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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und der Vierfachmörder
von Alfred Bekker
1
Ich kam nach einem anstrengenden, langen Tag nach Hause. Nach
Hause, das war das Apartment in Hamburg Mitte, das ich zurzeit
bewohnte. Ich hatte es aus verschiedenen Gründen in letzter Zeit
mehrfach wechseln müssen. Das hatte mit meinem Job zu tun.
Seit kurzem hatte ich einen neuen Nachbarn.
Und der war ziemlich neugierig.
Frührentner, soweit ich wusste.
Und das bedeutete, dass er jede Menge Zeit hatte. Es machte
ihm offenbar nichts aus, stundenlang darauf zu warten, dass ich
nach Hause kam, um mich dann abzupassen.
»Moin«, sagte er.
»Moin«, gab ich zurück.
»Na, wenigstens sagen Sie nicht so ein eingebildetes guten
Tag, sondern reden wie ein echter Hamburger.«
»Ja«, sagte ich.
»Obwohl: Manche sagen ja auch: Ein echter Hamburger, das ist
was zum Essen.«
»Manche sagen das«, sagte ich und hatte schon meine Tür
aufgeschlossen.
Ich wollte eigentlich so schnell wie möglich in meine Wohnung
verschwinden. Aber andererseits konnte ich meinen Nachbarn auch
nicht einfach so stehen lassen. Ein bisschen höflich muss man ja
schließlich auch sein.
»Sagen Sie, was mich interessieren würde… Was machen Sie
eigentlich beruflich?«, fragte er.
»Bin Beamter«, sagte ich.
Und das war noch nichtmal gelogen.
Näheres wollte ich darüber allerdings nicht mitteilen.
Aus gutem Grund.
»Also Lehrer?«
»Beamter.«
Kriminalhauptkommissar Uwe Jörgensen, das war ich. Zusammen
mit meinem Kollegen Roy Müller war ich Teil einer Sonderabteilung,
die sich ‘Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes’
nannte. Wir befassten uns vor allem mit der Bekämpfung
organisierter Kriminalität und bekamen ansonsten, die besonders
schwierigen Fälle zugewiesen. Fälle, die besondere Fähigkeiten oder
Ressourcen erforderten. Alles, was mit Terrorismus oder
Serinmördern zu tun hatte zum Beispiel.
Das war unser Gebiet.
Natürlich macht man sich da nicht überall beliebt.
Und genau deswegen wollte ich nicht überall breittreten, wo
ich tätig war, zumal es jede Menge Kriminelle in Hamburg gab, die
wegen meiner Arbeit mal im Gefängnis gesessen hatten.
Und nicht alle hatten das vergessen.
Manche sannen auf Rache.
Und so musste ich ab und zu mal die Wohnung wechseln, zumal
Leute wie ich für die Chefs der kriminellen Netzwerke auch sowas
wie ein Einkommensrisiko darstellen.
»Sie sind nicht sehr gesprächig, was?«, meinte er.
»Nee, bin ich nicht«, sagte ich.
»Schade.«
»Ich hatte einen anstrengenden Tag und außerdem muss ich
morgen auch wieder früh raus«, sagte ich.
»Kenn ich noch«, meinte er.
»So?«
»Ja, von früher. Als ich auch noch arbeiten musste.«
»Dann seien Sie froh, dass Sie es nicht mehr müssen«, sagte
ich und ließ ihn dann doch stehen.
»Man sieht sich!«, hörte ich ihn noch sagen.
Aber da hatte ich die Tür schon fast hinter mir zugemacht und
dachte: Hoffentlich nicht so bald!
2
Es war dunkel und kühl.
Jason Riemann unterdrückte ein Gähnen. Er ging über den
Parkplatz und sorgte mit der Fernbedienung seines Wagens dafür,
dass sich schon einmal die Türverriegelung löste.
Es war spät. Fast Mitternacht. Riemann war mal wieder der
Letzte, der das Labor verließen. Aber ihm gehörte die Firma
schließlich, und der Tag hätte für ihn gerne die doppelte Anzahl
von Stunden haben können.
Er erreichte den Wagen. Im Schein der Beleuchtung sah er
etwas, das im ersten Moment wie ein Schatten auf seiner Motorhaube
aussah.
»Oh nein, nicht schon wieder«, entfuhr es ihm, nachdem er
näher herangetreten war und sah, worum es sich wirklich handelte.
Jemand hatte mit schwarzer Farbe ,MÖRDER!!!!!‘ mit fünf
Ausrufungszeichen auf den metallicfarbenen Lack gesprüht.
Riemann setzte sich auf den Fahrersitz, legte den Aktenkoffer
auf den Beifahrersitz und atmete erst einmal tief durch.
Das hat mir zu all dem Stress heute noch gefehlt, ging es ihm
durch den Kopf.
Es war nicht das erste Mal, dass jemand seinen Wagen
beschmierte. Immer Mörder mit fünf Ausrufungszeichen.
Die könnten sich auch mal etwas Neues ausdenken, diese
selbsternannten Weltverbesserer, dachte er. Riemann betrieb ein
Pharma-Labor. Nach einer steilen Karriere in Forschung und
Industrie hatte sich der Pharmakologe selbständig gemacht und seine
Firma MPR - Riemann Pharma Tech GmbH. - war eine gefragte Adresse.
Er konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Zweihundert Angestellte
arbeiteten inzwischen für Riemann.
Daran, dass nicht jedem gefiel, was in den Laboren von MPR
geschah, hatte er sich gewöhnt. Manchen war das Wohlergehen von
Laborratten und Versuchsaffen eben wichtiger, als der medizinische
Fortschritt, der vielleicht unzähligen Menschen von schwerwiegenden
Leiden heilen oder deren Entstehung schon im Vorhinein verhindern
konnte.
Riemann hatte für diese radikalen Tierschützer kein
Verständnis. Erst vor ein paar Wochen hatten die seine Handynummer
herausgefunden und ihm das Smartphone mit unfreundlichen
Nachrichten überschwemmt, bis der Speicher überlief.
Aber schlimmer waren die Lackschäden an seinem Wagen.
Dreimal hatte er das MÖRDER!!!!! mit den fünf
Ausrufungszeichen schon entfernen lassen müssen. Finanziell war das
eine Kleinigkeit. Er hatte mehr Geld, als er im Rest seines Lebens
ausgeben konnte. Aber Riemann war ein sparsamer Mann. So hatte er
seine Firma gegründet und diese Haltung war es seiner Meinung nach
auch, die sie hatte groß werden lassen.
Es ärgerte ihn einfach, Geld für so etwas Unnützes auszugeben
wie eine Lackierung, die nur deswegen erfolgen musste, weil
irgendwelche zerstörungswütige Vandalen ihm ihre Meinung
aufzudrängen versuchten.
Riemann fühlte, wie sein Herz raste. Der Stress der letzten
Zeit hatte ihn sowieso schon ziemlich mitgenommen. Er hatte
entschieden zu viel gearbeitet und hätte eigentlich dringend eine
Erholungsphase nötig gehabt. Riemann dachte an das Ferienhaus auf
Sylt, das er sich als Anlageobjekt zugelegt hatte. Er war nur
selten dort gewesen. Und seit er seine eigene Firma hatte,
eigentlich kaum noch. Es blieb einfach keine Zeit.
Ganz ruhig!, dachte er. Diese Idioten mit ihrem Geschmiere auf
meinem Wagen sollten nicht der Tropfen sein, der das Fass zum
Überlaufen bringt und dafür sorgt, dass ich meinen ersten
Herzinfarkt bekomme, ging es ihm durch den Kopf. Er griff in die
Innentasche seines Jacketts, holte seine Tabletten hervor und nahm
eine davon. Einen Augenblick schloss er die Augen.
Langsam sank sein Puls wieder. Er beruhigte sich.
Plötzlich sah Riemann den Umriss eines Mannes im Schein der
Parkplatzbeleuchtung. Zumindest glaubte er dem Körperbau nach, dass
es ein Mann sein musste. Die Schultern waren ziemlich breit. Er
trug eine Lederjacke, darunter ein Kapuzenshirt. Die Kapuze war
über den Kopf gezogen, so dass das Gesicht vollkommen im Dunkeln
lag.
Der Mann kam auf seinen Wagen zu, klopfte gegen die Scheibe.
»Herr Riemann?«
»Was wollen Sie?«
Der Mann mit der Kapuze griff unter seine Jacke. Eine Pistole
kam zum Vorschein. Auf den Lauf war ein Schalldämpfer
aufgeschraubt. Der Mann setzte die Waffe an das Fenster und drückte
ab.
Die Scheibe des Seitenfensters zersplitterte, und Riemann
sackte in sich zusammen. Der Kopf fiel blutüberströmt auf das
Lenkrad. Die Hupe wurde ausgelöst. Der Mann mit der Kapuze beeilte
sich nicht einmal, als er davonging.
3
Unser Chefballistiker David Eichner war der Letzte, der an
diesem Morgen im Büro von Herrn Bock eintraf. Meine Kollegen Roy
Müller, Stefan Czerwinski und Oliver ‚Ollie‘ Medina hatten bereits
am Konferenztisch Platz genommen. Max Warter, ein Innendienstler
aus unserer Fahndungsabteilung schloss gerade den Beamer an ein
Laptop an. Mandy hatte ihren berühmten Kaffee serviert und ich nahm
erst einmal einen tiefen Schluck davon, in der Hoffnung, dass ich
dadurch richtig wach wurde.
Eine groß angelegte Observation saß uns allen noch in den
Knochen. Wir hatten uns mehrere Nächte um die Ohren geschlagen, um
Gerd Thiessen, einen Drogenboss, Veranstalter illegaler
Wettgeschäfte und Betreiber eines Prostituiertenrings mit illegalen
Zwangsprostituierten und Minderjährigen zu überführen. Leider war
uns das nicht gelungen. Der Tipp, den wir in Bezug auf ein
bevorstehendes Drogengeschäft erhalten hatten, war ganz
offensichtlich falsch gewesen und die Kollegen, die hauptsächlich
mit dem Fall befasst waren, rätselten noch darüber, ob da
vielleicht jemand die Absicht gehabt hatte, das Polizeipräsidium
Hamburg nach Strich und Faden zu blamieren.
»Man kann nicht immer gewinnen«, meinte Roy, nachdem er bisher
die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Schon als ich ihn an diesem
Morgen wie üblich an der bekannten Ecke abgeholt hatte und mit ihm
zu den Büros unseres Präsidium gefahren war, hatte Roy die ganze
Zeit über geschwiegen. Was an den letzten Abenden geschehen war,
beschäftigte ihn offenbar immer noch – oder besser gesagt das, was
nicht geschehen war.
»Irgendwann kriegen wir Thiessen«, sagte Stefan Czerwinski mit
grimmiger Entschlossenheit. Der flachsblonde Kollege war nach
unserem Chef der zweite Mann in der Abteilung und hatte den Fall
Thiessen über lange Zeit hinweg maßgeblich vorangetrieben. Dass ihm
die Geschehnisse der letzten Nacht gehörig gegen den Strich gingen,
konnte ich gut nachvollziehen. Mir ging es schließlich genauso. Ich
hoffte nur, dass er mit seinen Worten recht behalten würde.
Jemand wie Thiessen war eine Gefahr für die Öffentlichkeit.
Und abgesehen davon, dass die Kleindealer, die er unter seinen
Fittichen hatte, Drogen an Schulkinder verkauften, war er auch
immer wieder in gewaltsame Auseinandersetzungen mit anderen
Zuhältern verwickelt. Wir wussten, dass er in enger Verbindung zu
mindestens einem Mord stand, der sich auf St. Pauli zugetragen
hatte.
Aber die Gesetze waren für alle gleich.
Auch für Kriminelle.
Und auch wenn es mich gehörig störte, dass uns die Hände
gebunden waren und wir nichts tun konnten, so etwas musste man wohl
sportlich nehmen. Und sportlich nehmen bedeutete: akzeptieren, dass
man nicht immer gewinnen konnte, aber nie aufgeben.
Herr Bock hatte sein Telefonat beendet.
»Schön, dass Sie da sind, David«, wandte er sich an David
Eichner, den Mandy inzwischen auch mit einem Kaffeebecher versehen
hatte. Die Sekretärin unseres Chefs wandte sich noch kurz an den
Chef des Polizeipräsidiums Hamburg.
»Ab jetzt keine Anrufe, Herr Bock?«
Herr Bock nickte.
»Für die nächste halbe Stunde. Ausnahme gibt’s nur für Berlin,
aber nicht für den Bürgermeister oder einen Senator.«
»Ja«, sagte Mandy.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begann Herr
Bock ohne Umschweife damit uns darzulegen, worum es ging.
»Vor ein paar Tagen – genauer gesagt, am Freitag dem
Dreizehnten – sind hier in Hamburg in einer einzigen Nacht vier
Männer ermordet worden. Sie werden sagen, das ist schlimm, aber
nicht so außergewöhnlich, wie ich es Ihnen hier darstelle. Aber die
ballistischen Untersuchungen haben inzwischen ergeben, dass in
allen vier Fällen dieselbe Tatwaffe verwendet wurde. Wir müssen
also davon ausgehen, dass es sich auch um denselben Täter handelt.
Max ...«
Max Warter aktivierte jetzt den Beamer. Er projizierte einen
Stadtplan von Hamburg an die Wand. Der Ausschnitt hatte einen
ziemlich großen Maßstab. Im Westen reichte er bis Blankenese, im
Osten war noch ein ganzes Stück von Billstedt mit drauf. Vier
Stellen waren markiert.
»Das sind die vier Tatorte«, erklärte Max. »Der Täter hat
gewissermaßen eine Runde durch die Stadt gemacht. Angefangen hat er
am frühen Abend im Stadtpark an den Rosengärten. Dirk Stockjäger,
ein erfolgreicher Manager, hat sich dort ein paar Minuten auf einer
der Bänke vom Joggen ausgeruht. Gegen 18.30 Uhr wurde von Passanten
bemerkt, dass er tot ist. Ihm wurde von hinten ins Herz
schossen.«
»Es hat niemand etwas mitbekommen?«, fragte ich. »Um diese
Zeit ist an den Rosengärten doch immer viel los.«
»Vielleicht gerade deshalb, Uwe«, sagte Max. »Es hat niemand
auf den Mann auf der Bank geachtet. Die Aussagen, die die zunächst
zuständige Mordkommission dazu aufgenommen hat, sind sehr
widersprüchlich.«
David Eichner meldete sich nun zu Wort.
»Wir gehen davon aus, dass ein Schalldämpfer benutzt wurde«,
erklärte er.
»Die Waffe ist kleinkalibrig«, erklärte Max. »Der Schuss kam
von schräg hinten, ging durch das Herz und blieb im Brustbein
stecken. Es gab keine Austrittswunde. Sonst hätte das Opfer stärker
geblutet und wäre früher aufgefallen.«
»Wie lange war das Opfer schon tot, als der Mord bemerkt
wurde?«, wollte Roy wissen.
Max zuckte mit den Schultern.
»Die Kollegen der Polizei gehen von einem Zeitraum von nicht
mehr als einer halben Stunde aus. Und das scheint sich auch mit dem
Bericht der Gerichtsmedizin zu decken. Also war der Mörder
irgendwann zwischen 18.00 und 18.30 Uhr am Tatort und hat dann aus
unmittelbarer Nähe geschossen, so dass eventuellen Zeugen durch den
Rücken des Opfers die Sicht auf die Waffe versperrt gewesen sein
dürfte.«
»Schlimm, dass so etwas möglich ist!«, meinte Stefan
Czerwinski. Der zweite Mann in unserem Präsidium schüttelte den
Kopf. »Ein Mord mitten in einem Park und unter Hunderten von
möglichen Zeugen – und niemand hat zunächst bemerkt, was geschehen
ist!«
»Die Reise dieses Killers ging danach nach Niendorf«,
berichtete Max. »Dort hat er den Anwalt Arnold Görneck in einer
Seitenstraße erschossen. Görneck hatte dort gerade seinen Wagen
abgestellt und war ausgestiegen.«
»Wieder keine Zeugen?«, fragte ich.
»Keine, die bis jetzt ermittelt werden konnten«, bestätigte
Max meine Befürchtung. »Aber die Mordstour unseres unbekannten
Killers ging in dieser Nacht noch weiter. Um 23.30 Uhr passt er den
Pharmakologen und Betreiber eines selbständigen Labors Jason
Riemann auf dem Parkplatz seiner Firma in Eidelstedt ab und
erschießt ihn durch die Scheibe seines Wagens.« Max deutete auf die
entsprechende Markierung auf der Übersicht. Dann blendete er ein
Foto ein, dass die metallicfarbene Motorhaube einer Limousine
zeigte. »Das ist Riemanns Wagen«, erläuterte Max.
»MÖRDER!!!!! in Großbuchstaben und mit fünf
Ausrufungszeichen!«, stellte Ollie fest. »Da scheint jemand einen
ziemlich großen Hass auf diesen Riemann gehabt zu haben!«
»Das kann man wohl sagen«, nickte Max.
»Weiß man, wer das dort hingeschmiert hat?«, wollte Ollie noch
wissen.
Max hob die Augenbrauen.
»Riemann hatte immer wieder mal Probleme mit radikalen
Tierschützern, die ihn wegen der Tierversuche in seinem Labor
angegangen sind. Er hat Drohungen erhalten, und der Wagen ist auch
nicht zum ersten Mal neu lackiert worden.«
»Normalerweise wären diese Tierschützer dann doch die erste
Adresse, an die wir uns halten würden«, meinte Roy.
»Nur gibt es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen
Tierschützern und den anderen Mordfällen«, gab Max zu bedenken.
»Kommen wir zum letzten Opfer! Es handelt sich um Dr. Roger Noland,
einen Arzt für innere Medizin und Endokrinologie, der am
Albertinen-Krankenhaus praktiziert. Er kam nach einer Nachtschicht
gegen fünf Uhr morgens nach Hause – und dort muss der Täter bereits
auf ihn gewartet haben.« Max zeigte uns erneut den Stadtplan. Die
Markierung war ziemlich weit im Norden. »Dr. Nolands Haus befindet
sich in Schnelsen. Er fuhr in seine Einfahrt, stieg aus und wurde
durch zwei Schüsse getötet. Wiederum wurde offenbar eine Waffe mit
Schalldämpfer verwendet.«
»Zu den Erkenntnissen, die es über die Waffe selbst inzwischen
gibt, können Sie uns ja vielleicht etwas mehr sagen, David«, wandte
sich Herr Bock an unseren Chefballistiker David Eichner.
David Eichner hatte die Mappe mit dem Bericht des
ballistischen Labors vor sich liegen.
»Ich habe die entsprechenden Tests nicht selbst durchgeführt.
Dafür sind die Kollegen des Erkennungsdienstes verantwortlich. Aber
ich will Ihnen mal den Stand der Dinge, wie er in deren Bericht zum
Ausdruck kommt, kurz zusammenfassen. Dieselbe Waffe wurde bereits
benutzt. Sie spielt bei einer Schießerei zwischen zwei Zuhältern
und ihrem Gefolge eine Rolle und außerdem in einem Mordfall, bei
dem das Opfer ein Freier war, der die Dienste eines Callgirl-Rings
in Anspruch nehmen wollte.«
»Mit anderen Worten, dieser Fall hat einen deutlichen Bezug
zum organisierten Verbrechen, weswegen man ihn auch uns übertragen
hat«, stellte Herr Bock fest.
»Nur sitzen die beiden Zuhälter, deren Gangs in die Schießerei
verwickelt waren, derzeit im Gefängnis und kommen als
Tatverdächtige nicht infrage«, stellte Max fest. »Und was den
ungeklärten Mord an dem Freier angeht, tappen die Kollegen auch im
Dunkeln.«
»Könnte es nicht sein, dass die Waffe weiterverkauft wurde und
die Morde aus der Nacht von Freitag dem Dreizehnten von jemand ganz
anderem begangen wurden, der nur dumm genug war, sich eine heiße
Waffe andrehen zu lassen?«, fragte Roy.
Herr Bock, der inzwischen die Hände in den Taschen seiner
weiten Flanellhose vergraben hatte, nickte.
»Diese Möglichkeit sollten wir auf keinen Fall außer Acht
lassen«, fand er.
»Allerdings deutet doch einiges auf einen Profi hin«, glaubte
Ollie. »Der Schalldämpfer und vor allem die Akribie, mit der
offenbar die persönlichen Lebensumstände und Gewohnheiten der Opfer
zuvor ausgekundschaftet worden sein müssen!«
»Dem, kann ich nur zustimmen«, stellte Max klar. »Der Täter
wusste genau, wann er seine Opfer antreffen konnte. Er wusste, wann
Dr. Noland von seiner Nachtschicht kommt und Dirk Stockjäger
zwischen einem Tag voller Geschäftstermine mal eine halbe Stunde
Zeit zum Joggen hat. Dasselbe gilt für Riemann, bei dem bekannt
war, dass er immer als Letzter das Labor verließ.«
»Und dieser Görneck?«, hakte ich nach.
Ollis Augen wurden schmal. Eine Falte bildete sich auf seiner
Stirn. Er überflog noch einmal einen Computerausdruck, den er neben
das Laptop auf den Tisch gelegt hatte.
»Arnold Görneck fällt etwas aus dem Rahmen«, gab er zu. »Er
hat sein Büro in Hamburg-Mitte gehabt und wohnte in Wilhelmsburg.
Was er in Niendorf eigentlich wollte, haben die Kollegen in der
Kürze der Zeit nicht herausfinden können.« Max zoomte das Gebiet um
die Seitenstraße etwas näher heran, in der der Mord geschehen war.
»Es handelt sich um ein Wohngebiet der Mittelklasse. Vielleicht hat
dort ein Mandant gewohnt, den er zu Hause besucht hat.«
»Auf jeden Fall ist Görneck vermutlich regelmäßig dort
gewesen«, vermutete ich. »Zumindest wenn es stimmt, was wir
annehmen und der Killer ihn erst ausgekundschaftet und dann in der
Nacht von Freitag dem dreizehnten dort erwartet hat.«
»Gehört alles zu den Dingen, die noch herauszufinden wären«,
fasste Herr Bock zusammen. »Jedenfalls kommt es vielleicht öfter
mal vor, dass in einer Millionenstadt wie Hamburg vier Menschen in
einer Nacht getötet werden – aber nur selten von ein und demselben
Täter. Leider haben die Medien von der Sache Wind bekommen und
bauschen das jetzt ziemlich auf, was wiederum dazu führt, dass mich
der Bürgermeister schon dreimal angerufen hat, um sich nach dem
Fortgang der Ermittlungen zu erkundigen, noch bevor ich überhaupt
die bisherigen Ermittlungsakten vorliegen hatte.« Herr Bock ließ
den Blick schweifen. »Aber wir lassen uns von öffentlichem Druck
nicht beeinflussen. Wir machen einfach unseren Job nach alle Regeln
der Kunst. Damit kommt man immer am weitesten!«
»Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass dieser Täter
vielleicht noch andere Personen auf seiner Liste hat?«, fragte ich.
Max beantwortete meine Frage mit einem Kopfschütteln.
»Die Tatsache, dass alle diese Morde in einer Nacht
durchgeführt wurden, lässt das eher nicht vermuten.«
Roy nickte.
»Der Täter hatte es offenbar eilig. Fragt sich nur
warum.«
»Das Problem an diesem Fall ist, dass es bislang außer der
Tatwaffe keinen Zusammenhang zwischen den Opfern zu geben scheint«,
erklärte Herr Bock. »Wenn er kein Psychopath ist, der wahllos tötet
oder mit dem Finger die Spalten im Telefonbuch abfährt, um sich
jemanden auszusuchen, dann muss es da etwas geben, was die Fälle
miteinander verbindet.«
»Was nicht heißt, dass es so etwas nicht auch schon gegeben
hätte«, sagte Stefan und als er Herr Bocks irritierten Blick zur
Kenntnis nahm, fügte er noch hinzu: »Einen Täter, der wahllos
tötet, meine ich.«
4
Wir telefonierten ausführlich mit einigen Beamten der
verschiedenen Hamburger Polizeireviere, die für die
Erstermittlungen zuständig gewesen waren, bevor sich herausgestellt
hatte, dass diese scheinbar unzusammenhängenden Morde mit derselben
Waffe verübt worden waren. Außerdem sahen wir uns intensiv das
bisher gesammelte Beweismaterial an. Viel kam da nicht zusammen.
Zum Teil waren die Labore des Erkennungsdienstes, dem zentralen
Hamburger Erkennungsdienst, der von den Angehörigen sämtlicher
Polizeieinheiten genutzt werden konnte, auch noch gar nicht mit
ihren Auswertungen fertig.
Später fuhren wir nach Schnelsen, wo Dr. Roger Noland
erschossen worden war.
Er bewohnte ein schmuckes Haus an einer breiten, von Bäumen
gesäumten Straße. Schnelsen ist ein bürgerlicher Stadtteil. Hier
wohnten Leute aus der gehobenen Mittelschicht. Viele arbeiten oft
auch im Zentrum Hamburgs oder betrieben dort ihre Geschäfte,
konnten sich aber die exorbitanten Mieten im Zentrum des Hamburg
nicht leisten. Also nahmen sie es in Kauf, sich jeden Tag eine
Dreiviertelstunde oder mehr durch die verstopften Straßen zu
quälen.
Ich parkte den Jaguar am Straßenrand. Wir stiegen aus.
In der Einfahrt von Dr. Nolands Einfahrt stand noch der Wagen
des Arztes. Die Kollegen des Erkennungsdienstes hatten alles
abgespurt und den Tatort gründlichst untersucht. Einschließlich des
Wagens, mit dem er von der Klinik nach Hause gefahren war.
Vor dem Bungalow, den Dr. Roger Noland bewohnt hatte, stand
ein Mann. Er war ziemlich dünn und sehr blass. Sein Haar war so
grau wie sein Gesicht und seine zuckenden Augen. Irgendetwas
stimmte mit dem Kerl nicht, das sah ich auf den ersten Blick.
Zuerst dachte ich an einen Crack-Süchtigen.
Ohne Mediziner zu sein, bekommt man im Laufe der Jahre einen
Instinkt für so etwas. Aber in diese Fall sagte der Instinkt mir,
dass der Mann kein Drogensüchtiger war, sondern, dass irgendetwas
anderes mit ihm nicht in stimmte.
Er stand einfach nur da und sah auf das Haus.
Roy wollte schon zur Haustür gehen. Aber mich interessierte
der Kerl. Weshalb stand er so da, wie zur Salzsäule erstarrt und
interessierte sich offenbar ausgerechnet für dieses Haus, in dessen
Einfahrt vor kurzem ein Mord geschehen war?
Zuerst schien er uns gar nicht zu bemerken. Ich ging auf ihn
zu.
»Guten Tag, was machen Sie hier?«, fragte ich.
Der blasse Mann drehte ruckartig den Kopf.
»Wer will das wissen?«, fragte er.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei!« Ich hielt ihm meinen
Dienstausweis hin. Er betrachtete ihn stirnrunzelnd.
»Ich stehe hier einfach. Ist doch ein freies Land.«
»Vor diesem Haus ist vor kurzem jemand ermordet worden, und
wir ermitteln in dem Fall. Wenn Sie sich dafür interessieren, dann
interessieren wir uns für Sie. So einfach ist das.«
Der blasse Mann schluckte.
»Dann ist es also wahr ...«, murmelte er.
»Was?«, hakte ich nach.
»Es heißt, dass Dr. Noland tot ist. Dann wurde er hier
erschossen.«
»Ja, das stimmt. Woher wissen Sie das?«
»Man sagte es mir in der Klinik.«
»Dann sind Sie ein Patient?«
»Ja. Kann man so sagen. Also ... nein ... Genau gesagt, trifft
es das genau.« Er schien etwas durcheinander zu sein. Mir war nur
noch nicht so richtig klar, woran das lag. Hatte ihn die Nachricht
von Dr. Nolands Tod so verunsichert – oder vielleicht der Anblick
meines Dienstausweises? Ich wusste es nicht. Aber ich hatte
irgendwie ein komisches Gefühl, was den Kerl betraf. Er sah mich
an. »Sie werden den Killer schon kriegen, nehme ich an. Dr. Noland
war ein ... guter Arzt. Ein … ganz besonderer Arzt.«
Die Art und Weise, in der er das sagte, schien mir irgendwie
eigenartig zu sein. Aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Dieser Mann war zweifellos krank, und vielleicht stand er unter dem
Einfluss starker Medikamente.
»Was war so besonders an Dr. Noland?«, fragte ich.
»Ach ... einfach nur so ... Ich weiß auch nicht. Ich glaube,
ich gehe dann wieder.« Er drehte sich um und ging auf einen Wagen
zu, der einige Meter entfernt parkte. Es handelte sich um einen
blauen Ford. Mir fiel gleich die Beule vorne links auf.
»Einen Moment«, sagte ich, da hatte der blasse Mann schon die
Wagentür mit einem herkömmlichen, langsam aus der Mode kommenden
Schlüssel geöffnet – nicht per Fernbedienung. Der Ford war eben
nicht das neueste Modell.
Er sah mich an.
»Was ist noch?«
»Ich nehme an, Sie haben auch einen Führerschein.«
»Wusste gar nicht, dass die Kriminalpolizei neuerdings für
Verkehrskontrollen zuständig ist.«
»Haben Sie einen oder nicht?«, beharrte ich.
Er langte in die Hosentasche und holte eine Fahrlizenz heraus.
Sie war gültig und auf den Namen Arnulf Keller ausgestellt,
wohnhaft in Hamburg, genauer gesagt im Stadtteil Schnelsen. Ich gab
ihm den Führerschein zurück.
»War das jetzt ein Vorwand oder so was?«, wollte er
wissen.
»Nein«, sagte ich. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie
verkehrstüchtig sind. Und wenn die Kontrolle von Autofahrern auch
sicher nicht die Aufgabe der Kriminalpolizei ist, so weiß ich doch
nicht, ob ...«
»Ich bin krank, ich nehme Medikamente und ich weiß, dass ich
manchmal etwas eigenartig wirke.«
»Sehen Sie, da sind wir schon beim Kern der Sache.«
»Aber ich bin fahrtüchtig.«
Ich holte eine Visitenkarte aus der Jackentasche und gab sie
ihm.
»Wie ich schon sagte, wir untersuchen den Mord an Dr. Noland
und falls Sie uns irgendetwas dazu sagen können, dann wären wir
Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns anrufen.«
»Werde ich tun«, versprach er. »Allerdings wüsste ich nicht,
was ich dazu beitragen sollte. Ich war nämlich wirklich nur ein
Patient und habe ihn sonst nicht gekannt.«
»Immerhin sind Sie zu seinem Haus gefahren, weil Sie gehört
haben, dass er ermordet wurde«, hielt ich ihm entgegen. »Das ist
schon etwas ungewöhnlich, wie Sie zugeben müssen.«
»Ich war einfach nur gerade in der Gegend«, behauptete er.
»Und ehrlich gesagt, wundere ich mich darüber, dass ich hier allein
stehe.«
»Wieso?«, hakte ich nach.
Er begann auf eigenartige Weise zu kichern.
»Na, weil er doch so vielen geholfen hat. Eigentlich müssten
die sich doch alle dafür interessieren, dass ihr Arzt getötet
wurde ...« Er kicherte wieder. Und erst sehr, sehr viel später
sollte ich dieses Kichern begreifen. »Ist noch was?«
»Nein.«
Er schloss die Tür seines Ford und fuhr los.
Seine Fahrweise war in Ordnung und gab keinen Hinweis darauf,
dass er vielleicht tatsächlich nicht fahrtüchtig war.
Roy war mir unterdessen gefolgt. Er hatte unser Gespräch
natürlich mitbekommen.
»Seltsamer Vogel, was?«, meinte er.
»Kannst du laut sagen.«
Wir drehten uns um und wandten uns unserem eigentlichen Ziel
zu: Nolands Haus.
5
Nachdem wir geklingelt hatten, öffnete uns eine Frau mit
brünetten, schulterlangen Haaren. Ich schätzte sie auf Ende
dreißig. Also war sie gut zehn Jahre jünger als Dr. Noland. Sie
trug ein dunkles Kostüm, und ihre Augen wirkten leicht
gerötet.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei. Dies ist mein Kollege Roy
Müller«, stellte ich uns vor.
»Dr. Birgit Noland, wir hatten ja bereits miteinander
telefoniert.«
Sie hatte eine besondere Art ihren akademischen Grad zu
betonen. Bei dem Telefongespräch, das wir geführt hatten, hatte sie
ihn nicht erwähnt.
»Sind Sie auch Medizinerin, wie Ihr Mann?«, fragte ich,
während sie uns ins Wohnzimmer führte.
»Ja«, sagte sie knapp.
»Und an welcher Klinik sind Sie tätig?«
»An gar keiner. Ich bin in der Forschung.«
»An einer Universität?«
»In einem Pharma-Unternehmen. Marburg Medo Tech Ltd. - falls
Ihnen das was sagt. Deswegen bin ich auch nicht oft zu Hause. Die
Labore der Firma sind in Marburg und ich komme am Wochenende her,
wenn es passt. Oder jetzt – aus besonderem Anlass.« Sie
schluckte.
Wir nahmen in den ausladenden Sesseln Platz, in denen man sehr
tief saß. Dr. Birgit Noland hingegen hatte sich auf die Couch
gesetzt. Sie lehnte sich nicht an, sondern saß kerzengerade da. Das
wirkte sehr angespannt. Mit einer fahrig wirkenden Handbewegung
strich sie sich eine verirrte Strähne ihres brünetten, seidig
wirkenden Haares zur Seite.
Mein Blick ruhte auf ihr, aber sie vermied es, mich direkt
anzusehen.
»Ich verstehe das nicht«, murmelte sie nach einem Moment des
betretenen Schweigens. Ich wusste nicht genau, was sie jetzt meinte
und wollte gerade nachhaken, als Roy mir einen Blick zuwarf. Er war
dagegen. Und er hatte recht. Manchmal ist es das Beste, jemanden
einfach reden zu lassen. Und Roy hatte in diesem Fall das bessere
Gespür für die Situation. »Mein Mann hat sich für andere
aufgeopfert«, fuhr sie schließlich fort. »Er war früher in der
Forschung, genau wie ich, wussten Sie das?«
»Nein, so weit haben wir uns mit dem Lebenslauf Ihres Mannes
noch nicht beschäftigt«, gestand ich ein.
»Aber ihm war es wichtiger, Drogensüchtige und Obdachlose zu
verarzten. Er hat sich für das Albertinen-Krankenhaus aufgeopfert
und nie irgendwelche Privilegien in Anspruch genommen. Diese ganze
dienstliche Knochenmühle in einer Klinik, das habe ich während
meiner Ausbildung zur Fachärztin alles durchgemacht, aber ich kann
Ihnen sagen, ich bin froh, dass ich da raus bin.«
»Wir haben vorhin jemanden vor Ihrer Haustür getroffen, der
behauptete, ein Patient Ihres Mannes zu sein«, stellte ich
fest.
Sie sah jetzt auf und nickte. Ein verhaltenes Lächeln flog
über ihr Gesicht. Für einen kurzen Moment wirkte sie etwas
entspannter.
»Ja, das wundert mich gar nicht. Er hat sehr vielen Menschen
sehr geholfen – auch Patienten, die andere aufgegeben hätten.
Wissen Sie, er hatte die Ideale des ärztlichen Berufs geradezu
verinnerlicht, so wie ich es bei niemand anderem bisher miterlebt
habe.« Sie hob die Schultern. »Für manch anderes ließ dieses
Engagement allerdings kaum Zeit.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Seit ich in Marburg die Laborleitung bekommen habe, führten wir
eine Wochenendbeziehung. Aber glauben Sie, vorher wäre das anders
gewesen? Ich habe den Unterschied - ehrlich gesagt - kaum bemerkt,
so selten hatten wir schon davor Zeit für unser Privatleben. Und
jetzt ist es zu spät.« Sie seufzte.
»Wir suchen jemanden, der einen Grund gehabt haben könnte,
Ihren Mann zu ermorden«, stellte Roy fest. Er hatte ein paar
Ausdrucke von Fotos hervorgeholt. Es handelte sich um Bilder der
anderen Opfer. Allerdings waren es keine Tatortfotos, sondern
Bilder, die die Angehörigen unseren Kollegen zu Fahndungszwecken
zur Verfügung gestellt hatten. Bilder, die die Ermordeten noch
gesund und munter zeigten.
Roy legte sie vor Birgit Noland auf den niedrigen
Wohnzimmertisch.
»Kennen Sie einen dieser Männer?«, fragte ich.
Sie sah sie sich der Reihe nach und anscheinend auch sehr
eingehend an. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf.
»Nein, ich kann mich nicht erinnern. Obwohl, bei dem einen bin
ich mir irgendwie nicht ganz sicher.«
»Bei welchem?« Sie zeigte auf Riemann. »Sehen Sie sich den
Mann ruhig genau an«, forderte Roy sie auf.
Ich zögerte noch damit, ihr durch die Nennung eines Namens
oder irgendeinen anderen Hinweis unter die Arme zu greifen.
Manchmal macht so ein Hinweis eine Aussage am Ende wertlos. Wenn es
ganz schlimm kommt, beschäftigt sich das halbe Präsidium mit einer
falschen Spur, nur weil jemand sich unbedingt erinnern will und
dann dem verhörenden Beamten nach dem Mund redet. Aber Birgit
Noland kam von allein einfach nicht drauf.
»Sagt Ihnen der Name Jason Riemann etwas?«
»Ja, kommt mir bekannt vor.«
»Ihm gehört die Riemann Pharma Tech GmbH in Eidelstedt.«
»Sehen Sie, daher kenne ich den Namen. Wir lassen manchmal
Proben von denen auswerten und es kann sein, dass ich Herr Riemann
schon mal bei irgendeinem Meeting begegnet bin. Aber ich bin jetzt
gerade nicht darauf gekommen, weil Sie mir dieses Bild ja in einem
völlig anderen Zusammenhang gezeigt haben.«
»Besteht irgendeine Verbindung zwischen Riemann und Ihrem
Mann?«, hakte Roy nach. »Versuchen Sie sich zu erinnern! Jede
Kleinigkeit kann uns weiterhelfen.«
Birgit Noland lehnte sich zurück. Sie fuhr sich mit der Hand
über das Gesicht. Bis dahin hatte sie sehr beherrscht gewirkt und
auf den Tod ihres Mannes ziemlich gefasst reagiert. Aber für einen
kurzen Moment konnte man sehen, wie es wirklich in ihr aussah. Die
ganze Trauer und Verzweiflung kam zum Vorschein. In diesem kurzen
Augenblick hatte sie ihre Gesichtszüge nicht unter Kontrolle
gehabt.
Ich wartete geduldig, bis sie wieder in der Lage war, zu
antworten.
»Es kann eigentlich nur beruflich gewesen sein«, meinte sie.
»So wie ich ja auch mit Riemann – flüchtig! - zu tun hatte.«
»Und doch muss eine Gemeinsamkeit geben«, beharrte Roy. »Eine
Gemeinsamkeit, die für den Täter ausgereicht hat, um Riemann, ihren
Mann und noch zwei andere Personen zu töten.«
»Wer sind die anderen?«, fragte sie.
Roy erklärte es ihr. Ich konnte nicht erkennen, dass das
irgendeine Regung bei ihr auslöste.
6
Als wir wieder im Wagen saßen, waren wir beide ziemlich
unzufrieden. Wir hatten nicht viel erreicht.
»Dieser Noland scheint ja ein richtiger Heiliger gewesen zu
sein«, sagte Roy. »Patienten pilgern zu seinem Haus, er hat sich
für die Klinik und die Bedürftigen aufgeopfert und kaum eine Minute
Freizeit gehabt ...«
»Ein Samariter«, stellte ich fest.
»Du sagst es, Uwe.«
»Ich frage mich nach dem Gespräch mit seiner Frau noch viel
mehr, wie jemand von dem Willen beseelt sein kann, ausgerechnet so
einen Menschen umzubringen.«
»Die Welt ist voller Spinner!«
»Wem sagst du das, aber ...«
»Uwe, wir haben es doch jeden Tag mit Leuten zu tun, die aus
irgendwelchen nichtigen Gründen Leute erschießen. Es sind Massaker
angerichtet worden, weil ein Ladenbesitzer die fünfzig Euro
Wechselgeld in seiner Kasse nicht herausrücken wollte oder weil es
zwei auf denselben Parkplatz abgesehen hatten und es den ganzen Tag
schon so heiß war, dass wohl der Großteil des Hirns zeitweilig auf
stand by geschaltet gewesen sein muss.«
Ich ließ mich von meinem Gedanken jedoch nicht abbringen. Roys
Worten hörte ich nur noch wie aus weiter Ferne.
Wer brachte einen beliebten Arzt um?
»Vielleicht hat Dr. Noland mal jemanden falsch behandelt«,
meinte ich dann laut.
»Ein Kunstfehler?«, fragte Roy.
»Kommt doch jeden Tag vor!«
»Du willst jetzt aber nicht vorschlagen, dass wir uns als
Nächstes sämtliche Patienten vornehmen, die dieser Wunderarzt in
den letzten, sagen wir mal zehn Jahren behandelt hat und die in
dein Schema hineinpassen würden.«
Um so einen Aufwand zu rechtfertigen, waren die Anhaltspunkte
in dieser Richtung noch ein bisschen schwach. Und davon abgesehen
brauchten wir in dem Fall auch sachverständige Hilfe. Aber das ist
normalerweise kein Problem. Die Kriminalpolizei hat in seinen
Reihen Spezialisten für beinahe jedes relevante Fachgebiet.
Natürlich auch Mediziner, die in der Lage sind, Krankenakten und
Aufzeichnungen von Ärzten so zu lesen, wie sie gelesen werden
sollten.
»Jedenfalls gibt es schon mal zwischen zwei der Opfer einen
Zusammenhang«, stellte ich fest. »Sie arbeiten beide in einem
weiter gefassten Sinn im medizinischen Bereich.«
»Bleibt nur noch herauszufinden, wie ein Anwalt und ein
Manager in diese Reihe hineinpassen«, meinte Roy.
»Krankenhäuser beschäftigen auch Manager – und Anwälte werden
auch immer wichtiger, vor allem wenn es um Kunstfehler geht, über
die wir ja gerade schon mal spekuliert haben.«
»Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir nicht auf dem Holzweg
sind, wenn wir in dieser Richtung weiter ermitteln.«
7
Inzwischen waren unsere Kollegen Stefan Czerwinski und Ollie
Medina längst zum Gefängnis gefahren.
Sie saßen dort Hagen Thore Jambor gegenüber, einem der beiden
Zuhälter, die sich mit ihrem Gefolge eine Schießerei geliefert
hatten. Es hatte mehrere Tote und eine Reihe von Schwerverletzten
gegeben. Jambor schien an dem Gespräch mit Stefan und Ollie nicht
sonderlich interessiert zu sein.
»Hey, was soll das? Was zeigt ihr Kommissare mir hier Bilder
von Leuten, von denen ich nicht wüsste, wie ich sie hier im
Gefängnis hätte treffen sollen?«
Jambor war ein Bär von einem Mann. Er wog sicher anderthalbmal
so viel wie Stefan und überragte unseren Kollegen noch um einen
halben Kopf. Jambor hatte bei der Schießerei damals auch einiges
abbekommen. Seinen linken Arm konnte er seitdem nicht mehr bewegen.
Jambor hatte sich den Kopf kahl rasiert. Eine Tätowierung
bestand aus ein paar rätselhaften Buchstaben ähnlichen Zeichen.
Vermutlich steckten irgendwelche Codes der Gangs dahinter, mit
deren Hilfe sie sich gegenseitig sofort erkennen sollten.
»Was weiß ich, wer diese Waffe in der Hand gehabt hat?«,
fragte Jambor aufgebracht. »Verdammt, wenn jemand auf mich schießt,
dann schaue ich doch nicht erst, ob die Waffe zugelassen ist, was
für ein Fabrikat das ist und und ob die vielleicht schon mal
benutzt wurde! Was reden Sie für einen Unsinn, Mann!«
Stefan Czerwinski blieb vollkommen ruhig.
Hagen Thore Jambor war für sein aufbrausendes Temperament
bekannt und berüchtigt. »Wir nehmen eigentlich eher an, dass einer
Ihrer Leute die Waffe bei sich hatte«, stellte Stefan fest.
»Jedenfalls haben die Kollegen die dazugehörigen Kugeln nicht aus
Ihren Leuten herausgeholt, sondern aus Männern, die wir der anderen
Seite zuordnen und außerdem noch einer völlig unbeteiligten
Bedienung im Latin Sugar.«
Latin Sugar, das war der Name des Clubs, in dem die Schießerei
seinerzeit stattgefunden hatte. Hagen Thore hatte sich selbst dabei
auch ein paar Kugeln eingefangen, was der Hauptgrund dafür war,
dass er heute im Gefängnis einsaß. Eine ganze Reihe der Beteiligten
war allerdings entkommen, ehe die Polizei eintraf und ihre
Identität hatte bis heute auch größtenteils nicht festgestellt
werden können. Wenn Hagen Thore transportfähig gewesen wäre, hätten
ihn die Kollegen sicherlich ebenfalls nicht mehr im Latin Sugar
angetroffen. Das Gesetz des Schweigens hätte ihn dann geschützt.
Genauso wie es jetzt sowohl seine Komplizen als auch seine Gegner
schützte. Keiner der beteiligten Zuhälter oder einer der anderen
Beteiligten hatten eine Aussage gemacht, die irgendetwas wert
gewesen wäre. Vor allem hatten sie nichts über diejenigen gesagt,
die das Glück gehabt hatten, den Beamten durch die Lappen zu
gehen.
Und es bestand wenig Hoffnung, dass Hagen Thore Jambor bereit
war, dieses Schweigen wenigstens jetzt zu brechen.
»Sie haben meine halbe Mannschaft ins Loch gesteckt und die
andere mit unrechtmäßigen, schikanösen Ermittlungen überzogen, die
unsere Familie beinahe geschäftlich ruiniert hätten. Glauben Sie,
ich habe irgendeinen Anlass Ihnen zu helfen?«
»Sie sitzen noch eine ganze Weile, Hagen Thore ...«, stellte
Stefan Czerwinski fest.
»Wegen der rassistischen Justiz hier in Hamburg! Nur
deswegen!«, behauptete Hagen Thore.
»Sie sehen nicht sehr schwarz aus, Herr Jambor.«
»Ich bin Österreicher. Ein Ausländer zu sein, kann genauso
übel sein!«
»Ich kenne eine ganze Menge Leute, die sagen, Sie hätten
verdammt großes Glück gehabt, dass man keine der Kugeln aus Ihrer
eigenen Waffe in einem der Opfer fand und man außerdem die
Argumentation der Verteidigung nicht widerlegen konnte, dass es
sich nicht um ein geplantes Attentat, sondern um eine spontane
Auseinandersetzung gehandelt hat.«
»Wäre es denn wahrscheinlicher, dass ich mir Feinde in einen
Club einlade, den ich kontrolliere, um sie dort erschießen zu
lassen?«
»Hat es alles schon gegeben, Herr Jambor.«
»Ist doch widersinnig! Die anderen waren die Eindringlinge und
Angreifer, das ergibt Sinn!«
»Wir wollen die Gerichtsverhandlung nicht nochmal von vorne
beginnen, Herr Jambor«, wehrte Stefan ab. »Wenn man Sie wegen
Mordes dran gekriegt hätte oder Ihnen auch nur den Auftrag dazu
hätte nachweisen können, dann würden Sie das Gefängnis nie wieder
von außen sehen und - das müsste Ihnen Ihr Anwalt eigentlich auch
klargemacht haben!«
Jambor machte seine Augen schmal. So schmal, dass man das
Weiße in den Augen fast nicht mehr sehen konnte.
»Und Sie können froh sein, dass ich mit einem, der sich mit
einem ausländischen Namen vorstellt, überhaupt rede. Vielleicht hat
man Ihnen das ja auch irgendwo gesagt, Czerwinskileinchen!«
»Für Sie Herr Czerwinski«, erwiderte Stefan – immer noch
ruhig.
Ollie musste sich sichtlich beherrschen, um sich auch
weiterhin zurückzuhalten. Jambor hatte das längst bemerkt und
offenbar hatte er Freude daran, Stefans Kollegen irgendwann platzen
zu sehen. Für solche Psycho-Spielchen war Jambor bekannt. Er
provozierte gern.
»Hören Sie zu, es sind vier Männer in einer Nacht mit dieser
Waffe ermordet worden ...« Er schob die Fotos, die Stefan und Ollie
ihm zuvor gegeben hatten, über den Tisch in dem kahlen
Besprechungszimmer zurück, ohne einen Blick darauf geworfen zu
haben.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich nichts damit zu tun
habe! Und auch sonst niemand, den ich kenne. Also sparen Sie sich
Ihr Gequatsche. Und die Fotos können Sie sich sonst wo
hinstecken.«
»Der Freier eines Ihrer Callgirls ist ebenfalls mit dieser
Waffe unter höchst mysteriösen Umständen erschossen worden – und
falls man Ihnen da irgendetwas mehr nachweisen kann, dann kommen
Sie da nicht wieder heraus, Herr Jambor!«
»Sie wollen nur, dass ich Namen sage.«
»Die Namen von den Leuten, die vielleicht bei der Schießerei
im Latin Sugar die Tatwaffe benutzt haben, mit oder ohne
Schalldämpfer.«
»Nicht mal die Namen meiner Feinde werde ich Ihnen nennen,
Kommissar! Dann könnte ich mich gleich selbst erschießen!«
Jetzt mischte sich Ollie ein.
»Und was ist mit Zita Jonas?«
Hagen Thore blickte auf. Zita Jonas war der Name des
Callgirls, das zu dem Ring gehörte, den Jambor betrieben hatte und
deren Freier erschossen worden war.
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie ist seit damals unauffindbar.«
»Ihre Strafe wegen Beischlafdiebstahl müsste sie inzwischen
doch abgesessen haben.«
»Stimmt.«
»Gibt's da keine Bewährungsauflagen oder sowas, womit man dann
eine ehrliche, selbstständig arbeitende Geschäftsfrau wie Zita
schikaniert?«
»Wir können sie nicht finden – und wir dachten, Sie könnten
uns da vielleicht weiterhelfen.«
Hagen Thore verzog das Gesicht.
»Tut mir leid, ich habe sie längere Zeit nicht gesehen. Wie
Ihnen ja wohl bekannt sein dürfte, sitze ich seit geraumer Zeit in
diesen Mauern hier fest.«
»Wollen Sie nicht erst mal hören, was für Sie drin sein
könnte?«, wollte Ollie wissen.
Hagen Thore Jambor knurrte etwas Unverständliches vor sich
hin. Spanisch war es nicht. Das hatten schon seine Eltern nicht
mehr richtig sprechen können. Aber auf jeden Fall war es ziemlich
unfreundlich gemeint.
»Wenn Sie mich noch einmal so nennen, dann sage ich einem von
meinen Freunden draußen Bescheid, dass er Ihnen bei Gelegenheit mal
eine Abreibung verpasst, nach der Sie erst mal ein Jahr dienstfrei
haben und üben können, wie man eine Schnabeltasse benutzt!«
»Es hat wohl keinen Sinn«, stellte Stefan fest.
»Wache!«, rief Hagen Thore Jambor. »Ich will hier raus! Diese
perversen Typen haben mich psychisch gefoltert!«
Einen Augenblick später wurde Hagen Thore Jambor abgeführt. Er
grinste Ollie und Stefan dabei triumphierend an. Obwohl er
Handschellen trug, schaffte er es noch, den beiden Kommissaren
einen Stinkefinger zu zeigen.
Stefan lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand über das
Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf.
»Reizender Typ«, meinte er.
»Ich sagte dir doch, der redet nicht!«, gab Ollie
zurück.
»Einen Versuch war es trotzdem wert. Mit seiner
Kooperationsbereitschaft hätten wir es sehr viel leichter
gehabt.«
»Er weiß genau, dass er bei seinen Leuten unten durch ist,
wenn er den Mund aufmacht.«
»Das könnte ihm in seiner Lage doch eigentlich gleichgültig
sein!«
»Wie wär's, wenn wir mal mit seinem Anwalt reden. Vielleicht
kann der ihm unsere Argumente etwas leichter verdeutlichen, als uns
das gelungen ist.«
»Er hat seinen alten Anwalt rausgeschmissen und einen neuen
engagiert. Vielleicht lohnt sich das tatsächlich.«
Die Tür öffnete sich und einer der Wärter kam herein.
»Brauchen Sie diesen Raum noch?«, fragte er.
»Nein, wir sind fertig«, sagte Stefan und seufzte. »Fix und
fertig.«
8
Als Roy und ich bei Frau Noland fertig waren, erkundigten wir
uns noch in der Nachbarschaft, ob irgendjemand dort zur Tatzeit
relevante Beobachtungen gemacht hatte.
Aber unglücklicherweise war zur Zeit so gut wie niemand zu
Hause. Die Straße, in der sich Nolands Haus befand, schien wie
ausgestorben zu sein.
»Kein Wunder – es ist noch Bürozeit«, meinte Roy. »Die sind
alle noch bei der Arbeit und gehen ihren Geschäften nach.«
»Ich hatte eigentlich gehofft, dass es hier auch ein paar
Rentner und Hausfrauen gibt.«
»Wo denkst du hin, Uwe! Bei Ersteren sind die Rentenfonds nach
der letzten Finanzkrise Pleite gegangen und Letztere gibt es doch
sowieso nur noch selten.«
»Dann sollten wir uns hier nach Büroschluss noch mal
umhören.«
Wir stiegen schließlich in den Jaguar und fuhren Richtung
Süden.
Roy aktivierte unterdessen den TFT-Bildschirm des
Bordrechners, der im Jaguar installiert war. Alles, was wir an
Daten brauchten, konnten wir jederzeit und überall, wo es eine
Netzverbindung gab, über SIS abrufen, ein Datenverbundsystem
sämtlicher Polizeieinheiten.
Ein Telefonanruf erreichte uns, und wir nahmen es über die
Freisprechanlage entgegen. Es war Stefan. Er informierte uns knapp
über den ernüchternden Verlauf des Gesprächs, das er und Ollie mit
Hagen Thore Jambor geführt hatte.
»Wir werden uns natürlich auch in Jambors Umgebung umhören,
aber ich glaube nicht, dass man dort viel auskunftsfreudiger sein
wird«, glaubte Stefan. »Ein Rätsel ist immer noch, wo Zita Jonas
abgeblieben ist. Sie hätte sich bei ihrer Bewährungshelferin melden
müssen und ist seit einer Woche verschwunden.«
»Aber ob das wirklich etwas mit dem Fall und der Tatwaffe zu
tun hat?«, war Roy ziemlich skeptisch.
»Vielleicht wollte Zita einfach aus ihrem bisherigen Leben
ausbrechen und einen Neuanfang machen ...«, meinte ich.
»Einen Neuanfang in ihrem alten Gewerbe und für einen neuen
Zuhälter! Dann müsste sie schon reichlich naiv sein, Uwe! Vor allem
wenn sie denkt, dass ihr die Justiz nicht irgendwann auf den Pelz
rückt. Sie ist schließlich vorzeitig entlassen worden und davon
abgesehen war das ja auch nicht ihre erste Verurteilung, wenn ich
die Datensätze richtig gelesen habe.«
»Hast du«, bestätigte Stefan.
»Na, also!«, nickte Roy. »Sie riskiert, dass sie einen
ziemlich ungnädigen Richter bekommt, wenn sie die Auflagen nicht
erfüllt und sich einfach so davonmacht.«
»Und wenn sie einen guten Grund dafür hat?«, fragte ich.
»Meinst du, dieses Callgirl hatte vielleicht mehr mit dem Mord
an dem Freier zu tun, als die Kollegen seinerzeit ermittelt
haben?«, meinte Roy.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wäre doch möglich, oder? Vielleicht hat sie die Waffe sogar
selbst abgedrückt, und Jambor und sein Anhang gaben das Schießeisen
nur verschwinden lassen und irgendwo auf dem Schwarzmarkt
verkauft.«
»An den Kerl, der die vier Morde in der Nacht von Freitag dem
dreizehnten auf den vierzehnten auf dem Gewissen hat?«,
vergewisserte sich Stefan über die Freisprechanlage, ob er meinen
Gedankengang richtig verstanden hatte.
»Exakt«, sagte ich.
»Eine Möglichkeit wäre es zumindest«, gestand Stefan zu.
»Auf jeden Fall sollten wir die Möglichkeit nicht außer Acht
lassen, dass all das vielleicht gar nichts mit irgendwelchen
Zuhälterkriegen, Prostitution und irgendwelchen
Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Banden zu tun hat«, gab
ich zu bedenken.
»Die Waffe könnte uns in die Irre führen«, nickte Roy.
»Und vielleicht soll sie das sogar«, warf ich ein.
Aber darauf ging niemand weiter ein. Aber wäre es für einen
Täter nicht eine ideale Methode gewesen, den Verdacht auf
irgendwelche Kriminellen zu lenken, indem er sich eine Waffe
besorgte, von der man vermuten musste, dass sie bei diversen
Straftaten Verwendung gefunden hatte?
Stefan berichtete uns noch, dass sie derzeit auf dem Weg zu
Jambor' neuem Anwalt seien und hofften, dass der vielleicht besser
in der Lage sein würde, Hagen Thore kooperativ zu stimmen.
Wirklich zuversichtlich klang unser Kollege, was diesen Punkt
anging, allerdings nicht.
Und vermutlich lag er mit dieser Skepsis richtig.
9
Roy und ich genehmigten uns einen Hot Dog und fuhren dann
zunächst zu dem pharmazeutischen Versuchslabor, das Jason Riemann
betrieben hatte. Dort ging der Betrieb anscheinend zunächst einmal
ganz normal weiter.
Angestellte hatte die Firma ja genug.
Wir sprachen mit einem gewissen Dr. Dr. Konrad Dole, der bis
auf Weiteres die wissenschaftliche Leitung der Firma übernommen
hatte und wohl ohnehin schon immer Riemanns rechte Hand gewesen
war.
»Wer hat bestimmt, dass Sie hier die Leitung haben?«, fragte
ich.
»Das war Jason selbst. Er wollte, dass der Betrieb im Falle
seines Ablebens reibungslos weitergehen kann und hat es deshalb
sogar testamentarisch festgelegt.«
»Das ist ungewöhnlich.«
»Nicht, wenn man Jason – also Herr Riemann genauer kannte. Er
war ein sehr penibler, ausführlich planender Mensch. Spontanität
war nicht so seine Sache. Aber bei unserer Arbeit kommt es auf
Genauigkeit an, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Vielleicht erklären Sie es mir!«
Dole lehnte sich etwas zurück. Er war ungefähr fünfzig Jahre
alt, blass, etwas zu dick und trug eine ziemlich starke, schwarz
umrandete Brille, die seine Augen etwas größer erscheinen ließen,
als sie in Wirklichkeit waren.
»Neben den Auftragsarbeiten, die wir für Universitäten und
Krankenhäuser durchführen, erstellen wir Studien, die bei der
Entwicklung von hoch wirksamen Medikamenten wichtig sind und
entwickeln auch eigene Präparate. Winzige Fehler können verheerende
Auswirkungen für sehr viele Patienten haben. Es könnte passieren,
dass die Wirksamkeit eines Präparats völlig falsch eingeschätzt
wird und entweder ein Medikament, das potenziell viele
Menschenleben retten könnte, nicht auf den Markt kommt oder
umgekehrt ein in Wahrheit schädliches Heilmittel vielleicht
tausende oder zehntausende von Behandlungsopfern nach sich zieht.«
Er hob die Schultern. »Inklusive natürlich der
versicherungsrechtlichen Folgen und der Flut von
Schadensersatzklagen, die sich daran dann für gewöhnlich
anschließen.«
»Ich verstehe.«
»Das ist wie bei einer Seilschaft im Himalaya.«
»Den Vergleich verstehe ich jetzt nicht so ganz.«
»Wenn einer in der Seilschaft abstürzt, dann reißt er einige
andere mit den Abgrund.« Dole schob sich die Brille wieder hoch,
die anscheinend dazu neigte, an seiner Nase herabzurutschen. »Wir
bedauern Jasons Tod alle aufrichtig und sind völlig fassungslos,
wie ausgerechnet er einem Gewaltverbrechen zum Opfer fallen konnte.
Jason war schließlich ein ausnehmend friedlicher Mensch, der nichts
anders gewollt hat, als dem medizinischen Fortschritt zu dienen.
Dass gerade so jemand zur Zielscheibe des Hasses werden kann ...«
Dr. Dr. Dole schüttelte den Kopf, um noch einmal zu unterstreichen,
wie sehr ihn der Tod seines bisherigen Chefs mitgenommen hatte.
Meinem Gefühl nach wirkte das etwas aufgesetzt. Zur Schau getragene
Emotionen, die einfach nicht glaubwürdig waren.
»Wessen Hass meinen Sie?«, fragte Roy. »Was Sie sagen, klingt
ja fast so, als hätten Sie einen Verdacht.«
Dole runzelte die Stirn.
»Ich hatte eigentlich gehofft, Sie hätten die Leute längst
festgenommen!«
»Welche Leute?«, fragte Roy.
»Na, diese radikalen Tierschützer, die uns seit geraumer Zeit
verfolgen! MÖRDER!!!!! mit fünf Ausrufungszeichen stand einige Male
vorne auf Jasons Wagen. Er hat das überlackieren lassen, aber dann
stand es plötzlich wieder dort. Ich sage Ihnen was: Keiner von
diesen Aktivisten würde es ablehnen, bei einer schweren Krankheit
ein von uns getestetes Präparat zu benutzen, wenn er nur dadurch
gerettet werden könnte! Glauben Sie mir! Das sind alles nur
Maulhelden, aber vom medizinischen Fortschritt wollen die genauso
profitieren, wenn es um ihr Leben oder ihre Gesundheit geht.«
»Sind Ihnen diese Aktivisten namentlich bekannt?«, fragte
ich.
»Nein. Es gab mehrere Anzeigen, aber die Polizei hat nie
herausgefunden, wer dahintersteckt. Unser Rechnersystem wurde
zeitweilig durch Internetattacken lahmgelegt und es gab
verschiedene andere Aktionen, die im Wesentlichen nur ärgerlich und
kostenintensiv waren.«
»Herr Dole, in der Nacht als Jason Riemann umgebracht wurde,
starben noch drei weitere Männer, die mit derselben Waffe
erschossen wurden«, erklärte ich. »Wir suchen momentan nach einem
Zusammenhang zwischen allen vier Opfern und möchten Ihnen deshalb
Fotos dieser Männer zeigen. Vielleicht erkennen Sie ja einen oder
mehrere von ihnen wieder.«
Dole schien etwas überrascht zu sein. Er hob die Schultern.
»Warum nicht?«, fragte er schließlich.
Roy legte ihm Bilder von Stockjäger, Noland und Görneck vor.
Er sah sie sich eingehend an. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, tut mir leid, ich habe keinen dieser Männer je gesehen
– und schon gar nicht im Zusammenhang mit Herrn Riemann.«
Das Telefon auf Doles Schreibtisch klingelte. Dole nahm das
Gespräch entgegen. Sein Gesicht bekam einen etwas angestrengten
Ausdruck.
»In Ordnung, ich werde es ausrichten«, erklärte er dann.
Nachdem das Gespräch beendet war, wandte er sich wieder an uns.
»Das war Herr Timo Riemann, der Sohn des Ermordeten. Er erbt das
Labor und ist derzeit im Haus, um sich einen Überblick zu
verschaffen und würde sehr gerne auch mit Ihnen sprechen.«
»Sehr gerne«, sagte ich.
»Ich hatte Herr Riemann junior über unser Treffen hier
informiert. Die Sekretärin bringt Sie hin.«
»Danke sehr«, nickte ich.
An Dole hatten wir ohnehin im Moment keine Fragen mehr.
10
Timo Riemann war ein schlaksiger junger Mann mit gelockten
Haaren, die etwas wirr herumstanden. Er trug ein Jackett, in dessen
Schultern er noch nicht so ganz hineingewachsen war. Wir trafen ihn
in einem Konferenzraum, der kurzfristig zu einem Büro
umfunktioniert worden zu sein schien. Überall lagen geöffnete Akten
und zahllose Dokumente und Geschäftsunterlagen.
»Uwe Jörgensen und Roy Müller von der Kriminalpolizei
Hamburg«, stellte uns die Sekretärin vor. »Herr Timo Riemann
...«
»Danke, Sie können dann gehen«, sagte Riemann, woraufhin die
Sekretärin sich zurückzog. Riemann gab mir die Hand und rückte sie
sehr fest. Offenbar wollte er gleich klarstellen, wer hier das
Sagen hatte.
Außer Riemann befand sich noch ein rundlicher Mann mit dicker
Brille im Raum. Riemann stellte ihn uns als Claus Schuster von
Schuster, Bruckner & Partner vor, einer Anwaltskanzlei, die
sich auf Erb- und Vermögensrecht spezialisiert hatte.
»Wir sind leider etwas in Eile, weil wir noch einiges ordnen
müssen, bevor es in die Schlacht geht«, sagte der junge
Riemann.
Ich hob die Augenbrauen.
»In die Schlacht?«, hakte ich nach.
Timo Riemann verzog das Gesicht zu einem dünnen, etwas
spöttischen Lächeln.
»Vielleicht eine etwas übertriebene Formulierung«, meldete
sich Claus Schuster zu Wort.
»Es geht um eine juristische Schlacht«, erläuterte Riemann.
»Meine Eltern haben sich vor einiger Zeit scheiden lassen. Ich bin
zwar laut Testament der Alleinerbe, aber es gibt noch diverse
Ansprüche, die meine Mutter unbedingt glaubt durchsetzen zu müssen.
Wie auch immer, es wird da wohl noch einiges an Gezerre
geben.«
»Aber Sie haben vor, das Labor weiter zu führen?«, fragte
ich.
Riemann sah mich überrascht an.
»Ja, sicher!«
»Verstehen Sie denn etwas von Pharmakologie?«
»Nein. Ich habe Betriebswirtschaft studiert beziehungsweise
bin noch dabei. Aber im Prinzip ist es immer dasselbe, ganz gleich,
was Sie verkaufen. Ob es nun um Studien zur Wirksamkeit von
Medikamenten oder um Autoreifen geht, spielt letztlich keine Rolle.
Es geht immer darum, den Kunden zu erreichen und zufriedenzustellen
– und darum, dass man der Beste auf dem Markt ist.«
»Eine interessante Sichtweise«, sagte ich.
»Dr. Dole ist ein kompetenter wissenschaftlicher Leiter,
dessen Fähigkeiten ich voll und ganz vertraue«, erklärte der junge
Herr Riemann. »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, dass dieses
Unternehmen auch in Zukunft erfolgreich arbeiten kann.«
Wir zeigten ihm die Bilder der anderen Mordopfer. Riemann
betrachtete sie ziemlich gelangweilt und gab sie an Claus Schuster
weiter.
»Tut mir leid«, sagte der junge Mann. »Aber ehrlich gesagt,
hatten mein Vater und ich in den letzten Jahren auch kaum
gemeinsame Bekannte. Ich habe in Bonn und London studiert und
wissen Sie, es gab außerdem gewisse Spannungen bei uns zu Hause,
die mich jetzt auch nicht unbedingt dazu ermutigt hätten, zu jedem
Weihnachtsfest nach Hause zu kommen, wenn Sie verstehen, was ich
meine!«
»Nicht so ganz«, gab ich zu. »Aber vielleicht erläutern Sie es
mir.«
»Den da kenne ich«, meldete sich jetzt Claus Schuster zu Wort.
Der Anwalt schob sich die Brille zurecht und schien zu stutzen.
»Arnold Görneck!«, stieß er dann hervor. »Ein Kollege!«
»Woher kennen Sie Herrn Görneck?«, fragte ich.
»Wir sind uns mal vor Gericht begegnet. Ist schon ein paar
Jahre her. Ich habe damals in einer Kanzlei gearbeitet, die auf
Schadensersatzfälle spezialisiert war und Herr Görneck vertrat die
Gegenseite.«
»Welche Gegenseite.«
»Ein Pharma-Unternehmen.«
»Können Sie sich an den Namen erinnern?«
»Warten Sie, ich habe eigentlich ein gutes Gedächtnis für so
etwas. DPR, so hieß der Gegner. Ich glaube, das steht für Dormer
Pharmacological Research GmbH & Co.KG.«
»Das war die Firma, bei der mein Vater früher als
Wissenschaftlicher Leiter angestellt war«, mischte sich Riemann
junior ein. »Da lebte ich noch zu Hause. Mein Vater hat sich ja
erst später selbstständig gemacht.«
Roy und ich wechselten einen kurzen Blick. Das war zumindest
schon mal ein Zusammenhang zwischen zwei der Opfer – wenn auch ein
sehr vager. Fast genauso vage wie die Verbindung, die es zwischen
dem Arzt Noland und Riemann und einem Labor gab. Aber vielleicht
lohnte es, dieser Spur zumindest ein Stückweit zu folgen. Eine
bessere hatten wir schließlich nicht und das, was sich bisher über
einen Zusammenhang zur Zuhälter- und Prostituierten-Szene ergeben
hatte, war auch noch alles andere als zwingend.
»Wissen Sie zufällig noch, worum es bei diesem Prozess
gegangen ist?«, fragte Roy.
»Worum es immer geht: Jemand hatte einen Schaden durch ein
Medikament erlitten und wollte nun die Firma, die es entwickelt
hatte, dafür verantwortlich machen. Genaueres kann ich Ihnen zum
Einzelfall nicht mehr sagen. Da ich inzwischen in einer anderen
Kanzlei arbeite, vermute ich, dass Sie weitaus leichter an die
Akten herankommen als ich.« Claus Schuster sah noch einmal auf das
Foto von Görneck und schüttelte den Kopf, wobei sich eine tiefe
Furche auf seiner Stirn bildete. »Ich weiß nur noch, dass ich
damals verloren habe. Ich konnte die Ansprüche meines Mandanten,
die dieser an seine Krankenversicherung abgetreten hatte, leider
nicht durchsetzen. Aber Görneck war ein netter Kerl. Wir haben
hinterher ein Bier zusammen getrunken. Nicht zu fassen, dass er
jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilt.«
Ich gab sowohl Claus Schuster als Timo Riemann meine Karte.
»Es kann ja sein, dass Ihnen noch irgendetwas einfällt, was
uns weiterhelfen könnte«, meinte ich.
»Sicher«, sagte Claus Schuster »Nur fürchte ich, dass ich
Ihnen nicht mehr dazu sagen kann.«
11
Wieder im Jaguar telefonierten wir mit Polizeiobermeister Rick
Grabow, dem Chef des Polizeireviers, das die Anzeigen gegen die
radikalen Tierschützer aufgenommen hatte. Wir verabredeten ein
Treffen, eine Viertelstunde später.
»Aber beeilen Sie sich«, sagte Polizeiobermeister Grabow über
die Freisprechanlage. »Ich habe gleich noch einen Termin bei
Gericht und habe keine Lust, Ihretwegen eine Strafe wegen
Missachtung aufgebrummt zu bekommen!«
Eine Viertelstunde später empfing uns Polizeiobermeister
Grabow in seinem Büro. Er war ein korpulenter Mann mit einem
breiten Gesicht und freundlichen Augen, die etwas im Gegensatz zu
seiner Bärbeißigkeit standen, für die er bekannt und berüchtigt
war. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt, das Hemd am Kragen zwei
Knöpfe geöffnet.
»Einen Sitzplatz kann ich Ihnen nicht anbieten«, sagte Grabow.
»Die Kollegen brauchten alle Stühle für ein Meeting der
Gewerkschaft, das diesmal in unserem Revier stattfindet.«
»Halb so wild. Wir haben eine gute Kondition«, sagte
ich.
»Aber einen Kaffee aus der Maschine können Sie
bekommen!«
»Gerne.«
Grabow besorgte jedem von uns einen Becher mit Kaffee. Mit
Mandys Gebräu war das natürlich nicht zu vergleichen. Aber im
Moment war ich da nicht so wählerisch.
Er schlürfte den halben Becher in einem Zug in sich hinein und
sah anschließend auf die Uhr. Letzteres tat er schon zum dritten
Mal, seit wir sein Büro betreten hatten.
»Ich sagte Ihnen ja, dass ich etwas knapp dran bin. Deswegen
habe ich schon mal herausgesucht, was Sie vielleicht interessieren
könnte.«
»Und das wäre?«, fragte ich.
Er deutete auf eine Mappe auf seinem Schreibtisch. Grabow
öffnete sie.
»Es geht ja um den Fall Riemann und diese Aktivisten, die den
Laborbetrieb immer wieder gestört haben. Es gab da eine ganze Reihe
von unterschiedlichen Attacken, die zur Anzeige gebracht wurden.
Von Computerangriffen bis zu einfachen Schmierereien.«
»MÖRDER!!!!! mit fünf Ausrufungszeichen!«, stellte ich
fest.
Grabow nickte.
»Ja, das scheint eine Art Erkennungszeichen gewesen zu sein,
das diese Gruppen verwendet haben. Aber ich bin mir bis heute nicht
sicher, ob das wirklich auf eine Person oder eine Gruppe
zurückgeht, oder ob sich da nicht immer neue Aktivisten angehängt
haben.«
»Es ist nie jemand verurteilt worden, nicht wahr?«, hakte Roy
nach.
Grabow nickte.
»Verurteilt wurde niemand. Es gab noch nicht einmal eine
Anklage. Aber ich habe Ihnen die Unterlagen über die Person
herausgesucht, die zumindest für einige Zeit verdächtigt wurde,
etwas damit zu tun zu haben.«
Ich nahm die Mappe an mich und warf einen Blick hinein.
»Toralf Maybaum, inzwischen schon 28 Jahre alt, wohnt hier in
Eidelstedt, hat mehrere Verurteilungen wegen Sachbeschädigung und
dergleichen Delikten, die in Zusammenhang mit den Aktionen
radikaler Tierschützer stehen.«
»Warum wissen wir bislang dann nichts davon?«, empörte sich
Roy.
»Weil nicht Riemanns Labor Ziel dieser Attacken war«,
antwortete ich mit Blick auf das von Polizeiobermeister Grabow
zusammengestellte Material. »Es ging hier um eine gewisse DPR
...«
»Dormer Pharmacological Research?«, vergewisserte sich
Roy.
»Genau«, nickte ich.
»Da war Riemann doch früher Forschungsleiter.«
»Ja, die geschädigte Person ist ein gewisser Dr. Roger Noland,
dessen Wagen besprüht worden ist!«
»Dann war Noland auch bei DPR beschäftigt?«, hakte Roy
nach.
»Womit wir eine Gemeinsamkeit zwischen drei der Opfer hätten:
Noland, Riemann und Görneck, der für DPR ja als Anwalt tätig
war.«
Polizeiobermeister Grabow mischte sich jetzt ein.
»Ich verstehe im Moment nicht so ganz, worüber Sie beide
reden, aber anscheinend werde ich ja nicht mehr gebraucht und kann
mich vom Acker machen ...«
»Nun, Polizeiobermeister ...«, wollte ich gerade noch zu einer
Nachfrage ansetzen, während Polizeiobermeister Grabow bereits sein
viel zu enges und ziemlich zerknautschtes Jackett übergestreift
hatte.
»Ach, noch eins! Es waren mehrere Personen bei DPR, die von
diesem Toralf Maybaum belästigt wurden.«
Ich blätterte in der Mappe weiter und fand einen weiteren
bekannten Namen.
»Dirk Stockjäger war offenbar Manager bei DPR!«, stellte ich
fest. Auch sein Wagen war beschmiert worden. Und außerdem hatte
jemand seinen Handy-Account geknackt und ihn mit unfreundlichen SMS
überschüttet, in denen er als Tierquäler und KZ-Wächter beschimpft
wurde.
»Eine Straftat konnte Maybaum nachgewiesen werden. Er hat auf
den Mercedes von Dirk Stockjäger FUCK YOU!!!!! geschmiert«, stellte
ich fest. »Auch mit fünf Ausrufungszeichen.«
»Nicht MÖRDER?«, fragte Roy.
»Nein.«
»Bei allen anderen Verfahren war er verdächtig«, mischte sich
Polizeiobermeister Grabow noch einmal ein, der jetzt den letzten
Rest aus seinem Kaffeebecher herunterschlürfte. »Aber mehr eben
nicht. Für das FUCK YOU musste er gemeinnützige Stunden ableisten
und sich an einem psychologischen Training beteiligen.
Wahrscheinlich hat er fröhlich weitergemacht. Und ich bin auch
überzeugt davon, dass er nicht allein dahintersteckte.«
»Auf jeden Fall lohnt es sich bestimmt, dem jungen Herrn
Maybaum mal einen Besuch abzustatten«, glaubte Roy.
Und in diesem Punkt war ich völlig seiner Meinung.
Ich hatte schon das Handy am Ohr, um mit dem Präsidium zu
telefonieren. Es musste doch möglich sein, dass wir einen
Durchsuchungsbeschluss für Maybaums Wohnung bekamen!
12
Die Adresse von Maybaum war ein etwas heruntergekommenes Haus
in der Redlingsstraße in Eidelstedt. Für Hamburger Verhältnisse
konnte man hier preiswert wohnen. Irgendwelchen
sicherheitstechnischen Luxus, wie die Überwachung durch eine
privaten Sicherheitsdienst, Kameras, Bewegungsmelder und was diese
Branche sonst noch inzwischen so hergibt, suchte man hier
vergeblich. Ein Spion an der Tür und eine Sicherheitskette an der
Wohnungstür mussten reichen. Und die Haustür besaß ein Schloss, das
von Einbrechern mehr als sportliche Übung denn als Hindernis
betrachtet wird.
Toralf Maybaum wohnte im dritten Stock. Wir standen vor seiner
Tür.
Da nicht sicher war, ob die Klingel tatsächlich funktionierte,
klopfte ich außerdem noch.
Zunächst erfolgte keine Reaktion. Erst bei einem weiteren
Versuch tat sich hinter der Tür etwas. Ein Riegel wurde
fortgeschoben. Dann ein zweiter und ein dritter. Schließlich
öffnete sich die Tür einen Spalt. Drei Ketten verhinderten, dass
man sie ganz öffnen konnte. Ein halbes Gesicht mit einem großen,
braunen Auge sah uns an.
»Wer sind Sie?«, fragte eine heisere Stimme.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei Hamburg. Dies ist mein Kollege
Roy Müller.«
»Scheiß Bullen!«
»Herr Maybaum, wir müssen mit Ihnen sprechen.«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Nein.«
»Dann verschwinden Sie!«
»Wir können das Gespräch auch im Präsidium fortsetzen, wo Sie
dann eine freie Übernachtung in einer unserer Gewahrsamszellen
gratis dazubekommen können. Und ein paar neue Schlösser werden Sie
sich auch besorgen müssen, wenn Sie uns dazu zwingen sollten,
gewaltsam zu Ihnen vorzudringen. Also seien Sie vernünftig!«
Maybaums sichtbares Auge starrte uns an, als wären wir Aliens.
Ich hielt ihm meinen Dienstausweis nahe genug entgegen, dass er
eigentlich keine Schwierigkeiten haben durfte, jedes Detail zu
erkennen. Er beruhigte sich anscheinend etwas.
»Moment!«, sagte er.
Dann schloss er die Tür wieder.
Roys Hand ging zur Dienstpistole, meine ebenfalls. Wir machten
jeder einen Schritt zur Seite. Es wäre nicht das erste Mal gewesen,
dass jemand einfach mit einer großkalibrigen Waffe durch die Tür
schießt, ohne Rücksicht, wer dahinter steht.
'Wie lange gibst du ihm?', schien Roys Blick zu fragen.
Für ein paar quälend lange Sekunden geschah gar nichts. Dann
löste er nacheinander die Ketten. Man konnte es hören, wie jede
einzelne von ihnen herabfiel und am Holz der Tür entlangschrammte.
Wenig später öffnete er dann.
Toralf Maybaum trug ein T-Shirt mit der Aufschrift
MÖRDER!!!!!
Die fünf Ausrufungszeichen fehlten natürlich nicht.
Er war ungefähr so groß wie ich, aber nicht sehr kräftig. Er
trug Turnschuhe und eine Jeans mit Löchern.
»Sehr freundlich, dass Sie uns doch noch hereingelassen haben,
Herr Maybaum«, sagte ich. Die Tür zum Nachbarraum stand offen. Ich
sah einen Computerbildschirm. Selbst auf die Entfernung hin konnte
ich erkennen, dass er offensichtlich online war. Die Website der
Hamburger Morgenpost war angewählt. Offenbar hatten wir ihn gerade
bei der Online-Lektüre gestört.
Roy sah sich unterdessen die ziemlich übertrieben wirkenden
Sicherheitsvorkehrungen an der Tür an. Selbst für eine unsichere
Gegend war das etwas zu viel. Eine Kette und ein Riegel hätten
zweifellos ausgereicht. Maybaum hatte aber jeweils drei davon
angebracht. Man konnte das als Zeichen für eine unsichere
Persönlichkeit sehen – oder sogar als ein Hinweis auf
Zwangsvorstellungen.
»Vielleicht können wir uns irgendwo setzen«, sagte ich, als
wir das Wohnzimmer betraten.
Maybaum räumte ein paar Kleidungsstücke von einem der Sessel
und setzte sich selbst auf die Couch. Roy legte ihm ein Bild von
Riemanns verunstaltetem Wagen auf den Tisch.
»Dieselbe Aufschrift - wie auf Ihrem T-Shirt«, stellte Roy
fest.
Maybaums Gesicht verzog sich. Es dauerte einen Augenblick, bis
er begriff, worauf das alles hinauslaufen konnte.
»Ich habe nichts damit zu tun«, behauptete er.
Ich legte ihm die Bilder aller vier Opfer auf den Tisch.
»Diese Männer sind in einer einzigen Nacht umgebracht worden.
Alle drei haben zumindest zeitweilig für ein Labor gearbeitet, das
von einer Firma namens Dormer Pharmacological Research – kurz: DPR
– betrieben wurde. Eine Firma, die zu Ihren Feindbildern zu gehören
scheint.«
»Aber ich habe Riemann nicht umgebracht!«, rief Maybaum. Er
schrie es fast, und sein Gesicht lief dabei rot an. »Und die
anderen auch nicht.«
Roys Handy klingelte. Er nahm das Gespräch entgegen und sagte
zweimal kurz hintereinander: »Ja!« Dann beendete er das Gespräch
und wandte sich mir zu. »Das war Max.«
»Und?«
»Zwei Kollegen sind auf dem Weg hierher. Und sie haben auch
einen Durchsuchungsbeschluss dabei.«
»Dann können wir ja eigentlich schon mal anfangen«, meinte
ich.