9,99 €
Marieke Nijkamps packender Roman, der zum Riesenüberraschungserfolg in den USA wurde, behandelt ein brisantes Thema und wirkt wie ein Echo aktueller Ereignisse: Amok in der Schule. 10.00 Uhr Die Direktorin spricht den letzten Satz ihrer Begrüßungsrede zum neuen Schuljahr. 10.02 Uhr Die Schüler stehen auf und machen sich auf den Weg in die Klassenräume. 10.03 Uhr Die Türen der Aula sind blockiert, Unruhe bricht aus. 10.05 Uhr Eine Tür geht auf. Jeder hat Angst vor dem Jungen mit der Waffe. »Peng, peng, du bist tot«, sagt Tyler, dann drückt er ab. 54 Minuten. So lange dauert der Amoklauf an der örtlichen Highschool einer fiktiven Kleinstadt in den USA. Ein exakt durchkomponierter Racheakt – erzählt aus vier Perspektiven. Erschreckend, atemlos und emotionsgeladen. Dieser Roman lässt seine Leser*innen mit gebrochenem Herzen zurück. In den USA stand der Roman wochenlang auf der Bestsellerliste. »Fesselnd und toll geschrieben.« Morton Rhue, Autor von Die Welle
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 303
Marieke Nijkamp
Jeder hat Angst vor dem Jungen mit der Waffe
Roman
54 Minuten, die alles zerstören
Es passiert nicht viel im verschlafenen Opportunity, Alabama. Wie immer hält die Direktorin in der Aula der Highschool ihre Begrüßungsrede zum neuen Schulhalbjahr. Es ist dieselbe Ansprache wie in jedem Schulhalbjahr. Währenddessen sind zwei Schüler in das Büro der Schulleitung geschlichen, um Akten zu lesen. Draußen auf dem Sportgelände trainieren fünf Schüler und ihr Coach auf der Laufbahn für die neue Leichtathletiksaison. Wie immer ist die Rede der Dirketorin exakt um zehn Uhr zu Ende. Aber heute ist alles anders.
Als Schüler und Lehrer die Aula verlassen wollen, kann man die Türen nicht mehr öffnen. Einer beginnt zu schießen. Tyler greift seine Schule an und macht alle fertig, die ihm unrecht getan haben. Aus der Sicht von vier Jugendlichen entfaltet sich der Amoklauf, bis die letzte Kugel verschossen ist.
»Fesselnd und toll geschrieben.«
Morton Rhue, Autor von Die Welle
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Marieke Nijkamp hat sich schon immer für Bücher begeistert. Sie spricht ungefähr ein Dutzend Sprachen und hat Philosophie und Geschichte studiert. Sie ist Geschichtenerzählerin, Träumerin, Globetrotterin, Streberin und möchte Zeitreisende werden, wenn sie erwachsen ist. 54 Minuten, ihr erster Roman, war ein Überraschungserfolg in den USA und über ein Jahr lang in den Top 10 der »New York Times«-Bestsellerliste. Die Autorin lebt in den Niederlanden.
[Widmung]
Kapitel Eins 10.01 Uhr – 10.02 Uhr
Claire
Tomás
Autumn
Sylv
Auf Twitter
Kapitel Zwei 10.02 Uhr – 10.04 Uhr
Tomás
Autumn
Claire
Sylv
SMS
Kapitel Drei 10.04 Uhr – 10.05 Uhr
Autumn
Claire
Tomás
Sylv
Meis Blog
Kapitel Vier 10.05 Uhr – 10.07 Uhr
Tomás
Sylv
Claire
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Fünf 10.07 Uhr – 10.10 Uhr
Tomás
Sylv
Claire
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Sechs 10.10 Uhr – 10.12 Uhr
Sylv
Claire
Tomás
Autumn
SMS
Kapitel Sieben 10.12 Uhr – 10.15 Uhr
Sylv
Tomás
Claire
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Acht 10.15 Uhr – 10.18 Uhr
Tomás
Sylv
Claire
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Neun 10.18 Uhr – 10.20 Uhr
Autumn
Tomás
Sylv
Claire
Meis Blog
Kapitel Zehn 10.20 Uhr – 10.22 Uhr
Claire
Tomás
Sylv
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Elf 10.22 Uhr – 10.25 Uhr
Tomás
Claire
Sylv
Autumn
SMS
Kapitel Zwölf 10.25 Uhr – 10.27 Uhr
Claire
Sylv
Tomás
Autumn
Meis Blog
Kapitel Dreizehn 10.27 Uhr – 10.28 Uhr
Tomás
Autumn
Sylv
Claire
Auf Twitter
Kapitel Vierzehn 10.28 Uhr – 10.30 Uhr
Tomás
Autumn
Sylv
Claire
Auf Twitter
Kapitel Fünfzehn 10.30 Uhr – 10.32 Uhr
Tomás
Sylv
Autumn
Claire
SMS
Kapitel Sechzehn 10.32 Uhr – 10.35 Uhr
Tomás
Claire
Autumn
Sylv
Auf Twitter
Kapitel Siebzehn 10.35 Uhr – 10.37 Uhr
Claire
Sylv
Tomás
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Achtzehn 10.37 Uhr – 10.39 Uhr
Tomás
Autumn
Claire
Sylv
Auf Twitter
Kapitel Neunzehn 10.39 Uhr – 10.42 Uhr
Autumn
Tomás
Claire
Sylv
Meis Blog
Kapitel Zwanzig 10.42 Uhr – 10.44 Uhr
Autumn
Claire
Sylv
Tomás
Auf Twitter
Kapitel Einundzwanzig 10.44 Uhr – 10.46 Uhr
Claire
Autumn
Tomás
Sylv
Auf Twitter
Kapitel Zweiundzwanzig 10.46 Uhr – 10.47 Uhr
Sylv
Claire
Autumn
Meis Blog
Kapitel Dreiundzwanzig 10.47 Uhr – 10.48 Uhr
Autumn
Claire
Sylv
Auf Twitter
Kapitel Vierundzwanzig 10.48 Uhr – 10.50 Uhr
Sylv
Claire
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Fünfundzwanzig 10.50 Uhr – 10.53 Uhr
Sylv
Claire
Autumn
Auf Twitter
Kapitel Sechsundzwanzig 10.53 Uhr – 10.55 Uhr
Sylv
Claire
Autumn
Meis Blog
Epilog 23.59 Uhr
Sylv
Dank
Für meine Mom, in Liebe
Als der Startschuss die Stille zerreißt, sprinten die Läufer auf den Blöcken los.
In ein paar Wochen beginnt die Wettkampfsaison, allerdings hat anscheinend keiner Coach Lindt verraten, dass noch Winter ist. Er ist davon überzeugt, dass das Einzige, was uns auf Trab bringt, trainieren ist – selbst dann, wenn mir der Atem vor der Nase gefriert.
Hier in Opportunity in Alabama gehen gescheite Leute nicht vor die Haustür, wenn da draußen alles vor Frost erstarrt und voller Raureif ist. Wir decken uns mit Konserven ein, trinken heiße Schokolade bis zum Zuckerkoma und beten, man möge uns von der Kälte erlösen.
Trotz allem – lieber Coach Lindts Jahresanfangstraining, als Direktorin Trentons lange, quälende Ansprache zum Semesterbeginn über mich ergehen lassen zu müssen. Nach fast vier Jahren auf der Opportunity High kann ich ihren Vortrag auswendig rezitieren, was ich gerade erst heute Morgen beim Frühstück für Matt getan habe – hart arbeiten, Verantwortung übernehmen, die Möglichkeiten nutzen, wie es unser Ortsname nahelegt, dazu noch unser Schul- und ihr Lieblingsmotto: »Wir gestalten unsere Zukunft.«
Es klingt alles ganz glorreich, und dennoch weiß ich auch so kurz vorm Abschluss immer noch nicht, was mich in der Zukunft erwartet. Falls Opportunity mich geformt hat, ist es mir nicht aufgefallen. Laufen – das kenne ich. Diese Aschenbahn – die kenne ich. Ein Schritt nach dem nächsten, nach dem nächsten. Solange ich mich vorwärts bewegen kann, ist mir gleich, was vor mir liegt.
Ich rutsche aus und gerate ins Straucheln. Von seiner Position auf dem Feld aus flucht Lindt: »Claire! Pass doch auf! Ein falscher Schritt entscheidet über Erfolg oder Niederlage.«
Ich richte mich wieder auf und laufe weiter.
Vertrautes Lachen dringt durch den stillen Morgen und verleiht ihm Farbe. »Bist du über die Ferien eingerostet, Sarge? Selbst eine Schnecke könnte dich einholen, so wie du hier rumstolperst.« Auf der Bahngeraden fällt Chris neben mir in Schritt.
Ich atme tief ein, bevor ich entgegne: »Oh, halt die Klappe.«
Das bringt meinen besten Freund noch lauter zum Lachen. Der gleichmäßige Rhythmus seiner Schritte und seines Atems fordert mich dazu auf, mein eigenes Tempo zu finden. Wie immer wirkt seine Gegenwart stabilisierend auf mich. Mit einem Meter sechsundneunzig, gebleichten Haaren und blauen Augen ist Chris nicht nur der beste Läufer, sondern auch das athletische Aushängeschild der Schule. An Tagen, an denen wir Uniform tragen, fallen den Neuntklässlerinnen fast die Augen heraus.
Mit Chris neben mir werden meine Schritte kürzer. Die beiden anderen Läuferinnen der Schulauswahlmannschaft liegen weit zurück am anderen Ende der Strecke. Chris und ich bewegen uns vollkommen synchron, so dass sich die Luft vor uns teilt und den Weg freigibt.
Nichts kann uns aufhalten. Weder der Schnee noch die Zeit.
Die Zeit ist abgelaufen. Die kleine Uhr im Regal schlägt gerade zehn mit einer nervigen kleinen Melodie, und ich blättere mit Überschallgeschwindigkeit durch die Hängeordner vor mir. Na, komm schon. Komm schon. Komm schon.
Es brauchte nichts weiter als ein bisschen Sekundenkleber – strategisch über die Schreibtischschublade meines Lieblingsspanischlehrers verteilt, Mr Seht mich an, wie ich mein Ding schaukle, eine lebende Midlife-Krise, damit Fareed und ich ungehindert ins Schulsekretariat eindringen konnten. Aber es hat beide unserer Schülerausweise gekostet, um das Schloss an Direktorin Trentons Tür auch nur zum Wackeln zu bringen. Und alles wäre umsonst gewesen, wenn ich jetzt nicht die Akte finde, die ich brauche. Als sich mir ein Ellbogen in die Seite bohrt, zucke ich zusammen. »Verflucht nochmal, Far. Was ist denn?«
Fareed verdreht die Augen und gibt mir zu verstehen, dass ich leise sein soll. »Da ist jemand im Flur«, raunt er mir zu. Dann schleicht er auf Zehenspitzen zur Tür zurück.
Mist.
Wie soll ich das denn erklären? Nein, Ma’am, ich mache hier nichts weiter, als ein bisschen in den Schulakten zu schnüffeln?
Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass es rechtlich in Ordnung ist, wenn ich meine eigene Schulakte einsehe. Das kann ich zumindest als Ausrede benutzen. Die Tatsache, dass ich dabei unter A-C statt unter M-N suche, ist reiner Zufall. Außer Far weiß keiner, nach wessen Akte ich suche, und selbst er kennt nicht alle Details.
Falls nötig, kann ich immer noch Al-Sahar, Fareed als Deckmantel nehmen. Die Schulverwaltung schafft es zwar noch nicht mal, seinen Namen richtig einzuordnen, aber was soll’s.
Eine Tür geht auf und zu, fällt ins Schloss. Vor dem Sekretariat sind quietschende Schritte zu hören.
Schritte, die vor dem Büro der Direktorin, in dem wir uns befinden, verharren.
Ich schließe leise die Schublade des Aktenschranks. Besser keinen Ärger einhandeln, und noch mehr Ärger gäbe es, wenn sie mich auf frischer Tat erwischten.
Wir halten beide die Luft an.
Nach dem, was sich wie eine Ewigkeit anfühlt, entfernen sich die Schritte wieder. Wer immer es gewesen sein mag, er war nicht hinter uns her, zumindest diesmal nicht.
»Es ist alles eine Frage der Wahl, die ihr trefft, heute ebenso wie später. Euer Verhalten wird nicht nur ein Licht auf euch selbst, sondern ebenso auf eure Eltern, eure gesamte Familie und eure Schule werfen.
Wir hier in Opportunity sind stolz darauf, die Ärzte, Juristen und Politiker von morgen hervorzubringen. Und es ist die Wahl, die ihr jetzt trefft, die über eure Zukunft entscheiden wird. Ihr solltet euch fragen, wie ihr das Beste aus euch herausholen könnt. Fragt euch nicht, was eure Schule für euch tun kann, sondern was ihr für euch selbst leisten könnt.«
Mrs Trenton hält das Mikrophon locker in der Hand, während ihr Blick über die Menge schweift, als wolle sie sich jedes einzelne Gesicht merken. So viele Schüler, die kommen und gehen und nichts weiter hinterlassen als ihre Namen in Schultische geritzt oder an Toilettenwände gesprayt, und dennoch kennt sie jeden Einzelnen von uns.
Weiß um unsere Hoffnungen, unseren Liebeskummer, unsere schlaflosen Nächte.
Ihr Blick bleibt an mir hängen, und mein Nacken fängt an zu kribbeln. Ich strecke die Hand nach dem Sitz neben mir aus, aber er ist noch genauso leer wie zu Anfang der Versammlung.
Zu meiner Linken stöhnt Sylv. »Nach all den Jahren könnte sie sich doch mal was Neues einfallen lassen.«
»Willst du denn nicht dein Bestes geben?« Die Worte klingen schroffer, als sie gemeint sind.
Sie grummelt etwas vor sich hin.
Dabei stehen Sylv fast alle Türen der besten Colleges offen. Mit großer Sicherheit hat sie an jeder ihrer Wunsch-Unis Aussicht auf einen Platz. Ich sollte mich für sie freuen. Ich freue mich für sie.
Für mich jedoch ist das College der einzige Weg aus diesem Elend heraus, und Dad wird garantiert nicht dafür bezahlen, nicht wenn es ums Tanzen geht. »Sieh dir doch mal an, wie es deiner Mutter ergangen ist«, sagt er immer, als würde ich nicht sowieso schon die Tage, Stunden und Minuten seit Moms Unfall zählen. »Das Tanzen hat ihr alles weggenommen. Meine Tochter wird nicht dasselbe Metier wählen. Nicht, solange ich es verhindern kann.«
Das versucht er mir Tag für Tag zu beweisen. Und jetzt, wo Mom nicht mehr da ist, gibt es niemanden, der ihn davon abhalten könnte. Nicht vom Trinken und nicht davon, mich zu verprügeln. Es gibt niemanden mehr, der unsere Familie zusammenhalten könnte.
Ich nehme meinen zerknitterten Kaffeepappbecher und ziehe die löchrige Jeanstasche unterm Sitz hervor, verbanne Tys Stimme aus meinem Hinterkopf. Mein Bruder würde mir sagen, dass Mrs Trentons Ansprache mehr Wahrheit enthält, als ich mir vorstellen kann. Dass die Welt mir zu Füßen läge und es an mir wäre, das Beste aus meiner Zukunft zu machen.
Das habe ich mehrfach versucht und bin immer wieder gescheitert. Inzwischen steht mir der Sinn eher nach Flucht.
Ich sinke tief in meinen Sitz zurück und schiele auf den freien Platz neben Autumn. Er kommt also doch nicht mehr, sonst wäre er schon hier. Er wird nicht mehr kommen. Ich bin in Sicherheit.
Er wird nicht kommen.
Der Knoten in meinem Magen löst sich, um sich mit jeder Drehung und Wendung meiner Gedanken wieder neu zusammenzuziehen. Ich könnte Autumn nach Tyler fragen, aber sie hängt ihren eigenen Erinnerungen nach. Heute sind genau zwei Jahre seit dem Unfall vergangen. Sie weigert sich, ihre Trauer mit mir oder sonst wem zu teilen. Selbst wenn sie lächelt, ist sie nicht mehr dieselbe.
Und ich vermisse sie.
Manchmal, wenn sie glaubt, dass niemand sie sieht, bewegt sie sich, als würde sie fliegen. La Golondrina hat Mamá sie genannt. Die Schwalbe. Voller Anmut und Schönheit. Wenn Autumn tanzt, vergisst sie ihren Kummer und leuchtet.
Ich wünschte, sie würde immerzu tanzen.
Madre de Dios, wie sehr ich wünschte, ich könnte ihr ewig beim Tanzen zusehen.
Stattdessen ist es wieder Montag, und das Leben geht weiter. Die Versammlung ist zu Ende. Autumn hält sich so gerade wie ein Stock. Ich bin die Einzige, die weiß, dass sie, sobald sie kann, aus diesem Käfig fliehen und uns alle hinter sich lassen wird.
In der nächsten Stunde ist die letzte Gelegenheit zur Besprechung der Zwischenprüfung in Politik und Geschichte, und ich habe die Bücher noch nicht mal angefasst.
Mamá ging es wieder schlecht in den Ferien. Wir hatten vor, letzten Samstag zusammen in die Stadt zu fahren, aber als Abuelo mit dem Auto ankam, hat sie ihn kaum erkannt. Sie wollte das Haus nicht verlassen. Sie hat nicht verstanden, wo wir mit ihr hinwollten. Ich habe stundenlang bei ihr gesessen und ihr unsere Familiengeschichten erzählt. Noch tagelang danach war sie völlig orientierungslos, und ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, dass sie mit jedem Tag ein wenig mehr wegtritt, wie die Sterne in der Morgendämmerung.
Wenigstens mag ich Geschichte. Da weiß man immer schon im Voraus, wie es ausgeht.
CJ Johnson @KadettinCJJ
Müüüüde #OHS
10.01
Jay Eyck @Jay Eyck32
@KadettinCJJ #keinTagsoverschnarchtwieeinverschneiterTag
10.01
CJ Johnson @KadettinCJJ
@Jay Eyck32 Schwänzt du etwa die Schulversammlung, um zu schlafen?
#mehrumdenKaterauszukurieren
10.01
CJ Johnson @KadettinCJJ
@Claire_Morgan Kann ich einen der Neuntklässler zum Kaffeeholen schicken?
10.02
Ich greife in die Schale auf dem Schreibtisch und werfe ein paar Pfefferminzbonbons ein. Fareed schielt um die Ecke zur Tür der Direktorin herein. Als er mir das O.k.-Zeichen gibt, mache ich mich wieder an den Aktenschrank. Ich muss mich ranhalten, wir haben nicht mehr viel Zeit.
Direktorin Trenton lebt vielleicht noch im prädigitalen Zeitalter, aber sie funktioniert wie ein Roboter. Ihre Ansprache geht immer bis exakt zehn Uhr. Danach bleiben noch fünf Minuten für Ankündigungen, bevor die Schulglocke läutet. Am Ende der Versammlung müssen alle in ihre Klassenzimmer rennen, um es rechtzeitig zur dritten Stunde zu schaffen. Zumindest theoretisch. Die Lehrer und die Verwaltungsangestellten sind ebenfalls in der Aula, und die beeilen sich nicht.
Deshalb drängeln zuerst alle nach draußen und fallen dann ins Schlendern, verweilen, schleichen sich raus zum Rauchen und um frische Luft zu schnappen (nein, das schließt sich nicht gegenseitig aus, danke für den Hinweis). Nikotin und Teer riechen immerhin noch besser als das, was meine Schwester einmal als unseren Duft Marke AULA bezeichnet hat, eine einzigartige Mischung aus Testosteron, Schweiß und angebranntem Kaffee.
Aber wir sind ganz schön unter Zeitdruck. »Ich hasse diesen Papierkram.«
»Dann solltest du vielleicht besser auf der Farm bleiben«, sagt Fareed übertrieben betont. »Für ehrliche Arbeit und hartes Schuften braucht es keinen Grips.«
»Sehr witzig.« Meine Finger gleiten über seine Akte, und ich ziehe sie heraus. »Willst du das Empfehlungsschreiben von Mr Brian für deine College-Bewerbung sehen?«
Er streckt die Hand danach aus, und ich werfe ihm den Ordner zu, wobei ein paar Blätter herausfallen, noch bevor er ihn auffangen kann.
»Du Idiot.«
Ich schnaube verächtlich. »Tut mir ja so leid.«
»Auf dem Foto sehe ich noch so jung und unschuldig aus«, sinniert Fareed, während er das Deckblatt betrachtet. Die Fotos der meisten aus unserer Klasse sind vor drei Jahren aufgenommen worden, als wir als Freshmen in die Neunte eingeschult worden sind. In diesem Fall allerdings –
»Das ist vom letzten Jahr!«
»Da siehst du mal, wie du mich verdorben hast. Ohne deine Superideen wäre ich jetzt ein 1A-Streber, hätte keinen Ärger, und die Mädchen würden mir in Scharen hinterherlaufen.«
»Klar doch.« Ich ziehe einen Ordner aus der Schublade. »Red dir das ruhig weiter ein.«
Fareed antwortet noch etwas, aber ich höre nicht mehr zu. Vom Deckblatt schaut mich ein bekanntes Gesicht an.
Bingo.
Browne, Tyler. Gegeltes blondes Haar, blasse Augen und dieser vertraute herablassende Gesichtsausdruck. Ein einziges Mal war sein Blick nicht voller Verachtung, und zwar als ich seinen Kopf gegen den Spind gerammt habe. Es juckt mir in den Fingern, es gleich noch einmal zu tun. Vermerkt die Verwaltung Vorstrafen in den Schulunterlagen? Wahrscheinlich eher nicht, wenn die Akte so leicht zugänglich ist. Bestimmt nicht, wenn der Schüler vorm Ende des vergangenen Schuljahres abgegangen ist. Außerdem weiß ich noch nicht mal, ob er überhaupt vorbestraft ist. Den Noten nach zu urteilen, war er ein völlig unauffälliger Schüler, der drei Jahre lang reibungslos alle Klassen durchlaufen hat.
Das Einzige, in dem er mit Pauken und Trompeten durchgerasselt ist, ist das Einmaleins der Mitmenschlichkeit.
Der letzte Eintrag in seiner Akte spricht jedoch Bände: Wiedereinstieg, ab sofort.
Sylvia hat es mir am Wochenende erzählt. Es war das erste Mal seit Monaten, dass sie mir etwas Persönliches anvertraut hat. Und sie sah dabei aus, als müsse sie sich vor lauter Angst übergeben. Doch sie hat sich geweigert, mir zu sagen, weshalb. Darum bin ich jetzt hier im Sekretariat und spioniere in den Schulunterlagen, um mich davon zu überzeugen, dass sie sicher ist. Es gilt das Vorrecht des Zwillingsbruders zu wahren.
Nicht dass ich es jemals öffentlich zugeben oder auch nur andeutungsweise zeigen würde, dass ich mich sorge. Es gilt eben außerdem das Ansehen des Zwillingsbruders zu wahren.
Ich lehne am Tisch der Direktorin und studiere die Akte. Geburtsdatum, Geburtsort – langweilig. Notfallinfo für den Vater, Mutter verstorben. Vorhergehende Schule, Aufnahmedatum – nichts, was ich nicht schon wüsste. Aktuelle Klasse: keine Angabe. Momentan noch nicht.
Einstufungstestergebnis: 2140 Punkte.
Oha. Ein verkanntes Genie.
Vielleicht erklärt das, warum Tyler, trotz seines großspurigen Gehabes, seine Drohungen nie umgesetzt hat. Er ist vielleicht ein Wurm, aber einer von der schlauen Sorte: ein harmloser.
Mein Rücken tut weh. Ich kreise mit den Schultern, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Sylv verharrt noch eine Weile, anstatt gleich die anderen aus ihrer Klasse zu treffen. Sie knackt laut mit ihren Fingerknöcheln. »Alles in Ordnung?«
»Ich …« Ich zögere.
Ich bin heute Nacht schweißgebadet aufgewacht in der Erwartung, wie vor zwei Jahren, ein Klopfen an der Tür zu hören. Aber das Frühstück heute Morgen war wie immer. Ty war nirgendwo zu sehen, und nach diesem Wochenende war mir das völlig gleich. Wie zu erwarten, war Dad noch nicht aufgestanden. Er hatte gestern Abend angefangen zu trinken und seitdem nicht mehr damit aufgehört. Inzwischen versucht er schon gar nicht mehr, es geheim zu halten. Als Mom noch lebte, hat er nur getrunken, wenn sie nicht da war, und nur in seinen schlimmsten Phasen. Damals konnte er noch fröhlich sein und brachte Ty und auch mich zum Lachen.
Jetzt ist er der ganzen Welt böse, wegen allem, was ihn im Entferntesten an Mom erinnert.
Mir ganz besonders.
Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll. Nichts ist in Ordnung. Es geht mir schon lange nicht mehr gut. Es ist nicht nur der Tod von Mom. Dad – manchmal macht er mir Angst.
Und Ty. Ich mache mir Sorgen, Ty auch noch zu verlieren.
Aber Sylv und Ty hassen sich sowieso. Wie soll ich ihr dann verständlich machen, was in mir vorgeht?
Sie legt mir die Hand auf den Arm, bis ihr wieder einfällt, wo wir sind, und sie sich schnell nervös eine lange schwarze Locke hinters Ohr schiebt. Ihr Eyeliner passt zu ihrem hellblauen Top und lässt ihre Augen strahlen. An der Opportunity, wo viele von uns es vorziehen, unsichtbar zu bleiben, gleicht sie dem hellsten Schein auf der dunkelsten Bühne. Sie sieht mich erwartungsvoll an. »Es ist doch verständlich. Jahrestage sind oft nicht einfach. Du darfst ruhig traurig sein. Niemand würde dich dafür verurteilen, ich am allerwenigsten.«
Ich nicke, kann aber immer noch nichts sagen. Das Stimmengewirr um uns herum ebbt ab und verflüchtigt sich, während die Schüler die leergefegten Gänge zwischen den vier Sitzblöcken hinaufsteigen. Sylvs Blick schweift zum oberen Ende der Aula, wo ein paar der Footballspieler laut werden.
Ich zucke die Schultern. »Alles in Ordnung. Es geht mir gut.«
Sie würde es nicht verstehen. Niemand kann das.
Ich zähle die Minuten bis zur siebten Stunde, wenn der Musikraum hinter der Bühne dunkel und verlassen ist. Im Dunkeln bin ich allein.
Da bin ich in Sicherheit.
Sylv will gerade etwas sagen, aber da kommt ein Mädchen aus ihrer Klasse und stellt sich neben sie. Asha heißt sie, glaube ich. Sie hat sich öfter mal mit meinem Bruder gestritten, bevor er abgegangen ist. Ich kann und will mich nicht an sie erinnern.
Asha hält ihr Geschichtsbuch fest. Unter den Haarsträhnen in Regenbogenfarben wird ein schiefes Grinsen sichtbar. Sie flüstert Sylv etwas zu. Einen Augenblick lang erstarrt Sylv, bevor sie in Lachen ausbricht und laut entgegnet: »Ganz im Gegensatz zu dem, was ihr alle vermutet, freu ich mich nicht auf die Zwischenprüfung.«
Asha verdreht die Augen. »Du musst dir keine Sorgen machen.«
Sylv wird rot vor Verlegenheit, aber Asha hat recht. Sylv hat nur Einsen. Die Lehrer lieben sie. Selbst wenn sie wollte, könnte sie keine Prüfung verhauen.
Asha wendet sich fragend mir zu und liefert mir das Stichwort. Ich setze ein gespieltes Lächeln auf. »Die Zwischenprüfung ist erst nächste Woche, und ich hatte in den Ferien was Besseres vor, als zu lernen.«
»Banausin«, seufzt Sylv. »Wieso halte ich es bloß mit dir aus?«
Weil ich dir gehöre.
Die Knöpfe von Ashas Tasche klickern aneinander. Eine lila Strähne hängt ihr ins Gesicht, und sie wirft sie nach hinten. »Kein Stress? Du Glückliche.«
Ich Glückliche. Sylv schaltet sich ein, noch bevor ich etwas dazu sagen kann.
»Und was hast du wirklich gemacht?«
»Nichts.«
Um uns herum wird das Gedröhne lauter, aufgeregter. Direkt nach Mrs Trentons Ansprache herrscht immer erst einmal Chaos, jeder drängelt und schubst, um möglichst schnell herauszukommen, aber diesmal klingt es noch viel unbeherrschter.
Ein Lehrer bahnt sich einen Weg nach vorn, vermutlich um nachzusehen, warum es nicht vorwärtsgeht.
Asha grinst. »Die ganzen Ferien über? Rein gar nichts? Komm schon, erzähl.«
Sylvs Blick ist sanft und neugierig. Ich nage an meiner Lippe, will sie nicht enttäuschen. »Ich habe am Wochenende auf dem Speicher einen alten Videomitschnitt von meiner Mutter gefunden, bei dem sie Schwanensee tanzt. Es war ihre Probedarbietung für das Royal Ballet. Da war sie nicht viel älter als ich.«
Es sind nicht gerade geile, spannende Neuigkeiten, und ich rechne damit, dass Asha enttäuscht sein wird, aber stattdessen rückt sie näher heran. »War sie gut?«
Vor Überraschung muss ich lächeln.
Opportunity High ist eine Schule auf dem Land, und die meisten von uns kommen aus kleinen Orten in der Umgebung. Asha zählt nicht dazu. Sie kommt nicht aus Opportunity, wo jeder über mich und Mom Bescheid weiß. Sie gehört nicht zu unserem Revier aus bekannten Straßennamen, Kirchengemeinden und gemeinsamen Geheimnissen.
In Opportunity weiß jeder, dass Mom in allen großen Kompanien rund um die Welt getanzt hat: London, Moskau, New York. Sie hat mehr Länder besucht als wir alle zusammen. Mit ihren Reiseberichten hat sie mich rastlos und unzufrieden gemacht. Ganz gleich, wie sehr die Erinnerung an sie schmerzt, sie tanzen zu sehen ist etwas anderes. »Sie war phantastisch.«
Sylvs Schulter berührt meine. Ihr warmes Lächeln verleiht mir Stabilität. Es ist, als würde ganz Opportunity sich einfach auflösen. Wir befinden uns in der Phase zwischen einem neuen Zuhause und der Flucht aus dem alten. Es wird nicht mehr lange dauern, da werden wir an unseren Geheimnissen ersticken. Dann wird ihr bewusst werden, dass ich sie gar nicht verdient habe, und sie wird mich ebenfalls verlassen.
Nach einer weiteren Runde wirkt die kalte, klare Luft erfrischend, auch wenn ich das Coach Lindt bestimmt nicht erzählen werde. Der Winter sollte sich an den Dezember halten, an Weihnachten, und uns danach in Ruhe lassen. Wenn wir unsere Siegesserie fortsetzen wollen, brauchen wir so viele Stunden wie nur möglich, um uns auf den nächsten Wettkampf vorbereiten zu können.
Mein Übungsteam beim Kadettenkorps wird auch bald wieder mit dem Training loslegen. Für die jüngsten Kadetten ist es erst ihr zweites Trainingsjahr, und sie fangen gerade an, Fortschritte zu machen. Auch ohne den Frost geht mir genug durch den Kopf.
Ich schiele zur Seite und sehe, wie Chris grinst. »Was?«
»Du brütest vor dich hin.«
»Stimmt gar nicht.«
Er schnaubt bloß.
»Wie waren deine Ferien?« Wir fragen wie aus einem Mund dasselbe zur selben Zeit.
»Es war merkwürdig, dass Tracy an Matts Geburtstag nicht da war, auch wenn er jetzt: Zitat, ›auf die Highschool geht und schon erwachsen ist‹, soll heißen: Warum machen wir uns denn alle immer solche Sorgen um ihn?« Mein kleiner Bruder versucht sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Kälte in den Gelenken schmerzt oder wie sehr er unsere Schwester vermisst, die weit weg in einer fremden Einöde ist. Wir drei sind nicht mehr ständig in Verbindung.
»Wie geht’s ihr bei ihrem Einsatz?«
Vorsichtig antworte ich: »Ihre Wachen sind ohne größere Vorkommnisse. Genauso, wie es sein sollte.«
Chris nickt. Sein Vater, Lieutenant Colonel West, bereitet sich gerade auf seine siebte Tour vor. Wir wissen beide, wie es ist, mit einem Teil des Kopfes auf der anderen Seite der Erde zu sein und sich ständig fragen zu müssen, was da im Sand und der unnachgiebigen Hitze gerade passiert. Wir dienen aus Stolz – und um den Erwartungen unserer Eltern zu genügen.
Selbst ich. Und ich würde es tun, wenn ich nur wie Tracy sein könnte, die alles verkörpert, was ich gerne wäre – sein sollte: mutig, unerschütterlich, selbstsicher. Alles, was ich nicht bin.
»Wenigstens hat Matt keine Fieberschübe mehr gehabt«, sage ich nach einer halben Runde. Seit Matt auf der Opportunity ist, geht es ihm besser. Der Lupus wirkt sich dennoch auf seine Gelenke aus, und an den meisten Tagen kann er nicht ohne Krücken gehen. Aber er hat sie als Lichtschwerter getarnt und behauptet, sie seien für das Duell: Jedi gegen Kadettenkorps. »Es gefällt ihm, dass seine Freunde auch hier sind. Dadurch war der Start ins neue Schuljahr nicht ganz so schwer.« Im Stillen füge ich hinzu, was wir alle denken. Es ist gut zu wissen, dass Matt nicht allein ist.
»Wirst du ihn fragen, ob er nächstes Jahr bei den Kadetten mitmacht?«, will Chris wissen. »Um die Tradition zu wahren?«
»Selbstverständlich.« Auch diese Unterhaltung haben wir schon öfter geführt, und ich gebe mich dem Vertrauten hin.
»Gut. Er hat immer noch drei Jahre vor sich. Opportunity wäre nicht dasselbe ohne einen aus eurer Familie beim Kadettenkorps.«
Ich ringe mir ein Lächeln ab, das bestimmt wie eine Grimasse wirkt. Nächstes Jahr, wenn ich nicht mehr hier sein werde, Chris weit weg und alles anders sein wird, völlig unabhängig davon, ob es im Kadettenkorps von Opportunity einen Morgan gibt oder nicht.
»Freust du dich auf West Point?«, frage ich ihn, als wir uns der Längsseite der Bahn zuwenden.
Chris zuckt die Schultern. Für ihn war die Militärakademie immer eine klare Sache gewesen. Als er die Zusage erhalten hat, haben wir zusammen gefeiert. Das war schon immer sein großer Traum gewesen.
Aber heute scheint auch er ein wenig abwesend. An diesem ersten Tag unseres letzten Schulhalbjahres, zählt der gesamte zwölfte Jahrgang die Tage bis zum Abschluss. Noch einmal Ferien, noch einen Sommer bis zum Erwachsenwerden. Bevor wir uns getrennt haben, hat mir Tyler erzählt, dass das Beste an der Highschool wäre, so schnell wie möglich rauszukommen. Aber ich wünschte mir, es würde nicht so bald zu Ende gehen. Es wird schwer werden, sich von den anderen in unserem Laufteam, unseren Kadetten sowie allen anderen zu verabschieden. Das Leben wird farbloser sein ohne Chris, ohne ihn täglich zu sehen.
Also laufen wir. Nicht nur in Runden um die Aschebahn. Wir rennen auf alles, was uns noch erwartet, zu. Wir laufen nebeneinander her, solange es noch geht.
Autumn bleibt unentschlossen zurück. Ihre graublauen Augen spiegeln den Konflikt wider, doch diese seltenen Momente, wenn sie über ihre Mutter spricht, sind wie die Morgendämmerung, und wenn sie sich öffnet, ist sie die Sonne. Ich sehe sie nicht gern so verletzlich, aber es ist immer noch besser, als sie dabei zu beobachten, wie sie Mauern um sich herum hochzieht.
Meine Hand zuckt an meiner Seite, und es juckt mich, Autums Hand zu nehmen. Aber ich rühre mich nicht, um sie nicht zu erschrecken.
»Sie hat den sterbenden Schwan vorgetanzt, was im Nachhinein eine gewisse Ironie hat. Sie war jung und unbekümmert und … zerbrechlich. Ich kann mich gar nicht so an sie erinnern. Sie kam mir immer so stark vor.«
Nur ein paar Jahre nach diesem Vortanzen wurde Joni Browne Primaballerina am Royal Ballet. Sie war unbezwingbar, genauso wie Autumn, wenn sie mit ihrer Mutter zusammen war.
Um uns herum summen die anderen geschäftig und fragen, was uns so lange aufhält, doch ich möchte gern noch etwas länger in diesem Augenblick verweilen, bevor der Unterricht anfängt.
»Weißt du schon, was du vortanzen wirst?«, ermuntere ich sie.
Asha spitzt die Ohren. »Oh, du bist auch Tänzerin. Bewirbst du dich schon?«
Autumn wirft mir einen strafenden Blick zu. Sie spricht nur noch selten übers Tanzen.
Mach dir keine Gedanken, mime ich wortlos. Asha wird es verstehen. Sie ist in Ordnung.
Autumn trainiert seit Monaten im Musikzimmer – und ich schicke die Bewerbungen für sie ab. Kann sein, dass ihr Vater sie dafür hasst, aber ich wäre eine miese Freundin, wenn ich nicht erkennen würde, wie viel es ihr bedeutet. Es ist ihre große Chance, hier wegzukommen, und sie hat ein wenig Glück verdient. Obwohl sie auch an Schulen, die näher liegen, vortanzen könnte oder warten, bis sie im letzten Schuljahr ist, doch sie hat sich New York in den Kopf gesetzt.
Das war einmal unser beider Ziel gewesen.
Ich stecke die Hände in die Hosentasche und taste nach der Zusage, die ich seit fast zwei Wochen mit mir herumtrage.
»Ich werde in Juilliard vortanzen«, sagt Autumn leise. »Aber ich habe mich noch für kein Solo entschieden.«
»Mein Klavierlehrer sagt immer, es gibt keine wahrere Musik als Gefühle«, vertraut uns Asha an.
Sie hat mir gesagt, dass sie durch die Welt reisen möchte, bevor sie ihr Musikstudium aufnimmt. Sie und Autumn könnten gute Freundinnen sein, wenn sie sich ein bisschen besser kennenlernten. Wenn Autumn eine Menge Leute besser kennenlernen würde, wäre sie vielleicht nicht immer so allein.
»Er sagt, dass Musik voller großem Leid und Glück zugleich sein sollte, voller Gewitterwolken und Sterne, Hauptsache voller Gefühl. Ich vermute, das trifft auch aufs Tanzen zu.«
Autumn kommt ein bisschen aus ihrer Reserve heraus und lächelt zaghaft. »Ich habe mir überlegt, eine eigene Komposition zu tanzen anstatt etwas, das für andere choreographiert wurde. Früher, als ich noch Unterricht hatte, haben Mom und ich öfter darüber gesprochen.«
Davon hat sie mir noch nie etwas erzählt. Es ist, als wären die beiden ganz in ihrem Element, bei dem alles um sie herum vor schöpferischen Möglichkeiten nur so sprüht. Dagegen bleibt mir nur das öde Opportunity und weiter nichts.
Ich bewege mich auf den Gang zu. »Zeig ihnen, wer du bist, dann können sie dich gar nicht ablehnen.«
Autumn dreht sich grinsend zu mir um. Schmetterlinge flattern in meiner Brust. »Nur Geplänkel.« Sie wird wieder ernst. »Hast du schon was vom Brown-College gehört?«
Ein Neuntklässler rempelt an meinen Ellbogen, und ich lasse den Brief in meiner Tasche los. »Nein, noch nichts.«
Was soll ich ihr denn sonst sagen? Dass ich das Ticket in der Tasche habe, nach dem sie sich so sehr sehnt? Dass ich noch nicht mal weiß, was ich damit anfangen soll? Bevor Mamá krank wurde, wäre ich vor Freude an die Decke gesprungen über diese Chance. Aber wie soll ich jetzt von hier weggehen können?
Autumn würde das nie verstehen.
Sie verzieht mitfühlend das Gesicht. Asha schneidet ebenfalls eine Grimasse.
In der Reihe vor uns kichert eine Gruppe von Neuntklässlerinnen. Neben ihnen blättert ein Junge verzweifelt in seinem Schulbuch, während sein Freund die Augen verdreht. Um uns herum quasseln alle über die Ferien, den Unterricht und die Prüfungen.
Wenn jemand ernsthaft wissen wollte, wie es auf der Opportunity Highschool zugeht, wäre der Moment zwischen der Ansprache von Direktorin Trenton und der ersten Unterrichtsstunde der geeignetste Zeitpunkt. Die Woche hat begonnen, und es gibt kein Entrinnen mehr, doch wir starten gemeinsam in sie hinein.
Und gleich werden wir hoffentlich auch frische Luft abbekommen.
Nur dass zwar alle vorwärts drängen, aber niemand den Raum verlässt.
An: Schwester
Ich weiß, dass du beim Training bist, aber mach dir nicht so viele Sorgen um mich, okay? ☺ Ich geh gern zur Schule. Und ich bin viel zäher, als ich aussehe.
An: Schwester
(PS: Die Rede war genau, wie du gesagt hast. Ebenso gut hättest du sie halten können, und es wäre niemandem aufgefallen.)
Was Asha sagte, ging mir unter die Haut. Sylv kann nicht verstehen, dass tanzen mehr als ein Traum, mehr als ein Beruf ist – mein Herzblut hängt daran. Asha versteht das.
Ich wünschte mir, ich wüsste mehr von ihr, von ihrer Musik. Aber noch bevor ich sie danach fragen kann, sind wir bereits auf dem Gang. Das Gedränge um mich herum wird mit jedem Schritt dichter. Rucksäcke rempeln in mich hinein, Schultern treffen aufeinander. Ich habe keine Ahnung, warum niemand rausgeht. Es ist viel zu voll hier.
Meine Finger schließen sich um die Glücksbringer an meinem Armband: ein Ballettschuh aus Silber und die handgefertigte Maske, die Mom mir einmal aus Venedig mitgebracht hat. Die grüne Farbe ist abgeblättert, die Ecken abgeschliffen, aber die vertraute Form hat eine beruhigende Wirkung auf mich und hilft mir, im Gleichgewicht zu bleiben.
Wenn auch nur kurz.
Asha zuckt lächelnd mit den Schultern. »Viel Glück beim Vortanzen«, ruft sie mir noch zu, bevor sie sich durch die Menge weiterzwängt.
Wie alle früher oder später. Ich gehe einen Schritt zurück und warte, bis das Geschiebe aufhört.
Außer Sylv habe ich hier keine Freunde, keine Familie, bis auf einen Bruder, der immer wieder verschwindet, und einen Vater, der mich verachtet. Nur das Tanzen hält mich am Leben. Es wird mich befreien, und ich darf nichts dazwischenkommen lassen.
Die Bahn liegt offen vor uns. Nach einer weiteren Runde hellt sich Chris’ Laune sichtlich auf. Das konnte er schon immer, er wirft seine Sorgen ab wie einen Wintermantel. »Zeit, loszulaufen und Spaß zu haben, Sarge.«
Ich grinse. »Jawohl, Commander.«
Er zwinkert mir zu, und als wäre er nicht gerade eine Meile gelaufen, zieht er lässig an mir vorüber, so dass ich ihn nur noch von hinten sehe. Na klar, er ist ein Langstreckenläufer und hat noch nicht mal die Hälfte seines Trainings hinter sich. Aber es hebt nur noch stärker hervor, wie lächerlich langsam ich heute bin.
Das ändert sich allerdings gerade.
Als ich das nächste Mal an Coach Lindt vorbeikomme, nicke ich ihm kurz zu, woraufhin er den Knopf an der Stoppuhr drückt. Ich lege noch einen Zahn zu.
In der letzten Saison haben wir mit dieser Strategie begonnen, mein Training darauf ausgerichtet, dass ich die meiste Zeit des Rennens ein gutes Tempo halten kann und am Ende noch genug Energie übrig habe, um über die halbe Bahnlänge einen Sprint hinzulegen.
Alles um mich herum löst sich auf, alle Gedanken an Matt und Tracy. Das Brennen in meinen Waden. Die bohrenden Sorgen darüber, das Drill- und Kadettenkorps-Training hinzukriegen. Meine drei Teamkollegen, von denen jeder gerade auf seinem Teil der Strecke läuft und versucht, seinen eigenen Rekord zu verbessern.
Alles um mich herum verschwindet, bis auf den Rhythmus meiner Schritte und die kalte Luft auf meinen Wangen.
Wenn ich laufe, kann ich endlich frei atmen.
Ich sprinte über die Ziellinie und sehe mich nach Coach Lindt um. Er grinst. Die Tribüne bei der Bahn löst sich in dem weißen Nebel auf. Jemand hat WIR SCHREIBEN GESCHICHTE in die Holztreppe bei der Zielgeraden geritzt.
Ein Lächeln zuckt um meinen Mund. Diese drei Worte sind Coach Lindts Variante unseres Schulmottos, sein Anfeuerungsruf. Er funktioniert tatsächlich, weil wir Geschichte geschrieben haben, und ich habe keinen Zweifel daran, dass wir auch dieses Jahr wieder an der Bundesstaatsmeisterschaft teilnehmen werden, zum siebten Mal in Folge.
Dies ist mein Team. Hier gehöre ich hin.
Hier und jetzt stehen wir für alle zusammen ein.