Nur in der Dunkelheit leuchten die Sterne - Marieke Nijkamp - E-Book

Nur in der Dunkelheit leuchten die Sterne E-Book

Marieke Nijkamp

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Beschreibung

Corey und Kyra waren beste Freundinnen, unzertrennlich in ihrer schneebedeckten Heimatstadt Lost Creek. Als Corey wegzieht, nimmt sie Kyra das Versprechen ab, stark zu bleiben während des langen, dunklen Winters und auf ihren Besuch in den Weihnachtsferien zu warten. Kurz bevor Corey nach Hause kommen soll, erhält sie die Nachricht, dass Kyra tot ist. Corey ist am Boden zerstört – und verwirrt. Alle in der Stadt sprechen nur im Flüsterton über die verlorene Tochter, sagen, dass ihr Tod vorherbestimmt gewesen sei. Und sie behandeln Corey wie eine Fremde. Corey weiß, dass etwas nicht stimmt. Mit jeder Stunde wächst ihr Verdacht. Lost hat Geheimnisse – aber die Wahrheit darüber herauszufinden, was mit ihrer besten Freundin passiert ist, könnte sich als ebenso schwierig erweisen, wie den Himmel in einem Alaska-Winter zu erhellen.

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Seitenzahl: 300

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Marieke Nijkamp

Nur in der Dunkelheit leuchten die Sterne

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Mo Zuber

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]PrologDer erste TagNachtflugAnruf von MomBrief von Kyra an CoreyLand des Goldes und der EinsamkeitGeschichten und SterneUnberechenbarVerräter, Fremde und GespensterKurze Nachricht von Kyra an CoreyEingerahmte MomenteVerlustSauerteig und HeiligeSchwellenDer einsame SeeErinnerungen an die EndlosigkeitAusschnitt eines Briefs von Kyra an CoreyUnter AnderenTelefonat – EileenVorhergesehen und vorausgesagtNächtliches FlüsternDer zweite TagAstronomische DämmerungWir können Helden seinUnterhaltungenDie Entscheidungen, die wir treffenDas neue Lost CreekHin und wieder GlücklichPostkarte von Kyra an CoreyEin Hoch auf DichDie Saat ausbringenFür diejenigen, die wir geliebt und verloren habenVor eineinhalb JahrenTelefonat – LukeÜbergängeLass alle Hoffnung fahrenGeschenkeDer dritte TagHeisse Quellen und heilsames DaseinVögel mit gebrochenen FlügelnEin Schrein aus BlütenWächter des SpaMenetekelAlbträumeWie die Welt sich verändertVerstehst Du jetzt?Telefonat – EileenNimm dich in Acht vor ihrVon den Toten redet man nicht schlechtKein Grund, sich zu verabschiedenVerachtung und JubelGedenkfeier abgebrochenDie Dunkelheit bricht hereinEin Rucksack voll ZuhauseDer Geruch von RauchDer Geschmack von AscheDer vierte TagUnd jetzt, wohin?Mitteilung von Kyra an CoreyPolare DämmerungNächtliches BadZeugenaussageEin Heilmittel für alle LeidenDie Angst geht umLeere Räume, entgangene WorteLiebes TagebuchBrief von Kyra an CoreyBrief von Kyra an CoreyBrief von Kyra an CoreyGeschichteVerbündeteBrief von Kyra an CoreyUnverhoffte FreundschaftPolarlichterVor einem JahrDer fünfte TagDer Geruch der sich ändernden WitterungDen Beginn verstehenDas Beste am MorgenDie Kunst zu lebenEinschleichenDie Kunst zu sterbenBrief von Kyra an CoreyDer Nebel, der Wald, die DunkelheitKyra gegen den Rest der WeltBrief von Kyra an CoreyZugehörigkeitPinselstricheLass mich Dir eine Geschichte erzählenGestohlene ZeitWie die Welt endetEndlose NachtEndloser TagNehmen deine Seele in BeschlagRettet die WeltDer sechste TagHeldentageHeimwärtsAll die Leben die wir teiltenDank

Für all diejenigen, die wir unterwegs verloren haben …

Der Legende nach ist der Ort Lost Creek nicht nach dem gleichnamigen Fluss benannt. Er hat seinen Namen vielmehr von den ersten Siedlern der Kolonien, einer Handvoll Abenteurer, für die es in der Welt keinen anderen Platz mehr gab. Verlorene Menschen, die nirgendwo hingehörten. Sie schlugen Wurzeln auf einem Land, das nicht ihres war, und schufen sich zwischen den Bergen und Minen, den Heißen Quellen, dem Fluss und dem See ein Zuhause, an diesen langen Sommertagen, wo alles möglich schien.

Erst als die Kälte einbrach, wurde den Siedlern bewusst, dass sie ihr Zuhause mitten im Herzen des Winters errichtet hatten. Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten waren sie hierhergekommen, aber stattdessen fanden sie heraus, dass man den Winter nicht bezwingen kann und der Frost sich hier ebenfalls niedergelassen hat. Und ganz gleich, wie sehr sie sich auch mühten, sie konnten dem Verlorensein nicht entrinnen.

Der erste Tag

Nachtflug

Die Triebwerke des Flugzeugs rumoren. Die Jalousien sind heruntergezogen, und das Bordlicht leuchtet gedämpft. Die wenigen Passagiere um mich herum hören Musik oder versuchen zu schlafen, während wir auf einen strengeren Winter zusteuern.

Ich kann nicht schlafen. Habe seit dem Anruf kein Auge mehr zugetan. Blind starre ich auf den Sitz vor mir, aber ich sehe nur sie. Dunkle Locken. Grünbraune Augen. Großes Herz. Ein Mädchen, das lächelte, auch wenn die Sonne am Morgen nicht aufging, das im Angesicht der Dunkelheit lachte, das die Nächte umarmte und die Tage willkommen hieß.

Sie eroberte mein Herz und hielt es fest. Sie versprach mir, auf mich zu warten, in Worten, die nun in meiner Erinnerung widerhallen, und mit sanften Berührungen, die ich noch immer auf meiner Haut spüre.

Sie.

Kyra.

Meine.

Lasst mich euch eine Geschichte erzählen.

Sie war meine beste Freundin. Sie bedeutete mir alles. Und ich habe sie verloren.

Anruf von Mom

»Corey?«

»Mom? Ich komme gerade vom Training mit Noa, und Eileen hat mir ausgerichtet, dass du angerufen hast. Was ist los? Geht’s dir gut? Ist was mit Luke? Was ist passiert?«

»Luke geht’s gut, Schätzchen. Aber ich hab heute Morgen einen Anruf gekriegt. Ich w-wollte, dass du es von mir erfährst …«

»Einen Anruf?«

»Von Lynda – Mrs Henderson. In Lost Creek ist etwas passiert.«

»Kyra? Hatte Kyra wieder einen Anfall? Ist sie wieder mal weggelaufen?«

»Nein, nichts in der Art. Es … Sie …«

»Mom, erzähl’s mir, sag schon, bitte.«

»Corey, es tut mir so leid.«

»Mom, weinst du?«

»Keiner weiß genau, was passiert ist, aber sie vermuten, dass sie über den See gelaufen und eingebrochen ist. Sie haben sie unter dem Eis entdeckt.«

»Warte – was sagst du?«

»Sie ist ertrunken. Kyra ist t…«

»Nein.«

»Corey …«

»Nein. Nein.«

»Corey, Süße, hör mir zu.«

»Nein. Ich will es nicht hören. Ich glaube dir kein Wort.«

»Corey, Corey. Tief durchatmen. Hör mir zu. Ich habe mit deiner Direktorin gesprochen. Komm nach Hause.«

»Nein.«

»Dir geht’s nicht gut …«

»Kyra kann nicht tot sein. Sie hat versprochen, auf mich zu warten. Sie weiß, dass ich sie bald besuche. Sie kann nicht tot sein.«

»Lynda meint …«

»Wir haben Januar! Der See muss komplett zugefroren sein! Das ist unmöglich.«

»Sheriff Flynn ermittelt, aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass irgendetwas Verdächtiges vorliegt. Schätzchen, Lynda glaubt, dass Kyra nach einer Schwachstelle im Eis gesucht hat.«

»Nein, nein, nein.«

»Kyra war krank. Sie haben versucht, ihr zu helfen, doch manchmal nützt das alles nichts.«

»Ich hätte sie nicht alleinlassen dürfen. Auf ihre letzten Briefe habe ich noch nicht mal mehr geantwortet.«

»O Corey.«

»Ich muss unbedingt nach Lost Creek, Mom. Ich habe ihr versprochen, dass ich zu ihr zurückkomme. Ich hab’s versprochen.«

»Komm zuerst hierher. Komm nach Hause. Ich weiß, dass ich an den Feiertagen eine Menge Überstunden im Krankenhaus gemacht habe, aber komm nach Hause. Wir schieben deine Reise noch ein wenig hinaus und verbringen ein paar Tage zusammen, nur wir drei.«

»Das würde ich gern machen. Ganz bestimmt, Mom. Aber es geht nicht. Ich muss da erst hin. Meinst du, ich kann wieder bei den Hendersons unterkommen?«

»Ja, aber …«

»Ich muss in die Heimat zurück, Mom. Es tut mir leid.«

»Ich weiß nie so genau, wer von euch beiden eigensinniger war. Lynda hat erzählt, dass sie nächste Woche einen Gedenkgottesdienst in der Schule von Lost Creek abhalten wollen. Und in ihrem Zimmer hat Joe einen Brief in ihrer Handschrift an dich gefunden.

Er dachte, es würde dir helfen, wenn du ihn bekommst. Ich leite dir die E-Mail mit dem Foto davon an dein Benutzerkonto in der Schule weiter.«

»Danke.«

»Liebes, jeder würde verstehen, wenn du deine Reise absagen wolltest.«

»Ich fahre. Ich will hin. Ich muss hin.«

Kyra braucht mich.

Brief von Kyra an Corey

(Nicht abgeschickt)

Auf dem Dorfplatz brennt ein Freudenfeuer, das die längste Nacht kennzeichnet. Erinnerst Du Dich daran, wie wir dachten, dass die Welt bestimmt ein fröhlicherer Ort wäre, wenn nur mehr gefeiert würde? Ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmt. Bin nicht sicher, dass ich jetzt fröhlicher bin.

Heute morgen hat mir jemand einen Zweig blühender Lachsbeeren und Blumen gebracht. Das kommt momentan ziemlich oft vor. Woher die Beeren und Blumen kommen, weiß ich nicht. Bei Jan im Laden gibt es sie auf jeden Fall nicht. Und dennoch sind sie hier.

Wie ist denn das Leben jenseits der Endloszeitgrenzen? Macht Dir der Unterricht in St. James Spaß? Bist Du so glücklich, wie ich es mir vorgestellt habe?

Ich hoffe doch sehr. Ich weiß, dass Du eigentlich nie hier weg wolltest, aber ich bin froh, dass Du es getan hast, kann es kaum erwarten, ebenfalls hier rauszukommen. Ich bemühe mich wirklich sehr, auf Dich zu warten, aber es fällt mir extrem schwer, Cor. Durch Deinen Wegzug ist es in Lost Creek leerer geworden. Und ich bin einsamer. Ohne Dich bin ich weniger, und zugleich will Lost immer mehr von mir. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geschlafen habe, weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal gelächelt habe. Die Nacht ist nicht dunkel genug. Deine geliebten Sterne flüstern immer noch von ihren Geheimnissen, aber manchmal habe ich das Gefühl, schon zu viel zu wissen. Hier suchen alle nach Antworten, ich bin die Einzige mit Fragen.

Du fehlst mir.

Mir fehlen die dunklen Nächte.

Mir fehlt die Morgendämmerung.

Du fehlst mir.

Und es tut mir leid.

Land des Goldes und der Einsamkeit

Im Flughafen ist alles still, fast schon leblos. So früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, sind die paar Leute in der Wartehalle am Dösen und Schlummern, und auch ich bin etwas weggetreten. Ich bin seit dreizehn Stunden unterwegs. Habe dreitausend Meilen zurückgelegt. Ich lasse mich vor den hohen Fenstern auf dem Boden nieder, und während Alaska zu einem neuen Tag mit spärlichem Sonnenlicht erwacht, sehe ich den Flugzeugen beim Starten und Landen zu.

Im Fenster spiegelt sich ein junges Mädchen, das mich anstarrt. Sie befindet sich ein paar Sitze hinter mir, ihr Kleid hebt sich leuchtend gegen die Dunkelheit draußen und das Grau des Flughafengebäudes ab. Obwohl bestimmt nicht älter als acht oder neun Jahre alt, jünger sogar noch als mein Bruder, ist sie anscheinend ohne Begleitung. Der Reisende links von ihr hat den Kopf auf seinen Rucksack gelegt. Er ruckelt hin und her, als würde er nur sehr unruhig schlafen. Ein älteres Paar liest die Zeitung von gestern. Der Blick des Mädchens trifft mich.

Sie hält einen Blumenstrauß vor ihrem grünen Kleid, von dem sie die vertraut violetten Blütenblätter eins nach dem anderen abzupft.

Obwohl Lachsbeeren hier verbreitet sind, wachsen sie bestimmt nicht draußen beim Flughafen am Stadtrand, und auch im Blumenladen wird man sie nicht finden, vor allem aber blühen sie ganz bestimmt nicht im Januar. Das Mädchen hält Blumen in der Hand, die es gar nicht geben dürfte. Aus dieser Entfernung sollte ich auch nicht vernehmen können, was sie sagt, aber ich höre sie so laut, als stünde sie neben mir.

Endloser Tag, endlose Nacht, mit Freude dir das Herz erwacht.

Bei jedem Takt zupft sie ein Blütenblatt ab.

Am Ende ihres Liedes lächelt sie.

Mein Herz setzt aus. Ich rapple mich mühsam auf und drehe mich nach ihr um, damit ich sie genauer sehen kann. Aber der Wartebereich ist so gut wie leer. Ich sehe den Rucksacktouristen. Das Paar. Eine Familie mit Zwillingsjungen. Da ist kein Anzeichen von dem Mädchen, als hätte sie einzig und allein in der Spiegelung im Fenster existiert.

Nur dass da Blütenblätter über den Boden verstreut liegen und ihre Stimme um mich herumweht, das Lied singt, das ich zum ersten Mal von Kyra gehört habe.

Endloser Tag, endlose Nacht, haben dich um deine Seele gebracht.

+ + +

Auf der letzten Etappe werde ich langsam wieder munter. Bei den ersten Anzeichen von Tageslicht halte ich mich mit einer Mischung aus Unruhe und Heimweh an meinem Kaffee fest. Ich steige um in ein kleines Wasserflugzeug, das mich nach Lost Creek bringt, wo ich die nächsten fünf Tage verbringen werde, bis ein anderes Flugzeug mich wieder hierher zurückbringt. Ich nehme hinter dem Piloten Platz, verstaue meinen Rucksack auf dem freien Sitz neben mir und schnalle mich an. Ich nicke ihm zu, doch sobald wir abheben, klebe ich mit der Stirn am Fenster.

Unter uns glitzern die Lichter des Fairbanks International Airport. Richtung Osten leuchtet die Stadt faszinierend gelb unter der dichten Wolkendecke. Zum Jahresbeginn gibt es hier weniger als vier Stunden Tageslicht und in Lost Creek sind es noch weniger.

Kyra kam immer gern nach Fairbanks. Sie empfand Lost Creek als beengend. Sie wollte auf Reisen gehen, forschen und erkunden. Für mich hatte die Stadt keinen großen Reiz. Mir war sie immer zu groß, zu anonym. Mag sein, dass das Leben hier angenehmer ist, weniger hart und die Winter weniger bedrohlich, aber zu Hause in Lost kümmerten sich die Leute umeinander. In unserer eng verbundenen Gemeinde, meilenweit vom Nichts umgeben, waren wir füreinander da im tiefen Dunkelblau der Dämmerung.

Auch jetzt noch fühle ich mich in den kleinen Zimmern des St. James-Pensionats wohler als in dem riesigen Haus in Winnipeg, das Mom gekauft hat. Sie hält ihre Nachbarschaft für reich und glücklich, obwohl die Leute fast nie ihre vier Wände verlassen. Doch sie ist selten da und verbringt die meiste Zeit des Tages bei ihrer Arbeit im Kinderkrankenhaus, weshalb ihr so etwas gar nicht auffällt. In der Schule lebe ich wenigstens in einer Gemeinschaft aus Freundinnen und Teamkolleginnen. Wir haben es vielleicht bis nach Winnipeg geschafft, aber mein Herz hängt immer noch an Lost Creek.

Das Flugzeug schwenkt nach Norden, und Fairbanks verschwindet hinter uns. Wir fliegen auf einen Ort im Jenseits zu, für den andere Regeln gelten. Das Immergrün liegt hier unter einem Schneepanzer begraben. Die Luft blitzt vor Kälte. Lost Creek ist ein gottverlassener Ort mit Wintern, die hart und endlos scheinen, und wir sind stolz auf unsere Widerstandsfähigkeit. Die Reise nach Lost Creek ist ein Rausch durch Turbulenzen aus Schnee und Erinnerungen und mit diesem Refrain der sich immer wiederholenden schrecklichen Zeile: Endloser Tag, endlose Nacht, haben dich um deine Seele gebracht.

Als Lost Creek schließlich zu sehen ist, liegen meine Nerven blank vor Erschöpfung und Furcht. Die Zeit fliegt mit uns, und ich bin noch nicht so weit, noch nicht bereit zu akzeptieren, dass Kyra mich nicht abholen wird, weiß nicht, ob ich jemals so weit sein werde. Ich fühle mich zerrissen zwischen tiefem, schmerzlichem Heimweh und der zermürbenden Ungewissheit, was mich erwartet und was mit meiner besten Freundin geschehen ist.

Als wir zur Landung ansetzen, grabe ich meine Fingernägel in die Handflächen, den Blick auf die Landschaft geheftet. Zur Linken liegt der Campingplatz, wo im Sommer ein paar wenige Touristen am See angeln oder in den Wäldern auf Bärenjagd gehen. Im Winter stehen die Hütten leer, unter einer dichten Schneedecke verborgen.

Zur Rechten befinden sich die alten Bergwerksschächte. Man munkelt, unter den Hügeln gebe es immer noch Gold – oder vielleicht Schwermetalle. Die leichter zugänglichen Erze wurden bereits vor Jahrzehnten abgebaut. Noch tiefer zu graben ist teuer, und unsere Mine ist zu klein, um profitabel zu sein. Mag sein, dass das Land noch so einiges an Bodenschätzen parat hat, aber für Lost Creek sind das leere Versprechen, und die Leute haben Besseres zu tun, als sich darauf zu stützen. Unsere Gemeinde hat gelernt, sich auf sich selbst zu verlassen, auf die sorgfältig angelegten Äcker und nicht auf den unberechenbaren Boden.

Unsere Gemeinde. Lost Creek, errichtet im Jahre 1898, Einwohnerzahl: 247.

Ich atme tief durch. Zweihundertsechsundvierzig.

Von dem gleichnamigen Fluss begrenzt, trotzt Lost Creek den Elementen. Unser kleiner, bescheidener Goldrauschort verfügt über eine Polizeistation, eine Schule, die Grund- und Oberschule in einem ist, einen pensionierten Kinderarzt, mit dem Mom öfter zusammengearbeitet hat. Es gibt einen recht ordentlich ausgestatteten Lebensmittelladen, eine Cafébar, eine Post, die zugleich ein Touristenbüro ist, und etwas außerhalb der Ortsgrenzen ein verlassenes Kurhotel mit Heißen Quellen. Das Spa bildet einen Farbtupfer vor dem ansonsten leeren Horizont. Als ich das erste Mal mit Kyra dort war, haben wir uns vorgestellt, es sei das Hauptquartier eines Superhelden.

Mit einem Ruck setzt das Fahrgestell auf dem Boden auf, so dass mir durch die Wucht der Sitzgurt in den Bauch schneidet. Rumpelnd kommen wir zum Stehen. Die Landebahn und die einspurige Straße ins Ortsinnere sind die einzigen Verbindungen zwischen Lost Creek und der Zivilisation. Diese Berührungspunkte mit der Außenwelt waren einst alles, was wir zum Überleben brauchten.

Nichts konnte uns innerhalb dieser Grenzen etwas anhaben. Innerhalb dieser Gemeinschaft hielten wir zusammen. Lost Creek gemeinsam gegen den Rest der Welt.

Alle hielten zusammen.

Alle außer einer. Alle außer Kyra, die immer das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören. Sie hat sich nie etwas aus Jagen und Zelten gemacht, wollte, wie ihr Großvater, lernen, Geschichten zu erzählen. Sie trug die Mythen und Legenden des Orts zusammen, wollte jedoch immer auch wissen, was dahintersteckte. Aber Lost ist ein Ort, der von der Verschwiegenheit lebt, und mit Kyra kamen alle seine Geheimnisse ans Tageslicht.

Geschichten und Sterne

Vor zwei Jahren

Wenn man in Lost Creek nicht auffallen möchte, passt man sich am besten den Gepflogenheiten der Dorfbewohner an. Und an den Tagen, die ich nicht mit Kyra verbrachte, tat ich genau das. Ich machte meine Hausaufgaben und erfüllte meine häuslichen Pflichten. Ich legte mich nicht mit den Erwachsenen im Dorf an. Passte auf Luke auf, wenn Mom unterwegs war. Ich hatte meine Sterne am Himmel und brauchte nirgendwohin, um sie zu beobachten.

»Das sollte doch genügen«, sagte ich zu Kyra, als ich mich mitten in der Nacht in ihr Zimmer schlich.

Sie saß mit bis unters Kinn angewinkelten Beinen an ihrem Schreibtisch, eine Decke um die Schultern, vor ihr ein halbes Dutzend Bücher. Die Brille thronte auf ihrer Nasenspitze. Sie hatte auf mich gewartet. Selbstverständlich. Es war genau drei Jahre her, seit Dad uns verlassen hatte, und bis auf Glückwunschkarten und Anrufe zu Lukes und meinem Geburtstag hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Ich hasste diesen Jahrestag und wollte ihn auf keinen Fall allein verbringen.

Kyra klappte ein Buch nach dem anderen zu. »Was sollte genügen?«

»All das hier. Ich habe dich und Luke und Mom. Die Astronomie und mein Zuhause. Ich will nicht mehr so ruhelos sein. Ich will nicht mehr an ihn denken. All das hier sollte doch genügen.«

»Wieso denn?«

Ich zuckte die Schultern.

Sie setzte sich aufs Bett und lud mich zu sich unter die Decke ein.

»Du darfst ruhig wütend werden. Du kannst dich auch verletzt fühlen. Und darüber hinaus finde ich nicht, dass du dich mit ›genügen‹ abfinden solltest. ›Genügen‹? Nach wessen Maßstab denn?«

Ich schmiegte mich an sie. Meine Hände waren eiskalt von der Nachtluft, aber sie schreckte nicht zurück. Sie zog lediglich die Decke etwas höher.

»Nach meinem wahrscheinlich?«, vermutete ich. »Oder dem von Lost Creek?«

»Das ist hoffentlich nicht ein und derselbe«, zog sie mich auf. »Wovon träumst du?« Und nach einer Weile fügte sie noch hinzu: »Wovon träumst du, wenn du nicht an Lost denkst?«

Und damit hatte sie wohl recht. Das war nicht ein und dasselbe. Wäre ich nicht in Lost Creek, dann würde ich aufs College gehen, um Astronomie zu studieren. In einer der Sternwarten rund um Fairbanks arbeiten. Vielleicht sogar die Nordlichter näher erforschen.

Doch mit Kyra an meiner Seite wurde ich verwegener. »Dann würde ich am Giant Magellan Telescope in Chile arbeiten und die Entwicklung von Galaxien untersuchen.« Wenn das GMT einmal fertiggebaut ist, wird es das größte optische Observatorium der Welt sein, zehnmal so stark wie das Hubble-Teleskop. »Oder am E-ELT, um die Entwicklung von schwarzer Materie in Galaxien mit hoher Rotverschiebung zu erkunden.«

Ich warf Kyra einen verstohlenen Blick zu, die wie eine Eule verständnislos die Augen auf- und zuklappte. »Ich hab diese Worte noch nicht mal einzeln verstanden, geschweige denn im Zusammenhang.«

Mein Kichern ging in lautes Gelächter über. Mir war nicht klar, wie Kyra es geschafft hatte, aber sie bündelte meine innere Unruhe wie ein Teleskop, weg von der dunklen Energie von Dads Abwesenheit, hin zu den exoplanetarischen Dimensionen neuer Möglichkeiten.

»Ich besuch dich dann in Chile«, sagte Kyra. »Und anschließend schleif ich dich mit in die Antarktis. Dort sehen wir uns die andere Seite der Welt an. Betrachten zusammen die Südlichter, und ich erzähle dir Geschichten über sie.« Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Stell dir mal vor, sie würden auf dem Kopf stehen?«

Ich sah sie verächtlich an. »So funktioniert die Wissenschaft nicht.«

Sie grinste.

Ich knuffte sie in den Arm. »Und was machst du bis dahin?«

»Auch ich werde reisen, wenn ich kann. Die Erzählkultur der Arktis studieren.« Sie wies auf eines der Bücher auf ihrem Schreibtisch. »Ich will nicht einfach Geschichten sammeln und sie für meine Zwecke nutzen, so wie es Großvater getan hat. Ich will den einheimischen Kulturen mit Respekt begegnen. Aber ich möchte auch verstehen, wie unsere Erzählungen entstanden sind. Ich möchte nicht, dass sie, genau wie unser aller Geschichte, verschwinden, dahinschmelzen wie das Eis.«

»Glaubst du, dass es dir gelingen wird?« Würde Kyra es hier herausschaffen? Ihren Träumen nachgehen können? Würde es ihr so gutgehen, dass sie sie auch verwirklichen könnte?

Sie wich zurück, als hätte ich sie geschlagen. »Ja. Irgendwie werde ich schon einen Weg finden.«

»Dann müssen wir ein passendes College für uns beide finden«, schlug ich vor.

Kyra ließ den Kopf ins Kissen sinken. »Wir werden es weiterbringen als irgendwer sonst in Lost. Wir werden zu Abenteurern auf der Suche nach Geschichten und Sternen werden.«

»Aber wir kommen zwischendurch immer wieder nach Hause, oder?«, fragte ich besorgt.

Sie sah zu mir auf. »Vielleicht. Aber vielleicht verschwinde ich stattdessen auch im Eis.«

Unberechenbar

Vor eineinhalb Jahren

Kyra hielt sich nicht zurück mit ihrer Meinung. Sie passte sich nicht an.

»Sie ist verrückt.« Die Worte verfolgten sie überall hin. In der konservativen, vornehmlich weißen Welt von Lost Creek war es eine Todsünde, anders zu sein. Als sie auf die Schule kam, schoben die anderen Elft- und Zwölftklässler ihre Tische von ihr weg. Mich luden sie nach der Schule zu heißem Kakao ein, aber sie niemals. Sie klauten ihr die Bücher. Sie warfen ihre Hausaufgaben und manchmal auch die Aufsätze, die sie für den Schreibkurs verfasste, in den White Wolf Lake.

Aber sie ließ sich nicht unterkriegen. Und sie ließ es nicht zu, dass ich mit den anderen schimpfte. Und niemandem außer mir zeigte sie jemals, wie sehr ihre Quälereien sie verletzten.

Sie ist verrückt. Völlig bescheuert. Durchgeknallt. Bekloppt. Irre.

Das letzte Wort hatte auf die Menschen in Lost Creek eine ganz besondere Anziehungskraft. Irre. Es verfolgte sie, gehässig gezischt oder ängstlich getuschelt.

Diese Angst war das Schlimmste daran. Es kam nicht selten vor, dass Leute, die Kyra schon als Neugeborene gekannt und sie hatten heranwachsen sehen, von ihr redeten, als fühlten sie sich von ihr bedroht. Und dabei gingen sie nicht zimperlich mit ihr um.

Sie wollten, dass sie verschwindet.

»Joe, ich habe von einem guten Therapiezentrum in Fairbanks gehört. Dort geht es deiner Tochter womöglich besser«, bemerkte Mr Lucas immer wieder.

»Darüber haben wir jetzt schon tausendmal gesprochen. Kommt nicht in Frage«, antwortete Mr Henderson dann gewöhnlich.

»Du musst meinen Standpunkt doch verstehen. Kyra geht auf dieselbe Schule wie meine Töchter.«

»Und das schon, seit sie laufen können.«

»Aber jetzt hat sie diesen Befund. Was, wenn etwas passiert? Was, wenn …«

»Was sollte denn passieren?«

»Was, wenn sie durchdre…, was, wenn sie einen ihrer Anfälle hat?«

»Wenn sie so einen Anfall hat, malt sie. Glaubst du im Ernst, dass Kyras Kunstfertigkeit deine Töchter bedroht?«

Aber natürlich ging es Mr Lucas nicht darum, genauso wenig wie allen anderen. Über die kreative Betätigung, mit der Kyra versuchte, ihre überschüssige Energie loszuwerden, machten sie sich keine Sorgen. Sie interessierten sich nur für ihre Aussetzer. Wenn ihre manischen Attacken sie überkamen, war sie nicht mehr aufzuhalten. Manchmal verschwand sie tagelang im Wald. Einmal schlich sie sich zum Fluss und warf den Fischfang der Angler wieder ins Wasser zurück. Oder sie stahl sich zu den geschlossenen Minenschächten, wo unsere Eltern den halben Tag und die Nacht brauchten, um sie wiederzufinden. Die Leute in Lost Creek machten sich Sorgen, denn sie hatten gesehen, wie sie verschwand. Sie waren davon überzeugt, dass sie einen von ihnen mitzerren und sie sich verirren würden. Dass sie genauso verschwinden würden, in dem gefährlichen Terrain außerhalb von Lost. Aber das würde sie niemals tun. Im Gegenteil, Kyra hielt sich während dieser Anfälle von allen fern, sogar von mir.

Deshalb zog es Mr Henderson vor, die Bemerkungen der Gemeinde absichtlich misszuverstehen. Und zögerlich, aus Respekt vor ihm und seinem Stand als Minenbesitzer, räumten sie dann meist ein, dass es ihnen selbstverständlich nur um Kyras Wohlbefinden ginge.

Aber immer wenn Kyra eine dieser Unterhaltungen mitbekam, sah sie mich mit Tränen in den Augen an. Beim ersten Mal versuchte ich, mit ihr über die Angst im Dorf zu reden, aber sie wollte nichts davon hören. Wir saßen bei ihr auf dem Fensterbrett, und plötzlich verspannte sie sich total, ihre Wangen liefen rot an vor Frust. Beim nächsten Mal rannte sie davon. Ich habe den Überblick verloren, was danach noch alles geschah, aber einmal, sie war wieder kurz davor, zu flüchten, fragte sie mich: »Ich bin nicht genug. Stimmt’s?«

»Du solltest dich niemals damit abfinden, ›genug‹ zu sein.« Ich hoffte, es würde ihr Mut machen, wenn ich das wiederholte, was sie sonst immer zu mir sagte.

»Vor ein paar Jahrhunderten noch hätte man mich als Hexe bezeichnet.« Sie hielt sich am Sims fest, als wollte sie sich selbst davon abhalten wegzulaufen, vor allem und jedem hier. »Dann hätten sie mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«

»Das hätte ich niemals zugelassen.«

»Denkst du, ich soll zur Therapie nach Fairbanks?«

»Nur, wenn du das willst. Nur, wenn du meinst, es könnte dir helfen. Aber sicher nicht, weil die anderen im Ort vergessen haben, wer du bist. Wenn das der Fall ist, wäre es mir lieber, du bleibst hier bei mir.«

»Ich will, dass es mir besser geht. Ich will diese Anfälle in den Griff bekommen.« Sie ließ die Schultern hängen. »Ich will dazugehören, genauso wie du und Luke.«

Ich sah sie sehr lange an. Die untergehende Sonne tauchte ihr Gesicht in ein orangefarbenes Leuchten, ließ ihre Haare rötlich schimmern und ihre hellbraunen Augen beinahe grün. Ich mochte Lost Creek sehr, schon allein, weil es das einzige Zuhause war, das ich kannte, aber es setzte mir zu, wie der Ort mit ihr umsprang, seit bei ihr vor drei Jahren eine bipolare Störung diagnostiziert worden war. Über Nacht war sie plötzlich nicht mehr das Mädchen, das sie kannten, sondern stellte eine Gefahr für sie dar. »Ich möchte, dass du dich besser fühlst. Dass du ebenfalls hierher gehörst.«

»Warum haben alle solche Angst vor mir?«

»Weil du so unberechenbar bist.« Wie die Stürme im Frühjahr und die unzugänglichen Bergwerkstollen. »In Lost war Unberechenbarkeit noch nie von Vorteil.«

Verräter, Fremde und Gespenster

Ich öffne die Tür des Flugzeugs und springe hinaus auf den schmalen Landestreifen. Der harte Asphalt erschüttert meine Knie, und ich strecke und dehne mich in der eiskalten Luft. Ich rechne mit Mr Hendersons Allradfahrzeug oder mit Sheriff Flynn. Stattdessen hebt sich eine einsame Figur gegen die Sonne ab. Ich nehme nur ihre von hinten angestrahlte Silhouette wahr – eine große, hoch aufgeschossene Gestalt, deren lange Haare im Wind wehen. Zögernd hebt sie die Hand zum Gruß.

Für einen Moment setzt mein Herz aus. Kyra. Ohne nachzudenken, steuere ich auf sie zu, ihren Namen auf der Zunge.

Dann verändert sich das Licht. Ihre Nase ist schmaler. Ihre Haare heller.

Der Ruf des Wiedererkennens erstickt mir im Hals.

Piper Morden.

Nicht Kyra.

Ich hatte es schon fast vergessen. Und nun sehne ich mich danach, es abermals zu vergessen.

Hinter mir geht der Pilot von Bord. Er reicht mir meinen Rucksack. »Dein Rückflug ist gebucht. Sei rechtzeitig hier. Ich seh dich in fünf Tagen wieder.«

So wenig Zeit, aber es muss reichen. »Ich werde da sein. Danke sehr.«

Der Mann zögert einen Augenblick und fügt dann noch hinzu: »Sei vorsichtig in Lost Creek. Nichts hier ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.«

Noch bevor ich etwas darauf erwidern kann – ich weiß, wir waren schon immer etwas sonderbar –, hat er sich bereits mit militärischer Akkuratesse abgewandt und ist zum Flugzeug zurückmarschiert. Ich wende mich der grinsenden Piper zu. Es gibt viele, die unsere enge Gemeinschaft, unsere Art zu leben nicht nachvollziehen können. Wir sind solche komischen Bemerkungen gewöhnt.

Piper umarmt mich. Und obwohl es für sie ungewöhnlich ist und das erste Mal überhaupt, halte ich sie fest. Sie hat etwas Starkes und Vertrautes. Sie riecht nach Winter und Heimat. »Hey, Großstadtmädchen.«

»Hey.«

»Wie war dein Flug?«

»Er war gut. Sehr früh und sehr ruhig.« Seltsam.

»Ich kann’s mir nur vorstellen.« Ihr Lächeln verschwindet. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen. »Mr Henderson hat einen Geschäftstermin und hat mich gebeten, dich abzuholen. Wir freuen uns, dass du gekommen bist. Kyra hätte sich gefreut.«

Das ist etwas ganz Neues. In den letzten Jahren hat sich Piper wenig Gedanken über Kyras Gefühle gemacht, und jetzt, wo sie tot ist, scheint es nicht der richtige Zeitpunkt, damit anzufangen.

Ich werfe mir den Rucksack über die Schulter. Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll, ohne vorwurfsvoll zu klingen. »Was erwartet mich hier, Piper? Ich weiß, dass ihr Kyra nie wirklich … akzeptiert habt.«

Piper erstarrt, als hätte ich sie geschlagen. Dann streicht sie sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. »Hältst du uns für so gefühllos, dass wir nicht um sie trauern würden?«

»Nein, aber …«

»Seitdem du weg bist, hat sich hier so einiges getan.«

»In Lost Creek verändert sich niemals etwas«, entgegne ich aus Gewohnheit. Das einzige Anzeichen dafür, dass die Zeit vergeht, ist die Entwicklung der Kinder. Sie werden mit jedem Geburtstag ein Lebensjahr älter, ganz wie es sich gehört. Die Erwachsenen scheinen nicht zu altern, und die Älteren hören ganz einfach auf, die Jahre zu zählen.

Pipers Mundwinkel schnellen nach oben und verziehen ihr Gesicht zu einer schroffen Grimasse. »Lass gut sein. Du wirst schon noch verstehen.«

»Was verstehen?«, frage ich, aber Piper hat mir bereits den Rücken zugekehrt.

»Wir passen hier gut aufeinander auf. Das müsstest du doch wissen.«

Ich laufe hinter ihr her und bereue, nicht meine Bunny Boots, die speziell für die Kälte in Alaska gemacht sind, angezogen zu haben. Meine Sneakers waren für die Reise in Ordnung, aber nicht für diese endlose Schneelandschaft. Die eisige Kälte ist schneidend.

Wenigstens bin ich mit der Sonne angekommen. Während wir uns von der Landebahn abwenden, wird es langsam hell am Horizont. Die Anspannung fällt von mir ab, und mein Magen beruhigt sich. Ich atme tief ein. Dies ist mein Zuhause. Die kristallklare, eisige Luft. Der Geruch von Schnee, der unter den Füßen knirscht und sich über dem Permafrost ausgebreitet hat.

Zwischen sanft geschwungenen Hügeln und Kiefernwäldern liegt Lost Creek, unser Dorf. Unser kleines Privatuniversum. Von hier aus wirkt der Ort winzig, mehr wie eine Ansammlung von Puppenhäusern als wie menschliche Behausungen.

Aber wir sind hier daheim.

Willkommen zu Hause.

Piper dirigiert mich, als wüsste ich nicht, wo ich bin. Wir gehen auf der einzigen Straße in Richtung Main Street, eine der exakt fünf Straßen von Lost Creek und zugleich die geschäftigste von allen.

An einem gewöhnlichen Samstag ist hier immer was los, auch noch mitten im Winter. Dann werden dort Klatsch und Tratsch ausgetauscht, während der Lebensmittelladen und die Apotheke neu bestückt werden. Dann kehren die Fischer mit ihrem Fang von ihren Lagern entlang des kleinen Flusses zurück.

Aber heute ist alles anders.

Der Lebensmittelladen ist geschlossen, die Straße wie leergefegt. Die gepflegten Häuser sind der einzige Anhaltspunkt, dass hier tatsächlich jemand wohnt. Neue Farbanstriche lassen den Ort frischer wirken, als ich ihn je zuvor gesehen habe. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich von hier fortging, waren die meisten Häuser verwittert und verwohnt, überzogen von dauerhaften eisigen Niederschlägen und Schlamm. Jetzt sind sie tadellos in Ordnung. Farbkleckse schmücken die Mauern des alten Postgebäudes, doch von da, wo ich stehe, kann ich nicht genau erkennen, worum es sich handelt. Es scheint fast, als hätte Lost Creek, seit Kyras Verschwinden, all seine Risse und Ritzen übertüncht.

»Was ist denn hier passiert?«, frage ich.

»Hoffnung ist eingekehrt«, stellt Piper leise fest. Ehrfürchtig berührt sie eine Schleife an einem Eingangstor. »Und Gedenken.«

Ich hebe fragend die Augenbrauen. »Was bedeutet das denn?«

Piper reagiert nicht darauf. Mir fällt auf, dass überall Schleifen hängen, an jeder Stange und jeder Türklinke sind schwarze und violette Bänder befestigt, in Kyras Lieblingsfarbe und in der Farbe der Trauer. Es scheint, als wolle Lost Creek seinen Kummer öffentlich kundtun. Dabei hätten wir so etwas zuvor nie zugelassen, ausschließlich bei Beerdigungen. Als Kyras Großvater gestorben war, gab es lediglich eine triste Trauerfeier. Dabei war er einer, der bei allen beliebt gewesen war.

»Hör mal, es tut mir leid, falls ich mich etwas im Ton vergriffen habe«, setze ich an. »Ich wollte nur verstehen, was mit Kyra passiert ist.«

Piper schüttelt den Kopf. Ihr Blick schweift über die Hauptstraße. Ich habe keine Ahnung, wonach sie Ausschau hält, aber ich sehe immer wieder über meine Schulter. Wir sind noch genauso allein wie zuvor. Die Straße ist leer, es ist allerdings nicht ganz so hell hier. Die Schatten sind länger und dunkler.

»Du wirst es schon noch kapieren«, entgegnet mir Piper. »Eines Tages wirst auch du es verstehen.«

Der Wind nimmt zu und wispert durch die Lücken zwischen den Häusern hindurch:

Fremde.

Verräterin.

Außenseiterin.

Die Worte schweben in der gleichen Melodie wie die des Mädchens am Flughafen, sanft und nicht fassbar. Ich drehe mich abrupt um, aber da ist niemand.

Ich ziehe an den Riemen meines Rucksacks, um ihn enger zu schnallen, und trotte Piper hinterher, die mit raschen Schritten vorausgeht. Ihr scheint der Wind nichts auszumachen, oder aber sie nimmt ihn gar nicht wahr.

Bei der Wegbiegung zu meinem alten Zuhause bleibe ich stehen. Piper nimmt mich bei der Hand und zieht mich in die andere Richtung.

»Ich habe Mrs Henderson versprochen, dass ich dich zu ihr bringe, sobald du angekommen bist. Du kannst ja später noch hierherkommen, wenn du deine Sachen abgestellt hast.« Es klingt unbeteiligt.

Wir gehen durch eine der Nebenstraßen, bis zu einer Villa aus dem 19. Jahrhundert am Ufer des Flusses, neben dem Spa am Ortsrand das größte Anwesen hier. Als die ersten Siedler nach Lost Creek kamen, war Mr Hendersons Urgroßvater der Erste, der hier Gold gefunden hatte, und sein Großvater der Letzte. Im Lauf der Jahrzehnte hat die Familie Henderson ein kleines, aber respektables Industrieimperium errichtet. Und auch wenn es Mr Henderson nicht gelungen ist, das Bergwerk wiederzueröffnen, ist das standesgemäße Haus dennoch hochverdient.

Ungeachtet dessen, wie eindrucksvoll das Haus auf Fremde wirkt, war es für Kyra und mich immer unser Zuhause. Und jetzt trägt es Trauer. Ich lasse meinen Rucksack in den Schnee plumpsen und kann es nicht fassen.

Tor und Fahnenmast sind übersät mit schwarzen Schleifen. Zu beiden Seiten der Auffahrt liegen Blümchen im Schnee verstreut, leuchtend rosa Lachsbeerblüten. Es sind die gleichen, die das Mädchen am Flughafen in der Hand hielt. Es sind die gleichen Blüten, die Kyra immer im Dorf ausstreute.

Ich kneife die Augen zusammen. Nein, das sind keine Blüten, sondern Blumen aus violetten Schleifen, genau wie die auf der Hauptstraße. Sie sehen aus wie die Malereien aus Kyras manischen Phasen, nicht ganz echt, aber doch so echt, dass sie beunruhigend wirken.

Vielleicht, aber nur vielleicht, ist das Leben hier immer noch ein wenig unberechenbar.

»Er hat recht gehabt, weißt du?«

Piper spricht so leise, dass ich sie nicht sofort verstehe. »Wer denn?«, frage ich.

»Der Pilot. Nichts ist, wie es scheint. Ich sehe dich spätestens beim Gottesdienst wieder. Melde dich ruhig bei mir, wenn du Fragen hast.« Sie wendet sich ab und steuert wieder auf die Hauptstraße zu.

»Piper?«

Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. »Ja?«

Mein Magen ist in Aufruhr. Warte. Lass mich jetzt nicht allein. Ich bin noch nicht so weit, Kyras Abwesenheit zu akzeptieren. Lass mich noch einen Augenblick länger an der Welt festhalten, die ich einmal gekannt habe.

Ich zaudere. »Richtest du Tobias Grüße von Luke aus?«

Daraufhin erhellt ein Lächeln Pipers Gesicht, doch ich weiß, dass es nicht mir gilt. »Na klar.«

Auch wenn ich mich mit Piper gut verstanden habe, hatten wir nie so eine enge Beziehung wie unsere beiden Brüder. Wenn Mom in Fairbanks Überstunden machte und sich dort um ihre Patienten kümmerte, blieb ich oft bei Kyra, während Luke bei Tobias war. Mein kleiner Bruder war mächtig sauer, als er erfuhr, dass ich ohne ihn nach Lost wollte, um Kyra zu besuchen. Kyra zu sehen.

Zuvor.