Der Umfang dieses Buchs entspricht 120
Taschenbuchseiten.
Das Jahr 1846 in Nordamerika: Der Fährtensucher Ned Brown
soll einen Treck frommer Mormonen ins Gelobte Land im Westen
führen. Doch Ned verliebt sich in die schöne Sarah. Eine verbotene
Liebe, denn für die Mormonen ist Ned ein Ungläubiger. Und außerdem
ist Sarah bereits einem anderen Mann als dritte Ehefrau
versprochen. Gemeinsam fassen die beiden Liebenden einen
wahnsinnigen Plan. Ihre Flucht führt sie in eine mörderische
Wildnis – ein Land, das Gott im Zorn erschaffen haben musste… Und
ihre Verfolger sind ihnen auf den Fersen!
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author / COVER STEVE MAYER nach Motiven von
Pixabay
nach einem Exposé von Alfred Bekker
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau,
herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Schon eine Ewigkeit saß Ned Brown jetzt im Sattel.
Es war unmenschlich kalt.
Ned Brown hatte das Gefühl, schon halb erfroren zu sein.
Er konnte kaum noch eine Gedanken fassen.
Das Pferd stapfte langsam voran. Mechanisch setzte es einen
Huf vor den anderen.
Ein eisiger Wind fegte über dieses Land, das Gott in einem
Anfall von Zorn erschaffen haben musste.
Es war später Nachmittag, als Ned Brown sein Pferd, eine
Fuchsstute, bei dem etwas verwitterten Ortsschild mit der
Aufschrift ‚Nauvoo‘ zügelte. Die schwarze Farbe, mit der der Name
des Ortes auf die Holztafel geschrieben worden war, begann
abzublättern.
Der Dezember des Jahres 1845 war erst wenige Tage alt. Es war
kalt. Ned trug eine dicke Jacke aus Mackinaw-Wolle, deren Kragen er
hochgeschlagen hatte, dicke Handschuhe und eine Mütze mit
Ohrenschützern aus Biberfell, sowie eine Hose aus grobem
Leinenstoff und Fellstiefel. Wenn er ausatmete, bildete sich eine
Nebelwolke vor seinem Gesicht. Das Pferd unter ihm prustete und
scharrte mit dem Huf. Ned tätschelte ihm den Hals und ließ den
Blick über die Häuser, die die Main Street säumten, schweifen.
Viele der Gebäude waren nur noch Ruinen, andere waren beschädigt.
Die Fenster und Türen waren eingeschlagen, Vorbaudächer lagen auf
den Vorbauten, die Vorbau- und Treppengeländer lagen auf dem
Gehsteig oder auf der Straße. Kreuz und quer liegende Balken und
Bretter zeugten von einem Werk sinnloser Zerstörung. Da das Holz
weder marode war und ein Hurrikan für die Zerstörung einzelner
Häuser nicht in Frage kam, sagte sich Ned, dass Menschen dafür
verantwortlich sein mussten.
Am Ende der Hauptstraße erhob sich ein riesiger Tempel. Er
schien unversehrt zu sein. Ned ahnte, dass der Tempel von den
Mormonen errichtet worden war, die, wenige Monate, bevor er Ohio
verlassen hatte, um jenseits des Mississippi in der Wildnis zu
leben, die Stadt zum Hauptsitz ihrer Kirche erklärt hatten.
Jeder sucht irgendwo anders sein gelobtes Land, dachte Ned
Brown. Aber manchmal findet man nur die Wüste - oder die eine oder
andere Hölle!
Den Mormonen, so dachte er, würde es nicht anders gehen als so
vielen anderen vor ihnen.
Nur wenige Menschen waren auf der Straße zu sehen. Die Kälte
schreckte die Stadtbewohner wohl davor ab, das Freie aufzusuchen.
Aus den Schornsteinen der unversehrten Häuser stieg dunkler Rauch.
Da es windstill war, stieg er senkrecht zum Himmel und
zerflatterte.
Ned war über den zugefrorenen Mississippi gekommen.
Er wollte nach Osten.
In der Wildnis jenseits des Mississippi hatte er seit nahezu
vier Jahren als Fallensteller gelebt und mit den Indianern Handel
getrieben. Hin und wieder hatte er sich als Scout an Auswanderer
verdingt, um sie ein Stück westwärts zu führen. Jetzt war er auf
dem Weg nach Ohio, wo bei Cincinnati seine Familie lebte. Er wollte
zu Hause wieder einmal nach dem Rechten sehen. Seit er vor fast
vier Jahren den Mississippi überschritten und die Zivilisation
verlassen hatte, hatte er nichts mehr von seinen Eltern und
Geschwistern gehört. Es war längst an der Zeit, sie zu
besuchen.
Mit einem leichten Schenkeldruck trieb Ned sein Pferd wieder
an. Die Hufe krachten auf dem gefrorenen Boden. Zu beiden Seiten
der Straße hatten die Bewohner der Stadt Schneehaufen angehäuft.
Das Tauwetter, das kurz vor Weihnachten eingesetzt und den Schnee
auf den Dächern und der Straße geschmolzen hatte, hatte diesen
Schneehaufen kaum etwas anhaben können. Gleich nach Weihnachten war
es dann wieder frostig kalt geworden. Der von der Schmelze
verschonte Schnee war beinhart gefroren.
Langsam ritt Ned an den Häusern entlang. Hinter den
Fensterscheiben zeigten sich manchmal die Gesichter von Menschen,
die ihn beobachteten. Der Mountainman sagte sich, dass mit dieser
Stadt etwas nicht stimmte. Die vielen zerstörten und beschädigten
Häuser sprachen für sich. Einen Moment dachte Ned an einen Überfall
durch Indianer, aber aus Illinois und seinen angrenzenden Staaten
waren die Ureinwohner längst vertrieben, sodass er diesen Gedanken
sogleich wieder verwarf.
Ned sah einen Mietstall und lenkte das Pferd darauf zu. Im
Wagen- und Abstellhof saß er ab. Am Zaun zur Main Street hin
standen in Reih und Glied etwa ein halbes Dutzend Conestoga- und
Studebakerschoner mit verwaschenen Planen. Das Stalltor stand
offen. Ned vernahm das Schnauben, Prusten und Stampfen der Pferde
in den Boxen. Im Stall herrschte Düsternis.
Der Trapper nahm das Tier am Kopfgeschirr und führte es durch
das Tor. Stickige Luft, vermischt mit dem Geruch von Stroh und
Pferdeschweiß schlug dem großen, hageren Mann entgegen. Ziemlich am
Ende des Mittelganges hing eine Kerosinlampe von einem Querbalken.
Der Docht war weit heruntergedreht und der Glaszylinder stark
verrußt, sodass das Licht, das die Laterne spendete, lediglich die
Düsternis in ihrem unmittelbaren Bereich ein wenig aufhellte.
Fliegen summten, in den Stallecken spannten sich staubige
Spinnennetze. Das Licht, das durch das Tor ins Stallinnere fiel,
reichte aus, um sie erkennen zu können.
Unter der Lampe hockte der Stallmann, ein bärtiger Mann
mittleren Alters, auf einer Futterkiste und fettete ein Zaumzeug
ein. Er legte Zaumzeug und Bürste weg, erhob sich und ging Ned
entgegen.
Ned blieb stehen. „Howdy“, grüßte er.
„Bilde ich mir das ein oder ist da wirklich jemand?”
„Da ist wirklich jemand”, sagte Ned Brown.
„Okay…”
„Hast du noch einen Platz für mein Pferd?“
Der Stallmann musterte Ned misstrauisch. An dem Patterson
Colt, den Ned in einem Holster am Gürtel trug, verweilte sein Blick
etwas länger. „Das kommt drauf an“, knurrte der Stallbursche
schließlich.
„Worauf denn?”
„Falls du aus Carthage kommst, gibt es für dich hier keinen
Platz. Dann empfehle ich dir, schnell wie der Blitz wieder zu
verschwinden, andernfalls kann es nämlich leicht sein, dass dich
unsere Leute am nächsten Baum aufknüpfen.“
„Schon seltsam, wie man hier bei euch angesichts der
unmenschlichen Kälte, die im Moment herrscht, begrüßt wird!”
„Wieso seltsam?”
Ned fixierte den Stallmann betroffen. „Liegt Nauvoo im Krieg
mit Carthage?“, fragte er dann. Ihm begann zu schwanen, dass die
zerstörten und beschädigten Häuser damit in einem engen
Zusammenhang standen.
„Hast du wirklich keine Ahnung?“, fragte der Stallmann, nach
wie vor mit Argwohn in den Augen, und musterte Neds Gesicht
prüfend, forschte regelrecht darin. Vielleicht versuchte er sich zu
erinnern, ob er es schon einmal gesehen hatte.
„Ich war fast vier Jahre westlich des Mississippi als
Fallensteller und Kundschafter für Wagenzüge unterwegs. Damals war
diese Stadt noch sehr jung. Mormonen haben sie gegründet und ihr
den Namen Commerce gegeben. Jetzt heißt der Ort Nauvoo. Ein
seltsamer Name für eine Stadt.“
„Der Name ähnelt dem hebräischen Wort für schöner Ort“, klärte
der Stallmann Ned auf. „Die Bezeichnung stammt aus der
Bibel.“
„Aha“, machte Ned. „Viele Gebäude sind zerstört oder
beschädigt. Waren das die Leute aus Carthage?“
Der Stallmann nickte. „Sie verfolgen uns mit ihrem Hass. Immer
wieder tauchen Banden aus der Umgebung, hauptsächlich aus Carthage
auf, jagen um sich schießend auf ihren Pferden durch die Stadt,
verprügeln und töten unsere Männer, vergewaltigen unsere Frauen und
reißen unsere Häuser nieder.“
Ned pfiff durch die Zähne. Dann fragte er: „Und ihr lasst euch
das gefallen?“
„Wir sind zu schwach, um uns zu wehren“, erwiderte der
Stallbursche. „Die Männer dieser Stadt sind Geschäftsleute und
Handwerker. Um den Himmelhunden aus Carthage mit einem Schießeisen
in der Hand entgegenzutreten, fehlt ihnen der Mut. Wir mussten
sogar schlucken, dass in Carthage vor anderthalb Jahren Joseph
Smith, unser Führer, ermordet wurde.“
„Warum hassen euch die Menschen von Carthage?“, fragte Ned.
„Weil wir Mormonen sind. Es ist wegen unseres Glaubens. Dazu
kommt ein gehöriges Maß an Neid und Missgunst. Im Gegensatz zu den
meisten unserer Gegner haben wir es zu Wohlstand gebracht. Wie ich
schon sagte: Diese Banditen schrecken selbst vor Mord nicht zurück.
– Man hat uns schon aus Missouri vertrieben, und nun haben uns
diese Gotteslästerer mit ihrem Hass so sehr zermürbt, dass wir auch
diese Gegend verlassen, um irgendwo im Westen das gelobte Land zu
finden, wo wir vor Verfolgung sicher sind und ein Leben in Ruhe und
Frieden führen können.“
„Ihr wollt diese Stadt aufgeben?“, fragte Ned fast ein wenig
fassungslos.
„Brigham will mit uns die Staaten verlassen und uns über den
Mississippi auf mexikanisches Terrain führen. Wie einst Moses die
Juden aus Ägypten führte …“ Damals gehörte das Gebiet westlich des
Mississippi noch zu Mexiko.
„Brigham?“, kam es fragend von Ned, dabei griff er nach dem
Kolben des Gewehres, das, wie der Colt, von Patterson auf den Markt
gebracht worden war, und zog es mit einem Ruck aus dem
Fellscabbard. Es handelte sich um ein Revolvergewehr mit einer
Trommel für fünf Geschosse.
„Brigham Young“, klärte ihn der Stallmann auf. „Er ist
Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, Prophet, Seher und
Offenbarer. Brigham will uns in das gelobte Land führen. Hast du
die Prärieschoner draußen im Hof gesehen? Im Hof fast eines jeden
Hauses hier in der Stadt findest du ein solches Gefährt. Sobald der
Mississippi derart zugefroren ist, dass er eine Überquerung
zulässt, wird der erste Wagentreck nach Westen gehen.”
„Wie groß ist dieser Treck?”
„Es sind etwa sechshundert Menschen, die sich bereit erklärt
haben, Brigham zu folgen.”
„Sind die Mormen nicht eigentlich viel zahlreicher?”
„Die anderen werden nach und nach folgen. Der Terror hier ist
unerträglich geworden.
„Ich verstehe.”
„Was ist dein Ziel, Fremder?“
Ned Brown sah sein Gegenüber einen Augenblick mit schmalen
Augen an, bevor er schließlich antwortete.
„Ohio“, erwiderte Ned knapp, lehnte das Gewehr gegen einen
Tragebalken und machte sich daran, seine Satteltaschen
loszuschnallen. Er warf sie sich über die Schulter, sodass eine
Tasche auf seinen Rücken, die andere vor seiner Brust baumelte,
schnappte sich die Flinte und ergriff noch einmal das Wort. „Ich
suche einen Saloon, in dem ich etwas zu essen bekomme, außerdem
eine Unterkunft für die Nacht.“
„Wir besitzen sogar ein Restaurant“, gab der Stallmann stolz
zu verstehen.
„Wo?”
„Geh einfach die Main Street hinunter in die Richtung des
Tempels.”
„Aha…”
„Du findest es auf der rechten Straßenseite. Gleich daneben
befindet sich das Hotel. Du kannst aber auch hier, im Mietstall,
auf dem Zwischenboden übernachten. Das kostet dich nichts.“
„Das überlege ich mir“, versetzte Ned. „Versorg das Pferd gut.
Gib ihm Hafer zu fressen. Es ist ein treues Tier, das mich nach
Cincinnati tragen soll.“ Nach einer kurzen Pause fügte er stolz
hinzu: „Meine Großeltern und deren Eltern gehörten vor über fünfzig
Jahren zu den Gründern der Stadt. Sie stammten aus
Neuengland.“
Mit dem letzten Wort machte Ned kehrt und verließ auf
sattelsteifen Beinen den Mietstall. Draußen atmete er tief durch,
um den Stallmief aus den Lungen zu kriegen.
2
Er hatte gerade sein Steak mit Bratkartoffeln und Bohnen
verzehrt, als fernes Hufgetrappel erklang, das schnell näherkam und
sich bald als brandende Hufschläge entpuppten. Einige Schüsse
donnerten, die Detonationen stießen durch die Stadt wie eine
unheilvolle Botschaft von Untergang und Tod. Gleich darauf stob ein
Rudel Reiter an dem Restaurant vorbei. Die Kerle stießen spitze
Schreie aus und feuerten um sich. Ned, der am Fenster saß, konnte
deutlich ihre Gesichter erkennen. Sie waren böse verkniffen und
wirkten entschlossen. Die Krempen ihrer Hüte hatte der Reitwind
vorne aufgestellt, ihre Halstücher flatterten.
„Bei Gott!“, rief jemand im Gastraum. Außer Ned waren noch
einige Menschen – Männer und Frauen – anwesend. „Die Hundesöhne aus
Carthage.“
Ned wusste jetzt, was sich anbahnte.
Der Pulk stob vorbei, lediglich zwei der Reiter zerrten ihre
Pferde in den Stand, sprangen ab und rannten schräg über die
Straße. Auf was sie es abgesehen hatten, konnte Ned nicht erkennen.
Doch wenig später erklangen laute Stimmen sowie schallendes
Gelächter, und schließlich die schrille, geradezu hysterische
Stimme einer Frau. Sie rief um Hilfe.
Ned griff kurz entschlossen nach seinem Gewehr, erhob sich und
verließ das Lokal.
Die Hufschläge, die der Rest des Rudels verursachte, drangen
nur noch von Ferne an sein Gehör. Das Peitschen der Schüsse
übertönte sie in unregelmäßigen Abständen. Schräg gegenüber sah Ned
die beiden Kerle, deren Pferde mit geblähten Nüstern und
peitschenden Schweifen mitten auf der Main Street stehengeblieben
waren. Sie schubsten eine junge Frau. Sie trug ein knöchellanges,
hellblaues Kleid und eine gleichfarbige Mütze, die mit weißen
Spitzen gesäumt war. Ein Korb lag auf der Straße. Abgesehen von den
dreien und der Reiterschar, die in Richtung des Tempels stob, war
die Main Street wie leergefegt. Als die wilde Horde gekommen war,
hatte nämlich jeder, der sich auf der Straße befunden hatte,
geradezu von Panik erfasst Schutz gesucht. Niemand wollte der bösen
Stimmung der wilden Reiterschar zum Opfer fallen.
Einer der Kerle packte die junge Frau von hinten und hielt sie
fest, während der andere von vorne an sie herantrat, etwas sagte
und dann ihr Gesicht in beide Hände nahm, um sie zu küssen.
Ihr Knie zuckte hoch, der anmaßende Bursche vor ihr brüllte
auf, taumelte zwei Schritte zurück und krümmte sich, presste beide
Hände in seinen Schritt und jaulte wie ein getretener Straßenköter.
Die junge Frau zog und zerrte und wand sich, um sich aus dem Griff
des anderen der Kerle zu befreien. Aber dessen Arme hielten sie
fest wie ein Schraubstock. Der Bursche lachte meckernd, während der
andere immer noch einen wahren Veitstanz aufführte und brüllte: „Du
verdammtes Weibsbild! Dafür werde ich …“
Die Wut ließ seine Stimmbänder versagen, vom Zorn übermannt
trat er auf die junge Lady zu und zog mit dem rechten Arm auf, um
sie zu schlagen.
Da fuhr dicht über seinen Kopf eine Kugel hinweg und riss
seinem Kumpan den Hut vom Kopf. Das Gewehr Neds schleuderte einen
peitschenden Knall hinterher, der durch die Stadt stieß und
verklang.
Einen Augenblick lang waren die beiden Kerle völlig perplex,
sogar die junge Frau hörte auf, sich dem Griff des groben Kerls
entwinden zu wollen.
In dem Moment, als Ned unter dem Vorbaugeländer
hindurchtauchte und auf die Fahrbahn sprang, richtete sich die
Aufmerksamkeit der beiden auf ihn. Auf dem Vorbau zerflatterte nur
langsam die Pulverdampfwolke von seinem Schuss. Das Gewehr an der
Hüfte im Anschlag haltend schritt Ned über die Straße. Sein
schmales, hohlwangiges Gesicht wies einen entschlossenen Ausdruck
auf. Drei Schritte vor den Kerlen und ihrem Opfer hielt er
an.
„Lass die Lady los!“, peitschte sein Organ und seine Augen
blickten hart wie Bachkiesel. Dafür hatte er kein
Verständnis.
Der Bursche, der die junge Frau festhielt, überragte diese um
Haupteslänge. Die Mündung des Revolvergewehrs deutete auf sein
Gesicht. Neds Zeigefinger krümmte sich locker um den Abzug. Vier
der Kammern in der Trommel waren mit Kugeln und Zündhütchen
bestückt, die fünfte war leer. Das Geschoss hatte ein Loch in den
Hut des Kerls gestanzt. „Ich zähle bis drei“, warnte Ned. „Eins
…“
Jetzt mischte sich der andere der Männer ein. Er schien seine
Not von dem Tritt überwunden zu haben. Seine Hand lag auf dem Knauf
des Revolvers, der in seinem Gürtel steckte. Breitbeinig stand er
da. „Du spielst mit deinem Leben, Fremder!“, keifte er. „Welcher
Teufel reitet dich? Ich werde dir …“
Die Hufschläge näherten sich wieder, auch die Detonationen
schienen wieder deutlicher zu werden. Ned hatte nicht mehr allzu
viel Zeit. Er machte zwei lange Schritte auf den Sprecher zu,
sodass dieser erschreckt abbrach. Neds Gewehr wirbelte herum, ein
weiterer Schritt, und ehe sich der Kerl versah, rammte ihm der
Trapper den Kolben in den Leib. Aufbrüllend krümmte er sich.
Sein Gefährte, der nach wie vor die Frau umklammert hatte, war
ebenfalls von dieser Aktion überrascht worden, denn er war zu
keiner Reaktion fähig. Und als die Erstarrung von ihm abfiel und er
nach seinem Revolver greifen wollte, spürte er die Mündung von Neds
Gewehr an der Schläfe. „Zwei!“, stieß Ned hervor.
Nun gab der Bursche die Frau frei. Sie trat schnell einen
Schritt von ihm weg und starrte – wahrscheinlich konnte sie es noch
immer nicht fassen, dass ihr in dieser Stadt jemand zu Hilfe geeilt
war – ihren Retter an wie eine außerirdische Erscheinung.
Nun donnerte der Reiterpulk heran. Es waren sechs Kerle, die
ihre Pferde grob in den Stand rissen. Die Tiere stiegen, drehten
sich auf der Hinterhand und wieherten, und für kurze Zeit entstand
ein richtiges Durcheinander. Schließlich aber nahmen die Reiter die
Tiere hart an die Kandare und einer von ihnen, ein Mann um die
vierzig mit wasserhellen Augen, stieß hervor: „Was ist da los?
Warum bedrohst du meinen Freund Brad? Nimm sofort die Mündung von
seinem Kopf. He, ich habe dich hier noch nie gesehen. Gehörst du zu
denen?“ Er vollführte eine umfassende Armbewegung in die Runde,
ohne den durchdringenden Blick von Ned zu nehmen.
„Ich gehöre zu niemandem”, sagte Ned Brown.
„Ach wirklich?”
„Wirklich.”
„Wer bist du?”
„Mein Name ist Ned Brown, und ich bin auf der
Durchreise.”
„Ist es wahr?”
„Wen meinst du mit denen?“ Ned dachte nicht daran, das Gewehr
zu senken. Er ließ aber auch den anderen der Kerle, dem er den
Kolben in den Leib gedroschen hatte und der rechter Hand von ihm
stand, nicht aus den Augen. In seinem Gesicht wütete noch der
Schmerz, seine Mundwinkel zuckten.
„Ich rede von den Mormonen, von denen es in dieser Stadt
wimmelt wie in einem Nest voller Kakerlaken.”
„Ich dachte, das sind fromme und gottesfürchtige Leute.”
„Wir wollen diese elenden Parasiten hier nicht, denn sie sind
anders als wir.”
„Was haben sie euch getan?”
„Willst du nicht endlich die Mündung vom Kopf meines Freundes
nehmen, Brown?“
„Kommt ihr aus Carthage?“, fragte Ned.
„Ja.”
„Wie heißt du?”
Er verzog das Gesicht.
Vielleicht hätte er jetzt gerne ausgespuckt, aber dazu war es
einfach zu kalt.
„Mein Name ist Broderick Carlisle.“ Der Sprecher legte beide
Hände übereinander auf das Sattelhorn. „Ich fordere dich nun zum
letzten Mal auf, Brown: Nimm das Gewehr runter.“
Jetzt richtete Ned das Gewehr auf Carlisle. „Besser?“ Neds
Stimme triefte vor Ironie.
Der Anführer des Rudels zog unbehaglich die Schultern an.
„Warum mischt du dich hier ein? Wenn du nur auf der Durchreise
bist, solltest du dich aus internen Angelegenheiten raushalten. Das
kann höllisch ins Auge gehen.“
„Ich kann es bei Gott nicht ausstehen, wenn zwei Kerle eine
Frau attackieren“, stellte Ned unbeeindruckt klar.
„Ach!”
„Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.”
„Na großartig!”
„Gebiete deinen beiden Kumpels, aufzusitzen, dann macht die
Fliege.”
„Was?”
„Und versucht lieber nichts. Du wärst der erste, Carlisle, den
ich vom Pferd putze.“
„Das ist nicht dein Ernst!”
„Du kannst es ja mal ausprobieren. Ich würde es nicht darauf
ankommen lassen.”
Broderick Carlisle kämpfte mit sich.
Einen Moment lang hing alles in der Schwebe.
Man hörte nichts weiter als das Atmen von Menschen und Pferden
in eisiger Kälte.
Ein ganz eigentümliches Geräusch.
Schließlich sah der Kerl wohl ein, dass er in diesem Spiel das
Verliererblatt in der Hand hielt. Er nickte. „Okay, wir
verschwinden. Aber wir kommen wieder. Und dann solltest du viele
Meilen zwischen diese Stadt und dich gebracht haben. Denn sollten
wir dich hier noch antreffen, ziehen wir dir die Hammelbeine lang.
– Brad, John, aufsitzen! Wir reiten.“
„Gut”, sagte Ned Brown, dessen Augen zu sehr schmalen
Schlitzen geworden waren.
„Bastard!”, knurrte Carlisle.
„Kommt nicht auf die Idee, es euch nochmal anders zu
überlegen”, murmelte Ned Brown. Sein Gesicht war dabei weitgehend
regungslos. Seine Lippen bildeten einen fast geraden Strich und
bewegten sich kaum, während er sprach.
Gleich darauf stob das Rudel in die Richtung davon, aus der es
gekommen war.
3
„Vielen Dank dafür, dass Sie mir gegen diese Grobiane
beigestanden haben, Mister … Äh, wie sagten Sie doch gleich wieder
war Ihr Name?“
„Brown – Ned Brown, Miss.“ Ned schaute dem Pulk nach, der das
Ortsende passierte und wenig später über die Kuppe einer Anhöhe
verschwand.
Ringsherum verließen einige Männer ihre Häuser und näherten
sich. Einige von ihnen hielten sogar Waffen in den Händen.
„Mein Name ist Sarah Naismith“, stellte sich die junge Frau
vor.
Nun wandte Ned sich ihr zu und schaute in zwei tiefblaue
Augen. O verdammt, durchfuhr es ihn, ist sie schön! Sekundenlang
war er wie gebannt, plötzlich aber spürte er Verlegenheit, riss
seinen Blick von ihrem gleichmäßigen Gesicht los und sagte: „Waren
das die Kerle, die auch für die Zerstörungen in dem Ort
verantwortlich sind?“
Die Männer, die sich jetzt, da die Gefahr gebannt war, aus
ihren Häusern gewagt hatten, scharten sich um Ned und Sarah. Einige
von ihnen hatten Neds Frage vernommen, einer beantwortete sie an
Stelle Sarahs. „Sie gehören dazu. Broderick Carlisle ist einer
unserer erbittertsten Gegner.“
Ned schaute in die bärtigen Gesichter. „Warum wehrt ihr euch
nicht?“, fragte er und spürte, wie sehr er diese Kerle verachtete.
„Ich sehe Waffen – Revolver und Gewehre – in euren Fäusten“, stieß
er hervor. „Warum gebraucht ihr sie nicht?“
Der Mann, der vorhin seine Frage beantwortet hatte, maß ihn
von oben bis unten, dann antwortete er: „Unsere Kirche ist auf die
Lehren Jesu Christi gegründet.”
„Wie so viele andere auch”, sagte Ned Brown trocken.
„Das Problem ist nur, dass meisten anderen das Wort Gottes
nicht wirklich ernst meinen.”
„Mag sein”, sagte Ned Brown.
„Friedfertigkeit, Liebe und Vergebungsbereitschaft sind
Tugenden, die Jesus gelehrt hat.”
„So habe ich es auch vom Reverend gelernt…”
„Wir nennen uns die Heiligen der letzten Tage. Jesus sprach:
Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt
werden. Jesus gebietet uns, seinen Anhängern: Entsagt dem Krieg und
verkündigt Frieden. – Wer sich zum Evangelium Jesu Christi bekehrt
hat, wird nicht im Sinn haben, andere zu verletzten, sondern will
ohne Gewalt leben.“
„Das ist eine sehr vornehme Einstellung“, knurrte Ned, zuckte
dann aber mit den Schultern und fügte hinzu: „Von mir aus. Jeder
soll nach seiner Fasson selig werden.“ Er hob den Korb auf und
hielt ihn Sarah hin. „Der gehört doch Ihnen.“
Sie nickte und ein Lächeln verzauberte ihr schönes Gesicht.
Zwischen den sinnlich geformten Lippen blitzten weiße, regelmäßig
gewachsene Zähne. Ihre Augen strahlten ihn an. „Danke.“ Sarah nahm
den Korb und ergriff noch einmal das Wort, indem sie sagte: „Ich
würde Sie gerne meinen Eltern vorstellen, Mister Brown.“
Eigentlich interessierten ihn ihre Eltern nicht. Aber tief in
seinem Innersten fühlte er sich zu Sarah hingezogen, und es lag ihm
viel daran, so lange wie möglich ihre Nähe zu genießen. Er war kein
unbeschriebenes Blatt, was Frauen anbetraf. Vor allem bei den
Indianerstämmen weiter im Westen, mit denen er Handel getrieben
hatte und die ihm freundlich gesinnt waren, war es immer wieder zu
Liebschaften zwischen ihm und der einen oder anderen Squaw
gekommen.
Was die Dinge zwischen Männern und Frauen anging, kannten die
Indianerinnen keine Tabus und wenig Scham. Ganz anders als die
weißen Puritanerinnen.
Ned Brown sah sie an.
„Dagegen ist nichts einzuwenden“, sagte er.
„Es ist in Ordnung“, wandte sich Sarah an die Männer in der
Runde. „Wie ihr seht, bin ich – dank der Hilfe Mister Browns –
unversehrt. Geht wieder nach Hause, ihr Männer, und dankt dem
Herrn, dass der heutige Überfall so glimpflich ausgegangen
ist.“
„Carlisle und seine Anhänger werden uns diese Niederlage nicht
verzeihen“, prophezeite einer. „Ich glaube, Mister Brown, Sie haben
uns keinen Gefallen erwiesen.“
Neds Verachtung, die er vor diesen Feiglingen empfand,
wuchs.
Sarah errötete leicht. Es war, als würde sie sich wegen des
Verhaltens dieser Männer schämen. „Gehen wir, Mister Brown“,
murmelte sie mit etwa unsicherer Stimme.
„Ihr Korb ist leer“, sagte Ned. „Ich vermute, Sie waren auf
dem Weg in den Store.“
„Das ist richtig.”
„Nun, ich…”
„Möchten Sie mich begleiten?”
„Also…”
„Meinen Eltern kann ich Sie danach vorstellen.“
„Ich muss im Saloon meine Zeche begleichen, Miss.“
„Ich warte vor dem Saloon auf Sie“, gab sie zu verstehen und
lächelte ihn an. Er erkannte die Schwermut in der Tiefe ihrer
Augen. Sarah schien nicht besonders glücklich zu sein.
Sie ließen die Männer einfach stehen und schritten schräg über
die Fahrbahn. Ned ging in den Saloon, zahlte seine Zeche, dann
begleitete er Sarah zum General Store. Sie tätigte ihre Einkäufe,
und Ned trug ganz gentlemanlike den Korb zu Sarah nach Hause.
Elias Naismith, Sarahs Vater, war ein schwergewichtiger,
dreiundfünfzig Jahre alter Mann, Elsbeth, ihre Mutter, eine
vorzeitig gealterte Frau von fünfzig Jahren. Ihr Haus lag nicht an
der Main Street, sondern in einer der Seitenstraßen, und so hatten
sie nicht mitbekommen, dass zwei Kerle ihre Tochter bedrängt
hatten.
Sarah stellte ihnen Ned vor und erzählte, was sich auf der
Hauptstraße zugetragen hatte.
„Wir haben die Schüsse gehört“, sagte Elias, nachdem Sarah
geendet hatte. „Uns war auch klar, dass wieder die Halsabschneider
aus Carthage in unsere Stadt eingefallen waren, vermuteten dich
aber bereits im Store, Sarah.”
„Dem Herrn sei Dank ist alles letztlich gut ausgegangen”,
sagte Sarah.
„Wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet, Mister Brown.”
„Nicht der Rede wert!”
„Der Herr, Jesus Christus, wird es Ihnen vergelten.“
„Sicher“, murmelte Ned, „ich denke aber, das hat noch Zeit.“
Mit dieser Bemerkung erreichte er, dass ihm sowohl Elias als auch
Elsbeth missbilligende Blicke zuwarfen.
„Dürfen wir Sie einladen, sich ein wenig zu uns zu setzen?“,
fragte Elsbeth. Sie wollte nicht unhöflich sein. „Ihr Gesicht ist
von Regen, Wind und Sonne gegerbt, Sie tragen eine Biberfellmütze
und Fellstiefel. Über den Mississippi kommen manchmal Männer zu
uns, die uns Felle und indianische Handarbeiten verkaufen. Sind Sie
auch einer dieser Fallensteller?“
„Ja, das bin ich.”
„Ah, ja…”
Ned fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut, doch
Sarahs Blick, mit dem sie ihn regelrecht aufforderte, die Einladung
anzunehmen, veranlasste ihn zu bleiben.
Sie setzten sich.
Elsbeth bot dem Gast einen Tee an, was Ned aber dankend
ablehnte. Er erzählte von seinem Leben als Scout, Fallensteller und
Jäger, von seiner Freundschaft mit vielen Indianern und von der
Wildheit des Landes weiter im Westen.
Interessiert hörten Sarah und ihre Eltern zu.
„Viele von uns haben vor, nach Westen zu gehen und dort eine
neue Stadt aufzubauen“, verriet Elias, als Ned schwieg.
„Nicht alle, die hier leben und dem Terror der Nachbarstädte
ausgesetzt sind?“, fragte Ned.
„Viele sind noch unschlüssig.”
„Unschlüssig?”, echote Ned Brown und seine Augen wurden sehr
schmal dabei. Wie konnte man angesichts der gegebenen Situation
noch unschlüssig sein?
Wie konnte man da noch ernsthaft zögern?
Ned Brown hatte dafür kaum Verständnis.
Er hörte weiter zu, was sein Gegenüber ihm sagte.
„Bis jetzt sind es aber schon mehr als ein halbes Tausend, die
sich entschlossen haben, auszuwandern. Brigham hat vom gelobten
Land weit im Westen gesprochen. Das ist unser Ziel. Wir werden uns
dort eine neue Existenz aufbauen, dem Herrn dienen, und mit unseren
Nachbarn in Frieden leben.“
„Frieden?”, fragte Ned Brown ungläubig.”
„Ja.”
„Ihre Nachbarn werden Indianer sein.”
„Die Indianer sind unserer Lehre nach die Nachkommen der
verlorenen Stämme Israels.”
„Westlich des Mississippi werden Sie außer einer Handvoll
Leuten wie mich kaum Weiße antreffen“, erwiderte Ned.
„Dann leben wir eben mit den Indianern in Frieden“, versetzte
Elias. Plötzlich wurde sein Blick lauernd. „Sie kommen von Westen,
Mister Brown“, murmelte er schließlich. „Wir wollen nach Westen.
Sicher kennen Sie eine Route, auf der wir mit unseren
Prärieschonern keine allzu großen Komplikationen zu erwarten
haben.“
„Das kommt drauf an, wie weit Sie nach Westen möchten“,
antwortete Ned. „Westlich des Missouri wird es hügelig, und dann
kommen die Rockys. Es gibt sicher einige Pässe, über die man auch
mit Fuhrwerken nach Westen gelangt, aber die Unbilden und Strapazen
eines solchen Trails sind wahrscheinlich kaum zu ertragen.“
„Wir werden es auf jeden Fall versuchen“, erklärte Elias, „und
suchen einen Scout, der uns nach Westen führt“, fügte er hinzu.
„Hätten Sie keine Lust? Wir würden Sie gut bezahlen. Ich denke, Sie
wären der richtige Mann, Mister Brown. Sie haben schon Wagenzüge
geführt, sind mutig und kennen die Indianer. Sagen Sie ja, Mister
Brown, und ich stelle Sie unserem Führer, Brigham Young,
vor.“
Sarah schaute Ned geradezu beschwörend an. Auch Elsbeths
erwartungsvoller Blick war hoffnungsvoll auf ihn gerichtet.
Ned musste nicht lange überlegen. „Tut mir leid“, sagte er,
„aber ich will nach Hause, denn ich habe meine Familie fast vier
Jahre lang nicht gesehen. Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Eltern
und Großeltern noch leben. Ich habe drei Brüder und zwei
Schwestern. Sie haben die ganze Zeit über kein Lebenszeichen von
mir erhalten. Es ist mir ein inneres Bedürfnis, zu Hause mal nach
dem Rechten zu sehen.“
„Das kann ich verstehen“, murmelte Elias ziemlich
enttäuscht.
Ned warf Sarah einen schnellen Blick zu, und auch sie schien
seine Ablehnung enttäuscht zu haben. Für einen Moment wurde er
sogar wankend in seiner Entscheidung. Doch er blieb dabei. Die
Ungewissheit seine Familie betreffend wog stärker als der Wunsch,
die nächsten Wochen oder vielleicht sogar Monate in Gesellschaft
Sarahs zu verbringen.
Als er wenig später in Richtung Mietstall marschierte, war er
sich sicher, das Richtige zu tun.
Der Stallmann empfing ihn mit den Worten: „Es ist mit der
Geschwindigkeit eines Steppenbrands durch die Stadt gegangen, dass
du zwei von Broderick Carlisles Halunken auf ihre richtige Größe
zurechtgestutzt hast. Darf ich dir einen guten Rat geben,
Fremder?“
„Ich schätze, ich weiß, wie der gute Rat lautet. Ich soll mir
so schnell wie möglich meinen Braunen zwischen die Beine klemmen
und viele Meilen zwischen mich und Carlisle bringen.
Stimmt‘s?“
„Tust du es nicht, zieht er dir das Fell über die Ohren. Das
ist so sicher, wie die Nacht dem Tag folgt.“
„Ich reite morgen früh weiter“, erwiderte Ned. „Im Übrigen
nehme ich dein Angebot an und schlafe hier im Heu. Deine Einladung
gilt doch noch?“
„Gewiss.“
„Dann ist ja alles klar.”
4
Der Stallbursche half Ned am Morgen, das Pferd zu satteln und
zu zäumen. Ned schnallte seinen Packen, der aus Deckenrolle, dem
zusammengerollten Zelt und dem Schlafsack bestand, hinter dem
Sattel fest und rammte das Gewehr in den Scabbard. Die Kugel, die
er am vergangenen Tag verschossen hatte, hatte er ersetzt.
Auf dem Piston saß wieder ein Zündhütchen.
Wieder alles bereit, dachte er.
Die Welt war nicht so friedlich, wie es die Lehre der
Heiligen der Letzten Tage behauptete. Und die Geschehnisse in
dieser Stadt bestätigten Ned Browns Ansicht dazu nur.
Man musste sich zu wehren wissen.
Nur dann konnte man in Frieden leben.
Der Beitrag, den fromme Gebete dazu beitrugen, schätzte Ned
Brown als relativ gering ein.
Der Stallmann sagte: „Falls du irgendwann im nächsten Jahr
wieder nach Westen ziehst und nach Nauvoo kommst, wirst du mich
hier nicht mehr antreffen, Fremder. Einer der Prärieschoner dort im
Hof gehört mir. Ich bin einer von denen, die sich entschlossen
haben, mit Brigham ins gelobte Land zu ziehen.“
„Dann bleibt es mir nur, dir und all den anderen viel Glück
auf eurem Trail zu wünschen“, sagte Ned und griff nach dem
Kopfgeschirr des Pferdes, um es aus dem Stall zu führen. Doch da
waren im Hof plötzlich Stimmen zu hören. Ned zog das Gewehr aus dem
Sattelschuh und hielt es mit beiden Händen schräg vor der Brust. Er
rechnete mit unliebsamem Besuch und dachte in diesem Zusammenhang
an Broderick Carlisle.
Die Gestalten zweier Männer verdunkelten das Stalltor. Eine
sonore Stimme erklang: „Wir kommen noch rechtzeitig. Dem Himmel sei
Dank.“
„Du kannst das Gewehr wegstecken“, brummte der Stallmann, der
sich wieder entspannte. „Das sind Elias und Brigham. Und wie es
aussieht, wollen sie zu dir.“
Die beiden kamen in den Stall. „Der Herr sei mit Ihnen, Mister
Brown“, grüßte der Mann, der Brigham Young sein musste, denn Elias
Naismith war Ned bekannt. „Auch mit dir, Dave.“ Er meinte den
Stallmann. „Elias hat mir von Ihnen erzählt, Mister Brown.”
„So?”
„Von Ihrer Heldentat spricht die ganze Stadt. Sie müssen ein
sehr mutiger Mann sein.“
„Es geht“, versetzte Ned ahnungsvoll. Die beiden waren nicht
von ungefähr in den Mietstall gekommen. Er taxierte Brigham Young
und sah einen Mann, ungefähr Mitte vierzig, groß und
breitschultrig, mit nackenlangen, gewellten Haaren. Von Young ging
etwas aus, das andere in seinen Bann zog. Das spürte Ned mit den
geschärften Sinnen des Mountainmans.
„Wir suchen einen Kundschafter“, brachte Young den Grund
seiner Vorsprache sogleich auf den Punkt.
„Davon habe ich schon gehört.”
„Elias hat Ihnen ein Angebot unterbreitet.”
„Ich musste es leider ablehnen.”
„Ich wiederhole es, Mister Brown.”
„Hören Sie…”
„Wir zahlen Ihnen für jede Meile, die Sie uns nach Westen
führen, zwei Dollar.“
„Das wäre sehr viel Geld“, erwiderte Ned. „Ich muss dieses
Angebot allerdings ausschlagen. Wäre es mir nicht so wichtig, zu
Hause wieder einmal nach dem Rechten zu sehen, hätte ich den
beschwerlichen Weg über hunderte von Meilen nicht angetreten.“ Er
hob wie bedauernd die Hände und ließ sie wieder sinken. „Sie müssen
sich einen anderen Scout suchen.“
„Wir sind Mormonen, die Heiligen der letzten Tage. Wir sind
verpönt und gezwungen, diese Stadt, die wir aufgebaut haben,
aufzugeben, um weiterer Verfolgung zu entgehen. Darum werden wir im
Umkreis von hundert oder noch mehr Meilen keinen finden, der uns
nach Westen führt. Er würde sich dem Hass unserer Verfolger
aussetzen und bekäme hier keinen Fuß mehr auf die Erde.“
„Sie wissen das und unterbreiten mir dennoch Ihr Angebot“,
versetzte Ned leicht verärgert. „Das zeigt mir, welchen Wert Sie
meiner Person zumessen.“
„Sie haben das falsch verstanden, Mister Brown“, entgegnete
Brigham Young. „Sie sind nicht aus der Gegend. Wo immer Sie auch
leben – nie wird ein Mensch danach fragen, ob Sie irgendwann einmal
einen Wagentreck der Mormonen nach Westen geführt haben. Sie können
aber auch einer von uns werden. Führen Sie meine Leute zusammen mit
mir ins gelobte Land und bleiben Sie bei uns. Wir haben es bisher
überall zu Reichtum und Wohlstand gebracht. Warum sollten Sie daran
nicht teilhaben?“
„Das Leben, das ich führe, gefällt mir“, entgegnete Ned. „Wenn
ich weiß, dass zu Hause alles seine Ordnung hat, kehre ich in den
Westen zurück. Ich will wieder Fallen stellen, jagen, mit den
Indianern Handel treiben und von der Zivilisation, in der es nur
Neid, Missgunst und Hass zu geben scheint, so wenig wie möglich
wissen.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“, fragte Elias Naismith.
Ned nickte. „Ja. Jedes weitere Wort Ihrerseits wäre
zwecklos.“
„Schade“, knurrte Brigham Young. „Na schön, des Menschen Wille
ist sein Himmelreich. Zwingen können wir Sie nicht. Wir wollen Sie
auch nicht länger aufhalten.“
Ned führte die Stute aus der wohligen Wärme des Stalls. Die
Kälte biss regelrecht in sein Gesicht. Er stempelte den linken Fuß
in den Steigbügel, griff mit beiden Händen nach dem Sattelhorn und
zog sich mit einem Ruck auf den Pferderücken.
Er verließ Nauvoo und war wieder auf dem Trail.
So sehr er sich auch bemühte, nicht an Sarah zu denken, ihr
Bild erschien immer wieder vor seinem inneren Auge. Nie würde er
den wehmütigen Blick vergessen, mit dem sie ihn bedachte, als er
sich tags zuvor von ihr verabschiedet hatte. Zwischen ihnen war
etwas gewesen, eine Verbundenheit, die deutlich zu spüren
war.
Vergiss sie!, hämmerte eine Stimme in ihm. Sie gehört dieser
Sekte an und es ist ihr nicht gestattet, sich in einen
andersgläubigen Mann zu verlieben. Eines Tages wird sie die dritte
oder vierte Frau eines reichen Mormonen, und sie wird mit ihrem
Leben zufrieden sein. Du bist ein Waldläufer, ein Mountainman. Soll
sie mit dir in einem Dougut hausen und wie ein Indianer von dem
leben, was die Natur zu bieten hat? Nein, das würde sie nicht
wollen, selbst wenn sie es könnte.
*
Eigentlich schade, dass ich ihn nicht wiedersehen werde,
dachte Sarah. Sie sah Ned Brown aus der Stadt reiten und blickte
ihm nach. Er gehört nicht zu uns, ging es ihr durch den Kopf. Darum
könnte er nie ein Mann für dich sein.
Sie atmete tief durch.
Sarah schluckte. Sie fühlte einen Kloß im Hals.
Und sie fühlte, wie ihr der Puls bis zum Hals schlug, so als
wäre sie gerannt. Aber sie war nicht gerannt. Sie war einfach nur
aufgewühlt - so wie nie zuvor in ihrem Leben.
Auch wenn es nicht sein darf: Dieser Fremde Kerl mit seiner
Fellmütze gefällt dir!, ging es ihr durch den Kopf.
Die Art und Weise, wie er sich für sie eingesetzt hatte,
imponierte ihr.
Es gefiel ihr.
Er hat mich beschützt, dachte sie.
Ihr Blick war auf den einsamen Reiter gerichtet, der nun die
Stadt verließ.
Irgendwie hoffte sie, dass er sich vielleicht noch einmal
umdrehte.
Aber das tat er nicht.
Ned Brown blickte nicht zurück.
Nicht zu ihr.
Ich werde von dir träumen, dachte sie. Und ich werde
vielleicht noch oft an dich denken. An dich und die Art, wie du
mich beschützt hast!
Sarah rechnete in diesem Augenblick nicht damit, ihn je
nochmal wiederzusehen.
Doch da sollte sie sich irren.
5
Die Tage vergingen. Wenn sich die Möglichkeit ergab,
übernachtete Ned in einem Hotel, einem Mietstall oder einer
Scheune, in der Heu und Stroh deponiert waren. Hin und wieder
musste er auch im Zelt nächtigen. Der Schlafsack, den er besaß, war
warm, dennoch war Ned am Morgen nach einer Nacht im Freien
durchgefroren und wie gerädert.
Vor ihm lagen noch gut und gerne dreihundert Meilen. Und der
Winter hatte noch gar nicht richtig angefangen. Der Januar würde
erst die richtige Kälte bringen.
Ned ließ sich nicht beirren. Er schonte sein Pferd und ritt
jeden Tag ungefähr zwanzig Meilen. Wenn er in einer Stadt
übernachten konnte, gönnte er sich und dem Pferd manchmal sogar
einen ganzen Tag Ruhe. Anfang Januar des Jahres 1846 erreichte er
die kleine Farm am Ohio River. Sie war dem Verfall preisgegeben.
Etwas abseits entdeckte Ned vier flache Grabhügel. Die Holzkreuze
waren halb verrottet, dennoch konnte Ned die Namen, die darauf
standen, entziffern. Es waren die Namen seiner Großeltern und
Eltern.
Erschüttert bis in seinen Kern begab er sich nach Cincinnati,
wo er erfuhr, dass seine Eltern und Großeltern an den Pocken
gestorben waren und seine Geschwister daraufhin die Gegend
verlassen hatten. Es hatte von ihnen kein Lebenszeichen mehr
gegeben.
Ned hatte viele hundert Meilen härtesten Trails hinter sich
gebracht, um am Ende vor vier Gräbern und einer halb verfallenen
Farm zu stehen. Er war enttäuscht und verbittert und begann mit dem
Schicksal zu hadern.
Nach einigen Tagen Aufenthalt beschloss er, in den Westen
zurückzukehren. Er schnallte seine Habseligkeiten hinter dem Sattel
fest und machte sich wieder auf den Weg. Hier hielt ihn nichts. Es
gab auch niemanden, von dem er sich verabschieden musste. Die
Menschen, die er früher mal gekannt hatte, würden ihn längst
abgeschrieben haben.
Er fragte sich, ob er den Weg über Nauvoo nehmen sollte.
Gefühl und Verstand lagen bei ihm in zäher Zwietracht. Gefühlsmäßig
wollte er in Erfahrung bringen, ob Brigham Young und eine große
Zahl seiner Anhänger tatsächlich nach Westen aufgebrochen waren, um
das gelobte Land zu finden. Der Verstand riet ihm, einen weiten
Bogen um die Stadt zu machen. Den Grund dafür wusste er selbst
nicht zu deuten. Daran, dass Broderick Carlisle aus Carthage noch
eine Rechnung mit ihm offen hatte, verschwendete er nur einen
kurzen Gedanken.
Denn da war auch noch der Gedanke an Sarah…
Ihre Augen…
Ihr Blick…
Die Art, wie sie ihn angesehen hatte…
Er hatte öfter an sie gedacht, als er es zunächst für möglich
gehalten hatte - zumal ihm klar war, dass daraus nichts werden
konnte.
Schon deshalb nicht, weil er keiner von den Heiligen der
Letzten Tage war.
Keiner von ihnen.
Trotzdem.
Das Gefühl siegte. Mitte Februar erreichte er die
Mormonenstadt. Er ritt sofort den Mietstall an. Der Stallmann war
ein anderer als der, den Ned in Erinnerung hatte. Ned erkundigte
sich nach Dave. So hatte Brigham Young den Stallburschen
genannt.
„Der steht mit seinem Planwagen zusammen mit mehr als einem
halben tausend unserer Brüder und Schwestern am Mississippi und
wartete darauf, dass die Eisdecke dick genug ist, um ihn zu
überqueren.“
„Young und seine Leute sind also noch nicht nach Westen auf
den Trail gegangen?“, murmelte er wie im Selbstgespräch, allerdings
überflüssigerweise, denn die Antwort hatte ihm der Stallmann
sozusagen schon vor seiner Frage gegeben.
Er erhielt trotzdem eine Antwort. „Nein“, sagte der
Stallknecht. „Das Eis auf dem Fluss hätte sie nicht getragen. Aber
sie sind bereit. Sobald das Eis die Wagen und die Zugtiere aushält,
spannen sie ein und gehen auf den Trail.“
„Danke“, sagte Ned, verließ mitsamt seinem Pferd den Stall,
saß auf und ritt durch die Stadt zum Fluss. In Nauvoo gab es
deutlich mehr Verwüstungen als im Dezember, als er für eine Nacht
in der Stadt weilte. Der Terror war also weitergegangen.
Mit jedem Schritt seines Pferdes wuchs die Ungeduld in Ned. Er
konnte es nicht erwarten, Sarah zu sehen!
6
Es waren mehr als hundert Planwagen-Schoner, die am Ostufer
des Mississippi in mehreren Reihen abgestellt waren. Dazwischen
brannten Kochfeuer, die zugleich den Zweck hatten, die Männer,
Frauen und Kinder zu wärmen. In einem Seilcorral standen die
Zugtiere, in einem anderen Kühe und Bullen, die der Aufzucht dienen
sollten, in einem weiteren an die dreihundert Pferde.
Diejenigen, die sich entschlossen hatten, vor Hass und
Verfolgung in die Wildnis jenseits des Mississippi zu fliehen, um
sich irgendwo eine neue Existenz aufzubauen, waren in
Aufbruchstimmung.
Ned wurde beobachtet, als er an den Fuhrwerken entlangritt.
Einige von diesen Männern kannten ihn vom Sehen. Seine Augen waren
unablässig in Bewegung und suchten Sarah oder jemanden von ihrer
Familie. Tatsächlich entdeckte er ihre Mutter. Sie stand bei einem
Feuer, über dem von einem eisernen Dreibein ein verrußter Kessel
hing. Ned lenkte die Stute auf sie zu, zügelte und grüßte: „Howdy,
Mrs. Naismith.“
Sie schien sekundenlang der Stimme hinterherzulauschen, dann
aber drehte sie sich um und sagte lächelnd: „Ah, Sie sind es,
Mister Brown. Freut mich, Sie wiederzusehen. Wie Sie sehen, sind
wir bereit für den Trail nach Westen. Waren Sie zu Hause? Wenn ja,
dann hat es Sie aber nicht sehr lange dort gehalten. Hat Sie das
Fernweh wieder übermannt?“
Das Gesicht Neds verschloss sich ein wenig. Vielleicht war es
auch nur die Erinnerung daran, die seine Züge überschattete, dass
er nach vielen Wochen eines harten Ritts nur die Gräber seiner
Eltern und Großeltern sowie eine verlassene Farm vorfand. „Mein
Vater, meine Mutter, mein Grandpa sowie meine Grandma sind an den
Pocken gestorben, meine Geschwister in alle Winde verstreut. Es gab
nichts mehr, was mich halten hätte können.“
Kaum, dass das letzte Wort über seine Lippen war, erklang
Sarahs erfreute Stimme: „Großer Gott, es ist tatsächlich Ned Brown.
Ich habe es fast nicht glauben können …“
Sie hatte sich im Wagen aufgehalten. Nun stieg sie über den
Bock, sprang auf den Boden und stellte sich neben ihre Mutter. Ihre
Augen leuchteten vor Wiedersehensfreude.
„Schön Sie wiederzusehen, Sarah”, sagte Ned Brown.
„Ganz meinerseits”, sagte sie schluckend. „Ich dachte
schon…”
„Was?”
„Ich habe nicht angenommen, dass sich unserer Wge noch einmal
kreuzen.”
„Manchmal führen Wege doch wieder zusammen”, sagte Ned
Brown.
„Ja.”
„Ich wähnte euch schon längst irgendwo in der Wildnis“,
verriet Ned und schwang sich vom Pferd, führte es zum Wagen und
band es an einem der großen, eisenbereiften Räder fest. Dann kam er
zum Feuer, zog die Handschuhe aus und hielt die klammen Hände
darüber.
Scheinbar hatte Elsbeth, während Ned Brown sein Pferd
anleinte, Sarah darüber informiert, was der Grund für seine
schnelle Rückkehr war. „Das mit Ihrer Familie tut mir leid“, gab
sie zu verstehen. „Ich denke, Sie möchten zurück in den Westen.
Werden Sie sich uns anschließen?“
„Ich weiß es noch nicht. Wie gesagt, ich wähnte euch längst
auf dem Trail und habe keinen einzigen Gedanken daran verschwendet,
dass ich mich euch anschließen könnte. Habt ihr schon einen
Kundschafter gefunden, der euch führt?“
„Nein. Wären Sie jetzt gegebenenfalls bereit?“ Sarah musterte
ihn mit einer gewissen Herausforderung im Blick.
„Bis nach Fort John in Wyoming könnte ich euch führen“,
antwortete Ned. „Dort treffen sich Pelzhändler und Indianer zum
Warentausch. Außerdem ist Fort John einer der wichtigsten
Stützpunkt jener Auswanderer, die – wie ihr – nach Westen
wollen.“
„Mein Vater ist bei Brigham“, erklärte Sarah. „Brigham hat ihn
und einige andere Männer wegen einer Besprechung zu sich gebeten.
Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie zu ihnen bringe, Mister Brown?
Wenn Sie sich uns als Scout zur Verfügung stellen, löst das eine
Reihe von Problemen, vor denen wir gestanden hätten.“
Sie sah ihn an.
Auf ihre ganz eigene, unverwechselbare Weise.
Ihr Lächeln war verhalten, aber hintergründig.
Ned Brown erwiderte es kurz.
„In Ordnung, Miss Naismith, bringen Sie mich zu Ihrem
Anführer.“
„Gut!”
„Könnte also sein, dass unsere Wege noch eine Weile parallel
verlaufen.”
„Wäre das so schlimm?”
„Natürlich nicht.”
„Es ist der Herr, der unsere Wege bestimmt, Mister Brown.
Nicht wir Menschen.”
Ned Brown antworte darauf nicht.
Nachdem, was er in der letzten Zeit mit seiner Familie erlebt
hatte, war es schwer, den Glauben zu behalten.
Am Feuer von Brigham Young traf Ned auf Elias Naismith sowie
einige andere Männer um die vierzig, wohl eine Art Ältestenrat,
sowie den Mann, dem sich all diese Menschen in der Hoffnung, dass
er sie ins gelobte Land führen würde, angeschlossen hatten.
Ned konnte von ihren Gesichtern ablesen, wie sehr sie sein
unvermutetes Auftauchen in Staunen versetzte. Dieser staunende
Ausdruck aber machte dem der Freude Platz, als Sarah den Männern
verriet, dass Ned bereit war, sie durch die Wildnis bis nach
Wyoming, genau gesagt bis Fort John, zu führen.
Man war sich schnell einig. Die Mormonen waren bereit, Ned für
jede Meile des Trails zwei Dollar zu bezahlen. Außerdem erhielt er
während der ganzen Zeit Verpflegung. Er und Brigham Young
besiegelten die Vereinbarung per Handschlag.
Ned kehrte zusammen mit Sarah und deren Vater zu dessen
Fuhrwerk zurück. „Ihr kommt gerade richtig“, empfing sie Elsbeth.
„Das Essen ist fertig. Sie sind natürlich unser Gast, Mister
Brown.“
Sarah strahlte Ned von der Seite an.
„Ich bin froh, dass Sie uns führen, Mister Brown.”
„Ich werde mein Bestes tun!”
„Das weiß ich.”
„So?”
„Sie haben mich schon einmal gut beschützt.”
„Das war eine Selbstverständlichkeit.”
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, das war es nicht”, widersprach.
Wieder trafen sich ihre Blicke.
Sie wandte sich erst ab, als ihr Vater sie ansah.
Und vielleicht hatte sie auch tiefe Furche gesehen, die sich
auf dessen Stirn gebildet hatte.
Sarah errötete leicht.
7
Jeden Tag wurden Probebohrungen auf dem Eis, das den
Auswanderern als Brücke über den Mississippi dienen sollte,
durchgeführt. Und dann kam der Tag, an dem die Meldung durch das
Camp der Mormonen ging: „Das Eis ist dick genug. Dem Aufbruch steht
nichts mehr im Weg.“
Man einigte sich, dass Ned mit einem Vorauskommando die
Strecke festlegen sowie Versorgungsfarmen, Stützpunkte und Fähren
für die nachfolgenden Auswanderer einrichten sollte. Es handelte
sich um dreißig Wagen mit insgesamt hundertachtundvierzig Menschen,
alles Familien, zu denen keine Kinder – abgesehen von den
erwachsenen Abkömmlingen – gehörten. Auch Brigham Young und mehrere
seiner Ehefrauen befanden sich bei dem Vorauskommando. Die Kinder
verblieben in der Obhut Verwandter.
Der Morgen kam, an dem die dreißig Wagen aufbrachen. Ned ritt
auf den zugefrorenen Fluss. In der Nacht hatte es leicht geschneit
und das Eis lag unter einer dünnen Schneedecke. Peitschen knallten,
raue Rufe erschallten, Pferde wieherten, Ochsen brüllten, die
Achsen der Fuhrwerke quietschten in den Naben.
Wie in ein kurzes, stummes Gebet versunken blickte Brigham
Young sekundenlang gen Himmel, dann schwang er die Peitsche. Die
Ochsen stampften auf das Eis. Das Fuhrwerk neigte sich nach vorn,
als die vorderen Räder die niedrige Uferböschung hinunterrollten,
und ein Ruck ging durch den Schoner. Ein zweiter Ruck folgte, als
auch die hinteren Räder das abschüssige Stück hinunterrumpelten.
Das Gefährt ächzte in seinem Aufbau. Schließlich rollten auch die
hinteren Räder auf den zugefrorenen Fluss, und Young ließ die
Peitsche über den Rücken der vier Zugtiere knallen.
Fuhrwerk um Fuhrwerk folgte. Die Zurückbleibenden winkten den
Davonziehenden hinterher und riefen Glückwünsche. Sie sollten in
einigen Tagen Abstand folgen.
Der Übergang über den Fluss geschah reibungslos. Auf der
anderen Seite nahm sie leicht gewelltes Land auf, das den Tieren,
die vor die schweren Fuhrwerke gespannt waren, keine Probleme
bereitete. Ein Vorteil war auch, dass der Boden beinhart gefroren
war, sodass die Räder nicht einsinken konnten.
Bald waren alle dreißig Prärieschoner auf der anderen Seite
versammelt.
Es ging weiter. In kerzengerader Linie nach Westen. Sie
schafften an diesem Tag fast zwanzig Meilen. Der Himmel war mit
Wolken verhangen, die Sonne war nicht zu sehen. Aber Ned Brown
wusste die Richtung auch ohne ihre Hilfe zu bestimmen. Als sich der
Tag seinem Ende zuneigte und die Düsternis sich ausbreitete, fuhren
sie die Schoner zu einer Wagenburg zusammen. Die Zugtiere wurden
ausgeschirrt und in einen Seilcorral getrieben, getränkt und
gefüttert. Wasser hatten die Auswanderer in Fässern dabei, Futter
für die Tiere in großen Futterkisten. Dafür hatten sie viel von
ihrem Hausrat zurücklassen müssen. Nur das Allernotwendigste durfte
mitgenommen werden.
Feuer wurden angezündet, eiserne Dreibeine mit großen
Wasserkesseln aufgestellt. Nach der Abendmahlzeit rief Brigham
Young zur Abendandacht. Alle versammelten sich außerhalb der
Wagenburg. Ned gesellte sich nicht hinzu. Er saß auf einer
Wagendeichsel und hatte den nachdenklichen Blick nach Westen
gerichtet, dachte an seine Zukunft und fragte sich, ob Sarah in ihr
eine Rolle spielen würde, ohne dass er der Sekte beitreten musste.
Als seine Gedanken bei ihr verweilten, drehte er den Kopf, seine
Augen suchten sie zwischen den zur Andacht Versammelten. Er konnte
sie nirgends entdecken. Doch nach der Messe sah er sie auf sich
zusteuern. „Wo werden Sie schlafen?“, erkundigte sie sich.
„Bei einem der Feuer“, erwiderte er. „Ich besitze ein Zelt und
einen Schlafsack. Ich bin das gewöhnt.“
„Stellen Sie Ihr Zelt an unserem Feuer auf“, sagte Sarah. „Ich
werde in der Nacht dafür sorgen, dass das Feuer nicht
erlischt.“
„Gern“, erwiderte Ned. „Die Einladung, an Ihrem Feuer zu
nächtigen, nehme ich dankbar an. Für das Feuer aber werde ich
selber sorgen. Sie brauchen Ihren Schlaf, Ma‘am.“
„Nennen Sie mich nicht Ma‘am, Ned. Sagen Sie Sarah zu mir. Ich
denke, wir sind uns vertraut genug, um Formalitäten weglassen zu
können.“
„In Ordnung, Sarah. Danke für das Angebot, an eurem Feuer
schlafen zu dürfen.“
Sie lächelte ihn an und schritt davon.
O verdammt!, durchfuhr es ihn. Sie ruft Gefühle in dir wach,
wie du sie nie vorher empfunden hast. Sie muss dir gehören. Doch
wäre sie gegebenenfalls bereit, der Sekte den Rücken zu
kehren?
Er wollte nicht so recht daran glauben, holte sein Pferd, das
ebenfalls versorgt worden war, und führte es zum Fuhrwerk Elias
Naismith‘, wo er es anband. Dann legte er Holz in das Feuer,
stellte sein Zelt auf und breitete unter der schützenden Plane
seinen Schlafsack aus. Er hatte den ganzen Tag im Sattel verbracht,
und es dauerte nicht lange, dann schlief er tief und fest.
Bald erloschen die Feuer. Zwei Männer mit Gewehren
patrouillierten um die Wagenburg. In den Hügeln heulten Wölfe und
Coyoten einen schauerlichen Choral. In die Wagenburg aber war Ruhe
eingekehrt. In aller Frühe sollte es weitergehen.
Das Peitschen eines Schusses und Geschrei sorgten dafür, dass
Ned aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Da er über die scharfen
Instinkte eines Raubtiers verfügte, war er augenblicklich hellwach.
Erneut dröhnten Schüsse. Brüllend antworteten die Echos, um
schließlich mit geisterhaftem Geflüster zu versickern. Pferdehufe
stampften, Gewieher erhob sich, das Stimmendurcheinander nahm an
Vehemenz zu.
Ned nahm den Revolvergürtel mit dem Holster und das Gewehr und
kroch aus seinem Zelt, legte den Revolvergurt um und prüfte den
Sitz des Revolvers. Dann ging er in die Richtung, aus der
chaotische Lärm heranschwappte.
Es waren vier Reiter. Sie hielten Revolver in den Fäusten, die
sie auf den Pulk der Auswanderer gerichtet hielten. Deutlich konnte
Ned den Stahl der Waffen schimmern sehen, denn durch den Schnee,
der das ganze Land bedeckte, wurde die Dunkelheit stark gelichtet.
Die grollende Stimme eines Mannes war zu hören. Er rief: „Zum
letzten Mal! Liefert mir Ned Brown aus. Ich will nur ihn. Ihr könnt
von mir aus in das Land ziehen, wo der Pfeffer wächst. Ich warte
genau zehn Sekunden. Wenn ihr mir dann nicht zusichert, dass ihr
ihn mir übergebt, stirbt einer von euch.“
„Ich bin hier!“, rief Ned und bahnte sich einen Weg durch die
Gruppe der Mormonen, die die Schüsse, die Hufschläge, das Gewieher
und das Geschrei ebenfalls veranlasst hatten, aus ihren Fuhrwerken
zu klettern und nachzusehen, was los war.
Er hielt das Gewehr an der Hüfte, der Lauf war waagrecht noch
vorne gerichtet. „Geht zur Seite!“, gebot er den Auswanderern.
„Sucht euch Deckung.“
Sie liefen schnell auseinander, und schließlich stand Ned
alleine den vier Reitern gegenüber. Er konnte die Gesichter nicht
erkennen, doch niemand musste ihm sagen, dass es Broderick Carlisle
und drei seiner Anhänger waren, die dem Wagenzug gefolgt waren.
Irgendwie musste Carlisle erfahren haben, dass er, Ned, zu dem
Treck gestoßen war und als Scout fungierte.
Er war nicht gekommen, um zu verhandeln. Er wollte sich für
seine Niederlage im Dezember rächen und Ned eine blutige Rechnung
präsentieren. Es war ein ausgesprochen niedriger Beweggrund, der
ihn auf die Fährte Neds gehetzt hatte.
„Was wollt ihr von mir?“, fragte Ned.
„Ich habe geschworen, dir das Tor zur Hölle aufzustoßen“,
antwortete Carlisle. „Heute ist es soweit.“
„Gut, Carlisle. Worauf wartest du? Fang an.“
Mit dem letzten Wort stieß sich Ned ab, flog durch die Luft
und hörte die Revolver der Kerle donnern. Mündungsblitze stießen
aus den Läufen. Allerdings hatten die Kerle Ned unterschätzt und
sich nicht schnell genug auf das sich jäh verändernde Ziel
eingestellt. Ihre Geschosse zogen tiefe Furchen in den gefrorenen
Boden und jaulten als Querschläger in die Nacht hinein.
Ned aber feuerte am Boden liegend. Er nahm sich nicht die
Mühe, genau zu zielen, sondern jagte seine Schüsse einfach in den
Pulk der Reiter und Pferde hinein. Im Knall sah er eines der Tiere
niedergehen. Die anderen stiegen erschreckt oder keilten mit den
Hufen aus. Trompetendes Gewieher erhob sich. Die Reiter wurden aus
den Sätteln gerissen, zwei weitere Pferde gingen nieder, und im
Handumdrehen bildete sich ein Knäuel ineinander verkeilter Pferde
und Menschenleiber. Zwei der Tiere kamen wieder hoch und flohen in
wilder Panik in die Nacht hinein.
Als die Trommel des Gewehres leer war, kam Ned halb hoch, zog
den Colt, richtete ihn auf das Durcheinander und spannte den
Hahn.
Aber von den vier Kerlen ging keine Gefahr mehr aus. Zwei
lagen still am Boden, die beiden anderen wanden sich, stöhnten,
röchelten und wimmerten.
Der Lärm war verebbt. Ned erhob sich und ging zu seinen
Gegnern hin, ließ jedoch die gebotene Vorsicht nicht außer Acht.
„Ihr könnt aus euren Deckungen kommen“, rief er schließlich, als er
sich einen Überblick verschafft hatte. „Es ist vorbei.“
Schemenhafte Gestalten lösten sich aus den Schatten der
Fuhrwerke oder krochen zwischen den Rädern hervor. Die vier Kerle
am Boden wurden umringt. Einige der Männer machten sich daran, sie
zu untersuchen. Eine Stimme erklang: „Zwei sind tot, unter ihnen
Carlisle. Die anderen beiden sind verwundet. Zwei Pferde haben auch
ihr Leben lassen müssen.“
Brigham Youngs Stimme erklang: „Carlisle hat seine gerechte
Strafe erhalten. Jesus Christus hat uns Ned Brown geschickt und ihn
zu seinem rächenden Arm berufen. Wir verbinden die Verwundeten und
lassen sie zurück. Wenn sie es nicht bis Carthage schaffen, ist das
die Strafe für ihren Frevel. Gott ist allmächtig! Diese vier Sünder
haben seinen Zorn herausgefordert.“
Ned zog sich wieder in sein Zelt zurück. Um die Verwundeten
kümmerten sich die Mormonen. Es dauerte eine Weile, bis er den
Aufruhr in seinem Innern unter Kontrolle hatte. An tiefen Schlaf
war in dieser Nacht nicht mehr zu denken.
8
Ehe sie am nächsten Morgen weiterzogen, begab sich Ned zu den
verwundeten Männern aus Carthage. Man hatte für sie ein Zelt
aufgestellt, ihnen Schlafsäcke zur Verfügung gestellt und ein Feuer
angezündet. Ihre Verletzungen waren nicht so schwer, dass sie
gehindert gewesen wären, nach Carthage zurückzukehren.
Die Toten waren steif gefroren, ebenso die beiden
Pferdekadaver. Die beiden Kerle musterten Ned mit Hass im Blick.
Einen von ihnen erkannte jetzt bei Tageslicht Ned wieder. Es war
der, dem er im Dezember den Gewehrkolben in den Leib gerammt hatte,
als er Sarah zur Hilfe geeilt war. Die tödliche Leidenschaft in den
Augen der Männer beeindruckte Ned nicht im Geringsten. Kühl
erwiderte er ihre Blicke und sagte: „Versucht die beiden Pferde
einzufangen, die in der Nacht getürmt sind. Findet ihr sie nicht,
müsst ihr zu Fuß nach Hause gehen. Ihr habt es euch selber
zuzuschreiben.“
„Ich gebe dir den Rat, nie wieder in die Gegend von Carthage
zu kommen, Brown“, knirschte der Bursche, mit dem Ned vor etwa zwei
Monaten schon einmal das Vergnügen hatte.
„Sei dankbar, wenn ich eure Gegend nicht noch einmal aufsuche,
Mister. Denn wenn wir uns noch einmal begegnen sollten, werde ich
dich nicht nur verwunden.“
Ned sprach es mit aller Entschiedenheit, seine Stimme klirrte
regelrecht. Nach dem letzten Wort schwang er herum und ging zu
seinem Pferd, saß auf und setzte sich an die Spitze des
Wagentrecks.
Sie zogen durch den Süden von Iowa, schafften jeden Tag etwa
zwanzig Meilen. „Wenn wir dieses Tempo beibehalten, sind wir in
spätestens zwei Wochen am Missouri“, sagte Ned am Morgen des
vierten Tages zu Brigham Young.
„Wie sieht es jenseits des Missouri aus?“, fragte Young.
„In Nebraska leben die Omaha. Sie sind mit den Sioux
verwandt.“
„Sind sie friedlich?“, fragte Young.
„Normalerweise ja. Sie leben in Dörfern und treiben Ackerbau
sowie Viehzucht. Einige Gruppen des Stammes ziehen allerdings als
Jäger durch Nebraska. Wenn sich ihnen eine Gelegenheit bietet,
Beute zu machen, werden sie auch schon mal zu Räubern.“
„Die Rothäute schrecken oftmals auch vor Mord nicht zurück“,
gab Young zu bedenken.
„Ich glaube nicht, dass es eine Gruppe von Omaha-Kriegern
wagt, diesen Wagenzug anzugreifen. Das Gelände wird uns größere
Probleme bereiten als die Indianer. Es wird zum Missouri hin
ziemlich hügelig. Natürlich können wir das Hügelland umgehen, aber
das würde einen Umweg von einer Woche oder mehr bedeuten.“
„Wir nehmen den kürzesten Weg“, bestimmte Young. „Am Missouri
bauen wir eine Fährstation, damit auch die nachfolgenden
Glaubensbrüder mit ihren Familien über den Fluss setzen
können.“
Ned ließ sich etwas zurückfallen, bis er sich auf einer Höhe
mit dem Fuhrwerk der Naismith‘ befand. Elias Naismith lenkte das
Gespann, neben ihm auf dem Bock saß Sarah. Ihre Augen blitzten
erfreut. Ihr Vater hingegen schoss Ned einen scharfen Blick zu.
Elias Naismith war nicht entgangen, dass sich zwischen seiner
Tochter und dem Scout etwas anbahnte, das über Sympathie und
Freundschaft hinausging. Es gefiel ihm nicht.
Ned wechselte mit Elias und Sarah ein paar unverbindliche
Worte, dann trieb er sein Pferd wieder nach vorne, um vor dem Treck
zu reiten. Am Spätnachmittag dieses Tages nahm Ned voll Sorge wahr,
dass sich im Westen ein unheilvoller Horizont auftürmte. Die Wolken
hatten sich zu formlosen, tiefdunklen Bergen zusammengefaltet und
wurden von einem ungeheuren Sturm herangetrieben.
Ned wartete, bis ihn Brigham Young mit seinem Fuhrwerk
eingeholt hatte. „Haben Sie schon mal nach Westen geschaut?“, rief
er dem Sektenführer zu.
„Natürlich“, erwiderte Brigham Young. „Wir können nur hoffen,
dass es kein ausgewachsener Blizzard ist, der sich da
zusammenbraut.“
Ned nickte. Es war in der Tat nicht auszuschließen, dass sich
weit entfernt im Westen lautlos und unheimlich die Hölle eines
Blizzards anbahnte. Der Scout sagte: „Es wird sowieso bald düster.
Ich denke, wir bleiben hier und fahren die Fuhrwerke zusammen. Sie
bieten uns etwas Schutz vor dem Sturm.“
Young war einverstanden. Auch er wusste die Zeichen der Natur
zu deuten. Die entsprechenden Befehle wurden gerufen und setzten
sich nach hinten fort. Brigham Young hatte das Fuhrwerk angehalten,
die anderen Schoner fuhren zu einem großen Kreis auf, in den das
Vieh getrieben wurde. Zwischen den Wagen wurden Seile gespannt,
damit die Tiere während des Sturms nicht fliehen konnten.
Es dauerte seine Zeit, bis die Zugtiere ausgeschirrt und
ebenfalls in der Wagenburg in Sicherheit gebracht worden waren.
Sorgenvoll schaute Ned immer wieder nach Westen. Während es dort
stockfinster war, hatte sich über der Wagenburg der Himmel hell
verfärbt.
Ein verheerender Sturm peitschte die schwarzen Wolkenberge
nach Osten, über die Hügel strich ein ferner Pfeifton heran.
Rund um die Wagenburg und zwischen den Fuhrwerken war die Luft
völlig unbewegt. Nichts regte sich, die Stille und das Grau der
Atmosphäre lastete bleiern über dem Land. Die Luft schien mit
Elektrizität geladen zu sein. Zwischen den Hügeln war es düster.
Seit Minuten nahm die Kälte ständig zu und biss regelrecht in die
Gesichter der Menschen.
Der wolkenverhangene Himmel, das düstere Grau, das alles
einhüllte, die Reglosigkeit der Hügel, diese Ruhe vor dem Sturm –
das alles wirkte unheimlich und bedrückend auf die Auswanderer.
Das Unwetter näherte sich schnell. Das Pfeifen war lauter und
schriller geworden und ging schließlich in ein unheimliches,
durchdringendes Heulen über, das weiterhin anschwoll.
Spätestens jetzt wurde allen klar, dass das kein einfacher
Schneesturm war sondern ein mörderischer Blizzard, den der
Sturmwind unaufhaltsam herantrieb. Schon von Weitem glaubte Ned die
Wand aus Schnee und Eiskristallen, die er herantrug, erkennen zu
können.
Schließlich war der Blizzard da. Es gab keinen allmählichen
Übergang von der Reglosigkeit in das Toben des Unwetters, und es
dauerte nicht länger als einige Herzschläge, und alles hatte sich
in eine weiße Hölle verwandelt. Wind und Schnee fanden einen Weg
zwischen die Fuhrwerke, rüttelten an ihnen und ließen die Planen
knatternd schlagen.
Ned war unter das Fuhrwerk Elias Naismith gekrochen. Sein
Pferd hatte er an einem der Räder angeleint. Die Kälte stach in
seinen Lungen und legte sich auf ihn wie ein Eispanzer, kroch von
den Beinen herauf in seinen Körper, und brannte auf seinem
Gesicht.
Der Sturmwind heulte wie ein hungriger Wolf zwischen den
Prärieschonern und wirbelte den Schnee, der am Boden lag, in die
Höhe. Das Knarren der Wagenaufbauten mischte sich in den Lärm, den
der Blizzard produzierte. Die Sichtweite betrug keine fünf Schritte
mehr.
Stundenlang fegte der Blizzard mit ungebrochener Kraft wie ein
wildes Ungeheuer über das Land und trieb eine weiße Wand aus Schnee
vor sich her, die alles unter sich begrub. Immer neue Schneemassen
jagte er über die Hügel heran. Der Schnee wirbelte so dicht, dass
man fast die Hand vor den Augen nicht mehr erkennen konnte. Ächzend
und knarrend bogen sich die Bäume im Wüten der Elemente, mehr und
mehr entfaltete der Blizzard seine volle, vernichtende Kraft. In
immer neuen eisigen Böen peitschte er vernichtende Wogen von Schnee
über das Land, und wehe dem, der diesem Wüten schutzlos
ausgeliefert war.
Und in das Wüten des Sturms hatte sich die Nacht gesenkt. Erst
nach Mitternacht flaute das Unwetter ab. Es schneite noch immer.
Große, schwere Flocken fielen wie ein weißer Vorhang vom Himmel.
Nach dem Jaulen und Orgeln des Sturms wirkte die Stille unecht,
fast gespenstisch. Schneewehen türmten sich an und zwischen den
Fuhrwerken auf.
An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Ned kroch unter dem
Fuhrwerk hervor und schüttelte den Schnee ab, den der Blizzard auf
ihn gehäuft hatte. Auf den Rücken und Köpfen der Tiere in der
Wagenburg lagen dicke Schneeschichten. Nach und nach kamen auch die
Auswanderer unter den Planen ihrer Wagen hervor. Einige der Männer,
es handelte sich um die engeren Vertrauten Brigham Youngs, zu denen
auch Elias Naismith gehörte, hatten sich beim Schoner des
Sektenführers eingefunden. Auch Ned gesellte sich zu ihnen.
„Der viele Schnee wird ein derart schnelles Vorwärtskommen wie
in den vergangenen Tagen unmöglich machen“, sagte er. „Wir haben
natürlich die Möglichkeit, hier zu bleiben und die Schneeschmelze
abzuwarten.“
„Eine Art Winterquartier“, knurrte Young und schaute in die
Runde. „Was haltet ihr davon?“
„Wir sollten versuchen, weiterzuziehen“, antwortete einer.
Die anderen nickten.
„Ich denke, die Entscheidung ist einstimmig“, wandte sich
Young an Ned. „Wenn wir auch nur noch langsamer trailen können –
wichtig ist, dass wir überhaupt vorankommen.“
„Es wird strapaziös“, warnte Ned.
„Das nehmen wir in Kauf“, versetzte Naismith. „Ich würde
nachher gerne mit Ihnen ein kurzes Gespräch führen, Mister Brown“,
fügte er hinzu. „Es ist eine persönliche Sache. Es gibt etwas
klarzustellen.“
„Ich stehe Ihnen zur Verfügung“, erklärte Ned
ahnungsvoll.
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