestolpert.
Debordes kam auf uns zu, reichte erst François und dann mir
die Hand. Sein Blick wirkte gezwungen freundlich. Aber meinen
Instinkt konnte er damit nicht täuschen. Aus irgendeinem Grund
störten wir ihn …
Ich fragte mich, warum.
»Monsieur Marquanteur? Ihr Name bekannt wie der eines bunten
Hundes.« Er grinste schief. Dann seufzte er.
»Nennen Sie mich Pierre«, sagte ich, in der Hoffnung, etwas
wärmer mit ihm zu werden. Außerdem war anzunehmen, dass wir nicht
zum letzten Mal zusammenarbeiteten.
Debordes nickte lediglich, ohne das Angebot zu erwidern.
Dann sagte er: »Der Chef sagte mir schon, dass jemand von der
FoPoCri hier früher oder später aufkreuzen würde. Schließlich ist
Wladimir Selnikow alles andere als ein gewöhnliches
Mordopfer.«
»Das ist wahr!«, gab ich zurück.
»Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass Sie so
schnell sind.«
»Ach, ja?«
»Wir stehen noch am Anfang unserer Ermittlungen, und es wäre
nett, Sie würden uns erst einmal ein bisschen vorankommen lassen,
bevor Sie hier für Stress sorgen.«
»Ich mache keinen Stress«, stellte ich klar.
Er verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. Ich wurde das
Gefühl nicht los, dass er mich aus einem unerfindlichen Grund nicht
mochte, und ich fragte mich, ob das etwas Persönliches war oder nur
damit zu tun hatte, dass ich mich gerade auf einem Terrain
tummelte, das er als sein Privatrevier betrachtete.
Ich ging an Debordes vorbei und warf einen Blick ins
Schlafzimmer. Im Bett lag eine vierte Leiche.
Wladimir Selnikow.
Ich kannte ihn von Fotos her. Im Polizei-Computer gab es ein
umfangreiches Dossier über ihn, und seine Prozessakten hätten eine
mittlere Gemeindebibliothek gefüllt.
Er war Ukrainer, der auf dubiose Weise zu erheblichem Reichtum
gekommen war. Man vermutete ihn als Drahtzieher hinter kriminellen
Geschäften mit Giftmüll, aber für eine Verhaftung hatten die
Beweise nie ausgereicht, oder sie waren aus irgendwelchen Gründen
als nicht gerichtsverwertbar abgelehnt worden.
Das Giftmüllgeschäft war zur Zeit eine Domäne der Ukrainer,
und sie verteidigten sie mit Klauen und Zähnen. Die Sache war ganz
simpel und hatte auch höhere Gewinnspannen als der
Rauschgifthandel. Man ließ sich für die Entsorgung von Giftmüll
bezahlen, aber anstatt diesen wirklich auf teure Deponien zu
bringen, ließ man ihn einfach in einem angemieteten Lagerhaus vor
sich hin modern. Wenn der Schlamassel bemerkt wurde, waren die
Täter längst über alle Berge und versuchten dieselbe Masche unter
neuem Namen in einer anderen Stadt.
Selnikow hatte sich ganz nach oben geboxt, und es war ein
offenes Geheimnis, dass er seine Finger inzwischen auch in anderen
dubiosen Geschäften gehabt hatte. Jetzt hatte seine Glückssträhne
offensichtlich ein Ende gefunden.
»Was haben Ihre Ermittlungen bisher ergeben?«, fragte ich
Debordes, der mir ins Schlafzimmer gefolgt und hinter mir
stehengeblieben war. Ich drehte mich zu ihm um, und er zuckte die
breiten Schultern.
»Ein paar Ratten haben sich gegenseitig ausgelöscht. So sehe
ich das.«
»Ich wollte einen Bericht, nicht Ihre Meinung über Monsieur
Selnikow.« Ich sah ihn an und fügte hinzu: »Sie scheinen noch etwas
mehr über Selnikow zu wissen.«
»Was man so hört.«
»Und – was hört man?«
»Das steht doch alles in Ihren Akten. Er war ein Gangster, der
es inzwischen weit genug gebracht hatte, um andere Gangster für
sich arbeiten zu lassen. Und sich eine Wohnung wie diese hier zu
leisten.«
»Ist übrigens seine Zweitwohnung«, warf François ein.
Debordes hob die Augenbrauen. »Ach.«
»Er wohnt eigentlich in Toulon«, ergänzte François Leroc.
»Schon gut«, knurrte Debordes, dann erklärte er: »Der
Security-Mann unten an der Pforte spricht von zwei
Heizungsmonteuren, die hier hinauf wollten. Er hat sich telefonisch
erkundigt – die beiden wurden tatsächlich erwartet. Merkwürdig war
nur, dass eine halbe Stunde später nochmal zwei Monteure
auftauchten. Die haben die Sauerei dann entdeckt.«
»Dann waren die beiden ersten also falsch«, stellte ich
fest.
»Anzunehmen. Die Mörder sind richtig professionell vorgegangen
und haben offenbar auch Schalldämpfer benutzt. Jedenfalls hat
niemand Schüsse gehört. Und gute Schützen waren sie auch.«
»Tatzeit?«
»Heute Morgen, so gegen neun Uhr. Bei allem anderen müssen Sie
schon auf das Labor warten.«
Ich nickte.
»Gibt es brauchbare Beschreibungen der beiden falschen
Monteure?«
»Der Pförtner ist bei uns auf dem Revier, er hilft bei der
Erstellung von Phantombildern.«
»Gut.«
»Wer war die Frau?« François meinte die Frauenleiche, die in
der Tür zum Badezimmer lag.
»Denise Fillon. Lebte seit drei Monaten in dieser
Wohnung.«
»Und die beiden Leibwächter?«
»Keine Ahnung. Sie hatten keine Papiere bei sich.« Debordes
grinste schief. »Aber das kriegen wir auch noch raus.«
4
Es war ein lausig kalter Tag, und man hatte das Gefühl, dass
einem die Ohren abfroren, sobald man sich im Freien aufhielt.
Aber ich hatte es längst aufgegeben, über das Marseiller
Wetter zu schimpfen.
Es gab Schlimmeres.
»Düstere Aussichten«, meinte François, während wir am Seepark
entlangschlenderten, bis wir meinen Sportwagen erreicht hatten und
einstiegen.
»Irgend jemand versucht da ganz gewaltig aufzuräumen«, sprach
François weiter. »Ein Bandenkrieg ist so gut wie
unausweichlich.«
»Ich fürchte, da hast du recht.«
François fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Blick
wirkte nachdenklich. »Dies ist der dritte Tote in dieser
Serie.«
»Vorsicht!«, erwiderte ich. »Wir wissen noch nicht, ob es
wirklich derselbe Täter ist«, gab ich zu bedenken.
François zuckte die Achseln.
»Nach den ballistischen Untersuchungen werden wir es wissen.
Ich wette mit dir, dass in allen drei Fällen die Kugeln aus
denselben Waffen stammen. Und wenn du die Vorgehensweise bedenkst
…«
Ich sah meinen Kollegen fragend an. »Drei Morde«, murmelte
ich. »Und die Opfer waren jeweils Leute, die in der Unterwelt eine
Rolle spielten. Brahmini, der Waffenhändler. Attaf, der
Kokain-König. Und jetzt …«
»Selnikow!«, vollendete François. »Außer der Tatsache, dass
alle wahrscheinlich Verbrecher waren, haben sie aber nichts
gemeinsam. Nicht einmal die Branche.«
»Aber offensichtlich haben sie einen gemeinsamen Feind!«
François nickte.
»Fragt sich nur, wer das ist.«
Ich lachte heiser.
»Und Marseille war gerade dabei, den Ruf zu erringen, eine der
sichersten Städte Frankreichs zu sein.«
François verstand, was ich meinte.
Wenn irgendein bislang unbekanntes Syndikat seine Klauen nach
Marseille ausstreckte und es zum Gangsterkrieg kam, dann konnte es
mit der relativen Ruhe schnell vorbei sein.
Und dann hatte die ganze Stadt darunter zu leiden.
5
Es herrschte dichter Verkehr, und daher waren die gut 50
Kilometer zwischen Marseille-Mitte und Toulon eine wahre
Quälerei.
Selnikows Villa war groß und protzig und hatte vermutlich das
Doppelte von dem gekostet, was zwei Beamte der FoPoCri in ihrem
ganzen Leben verdienten.
Als ich den Sportwagen am Straßenrand parkte und François'
Blick sah, mit dem er das Anwesen bedachte, wusste ich, was in ihm
vorging.
Er dachte genau dasselbe wie ich.
»Vom finanziellen Standpunkt aus betrachtet, haben wir wohl
die falsche Seite gewählt, was?«
Ich hob die Augenbrauen. »Findest du wirklich?«
»Nun …«
»Selnikow hat jetzt nicht mehr viel von all seinem Reichtum.
Im Leichenschauhaus sind alle gleich.«
»Das ist allerdings wahr.«
Wir stiegen aus.
Die Villa war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben. Wir
traten ans Tor, und uns traf ein unangenehm kalter Wind, der durch
die großzügig angelegte Allee fegte, die auf Selnikows Villa
zuführte. Eine gute Adresse, eine feine Gegend …
Irgendwo verschluckte der Wind das Knurren eines Hundes.
Ein Mann wie Selnikow musste sein Haus natürlich vor
ungebetenen Gästen schützen.
Das Tor war gusseisern und so massiv, dass man einen Panzer
bräuchte, um durchzukommen. Ein Blick zwischen den Gitterstäben
hindurch zeigte ein paar nervös wirkende Männer in dunklen Anzügen.
Walkie-Talkies verbeulten die Jacketttaschen. Es war kein Wunder,
dass man nicht versucht hatte, Selnikow hier, in dieser
Privatfestung umzubringen.
Ich drückte auf den Knopf neben der Gegensprechanlage.
Eine Männerstimme knurrte ein launiges: »Sie wünschen?«
»FoPoCri.«
»Monsieur Selnikow ist nicht zu Hause.«
»Wir hätten gerne Madame Selnikow gesprochen.«
François und mir war bekannt, dass er mit einer beinahe
dreißig Jahre jüngeren Frau verheiratet war.
Am anderen Ende der Gegensprechanlage herrschte einige
Augenblicke lang Schweigen.
Dann bekamen wir eine Antwort.
»Einen Moment!«
Es war eine metallisch klingende Männerstimme.
Erstmal geschah gar nichts. Dann registrierte ich, wie einer
der Wächter in den gut sitzenden Beerdigungsanzügen zu seinem
Funkgerät griff. Kurz darauf kam er in Begleitung eines bulligen
Kerls am Tor an. Dieser hielt einen Rottweiler ziemlich kurz an der
Leine. Das Tier fletschte die Zähne und wollte nach uns schnappen.
Ein mannscharfes Biest, das speziell auf Menschen abgerichtet
war.
Der bullige Hundeführer grinste schief und tätschelte dem Tier
am Hals herum. »Er tut nichts. Er mag nur keine Polizeibeamte«,
knurrte er dabei.
»Was Sie nicht sagen«, erwiderte ich kühl.
Wir zeigten den Wächtern unsere Ausweise. Sie wurden eingehend
geprüft und mit einem dumpfen Knurren zurückgegeben.
»Folgen Sie uns!«, kam es dann kleinlaut zwischen den dünnen
Lippen des Hundeführers hindurch, während der andere Wächter uns
einschüchternd anstierten.
6
Jelena Selnikow empfing uns in einem weiträumigen,
lichtdurchfluteten Raum mit hohen Fenstern. Die Einrichtung bestand
zum Großteil aus kostbaren, wenn auch etwas zusammengewürfelt
wirkenden Antiquitäten.
Das Haus eines Mannes, der seinen Reichtum um jeden Preis
zeigen will, ging es mir durch den Kopf.
Jelena war eine aschblonde Schönheit mit feingeschnittenem
Gesicht und hohen Wangenknochen. Ihre Augen waren dunkel, und die
Art und Weise, in der sie funkelten, warnten jeden, der mit ihr zu
tun hatte, vor ihrer Hinterhältigkeit und Gefühlskälte. Ihre Figur
hingegen war eine einzige, schwindelerregende Kurve, so dass einem
das kalte Glitzern ihrer Augen schon entgehen konnte.
Sie machte den Eindruck, genau zu wissen, was sie tat.
Alles an ihr wirkte kontrolliert.
Sie begrüßte uns mit rauchiger Stimme. Wir zeigten ihr unsere
Ausweise, die sie sich eingehend ansah.
»Zwei Polizisten, sieh an«, sagte sie mit falschem Lächeln.
»Was führt Sie hierher?«
Ich hasse solche Momente. Aber es kommt immer wieder vor, dass
man in unserem Beruf zum Überbringer schlechter Nachrichten
wird.
»Ihr Mann … er ist heute morgen erschossen worden.« Ich wollte
es so kurz und schmerzlos wie möglich zu machen.
Jelenas Gesicht blieb völlig unbewegt. Eine Maske, die wie
erstarrt wirkte. Ein Lächeln, das aussah wie gefroren.
Sie atmete tief durch.
Ihre ausladenden Brüste hoben und senkten sich dabei.
Sie schluckte und sah mich dann an.
»Wo«, fragte sie dann stockend, »ist das passiert?«
»In einem Penthouse am Seepark«, sagte ich und wurde sogleich
unterbrochen.
»Ah, ich weiß«, meinte sie, und ihr Tonfall wurde hart. »Das
ist wohl die Wohnung, die Wlad für diese Schlampe gemietet
hat.«
»Sprechen Sie vielleicht von Denise Fillon?«, hakte François
nach.
»Häh?«
»Denise Fillon.«
»Kann sein …«
»Was heißt das nun?«
»… kann auch nicht sein.«
Jelena wandte sich zu meinem Kollegen herum und musterte ihn
mit einem schwer zu deutenden Blick. Dann ging sie ein paar
Schritte auf ihn zu. Bei jedem ihrer wiegenden Schritte schien sie
darauf zu achten, dass die aufregenden Rundungen ihres
wohlgeformten Körpers auch richtig zur Geltung kamen.
Sie blieb stehen.
Den linken Arm stemmte sie in die geschwungene Hüfte.
Ihr Parfum hing schwer und aufdringlich in der Luft.
»Möglich, dass sie so hieß«, murmelte sie mit einer Kälte, die
einen erschauern lassen konnte.
»Madame Fillon ist ebenfalls umgekommen«, sagte
François.
Jelena hob die Augenbrauen.
»Sie erwarten sicher nicht, dass ich darüber besonders traurig
bin.« Sie zuckte die Achseln. »Oligarchen-Wlad wusste eben manchmal
nicht, was wirklich gut für ihn war. Und seine Menschenkenntnis war
auch nicht die Beste – jedenfalls was Frauen anging!« Sie drehte
sich zu mir herum. Ihre Augen musterten mich.
Ich hielt ihrem Blick stand.
»Sagen Sie mir, wie es genau geschehen ist!«, forderte sie mit
dunklem Timbre.
»So, wie es aussieht, waren es zwei sehr professionell
vorgehende Killer«, sagte ich.
»Eine Hinrichtung!« Es war keine Frage, sondern eine
Feststellung.
Ich nickte.
»So könnte man es nennen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein kaltes, böses
Lächeln über ihr Gesicht. Den Eindruck einer trauernden Witwe
machte sie mir nicht gerade.
»Für uns stellt sich die Frage, welcher seiner zahlreichen
Feinde Ihren Mann umgebracht hat!«, erklärte François aus dem
Hintergrund.
Jelena lachte auf. »Ach wirklich?«
»Jeder Mord ist ein Mord zu viel«, erklärte François
sachlich.
»Und wir versuchen, ihn so gut wir können aufzuklären. Auch
bei einem Mann …«
»Den Sie für einen Verbrecher halten! So ist es doch!«, rief
Jelena. Sie seufzte. Dabei drehte sie sich nicht zu François um,
sondern sah weiterhin in meine Richtung.
Ich nickte.
»Dem, was mein Kollege gesagt hat, kann ich nur zustimmen«,
erklärte ich und fuhr dann nach einer kurzen Pause fort: »Seit wann
wussten Sie von der Beziehung Ihres Mannes zu Madame Fillon?«
Ihr Blick bekam etwas Katzenhaftes.
Sie näherte sich einen Schritt und verschränkte die Arme vor
der ausladenden Brust, die sich deutlich durch ihren sehr engen
Pullover abzeichnete.
»Jeder wusste das. Ich natürlich auch, ich bin nämlich weder
blind noch taub. Wladimir hat sich nicht einmal die Mühe gemacht,
seine Affären mit anderen Frauen vor mir oder irgendjemandem sonst
geheimzuhalten.«
»Haben Sie Ihren Mann geliebt?«
Sie sah überrascht aus. »Was soll die Frage?«
»Brauchen Sie länger, um darüber nachzudenken?«
Sie wurde dunkelrot vor Ärger. Ihre Augen funkelten.
»Hören Sie, was soll die Fragerei? Ich dachte, Sie suchen den
Mörder meines Mannes! Also tun Sie Ihren Job, wenn Sie es nicht
lassen können, aber hören Sie auf, dämliche Fragen zu
stellen!«
Sie wirkte wie jemand, der sich in die Enge getrieben
fühlte.
»Machen Sie sich keine Gedanken darüber, wer die Mörder
beauftragt hat?«
»Glauben Sie …« , sie zögerte, ehe sie weitersprach, »… dass
ich …«
»Das haben Sie gesagt!«
»Wegen dieser Denise Fillon? Monsieur Marquanteur, das ist
lächerlich!« Ihr Blick ging zur Uhr. »Meine Zeit ist knapp
bemessen. Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben …«
»Da wäre noch etwas!«
»Dann machen Sie es kurz!«
»Sagen Ihnen die Namen Roberto Brahmini und Achmed Attaf
etwas?«
»Nie gehört!«
»Wirklich nicht? Könnte es nicht sein, dass Ihr Mann diese
Männer gekannt hat?« Ich holte zwei Fotos aus der Innentasche
meiner Jacke und hielt sie Jelena hin. Sie beachtete sie kaum, nahm
sie nur kurz zwischen die grazilen Finger und gab sie mir dann
zurück.
»Allerweltsgesichter«, meinte sie schulterzuckend. »Was ist
mit diesen Männern?«
»Sie starben vermutlich durch dieselben Täter wie Ihr Mann,
und falls es irgendeine Verbindung zwischen ihm und diesen beiden
geben sollte, sagen Sie es uns besser.«
Ihr Augenaufschlag war gekonnt.
»Das werde ich, Monsieur Marquanteur.« Und dabei strich sie
mir mit ihren langen Fingernägeln über das Revers der Jacke.
»Sobald ich etwas in dieser Richtung erfahre … Wie waren noch die
Namen?«
7
Als ich François am nächsten Morgen an der üblichen Ecke
abholte und wir gemeinsam zum Dienst fuhren, war es eiskalt.
Zwanzig Minuten später saßen wir im Zimmer von Monsieur
Marteau.
Das Büro unseres Chefs im Dienstgebäude der FoPoCri Marseille
war einfach und zweckmäßig eingerichtet.
Jean-Claude Marteau lehnte sich mit der Hüfte an seinen
Schreibtisch, hatte die Arme verschränkt und machte ein ziemlich
ernstes Gesicht. Und dafür hatte er auch allen Grund. Die Fahndung
nach den beiden Killern lief zwar, aber die Angaben des
Security-Manns erwiesen sich als nicht sehr detailliert. Die
Phantombilder waren entsprechend wenig aussagekräftig.
»Es ist fünf Minuten vor zwölf«, erklärte Monsieur Marteau
dann. »Wenn es uns nicht gelingt, denjenigen zu stoppen, der zur
Zeit seine Killer losschickt, dann fliegen uns bald die Brocken um
die Ohren! Außerdem liegen mir dauernd die Kollegen der
Presseabteilung in den Ohren. Der dritte Tote in dieser verdammten
Serie, und wir haben noch immer nichts in den Händen … Wir brauchen
langsam Ergebnisse!«
François und ich saßen in den Ledersesseln der kleinen
Sitzgruppe, die Monsieur Marteau für Besprechungen in seinem Büro
diente. Uns gegenüber saß mit übereinandergeschlagenen Beinen unser
Kollege Stéphane Caron. Sein Partner Boubou Ndonga galt als der
bestgekleidete Kollege der Abteilung. Ihn hielt es nicht im Sessel.
Er lehnte an der Fensterbank und lockerte sich die exquisite
Seidenkrawatte.
Die beiden hatten sich intensiv mit Brahminis und Attafs
wirtschaftlichen Verflechtungen beschäftigt, worüber sie einiges an
Daten mitgebracht hatten. Die Computerausdrucke lagen auf dem Tisch
verstreut, und ich hatte mir das eine oder andere auch etwas
genauer angesehen.
»Immerhin haben wir jetzt einen Anhaltspunkt«, meinte Ndonga.
»Attaf und Selnikow hatten beide Gelder in einer
Import/Export-Firma, von der wir vermuten, dass sie in Wahrheit nur
dem Zweck dient, schwarzes Geld weiß zu waschen. Brahmini und und
Attaf wiederum hatten ihr Geld in einem Chemie-Unternehmen, das
seine Sonderabfälle durch eine inzwischen in Konkurs gegangene
Transportfirma entsorgen ließ, von der wir vermuten, dass sie zu
Selnikows Imperium gehörte!«
»Ein ziemlich vager Zusammenhang«, meinte Monsieur Marteau.
»Ich weiß nicht, ob uns das wirklich weiterbringt. Aber verfolgen
Sie die Spur trotzdem weiter.« Monsieur Marteau verlagerte das
Gewicht von einem Bein auf das andere und sah mich an. »Was ist mit
der Witwe?«
»Ich traue ihr ohne Weiteres zu, ihren Mann umgebracht zu
haben. Nicht aus Eifersucht, dazu wirkte sie mir zu kühl … Aber
vielleicht, weil sie jetzt über Oligarchen-Wlads Vermögen verfügen
kann.«
»Und das soll ja ganz beachtlich sein!«, warf François
ein.
Ich fuhr fort: »Aber nachdem wir jetzt den ballistischen
Bericht auf dem Tisch haben und feststeht, dass Attaf, Brahmini und
Selnikow tatsächlich von denselben Tätern ermordet wurden, glaube
ich nicht an die schöne Jelena als Auftraggeberin.«
»Hat das einen bestimmten Grund, Pierre?«, erkundigte sich
Monsieur Marteau.
Ich zuckte die Achseln.
»Instinkt.«
Monsieur Marteau seufzte. »In diesem Fall hoffe ich beinahe,
dass der Sie mal täuscht … Sonst stehen wir nämlich mit völlig
leeren Händen da.«
»Vielleicht kennen wir nur noch nicht den Zusammenhang
zwischen den Toten und der schönen Witwe, Pierre!«, gab François zu
bedenken.
Mein Blick ruhte auf den Computerausdrucken. Wir hatten es mit
einem komplizierten Geflecht aus Firmen, Scheinfirmen, Strohmännern
und Leuten zu tun, die schwarzes Geld wie Heu hatten und daraus
Weißes machen mussten.
Brahmini, Attaf, Selnikow …
Alles große Bosse, die selbst kaum noch ein Risiko eingingen.
Das trugen die kleinen Handlanger, die dann erwischt wurden.
So war das allzu oft.
Jeder von uns hatte nicht selten über diese Tatsache geflucht.
Die Kleinen wurden gehängt, die Großen notgedrungen und mit
Unterstützung guter Anwälte laufengelassen.
Doch jetzt hatte jemand ausgerechnet diese Großen ins Visier
genommen. Unerbittlich. Mann für Mann. Und sehr
professionell.
Ich atmete tief durch. Boubou erläuterte noch einiges zu den
wirtschaftlichen Verflechtungen der kriminellen Netzwerke, deren
Oberhäupter über den Jordan geschickt worden waren. Aber ich hörte
kaum zu.
»Der, der diese Killer geschickt hat, muss sehr viel Geld
haben «, sagte ich dann irgendwann. »Denn wer immer Leute wie
Selnikow umbringt, weiß, dass er sich danach zur Ruhe setzen muss
und nie wieder in Aktion treten kann … Zumindest nicht in
Frankreich.«
Monsieur Marteau sah mich interessiert an. »Worauf wollen Sie
hinaus?«
»Ich frage mich, ob die schöne Jelena Geld genug dafür zur
Verfügung hatte – ich meine, bevor sie Oligarchen-Wlads Erbin
wurde!«
»Der voraussichtlichen Erbin von Oligarchen-Wlad hätte doch
jeder Kredit gegeben!«, erwiderte Boubou skeptisch.
»Auch ein Lohnkiller? Normalerweise wird da im Voraus gezahlt.
Und im Fall des Scheiterns hätten die Mörder dieses Geld auch
dringend gebraucht, um sich vor Selnikows Leuten in Sicherheit zu
bringen. Vermutlich wäre es ihnen trotzdem nicht gelungen.«
Jetzt meldete sich Stéphane Caron zu Wort. »Diese Jelena soll
übrigens in Selnikows Reich durchaus nicht nur die Rolle einer
anschmiegsamen Mafia-Braut gespielt, sondern auch in den Geschäften
mitgemischt haben. Jedenfalls gibt es dahingehende Gerüchte.«
»Tatsache ist aber, dass sie nicht einmal ein eigenes
Girokonto besessen hat!«
Ich grinste. »Anschmiegsam war diese Katze nun wirklich
nicht.«
Monsieur Marteau musterte uns einer nach dem anderen mit einer
Miene, die Entschlossenheit signalisierte. »Ich denke, der einzige
Weg, der Erfolg verspricht, ist ein Trampelpfad durch diesen
Dschungel da!« Und bei diesen Worten deutete er auf die
Computerausdrucke, auf denen das komplizierte Geflecht aus Firmen
und Scheinfirmen dargestellt wurde. »Irgendwo dort liegt der
Schlüssel – oder es greift ein Hai nach dieser Stadt, der groß
genug ist, diese gefräßigen Piranhas allesamt zu schlucken!«
In diesem Moment öffnete sich die Tür.
»Wenigstens ein Lichtblick!«, meinte Stéphane Caron mit Blick
auf das Tablett mit den Kaffeebechern, das Melanie, die
fürsorgliche Sekretärin des Chefs, hereintrug.
Sie setzte das Tablett auf den schlichten Tisch zwischen den
Ledersesseln.
»Bitte bedienen Sie sich!«, forderte sie uns auf. Und da
Melanie den besten Kaffee weit und breit macht, brauchte sie das
keinem von uns zweimal zu sagen.
8
»Guten Tag, meine Herren«, sagte Jelena Selnikow und bedachte
die Anwesenden mit einem herausfordernden Blick. Sie hatte am Ende
der langen Tafel Platz genommen, während das halbe Dutzend zumeist
dunkel und sehr vornehm gekleideter Männer aufmerksam in ihre
Richtung starrte. Einige von ihnen grinsten frech.
Aber das sollte ihnen noch vergehen.
Hinter Jelena hatten sich zwei baumlange Wachposten
aufgestellt, beide in maßgeschneiderten grauen Sakkos und einer Uzi
lässig in der Rechten.
Jelenas Blick war kühl.
Sie musterte einen nach dem anderen, und langsam erstarb das
Gemurmel unter den Anwesenden.
»Ich habe Sie alle hierher, zu dieser Besprechung gebeten, um
mit Ihnen über die Zukunft unserer Organisation zu reden!«,
erklärte sie dann auf eine Art und Weise, die derart selbstbewusst
und sicher klang, als hätte sie in ihrem Leben nichts anderes
getan.
Ihnen soll sofort klar werden, dass hier nicht die
anschmiegsame Mafia-Braut sitzt, die sie vielleicht aus früheren
Tagen in Erinnerung haben!, hatte sie sich vorgenommen.
Sie atmete tief durch.
Einer der Männer runzelte die Stirn. Er hatte gelocktes Haar
und einen dichten Schnurrbart. »Was wollen Sie damit sagen? Was
soll dieser ganze Affenzirkus hier überhaupt! Oligarchen-Wlad ist
tot und …«
»… und ich werde seine Geschäfte so weiterführen, als würde er
noch unter uns weilen!«, fuhr Jelena ihm kalt über den Mund.
Die Blicke, die sie dafür erntete, waren voller
Unglauben.
Der Lockenkopf grinste schief.
»Sollen wir das ernst nehmen?«
»Besser Sie tun es. Keiner von euch hätte es gewagt, sich mit
Oligarchen-Wlad anzulegen.«
Der Lockenkopf lehnte sich zurück.
»Ich schätze, diese Schuhe sind ein bisschen zu groß für
Sie!«, meinte er abschätzig.
Die beiden Wächter mit den Uzi-Maschinenpistolen luden auf ein
kaum merkliches Zeichen ihrer Chefin hin ihre Waffe durch, und
alles im Raum erstarrte. Für einige Sekunden sagte keiner im Raum
ein Wort.
»Die Spielregeln haben sich nicht geändert!«, erklärte sie.
»Und wenn jemand aussteigen möchte, soll er es gleich sagen. Für
die Konsequenzen ist er dann allerdings selbst
verantwortlich.«
Eine unbehagliche Stille hing über dem Raum. Einige der
Anwesenden drehten die Köpfe und sahen sich an. Aber niemand sagte
etwas.
»Ich sehe, es gibt keine Einwände«, stellte Jelena befriedigt
fest und erhob sich. »Meine Zeit ist kostbar, und die Ihre
sicherlich auch. Ich werde Sie in den nächsten Tagen erneut
zusammenrufen, um Einzelheiten mit Ihnen zu besprechen.«
»Ich schlage vor, wir sollten in nächster Zeit erst einmal
etwas vorsichtiger vorgehen«, meinte der Lockenkopf und erntete von
Jelena dafür einen Blick tiefster Missbilligung.
Sie hob die Augenbrauen und stemmte dabei den Arm in die
geschwungene Hüfte.
»Ach, ja?«
»Die FoPoCri versucht in der Sache herumzubohren! Habe ich
jedenfalls gehört!«
»Ihr Problem sind nicht die Ohren, sondern der Mund!«,
versetzte Jelena ätzend.
»Und dann ist da noch eine andere Sache.«
»Und was, Monsieur Netaschwili?«
Der Lockenkopf sah sie scharf an. »Wir alle fragen uns, wer
Oligarchen-Wlad auf dem Gewissen hat!«
»So?« Jelenas volllippiger Mund verzog sich zu einem
spöttischen Lächeln. »Von euch war es niemand?«
»Höre Sie auf! Dasselbe könnten wir Sie fragen!«
»Ich würde es Ihnen nicht raten!«
Eisige Entschlusskraft schwang in ihrem rauchigen Timbre mit.
Dies war eine Frau, die alles auf eine Karte setzen wollte. Alles,
um ganz nach oben zu kommen. Sie wusste genau, was die Hunde vor
diesem Treffen vorgehabt hatten. Sie hatten sie billig auszahlen
wollen, um sie aus dem Weg zu haben.
Sie hatte genug Spione in der Nähe dieser ehrenwerten Herren,
die sich allesamt Geschäftsleute nannten, aber in Wahrheit nichts
als Gangster waren, um genau über deren Ziele informiert zu
sein.
Das hast du mir beigebracht, Wlad! Immer gut informiert zu
sein! Das garantiert das Überleben und entscheidet über Sieg oder
Niederlage!
Der lockenköpfige Netaschwili ging auf Jelena zu, und die
beiden Wächter hoben automatisch die kurzen Läufe ihrer Uzis.
Netaschwili hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut«, murmelte
er. Und bei sich dachte er wohl, dass er nie den Bau dieser Löwin
hätte betreten sollen. Er fuhr beinahe stotternd fort: »Es gibt da
so ein Gerücht …«
»Was Sie nicht sagen.«
»Ein Gerücht von einer fremden Gruppe, die ihre Finger nach
Marseille ausstreckt.« Er schluckte. »Ich nehme an, alle hier lesen
ab und zu mal Zeitung!«
»Wovon sprechen Sie eigentlich?«, fragte Jelena
abweisend.
»Von den Morden an Brahmini und Attaf!«
»Nicht unsere Branche, Netaschwili. Wozu sich also
aufregen?«
Netaschwili hob den Zeigefinger wie eine Waffe.
»Hier will jemand groß aufräumen!«
»Wer sollte das sein?«
»Vielleicht jemand, der groß genug ist, sich in ganz
unterschiedlichen Branchen zu tummeln … Und ich finde, darüber
sollten wir mal nachdenken!«
9
Der Anruf erreichte mich kurz nach der Mittagspause. Die
Stimme war zweifellos männlich, klang aber sehr undeutlich.
Ich hatte den Eindruck, dass das Absicht war.
»Spreche ich mit Monsieur Marquanteur?«
»Ja. Wer sind Sie?«
»Ich habe gehört, dass Sie den Mörder von Oligarchen-Wlad
suchen.«
Manche Dinge schienen sich schneller herumzusprechen, als mir
lieb sein konnte. In dieser Hinsicht war die Millionen-Metropole
Marseille ein Dorf.
Ich schaltete den Lautsprecher des Telefons ein, so dass
François mithören konnte.
»Was wollen Sie?«, fragte ich.
Ich hörte, wie mein Gesprächspartner heftig atmete.
»Ein Treffen, Monsieur Marquanteur.«
»Nun …«
»Im Antiquariat in der Innenstadt … Der dürfte Ihnen ja wohl
bekannt sein. In fünfzehn Minuten. Seien Sie pünktlich. Kommen Sie
weder zu spät noch zu früh … Fragen Sie nach der französischen
Erstausgabe von Tarzan.«
»Und wie erkenne ich Sie?«
Es machte knack.
Der Anrufer hatte aufgelegt.
»Das bedeutet wohl, dass er dich erkennt«, meinte
François.
»Ich frage mich, was ich davon halten soll!«, brummte ich
nachdenklich und überprüfte dabei den Sitz der Waffe an meinem
Gürtel. Dann stand ich auf und zog mir Jacke und Mantel an.
François folgte meinem Beispiel.
»Warum ruft der Kerl dich an? Woher kennt er deinen Namen? Und
woher weiß er, dass du an dem Fall dran bist?«
»Keine Ahnung, François.«
»Vielleicht kommt er aus dem Dunstkreis dieser Jelena.«
Ich grinste.
»Lassen wir uns überraschen!«
Wenig später saßen wir in meinem Sportwagen und quälten uns
durch den mittäglichen Verkehr. Das Antiquariat in der Innenstadt
war das größte in Marseille. Ein Paradies zum Stöbern. Aber auch
ein Ort, der durch seine Unübersichtlichkeit wie geschaffen für ein
derartiges Treffen war.
Vielleicht gab es ja wirklich jemanden aus dem Umkreis der
schönen Witwe, der auspacken wollte. Aus welchem Grund auch
immer.
Ich hatte allerdings ein ungutes Gefühl bei der Sache.
Mein Instinkt sagte mir, dass etwas faul an der Sache
war.
Mein Blick ging zur Uhr am Handgelenk.
»Wir sind etwas zu früh für unseren Freund«, erriet François
meine Gedanken.
»Hat nicht irgendwer gesagt: Wer zu spät kommt, den bestraft
das Leben?«
»Aber unser Freund will uns auf die Minute genau an einem
bestimmten Punkt haben!«
»Siehst du, und das gefällt mir nicht, François!«
»Glaubst du vielleicht, mir?«
Ich parkte den Sportwagen in einer Seitenstraße, hundert Meter
von jener Ecke entfernt. Wir stiegen aus und meldeten unsere
Position noch kurz in der FoPoCri-Funkzentrale. Für alle Fälle
…
François folgte mir in einiger Entfernung. Wir wussten nicht,
ob das Antiquariat möglicherweise beobachtet wurde. Mein Freund war
gewissermaßen eine Art Lebensversicherung für mich, falls dieses
eigenartige Treffen einen Verlauf nehmen sollte, der mich in eine
brenzlige Lage brachte.
Nachdem ich die Fußgängerampel passiert hatte, standen bereits
die ersten Ständer mit verbilligten Taschenbüchern vor mir, in
denen die Kundschaft interessiert herumwühlte.
Ich ließ den Blick schweifen und fragte mich, welcher der
Kunden sich vielleicht weniger für Bücher interessierte, als er
vorgab.
Ein Blondschopf mit Vollbart fiel mir auf. Er war ziemlich
groß und fast schlaksig. Er blickte dauernd auf und wirkte sehr
nervös. In seinem Gesicht zuckte ein unruhiger Muskel, und die
Tatsache, dass er sich einen Liebesroman für Frauen aus dem
Wühltisch herausgefischt hatte, sprach eher dafür, dass ihm das
Buch nur als eine Art Feigenblatt diente.
Seine wässrig-blauen Augen sahen mich einen Augenblick lang
an, dann blickte er in eine andere Richtung.
Ich beschloss, den Kerl im Auge zu behalten.
Dann betrat ich den Laden.
Ich wusste François hinter mir, machte aber nicht den Fehler,
mich nach ihm umzudrehen. Eine der Angestellten lief mir über den
Weg. Sie war groß und blond. Das lange Haar trug sie offen. Es
reichte ihr fast bis zur Hüfte.
»Ich suche nach der französischen Erstausgabe von Tarzan«,
erklärte ich.
Die junge Blonde lächelte charmant. Ihr schlanker Arm deutete
zu einem Regal auf der anderen Seite des Raumes.
»Wenn wir sie haben, dann dort hinten!«
»Ich danke Ihnen.«
Es dauerte eine Weile, bis ich mich durch den völlig
überfüllten Verkaufsraum hindurchgedrängelt hatte. Die Wühltische
mit den Büchern standen so eng, dass man schon etwas Geduld haben
musste. Ein Paradies für Taschendiebe und konspirative
Treffen.
Schließlich hatte ich es geschafft.
Alle Ausgaben auf diesem Tisch waren sorgfältig in Folie
verschweißt. Ich nahm mir eines der Hefte und sah mir die
Titelbildillustration an. Ein halbnacktes Mädchen mit großen
Brüsten im Angesicht eines Riesengorillas. Gleichzeitig bemerkte
ich aus den Augenwinkeln heraus den Blonden.
Er war mir also gefolgt.
Von der anderen Seite näherte sich ein Mann mit
schwarz-gelocktem Haar. Er war viel kleiner und stämmiger als der
Blonde.
Aber seinem Interesse an den alten Heften fehlte irgendwie der
rechte Enthusiasmus, der den echten Fan auszeichnet.
Einen Augenblick später hatte er sich neben mich gedrängelt
und heuchelte immer noch Interesse an den eingeschweißten
Heften.
Jetzt wurde es ernst …
»Nicht umdrehen, Kollege!«, wisperte der Lockenkopf. »Mein
Leben kann davon abhängen, dass dieses Treffen kein Aufsehen
erregt.«
Ich erkannte die Stimme vom Telefon wieder.
»Hört sich dramatisch an. Wer sind Sie?«, fragte ich in
gedämpftem Tonfall zurück.
»Jemand, der aussteigen will.«
»Am Telefon sagten Sie etwas von Oligarchen-Wlad Selnikows
Mördern.«
Er atmete tief durch.
»Hören Sie, Monsieur Marquanteur, ich brauche ein Angebot. Ich
bin bereit auszusagen, aber ich brauche Sicherheit, sonst lebe ich
keine zwei Stunden mehr!«
Seine Angst schien mir echt zu sein. Aber ich musste mehr
wissen. Und ich hatte keine Lust, meine Zeit nur mit vagen
Andeutungen zu vertun. Er wollte aussteigen, so sagte er. Das
bedeutete, dass er irgendwie zum Dunstkreis um Selnikow gehörte.
Einer seiner sogenannten Geschäftspartner.
Vielleicht besorgte er die Grundstücke, auf denen die
Giftmüllmafia ihren Schrott sehr unfachmännisch entsorgte oder
besaß eine Transportfirma, die in Selnikows Netz verstrickt war.
Allerdings sagte mir mein Instinkt, dass dieser Mann vermutlich
eine Etage höher anzusiedeln war. Bei den Mittelsmännern vielleicht
oder in der Geldwäsche.
»Ist der blonde Riese zu meiner Linken Ihr Mann?«, fragte
ich.
»Ja.«
»Wie beruhigend!«
Er atmete tief durch. »Wie gesagt, ich bin bereit auszusagen.
Über Selnikows üble Geschäfte mit gefährlichem Giftmüll, über
Strohmänner …«
»Selnikow ist tot«, stellte ich fest. »Wer will
Oligarchen-Wlad noch vor den Richter stellen?«
»Hören Sie …«
»Im Moment habe ich den Eindruck, mit Ihnen meine Zeit zu
verschwenden, Monsieur Namenlos.«
»Sie wollen Selnikows Mörder … Oder besser: Den, der die
Killeraufträge geben hat und vielleicht einen Bandenkrieg
ungeahnten Ausmaßes auslöst … Da will jemand gewaltig aufräumen!
Brahmini, Attaf … und jetzt Oligarchen-Wlad!«
»Und dieser Jemand ist zufällig auch Ihnen auf den
Fersen?«
Seine Stimme vibrierte leicht.
»Ich denke schon!«, wisperte er. »Ich liefere Ihnen die Witwe
des großen Wladimir Selnikow ans Messer.«
»Jelena?«
»Sie hat Oligarchen-Wlads Geschäfte übernommen und hat große
Pläne … Sehr große Pläne!«
Von hinten spürte ich eine Bewegung und wandte halb den
Kopf.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich einen Arm.
Er ragte zwischen den dichtgedrängten Körpern der Kunden
hervor. Und die Hand hielt eine Pistole umklammert …
Der Lauf war sehr langgezogen.
Eine Waffe mit Schalldämpfer!
Grell züngelte das Mündungsfeuer aus dem Rohr.
Zweimal hintereinander machte es Plopp, und ein Ruck durchfuhr
den Körper meines Gesprächspartners.
Sein Blick gefror zu einer Maske.
Einer Maske des Todes. Seine Augen waren weit aufgerissen und
stierten mich verständnislos an. In der nächsten Sekunde sah ich
das Blut … Es sickerte aus dem Mund heraus und tropfte auf den
Jackenkragen.
Der Lockenkopf sackte tot in sich zusammen. Die in der Nähe
stehenden Kunden stürzten schreiend auseinander.
Blut spritzte auf die Wühltische mit den Taschenbüchern,
während das Chaos ausbrach.
10
Die Schreie waren geradezu ohrenbetäubend.
Ich wirbelte herum und hatte in der nächsten Sekunde meine
Waffe in der Rechten. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass der
blonde Leibwächter des Lockenkopfs ebenfalls nach seiner Waffe
gegriffen hatte.
Er hatte das Eisen – eine große, schwergewichtige Magnum noch
nicht einmal ganz unter dem Jackett hervorgezogen, da ruckte sein
Kopf auf unnatürliche Weise in den Nacken.
Wie von einem Hammerschlag getroffen.
Auf seiner Stirn bildete sich ein roter Punkt, der rasch
größer wurde. Er taumelte getroffen zurück, krallte sich an einem
Regal fest und riss dessen Inhalt mit sich zu Boden.
Ein dumpfes Ächzen entrang sich seiner Kehle, eher auf dem
Boden krachte und reglos liegenblieb.
Heillose Panik erfüllte das Antiquariat.
Die Kunden stoben in alle Richtungen auseinander. Manche
suchten Deckung hinter den Verkaufstischen.
Ein Mann wühlte sich brutal durch die Menge. Von seinem
Gesicht konnte ich so gut wie nichts sehen. Er trug eine tief
heruntergezogene Strickmütze und eine Brille mit
Spiegelgläsern.
»Polizei! Stehenbleiben!«, rief ich.
Eine Warnung, die beinahe im Kreischen der Kunden
unterging.
Dennoch bekam ich umgehend eine bleierne Antwort.
Das ploppende Geräusch war in dem allgemeinen Lärm nicht zu
hören.
Lautlos löste sich der Schuss aus der Waffe des
Spiegelbrillenträgers, dessen Backenbart wie angeklebt wirkte. Ich
sah es an der Mündung der auf mich gerichteten Waffe aufblitzen und
duckte mich schnell.
Der Schuss meines Gegners war schnell und nicht gut gezielt
gewesen. Das Projektil zischte dicht über mich hinweg. Um
Haaresbreite hätte mir das großkalibrige Ding einen Teil der
Schädeldecke von der Hirnmasse herunter rasiert.
Krachend drang es hinter mir in erst in das Regal dann in die
Wand ein und zerfetzte Holz und die wertvollen Buchausgaben
gleichermaßen, ehe es im Beton der Wand steckenblieb.
Mein Finger verstärkte den Druck auf den Abzug der
Waffe.
Wut stieg in mir auf.
Ich konnte die Waffe in diesem Moment nicht benutzen, das war
mir klar. Einen Mörder zu fassen war eine Sache und was meine
eigene Person anging, scheute ich dabei kein Risiko, das sich noch
einigermaßen vertreten ließ.
Aber in dieser dichtgedrängten Menschenmenge auf einen
flüchtenden Killer zu schießen wäre unverantwortlich gewesen.
Auch für einen guten Schützen.
Und ich bin einer!
Denn selbst, wenn ich den Kerl traf, konnte die Kugel aus dem
Körper wieder austreten und noch einen anderen Menschen verletzen –
oder sogar umbringen.
Der Killer rannte davon, kam dabei hart gegen einen der
Verkaufstische, der mit einem hässlichen, schabenden Geräusch einen
halben Meter über den Boden rutschte.
Ich packte die Waffe und sah zu, dass ich hinter ihm
herkam.
Vor mir bildete sich eine Gasse. Die Kunden, die noch nicht in
heller Panik auseinandergelaufen waren, hatten zumeist hinter den
Wühltischen und Buchständern notdürftig Deckung gesucht.
Der Kerl feuerte noch einmal auf mich. Der Schuss ging daneben
und kratzte irgendwo hinter mir an der Decke. Etwas fiel herunter.
Ich konnte nicht sehen, was es war. Ein Teil der Deckendekoration
mit den Hinweisschildern auf verbilligte Ware oder eine Lampe
vielleicht.
Seitlich von mir, auf der anderen Seite des Verkaufsraums,
entdeckte ich François, der versuchte, dem Killer den Weg zum
Hauptausgang abzuschneiden.
Der Killer rannte einen dicken Mann brutal über den
Haufen.
Mit einem stöhnenden Laut auf den Lippen sank der Mann zu
Boden, als der Ellbogen des Mörders sich in seinen Bauch
drückte.
François hatte indessen den Ausgang erreicht und richtete
seine Waffe auf den Killer.
»FoPoCri! Sie sind verhaftet!«
Blitzschnell wirbelte der Killer herum, duckte sich und packte
dann eine junge Frau an den langen, gelockten Haaren.
Sie schrie auf. Er zog sie mit einer brutalen, ruckartigen
Bewegung in die Höhe und hielt ihr das Eisen an die Schläfe.
Ihre Augen waren vor Schrecken weit aufgerissen. Ihre Brust
hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus, den die Angst
vorgab.
Eine Kinderstimme rief: »Mama!«
Ein kleiner Junge hockte ganz in der Nähe, halb verborgen
hinter einem der Tische. Er wagte nicht, sich zu bewegen.
Niemand im Raum wagte das in dieser Sekunde.
Auch François und ich nicht.
Für die nächsten Sekunden hätte man eine Stecknadel fallen
hören können.
Der Killer sagte kein Wort.
Das war auch nicht nötig. Seine Taten sprachen für sich und
der kalte Lauf des Schalldämpfers am Kopf der jungen Frau.
Zweifellos war er skrupellos genug, sie bedenkenlos
umzubringen.
Ein Profi, der über Leichen ging und dem es auf einen Toten
mehr oder weniger nicht ankam.
Eine menschliche Waffe, ausgeschickt von irgendjemandem, dem
es offenbar nicht gepasst hatte, dass der tote Lockenkopf, der nun
in seinem Blut neben den Regalen lag, sich mit einem Kollegen
zusammen alte Bücher ansah …
Ich blickte zu François hinüber.
Keiner der Kunden verstellte mehr die Sicht. Die kauerten
angstvoll in Deckung.
Mein Freund nickte kurz und senkte die Waffe.
Ich tat dasselbe, obwohl es mir in der Seele wehtat, diesen
Kerl ziehen lassen zu müssen. Aber es gab keinen anderen Weg.
Vorsichtig ging der Killer mit seiner Geisel in Richtung
Ausgang. Die Spiegelgläser gaben seinem Gesicht etwas Kaltes,
Insektenhaftes. Zweifellos beobachtete er jede unserer Handlungen
ganz genau. Nicht eine Nuance würde ihm entgehen, und es war in
dieser Situation das Beste, überhaupt nichts zu tun.
Schließlich ging es um das Leben der Geisel.
»Mama!«, rief der Junge noch einmal.
»Bleib, wo du bist, Christian!«, rief die junge Frau. »Steh
nicht auf!«
»Maul halten!«, knurrte der Killer.
Das erste Mal, dass wir einen Laut von ihm hörten, der über
das tödliche Ploppen seiner Schalldämpferwaffe hinausging.
Seine Stimme klang wie ein tiefes Wispern. Ein Laut, der zu
einer Schlange gepasst hätte.
Der Killer näherte sich dem Ausgang.
François wich zurück.
Ein hochgewachsener Kunde, der gerade hereinkommen wollte,
blieb wie erstarrt stehen und lief dann davon.
Die kalten Spiegelaugen des Killers warfen einen letzten Blick
auf uns.
Dann schleuderte er die Frau in unsere Richtung. Sie stolperte
nach vorn und stöhnte auf, als sie hart auf den Boden kam. Im
selben Moment ballerte der Kerl noch zweimal drauflos und rannte
dann hinaus zur Straße.
Wir zögerten keine Sekunde.
Beinahe im selben Moment setzten François und ich uns in
Bewegung und rannten ebenfalls zum Ausgang. François war schneller
dort als ich.
Einen Augenblick später sahen wir den Kerl mit der
Spiegelbrille gerade noch in einen blauen Wagen einsteigen, der
offenbar mit laufendem Motor am Straßenrand gewartet hatte.
Aus einem heruntergelassenen Fenster ragten ein paar Hände
hervor, die sich um eine Maschinenpistole klammerten. In dem
Moment, in dem sich der Wagen mit quietschenden Reifen in Bewegung
setzte, ballerte der Wahnsinnige los, dessen Gesicht hinter den
getönten Scheiben verborgen lag.
Zwei Feuerstöße mit jeweils etwa zwanzig Schuss in der Sekunde
knatterten los, und es blieb uns nichts anderes, als uns zu Boden
zu hechten.
Die Garbe aus Blei fraß sich in die benachbarten Hausfassaden
und ließ den Putz von der Wand springen.
Irgendwo schrie jemand auf.
Ich lag auf dem Pflaster des Bürgersteigs, rollte mich herum
und spürte, wie dicht neben mir ein Projektil die Pflastersteine
berührte und als tückischer Querschläger weiter auf eine ungewisse
Reise geschickt wurde.
Ich zielte auf einen der Hinterreifen des Wagens und drückte
ab.
Der Reifen zerplatzte.
Aber der Fahrer trat unbarmherzig das Gas. Es gab ein
hässliches Geräusch, als der zerstörte Reifenmantel über den
Asphalt gedreht wurde und die Felgen auf dem Boden entlang
ratschten. Funken sprühten dabei und es roch nach verbranntem
Gummi.
Beinahe wäre der Wagen ausgebrochen.
Jemand, der von der entgegengesetzten Fahrbahn daherfuhr,
hupte.
Der Fahrer des Wagens riss das Lenkrad herum, rasierte sich
den Außenspiegel an einer Straßenlaterne ab und bog dann in eine
Seitenstraße ein.
Ich rappelte mich wieder auf.
Ein schneller Blick seitwärts, sagte mir, das François nichts
geschehen war. Aber einen Passanten hatte es an der Schulter
erwischt.
François hatte bereits das Walkie-Talkie in der Hand und
verständigte die Funkzentrale der FoPoCri. Offenbar hatte bereits
jemand im Antiquariat die Polizei verständigt, denn schon dröhnte
eine Sirene aus irgendeiner der Nachbarstraßen.
Ich bekam gerade noch mit, wie François einen Krankenwagen für
den verletzten Passanten verlangte.
»Hast du noch die Nummer des Wagens in Erinnerung?«, fragte er
mich zwischendurch.
Ich nickte und nannte sie ihm.
»Aber lohnt kaum, das Ding in die Fahndung zu geben«,
erwiderte ich.
»Warum nicht? Etwa wegen des Reifens?« Er schüttelte den Kopf.
»Pierre, ich glaube nicht, dass den Kerlen Felgen und Achse im
Moment sonderlich wichtig sind. Die werden losbrettern, bis es
glüht!«
Ich schüttelte den Kopf.
Dann deutete ich auf das Sackgassenschild vor jener Einfahrt,
die der Wagen mit dem geplatzten Reifen genommen hatte. Es war kaum
zu sehen, weil irgendein Witzbold eine Plastiktüte darüber gestülpt
hatte.
Die Jagd ging weiter.
11
Die Seitenstraße war eng und namenlos. Eigentlich nicht mehr
als eine etwas breitere Einfahrt, die in einem Hinterhof mündete.
Ehedem war hier das Gelände einer Transportfirma gewesen, die wohl
in Konkurs gegangen war. Einige Schilder wiesen noch darauf hin.
Jetzt verfiel hier alles. Ratten krochen ungeniert zwischen
überquellenden Mülleimern herum und suchten sich ihr Teil.
Als François und ich den Innenhof erreichten, sahen wir noch
einige Lastwagen, die vor sich hin rosteten. Man hatte sie
ausgeweidet wie eine Weihnachtsgans. Kein brauchbares Stück war
noch an ihnen dran. Die Reifen fehlten, die Sitze, die Motoren
…
Jede brauchbare Schraube schien herausgedreht worden zu
sein.
Und dann sahen wir auch den Wagen.
Drei Türen standen offen.
Also drei Kerle!, schoss es mir durch den Kopf. Hier war ihre
Höllenfahrt zu Ende gewesen. Der Innenhof wurde umgeben von einem
mehrstöckigen Gebäude, dessen Fassaden herabbröckelten. Die
ehemaligen Garagen der Lastwagen standen offen. Sie waren kahl und
leer. In den oberen Etagen, in denen sich vielleicht mal die Büros
befunden hatten, waren zum Teil die Fenster eingeschlagen.
Zollformulare wurden durch den Wind über den Hof getrieben.
Ein verlassener Ort, wie geschaffen, um sich zu
verstecken.
Ein Labyrinth, in dem man sich hervorragend auf die Lauer
legen konnte …
Wir nahmen hinter dem ersten Lastwagen Deckung.
»Die sind über alle Berge, Pierre!«, meinte François, der wie
ich die Waffe in der Faust trug. »Aber die Spurensicherer sollten
das ganze Gelände mal abchecken. Vielleicht haben unsere Freunde
irgendetwas verloren.«
Jede Kleinigkeit konnte uns vielleicht weiterbringen.
Und wenn es nur ein vollgerotztes Papiertaschentuch war, aus
dem sich vielleicht ein genetischer Fingerabdruck gewinnen ließ
…
»Ich weiß nicht«, meinte ich. »Ich habe ein schlechtes
Gefühl.«
François gab per Funkgerät durch, welches Gebiet abgeriegelt
werden musste. Aber es war die Frage, ob die Verstärkung der
Polizei schnell genug sein würde.
»Achtung!«, zischte ich.
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich bei einem der
zerschlagenen Fenster eine Bewegung. Ich wirbelte herum, aber schon
in der nächsten Sekunde knatterte eine Maschinenpistole los.
Die Projektile zerfetzten den Kasten des Lastwagens, hinter
dem wir uns verschanzt hatten, dann schlugen sie dicht vor unseren
Füßen in den Asphalt, und wir mussten einen Satz zurück machen. Wir
kauerten hinter der Fahrerkabine des Lastwagens, und ich feuerte
dreimal kurz hintereinander zurück, woraufhin das Feuer auf der
anderen Seite eingestellt wurde.
Vorerst.
»Die haben auf uns gewartet«, meinte François.
Ich lud derweil meine Waffe nach und hatte die Waffe einen
Augenblick später schon wieder schussbereit.
»Immerhin sind sie noch nicht über alle Berge!«
»Im Moment sitzen wir in der Falle – und nicht sie!«, stellte
François fest.
»Gib mir Feuerschutz!«, forderte ich.
»Was hast du vor?«
»Mich etwas voran zu arbeiten! Am besten bis zum Eingang, um
irgendwie ins Haus zu gelangen. Oder hast du vielleicht Lust, hier
länger als Zielscheibe dieser Verrückten zu dienen?«
»Kein Gedanke … Aber willst du nicht besser auf die
Verstärkung warten?«
»Wie es im Diensthandbuch steht? Dann sind die Kerle
weg.«
»Auch wahr!«
»Also los!«
»Du gibst das Signal!«
»Okay!«
François atmete tief durch, und wir wechselten einen kurzen
Blick. In Situationen wie diesen konnten wir uns hundertprozentig
aufeinander verlassen. Das wusste jeder vom anderen.
Eine Maschinenpistolengarbe krachte in diesem Moment wieder in
unsere Richtung. Ich hatte das Gefühl, dass die Killer nicht so
genau wussten, wo wir uns befanden. Oder sie trauten sich nicht
genau hinzusehen, weil sie Angst hatten, selbst eine Bleiladung
abzubekommen.
Jedenfalls mussten wir uns einige schreckliche Sekunden lang
ganz klein machen. Möglichst unsichtbar. Dieser geballten
Feuerkraft hatten wir nichts entgegenzusetzen. Nichts, was dem
hätte Paroli bieten können. Was die Bewaffnung anging, waren diese
Killer uns überlegen.
Die Schusskraft einer Maschinenpistole ließ unsere Dienstwaffe
beinahe wie Spielzeuge von rührender Harmlosigkeit
erscheinen.
Ich glaubte schon, dass die Ballerei fürs erste wieder vorbei
war, da ging es erneut los. Die Kugeln schlugen Löcher in die
Beifahrertür des Lastwagens. Die Heckscheibe der Fahrerkabine war
bis dahin das einzig heile Stück Glas am Wagen. Jetzt ging es zu
Bruch. Ein Regen aus scharfkantigen Scherben regnete auf François
und mich hernieder.
Dann war erst einmal wieder Stille.
Eine tödliche, drohende Stille.
Wir beide wussten es.
Ich packte die Waffe so fest, dass sich meine Knöchel weiß
färbten.
Dann nickte ich François zu.
»Jetzt!«
Ich rannte in geduckter Haltung voran, während François auf
das Fenster feuerte, aus dem zuvor auf uns geschossen worden
war.
Eine zaghafte Erwiderung krachte los, aber François schien
ziemlich genau zu zielen. Und der Killer dort oben ging lieber auf
Nummer Sicher.
Rechts und links neben mir kratzten die Kugeln am grauen
Asphalt. Dann hechtete ich mich hinter einen Mercedes-Lieferwagen
von uraltem Baujahr. Er war mindestens so ausgeschlachtet wie die
Lastwagen.
Immerhin …
Ich hatte einige Meter gewonnen. Und der Eingang war jetzt in
einer Entfernung, die vielleicht erreichbar war, wenn der Kerl am
Fenster mal nicht so hundertprozentig auf dem Posten war.
Ich feuerte ein paar Mal hinauf zu ihm und kauerte mich dann
zum Nachladen hinter den Lieferwagen.
François machte mir ein Zeichen.
Alles in Ordnung.
Wieder herrschte einige Augenblicke lang diese eigenartige
Ruhe vor dem Sturm. Jeder Muskel und jede Sehne meines Körpers
waren angespannt.
Ich atmete tief durch und ließ den Blick die Fassaden auf der
anderen Seite entlanggleiten.
Als ob ich es geahnt hätte …
An einem der Fenster bemerkte ich eine Bewegung.
Einer der Killer hatte sich offenbar auf die andere Seite
begeben, um uns in aller Ruhe abschießen zu können. Ich ballerte
zweimal in seine Richtung. Für den Moment schien er sich nicht aus
seiner Deckung herauszutrauen.
Dafür war der Kerl mit der MP um so aktiver. Er feuerte wild
drauflos.
Ein unheimliches, zischendes Geräusch folgte, anschließend
eine mörderische Hitzewelle.
Ich musste zur Seite hechten, als die Kugeln den Tank
durchsiebten, der offenbar noch genug Kraftstoff enthalten hatte,
um eine Explosion auszulösen.
Die Flammen schlugen hoch aus dem Lieferwagen heraus, während
ich mich am Boden herumrollte und die Augen zusammenkniff. Die
Hitze war furchtbar. Ich hatte das Gefühl, buchstäblich bei
lebendigem Leibe geröstet zu werden.
Wieder schoss eine Flamme aus dem Lieferwagen heraus. Die
wenigen Scheiben, die noch ganz waren, zerbarsten mit einem
Klirren.
Der MP-Schütze ballerte von oben in meine Richtung. Die Kugeln
schlugen links und rechts von mir ein.
Es war die Hölle.
Mit einer heftigen Bewegung riss ich die Waffe hoch und
feuerte zurück. Dann rappelte ich mich hoch, feuerte dabei ein
weiteres Mal und hastete in Richtung des Eingangs. Ich schoss wild
drauflos. Ein paar Dutzend Schritte nur trennten mich von der
bröckelnden Hausfassade …
Ich setzte alles auf eine Karte. Und etwas anderes blieb mir
auch gar nicht. Ich musste so schnell wie möglich aus dem
Schussfeld kommen.
Ich keuchte.
Den letzten Schuss feuerte ich aus der Waffe, und dann hatte
ich es geschafft. Ich presste mich an die Fassade.
Der herausrieselnde graue Staub setzte sich in meinem Mantel
fest. Ich atmete auf. Für den MP-Schützen war ich jetzt unsichtbar.
Der Winkel war zu spitz. Er konnte mich von oben weder sehen noch
gezielt beschießen.
Bis zum Eingang hätte ich mich noch einige Meter an der Wand
entlangdrücken müssen.
Aber dafür blieb keine Zeit, denn jetzt wurde von der anderen
Seite geschossen.
Das war der Kerl mit der Schalldämpferwaffe und der
Spiegelbrille. Jener Mann, der meinen Informanten getötet hatte.
Jedenfalls schloss ich das aus der Tatsache, dass ich kein
Schussgeräusch hörte. Ohne Vorwarnung drang die Kugel dicht neben
mir in das poröse Mauerwerk und ließ noch mehr Putz
herunterrieseln.
Meine Waffe war leergeschossen. Ich konnte nicht
zurückfeuern.
Als der nächste Schuss dicht über meinen Kopf strich, stand
mein Entschluss fest. Ich hechtete in das nächste Fenster hinein.
Die Scheiben waren zerschlagen, aber es ragten noch scharfe
Splitterstücke in die Fensteröffnung hinein. Wie Messer.
Und ich wusste nicht, was mich auf der anderen Seite, im
Halbdunkel dieser verfallenen Ruine, erwartete. Hart kam ich auf
den Boden und rollte mich auf die Weise ab, die man mir im
Nahkampftraining beigebracht hatte.
Meine Schulter schmerzte höllisch, aber ich biss die Zähne
zusammen. Ich lud die Waffe in Windeseile nach. Dann sah ich das
Blut an meinem Arm.
Das Glas war wie ein Messer durch meinen Mantel
gefahren.
Hoffte ich.
Ich glaubte einfach nicht, dass es eine Kugel war.
Innerlich fluchte ich.
Aber ich war nicht bereit, jetzt auf diese Verletzung
Rücksicht zu nehmen. Ich packte die Waffe fester und durchquerte
den halbdunklen Raum.
Wenig später hatte ich die Tür erreicht und arbeitete mich
durch den Flur vor. Eine Treppe führte hinauf. Der Aufzug war nur
noch ein Schrotthaufen, und ich hatte keine Lust, ihn auf seine
Funktionstüchtigkeit hin zu testen. Außerdem gab es vermutlich auch
keinen Strom.
Vorsichtig ging ich die ersten Stufen hinauf. Das Geländer war
schadhaft, der Handlauf teilweise abgebrochen.
Eine Bewegung ließ mich herumfahren, und ich sah eine riesige
Ratte von einer Tür zur anderen huschen.
Nur den Bruchteil einer Sekunde später sah ich über mir etwas
aufblitzen.
Das Mündungsfeuer einer MP.
12
Der Killer stand auf einer der oberen Treppenabsätze und
ballerte in die Tiefe – auf mich.
Ich ließ mich seitwärts fallen, während die Geschosse den
ohnehin morschen hölzernen Handlauf zerfrästen. Ich drückte mich an
die Wand. Draußen, im Innenhof waren jetzt Polizeisirenen zu
hören.
Über mir hörte ich schnelle Schritte, und so wagte ich es, die
Treppe hinaufzurennen. Ich nahm zwei bis drei Stufen mit einem
Schritt, bis ich den fünften Stock erreichte, von wo aus der Killer
mich beschossen hatte. Immer wenn ich einen Absatz erreichte,
erwartete ich, von einem Bleihagel begrüßt zu werden.
Aber von dem Killer war nichts zu sehen.
Von draußen krächzte jetzt ein Megafon und forderte die Killer
zum Aufgeben auf.
François schien die Polizeibeamten eingewiesen zu haben.
Fieberhaft durchsuchte ich den fünften Stock. Zimmer für
Zimmer. Die meisten Räume waren kahl wie ein Rohbau. Man hatte
alles mitgenommen. Hin und wieder standen da noch ein paar
Büromöbel und Kisten mit halb verschimmelten Papieren, aus denen
sich die Ratten ihre Nester bauten.
Vielfach fehlten selbst die Türen.