Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau,
herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
Der Fall mit der Stripperin
von Alfred Bekker
1
Die junge Frau war fast nackt. Es trug schenkelhohe Stiefel
und einen winzigen Tanga. Dazu eine offene Lederweste, die den
Blick auf die Brüste freiließ. Ihre zierlichen Hände umfassten den
Griff einer Maschinenpistole der Firma Heckler & Koch.
Der Lauf war auf meinen Oberkörper gerichtet.
»Die Flossen hoch!«, kam es spöttisch über die geschwungenen
Lippen der Schönen. »Oder du hast ein paar Löcher im Bauch
...«
Ich folgte der Aufforderung.
Zwei weitere junge Frauen kamen herbei. Sie waren ebenfalls
bewaffnet und trugen die gleiche spärliche Bekleidung wie die
Dunkelhaarige, die mich mit katzenhaftem Blick musterte.
»Kauft euch Herr Dagarow nichts zum Anziehen?«, fragte ich,
wobei ich mir ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Die Dunkelhaarige verzog das Gesicht.
»Sie wären der erste, der das bedauert, Herr ...«
»Hofstetter«, stellte ich mich vor. »Burkhard J. Hofstetter
aus München.«
Das war der Tarnname, den ich, Uwe Jörgensen von der
Kriminalpolizei Hamburg, bei dieser verdeckten Operation trug. Ich
stand mit erhobenen Händen da, und die bewaffneten Girls betasteten
mich unter der dunklen Smoking-Jacke.
Ich war darauf vorbereitet.
Meine Dienstwaffe vom Typ SIG Sauer P 226 trug ich
ausnahmsweise am Fuß, während ich ansonsten ein Gürtelholster
bevorzugte.
Das, was die Show-Girls da machten, hatte mit einer richtigen
Durchsuchung nicht viel zu tun. Es gehörte zur Show. Aber es war
ganz angenehm.
Eine der Schönen hatte sich meinen Personalausweis geangelt
und warf mit gespielter Strenge einen Blick darauf.
»Burkhard J. Hofstetter«, murmelte sie. »Der Name stimmt
immerhin ...«
»Und steht auch auf der Liste der Eingeladenen«, ergänzte ich.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie eines der Girls sich um
meinen Sportwagen kümmerte. »Seid vorsichtig mit dem guten
Stück!«, rief ich.
Die junge Frau, die sich hinter das Steuer gezwängt hatte,
kicherte.
»Alles klar!«, meinte die Dunkelhaarige. »Sie können
gehen!«
»Besten Dank«, erwiderte ich und ging durch die Glastür ins
Foyer des Panorama-Hotels in Hamburg-Harburg.
Am Eingang standen die echten Bodyguards in dunklen Anzügen.
Die jungen Frauen waren nur Teil der Show, die Jossif 'Big Joe'
Dagarow für diesen Abend arrangiert hatte. Die Heckler &
Koch-MPis waren zwar echt, aber ungeladen, wie unsere Informanten
versicherten. Es ging das Gerücht um, dass Big Joe sich die MPis
aus dem Requisiten-Fundus des St. Pauli Theaters geliehen hatte, wo
gerade ein Gangster-Musical aufgeführt wurde.
Dagarow subventionierte das Theater mit hohen Summen. Ein
Hobby des 'großen Joe', das er aus seiner Portokasse finanzierte.
Vielleicht diente es ihm auch nebenbei noch zur Geldwäsche.
Ich bezweifelte, dass auch nur eine der jungen Frauen gelernt
hatte, wirklich mit einer MPi umzugehen. Vermutlich hatte Dagarow
sämtliche Stripperinnen von allen Stripteasebars in Hamburg für
diesen Abend engagiert. Big Joe war bekannt für derartige frivole
Inszenierungen. Kein Wunder, er war gewissermaßen aus der Branche.
Das Sex-Business war seine Welt.
Dagarow war der Boss eines Syndikats von Weißrussen, das
inzwischen einen Teil der Prostitution kontrollierte. Außerdem
kassierte er Schutzgelder von Clubs. Er schleuste junge Frauen aus
Osteuropa ein, besorgte ihnen falsche Papiere und verkaufte sie an
die von ihm kontrollierten Zuhälter.
Aber seine Tage als großer Pate im Hintergrund waren gezählt.
Auch wenn er selbst davon nichts ahnte.
Wir wollten ihm das Handwerk legen. An diesem Abend plante
Dagarow einen großen Deal unter Dach und Fach zu bringen. Und wir
würden dabei sein. Mit Mikrofonen, Kameras und einer Reihe von
Kollegen, die zum Teil monatelang verdeckt ermittelt hatten.
Dagarow ahnte nichts von der Falle, die wir ihm stellten. Vor allem
wusste er nicht, dass wir Marco Kerscher, einen Zuhälter aus St.
Pauli, 'umgedreht' hatten. Der Staatsanwalt hatte ihn mit mehr oder
minder sanftem Druck davon überzeugt, dass es besser für ihn war,
uns zu helfen und vor Gericht als Kronzeuge auszusagen.
Ich betrat das Foyer.
Dagarow hatte das gesamte Hotel für diesen Abend gemietet. Und
das nicht zum ersten Mal. Der Weißrusse liebte rauschende Feste.
Seine ausschweifenden Parties waren das Tagesgespräch in
Hamburg.
Ich ließ den Blick schweifen. Überall waren die halbnackten
Show-Girls mit ihren MPis. Das Foyer war voller festlich
gekleideter Personen. Die Männer im Smoking, die Frauen mit
Brillantschmuck.
Big Joe legte Wert auf stilvolles Outfit. Ein paar finstere
Typen waren leicht als Bodyguards erkennbar, weil sie dauernd
irgendetwas in ihre Funkgeräte raunten.
Wenn es zur Verhaftung kam, mussten wir auf diese Männer
besonders aufpassen.
Aber das war alles minutiös geplant. Auf jeden dieser Gorillas
kamen mindestens zwei Kollegen.
Und die Leibwächter würden sicher klug genug sein, gegen uns
nicht die Waffe zu ziehen. Eine Schlacht mit dem Kriminalpolizei
war schließlich etwas anderes, als irgendein Scharmützel mit den
Leuten eines aufmüpfigen Zuhälters.
Etwas abseits sah ich meinen Freund und Kollegen Roy Müller,
der sich gerade von einem der leicht bekleideten Killer-Girls einen
Drink geben ließ.
Wir sahen uns kurz an.
Ansonsten ließen wir uns nicht anmerken, dass wir etwas
miteinander zu tun hatten.
An meinem Hemdkragen trug ich ein winziges Funkgerät, mit
dessen Hilfe ich mit den Kollegen in Verbindung treten konnte, wenn
es nötig war.
Ein dröhnendes Lachen erfüllte den Raum. Die geladenen Gäste
drehten sich um. Big Joe Dagarow stand mit hochrotem Kopf da, in
jedem Arm eines der halbnackten Girls. Marco Kerscher war bei ihm.
Die beiden Leibwächter, die Kerscher begleiteten, hatten ihr
Handwerk auf der Polizei-Akademie in Hamburg gelernt. Kollege
Jelling und Kollege Blohm spielten ihre Rollen so überzeugend, dass
man denken konnte, sie hätten nie etwas anderes gemacht, als einen
Zuhälter zu eskortieren.
Kerscher schwitzte.
Eines der Girls rauschte zu mir heran, in der einen Hand eine
MPI, auf der anderen ein Tablett mit Drinks. Der Blick auf ihre
blanken Brüste lenkte ich mich für einen Moment ab.
Ich musste jetzt am Ball bleiben, was Dagarow anging. Die
Operation konnte jederzeit in ihre entscheidende Phase gehen.
»Einen Drink?«, fragte die Schöne.
»Danke.«
Ich nahm mir ein Glas und nippte daran, während das Girl mit
atemberaubendem Hüftschwung davonging.
Ich sah zu Dagarow und Marco Kerscher hinüber.
Kerscher fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Er
lockerte den ersten Hemdknopf. Ich hoffte, dass er sein Mikrofon
nicht ruinierte, dann war alles für die Katz.
»Heh, Sie kenne ich doch!«, rief eine weibliche Stimme zu
meiner Linken.
Ich drehte mich herum. Madleen Dagarow kam auf mich zu.
Sie war Mitte dreißig, trug ein tief ausgeschnittenes Kleid,
das sie sehr sexy aussehen ließ. Sie war Dagarows dritte Frau, und
ihr wirklicher Name war auch nicht Madleen. Aber unter diesem hatte
Dagarow sie in Deutschland einbürgern lassen.
Ihr Gang war schwankend. Sie hatte getrunken.
»Warten Sie, ich erinnere mich, Sie sind ... Meine Güte, mein
Kopf ist so leer!«
»Burkhard J. Hofstetter«, half ich ihr auf die Sprünge.
»Mein Mann macht Geschäfte mit Ihnen, nicht wahr?«
»Ja.«
Ihr Gesicht verzog sich, als sie in Richtung von Big Joe
blickte. Ihre Augen wurden schmal. Hass stand einen Augenblick lang
in ihren Zügen.
»Jossif ist zu gierig«, zischte sie, während Dagarow gerade
einem der Show-Girls an die blanke Brust griff. »In jeder Beziehung
... Das wird ihn noch mal umbringen!«
Madleens Hand krampfte sich zusammen. Das Glas zersprang.
Ein kurzes Raunen ging durch die Menge. Dagarow blickte für
einen Moment zu ihr hin. Ein Hotelbediensteter eilte herbei, um die
Scherben wegzufegen.
»Ich blute!«, jammerte Madleen Dagarow.
»Ich kümmere mich darum«, sagte der Hotelbedienstete.
Ich nutzte die Gelegenheit, um mich von Madleen loszueisen.
Ich kannte sie durch meine verdeckten Ermittlungen der letzten
Zeit. Sie hatte ein Alkoholproblem, war an den Geschäften ihres
Mannes aber wohl nur insofern beteiligt, als sie sein Geld
ausgab.
In einiger Entfernung sah ich unsere Kollegen Kollege Ollie
Medina und Stefan Czerwinski stehen. Sie beobachteten Dagarow und
sein Gefolge ebenfalls aufmerksam.
Ich hielt mich am Rande und steckte mir unauffällig einen
Knopf ins Ohr.
Was jetzt zwischen Dagarow und Kerscher gesprochen wurde,
bekam jeder von uns Kollegen mit.
Darüber hinaus wurde es auch aufgezeichnet.
Marco Kerscher wandte sich an den großen Boss.
Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er fühlte sich
sichtlich unwohl in seiner Haut.
»Was halten Sie davon, wenn wir das Geschäftliche zuerst über
die Bühne bringen, Herr Dagarow?«, fragte er.
Dagarow gab ihm einen gönnerhaften Klaps auf die
Schulter.
»Sie können nichts genießen, Marco! Das ist ein Fehler! Lassen
Sie es sich gesagt sein!«
»Trotzdem, es wäre mir lieber.«
»Ich traue keinem Mann, der nicht getrunken hat.«
»Ich hatte einen Martini, das reicht mir.«
»Mit 'trinken' meine ich Hochprozentigeres. Wodka.«
»Hören Sie, Sie haben gesagt, dass Sie mir fünfzehn sexy
Klasse-Frauen liefern können und ich möchte wissen, ob das in
Ordnung geht!«
Dagarow sah ihn einen Moment lang nachdenklich an. Sein
Grinsen war zynisch.
»Sie werden nicht sagen können, dass ich Sie schon mal
enttäuscht habe ... Und über den Preis werden wir uns nachher im
Separee einigen.«
»Und wenn es Schwierigkeiten mit einem der Mädchen gibt?«,
hakte Kerscher nach. »Sorgen Sie dann auch wieder dafür, dass
diejenige ebenso diskret verschwindet wie diese Jelena
Maranova?«
Dagarows Gesicht erstarrte.
»An alle! Aufpassen, jetzt wird's kritisch!«, hörte ich
Kommissar Fred Rochow über den Knopf im Ohr sagen. Fred hatte die
Leitung dieses Einsatzes.
Marco Kerscher versuchte seine Sache gut zu machen, aber er
war etwas zu forsch.
Dagarow war misstrauisch geworden. Der Weißrusse war
schließlich mit allen Wassern gewaschen.
Er packte Kerscher am Kragen. Ich riss mir den Knopf aus dem
Ohr, weil es jetzt furchtbar laute Knackgeräusche gab.
»Warum fragst du mich aus, du Hurensohn!«, brüllte Dagarow
los. Er hatte die Lunte gerochen. Ich blickte zu den Kollegen
hinüber.
Kommissar Medina schüttelte den Kopf.
Wir warteten noch ab.
Alle Augen waren auf den jähzornigen Dagarow gerichtet.
»Was soll das, du Bastard?«, rief er.
Möglicherweise hatten wir Glück, und die Sache kam wieder in
geordnete Bahnen.
Noch hatten wir nicht genug, um Dagarow festzunageln. Um ein
Haar hätte er vor unseren Mikrophonen einen Mordauftrag gestanden.
Mehr, als wir je zu hoffen gewagt hätten. Aber dazu war Dagarow zu
schlau gewesen. Er ließ den Blick schweifen, wirkte wie ein
gehetztes Tier.
Mein Instinkt sagte mir, dass die Aktion ein Fehlschlag
wurde.
Dann wummerten die ersten Schüsse aus einer Richtung, aus der
es niemand erwartet hätte.
2
Das leicht gelockte Haar hing ihr bis zu den nackten Brüsten
hinunter. Sie riss die Heckler & Koch-MPi herum. Die Waffe
knatterte los. Mündungsfeuer zuckte hervor.
Mindestens ein halbes Dutzend Kugeln trafen Dagarow, noch ehe
irgendjemand im Foyer des Hotels auch nur atmen konnte.
Dagarows Körper zuckte wie eine Marionette.
Die Projektile zerrissen den Smoking und das Hemd. Sie trafen
auf die Schutzweste, die Big Joe stets trug. Aber ein Schuss fuhr
ihm in die Schläfe, ein weiterer zerfetzte die Halsschlagader.
Dagarow fiel schwer zu Boden.
Auch eines der beiden halbnackten Girls bekam eine Kugel ab,
das andere sprang kreischend zur Seite.
Schreie gellten durch das Foyer. Panik breitete sich
aus.
Dagarows Leibwächter versuchten ihre Waffen
herauszureißen.
Aber das schafften sie nicht mehr. Das Killer-Girl schwenkte
den Lauf seiner MPi herum.
Ihre blütenweißen Smoking-Hemden färbten sich rot. Einer von
ihnen stieß einen heiseren Todesschrei aus.
Marco Kerscher erwischte es an der Schulter. Die Wucht des
Treffers ließ ihn zu Boden gehen.
Unser Kollege Jelling hatte bereits von der ersten Salve, die
das Killer-Girl abgefeuert hatte, einen Treffer im Rücken erhalten.
Er versuchte noch, seine Waffe zu ziehen und brach dabei zusammen.
Sein Partner Blohm warf sich zur Seite, rollte sich am Boden herum
und riss dann seine Waffe empor. Er konnte nicht schießen. Es
standen zu viele Menschen um das Killer-Girl herum.
Und im Gegensatz zu unseren Gegnern müssen wir Kollegen darauf
Rücksicht nehmen und können nicht blindlings Unschuldige
gefährden.
Ich hatte mich längst gebückt und die SIG aus dem Futteral
gezogen, das ich mir an die Wade geschnallt hatte. Der
verhältnismäßig weite Schlag der Smokinghose machte es möglich, die
Waffe trotzdem relativ schnell in Anschlag zu bringen.
Die junge Frau wirbelte herum. Sie feuerte wild in die
Gegend.
Die meisten Gäste stoben kreischend davon oder warfen sich zu
Boden. Manche versuchten hinter den wenigen Tischen und Sesseln
Deckung zu finden. Es herrschte ein einziges Chaos.
Das Show-Girl rannte davon und feuerte dabei noch immer
ungezielt und wahllos in die Menge. Sie war völlig ohne
Skrupel.
Ich fluchte innerlich, weil ich die SIG nicht benutzen
konnte.
Geduckt spurtete ich hinter der Mörderin her.
Einer unserer Kollegen, der an einem der Ausgänge postiert
gewesen war, versuchte sie mit vorgehaltener Waffe zu
stoppen.
»Stehenbleiben, Kriminalpolizei!«, rief er gegen das
allgemeine Geschrei an.
Sekundenbruchteile später traf ihn eine volle MPi-Salve. Die
Wucht der Geschosse riss ihn nach hinten und ließ ihn der Länge
nach auf den Boden knallen. Der Teppichboden färbte sich rot.
Die junge Frau hetzte auf den Ausgang zu.
Ich hinterher. Hinter mir befand sich Kollege Blohm, der sich
inzwischen wieder aufgerappelt hatte. Allerdings war ihm jemand von
den Gästen in den Weg gerannt, was ihn wertvolle Sekunden gekostet
hatte.
Ich steckte mir den Knopf ins Ohr und brüllte in das Mikrofon
an meinem Hemdkragen.
»Hier Jörgensen! Die Täterin will vermutlich in die
Tiefgarage!«
»Da haben wir unsere Leute«, kam Fred Rochows Stimme aus dem
Knopf heraus. »Sie hat keine Chance herauszukommen.«
»Freut mich zu hören!«
Ich hetzte weiter.
Es ging einen langen Flur entlang.
Die Killerin hatte bereits die nächste Ecke erreicht, wirbelte
herum und feuerte. Ich warf mich zur Seite, während die Projektile
dicht über mich hinwegzischten. Sie zerfetzten den Wandbelag,
schossen ganze Stücke heraus, die ihrerseits wie Geschosse durch
die Luft flogen.
Ich riss die SIG hoch, feuerte zurück. Zweimal kurz
hintereinander.
Aber meine Gegnerin war bereits hinter der Ecke
verschwunden.
»Alles klar, Uwe?«, rief eine Stimme hinter mir. Das war
Kriminalkommissar Blohm.
»Alles klar!«, bestätigte ich.
Wir setzten den Spurt fort und erreichten die Aufzüge. Der
Leuchtanzeige war zu entnehmen, dass einer der Aufzüge auf dem Weg
nach unten war.
»Ich nehme die Treppe«, sagte ich.
»Okay«, nickte Kriminalkommissar Blohm.
Er schnellte zu einer der Aufzugstüren, öffnete sie.
Als er in die Liftkabine eintrat, gab es einen
ohrenbetäubenden Knall. Die Druckwelle der Explosion konnte selbst
ich noch deutlich spüren. Es wurde heiß. Flammen schlugen empor.
Die Detonation hatte Kriminalkommissar Blohm buchstäblich
zerrissen. Er hatte nicht den Hauch einer Überlebenschance gehabt.
Entsetzen und ohnmächtige Wut packten mich. Es kommt leider immer
wieder vor, dass Kollegen im Kampf gegen das Verbrechen ihr Leben
lassen. Aber gewöhnen werde ich mich an diese Tatsache nie.
Ich packte die SIG mit beiden Händen.
Meine Gegnerin war von äußerster Kaltblütigkeit.
Und vermutlich operierte sie nicht allein. Jemand musste ihr
geholfen haben ...
3
Ich gab über das Mikro an meinem Hemdkragen einen kurzen
Lagebericht und hetzte die Treppe hinunter.
»Roy und Ollie sind unterwegs zu dir!«, hörte ich Fred Rochows
Stimme an meinem Ohr, während ich bis zum nächsten Treppenabsatz
hetzte.
Die SIG hielt ich dabei im beidhändigen Anschlag.
»Hat sie schon versucht aus der Tiefgarage herauszukommen?«,
fragte ich ins Mikro.
»Bis jetzt nicht, Uwe.«
Augenblicke später erreichte ich die feuerfeste Stahltür,
durch die man in die Tiefgarage gelangen konnte. Ich riss sie auf,
hielt dabei die SIG in der Rechten. Blitzschnell ließ ich den Blick
schweifen.
Es war totenstill. Verdächtig ruhig.
Ich machte ein paar Schritte nach vorn und presste mich dann
gegen einen der dicken Betonpfeiler. Jeden Moment erwartete ich,
einen Motor aufheulen zu hören.
Aber da kam nichts.
Kein Laut.
In geduckter Haltung schlich ich vorwärts und verschanzte mich
dann hinter einem BMW in grau-metallic.
Die Stahltür ging auf. Roy und Ollie kamen mit ihren SIGs im
Anschlag heraus. Ich machte ihnen ein Zeichen. Sie suchten
Deckung.
Roy schlich zu mir.
»Wo steckt sie, Uwe?«
»Keine Ahnung. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass die
Lady uns an der Nase herumführt.«
»Die Ausfahrt ist blockiert, da kommt sie nicht raus.«
»Darauf ist unsere Gegnerin bestimmt auch selbst
gekommen.«
»In Luft auflösen kann sie sich aber auch nicht.«
Schritte ließen uns in Richtung Ausfahrt herumwirbeln. Aber
das waren unsere Leute, die sich von dort heranpirschten.
Kollegen in schusssicheren Schutzwesten.
»Scheint so, als müssten wir hier jeden Wagen einzeln unter
die Lupe nehmen«, meinte Roy.
Er hatte recht. Sie konnte überall sein. In jedem Kofferraum,
hinter den Rücksitzen irgendeiner Limousine oder hinter einer der
meterdicken Betonpfeiler, auf der das Panorama Hotel ruhte.
Ich tauchte aus der Deckung hervor.
Es war wie bei der Suche nach der berühmten Nadel im
Heuhaufen. Wir pirschten uns weiter voran, sicherten uns
gegenseitig ab. Aber von der jungen Frau war nirgends eine Spur.
Eine Viertelstunde verging mit dieser nervenaufreibenden
Suche.
Dann rief plötzlich Kollege Medina: »Ich glaube, ich hab' was
...«
Roy und ich eilten zu ihm hin.
Medina stand vor einem Gullydeckel, der nicht mehr richtig in
seiner Fassung lag.
Möglicherweise war das Killer-Girl in die Kanalisation
entkommen, was die Chancen, sie zu finden, gegen Null gehen
ließ.
Ollie gab diese Vermutung über Funk an Fred Rochow
durch.
Vielleicht konnte man noch etwas erreichen, in dem man das
Panorama Hotel durch die Kollegen der Polizei weiträumig absperren
ließ. In ihrem Aufzug war die junge Lady ja mehr als auffällig.
Allerdings war sie bei ihrem Mordanschlag insgesamt dermaßen
professionell vorgegangen, dass sie vermutlich für diesen Fall
vorgesorgt hatte.
Ich räumte den Deckel zur Seite.
Für eine zierliche Frau, wie die Killerin, war er ziemlich
schwer. Kein Wunder, dass sie es in der Eile nicht mehr hingekriegt
hatte, ihn richtig in der Fassung zu platzieren.
»Augenblick!«, rief Roy.
»Was ist los?«
»Da sind ein paar Haare ...«
Das Killer-Girl war offenbar mit seiner langen, dunklen
Lockenmähne hängengeblieben.
Roy nahm die Haarfasern zwischen Daumen und Zeigefinger.
Wenn wir Glück hatten, konnte uns eine Genanalyse den Namen
der Täterin verraten, sofern sie schon einmal erkennungsdienstlich
behandelt worden war.
Ich stieg in den röhrenartigen Abfluss hinein. Mit Hilfe der
angerosteten Metallsprossen in der Wand gelangte ich abwärts. Ein
schmaler Zugang führte zum Hauptkanal, der wie ein Wildbach
rauschte.
Ein perfekter Fluchtweg.
Von den Abwasserkanälen aus bestanden Verbindungen zu
stillgelegten U-Bahnschächten. Bis zu zehn Stockwerke tief war der
Untergrund von Hamburg mit Gängen und Tunneln durchzogen. Eine
Stadt unter der Stadt. Man musste sich nur dort auskennen.
An Spuren war nichts mehr zu finden.
»Die ist auf und davon, Uwe!«, hörte ich Roys Stimme.
4
Die junge Frau mit der Lockenmähne riss die Hintertür des
Chryslers auf und setzte sich auf den Rücksitz. Der Chrysler hatte
in einer kaum frequentierten Seitenstraße auf sie gewartet.
Die MPi, mit der sie das Blutbad im Panorama Hotel angerichtet
hatte, trug sie nicht mehr. Sie hatte sie im Labyrinth der
Abflusskanäle zurückgelassen. Es konnte Jahrzehnte dauern, bis sie
dort gefunden wurde.
Ihr offenherziger Aufzug war schon aufsehenerregend genug.
Jeder Polizist hätte sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses
verhaften können.
»Losfahren!«, zischte das Killer-Girl.
Der Fahrer war ein kahlköpfiger Mann mit feistem Gesicht. Er
grinste lüstern, während er sie über den Rückspiegel
betrachtete.
»Zu Befehl, Larina!«, kam es ironisch zwischen seinen schmalen
Lippen hindurch.
Larina griff nach einer Sporttasche, die sich auf dem Rücksitz
befand. Sie streifte die Lederweste ab und zog sich ein T-Shirt und
eine Jeans über, die sie aus der Tasche holte.
»Achte lieber auf den Verkehr!«, zischte sie.
»Fällt einem gar nicht so leicht«, erwiderte der
Kahlkopf.
»Arschloch!«
Der Kahlkopf lachte heiser.
»Hat es geklappt, Larina?«
»Für wen hältst du mich?«
»Wenn ich dir da die Wahrheit sage, wirst selbst du
rot!«
»Du bist unverbesserlich.«
»Vergiss das nicht!«
»Fahr lieber etwas schneller! Im Panorama Hotel hat es einen
regelrechten Bullentanz gegeben. Und ich habe keine Lust, mich
jetzt von irgendwelchen Kriminalisten verhören zu lassen,
Victor.«
Victor trat das Gaspedal voll durch. Der Chrysler heulte auf
und brauste Richtung Norden. Schnell erreichten sie die 75, die
über die Elbbrücke nach Hamburg Mitte führt. Mit nachdenklichen
Gesicht blickte das Killer-Girl aus dem Seitenfenster hinunter auf
das in der Sonne glitzernde Wasser der Elbe. Ein ziemlich
angerosteter Frachter quälte sich gerade in Richtung
Hafenausgang.
Auftrag erfüllt, dachte Larina.
Sie atmete tief durch.
Du hast es geschafft, dachte sie. Du kannst dich beruhigt
zurücklehnen und dir ausmalen, wie die nächsten Monate an
irgendeinem Strand verbringst, ohne einen einzigen Gedanken an
Arbeit zu verschwenden.
Victor lenkte den Chrysler die 75 entlang, bog dann ab in
Richtung St. Pauli. Victor fuhr sie einmal quer durch Hamburg. Dazu
war er engagiert.
Mehr als Autofahren kann man von diesem Spatzenhirn auch nicht
erwarten, ging es Larina verächtlich durch den Kopf.
Hinter Altona bog Victor plötzlich in eine Seitenstraße
ein.
»Heh, ich glaube du hast dich mit dem Weg vertan.«
»Ich glaube, wir werden verfolgt«, erklärte Victor.
»Du spinnst!«
»Ich will auf Nummer sicher gehen.«
»Ich habe sehr genau darauf geachtet, dass niemand hinter uns
ist ...«
Larina sah sich um.
Da war ein Lieferwagen. Aber der war erst seit ein paar
Minuten hinter ihnen.
Irgendetwas war faul. Larina konnte es förmlich spüren.
Als Victor erneut abbog, schrillten bei dem Killer-Girl
sämtliche Alarmglocken.
Es handelte sich um eine ziemlich enge Sackgasse, die zu
beiden Seiten vollgeparkt war. Die Fassaden blätterten von den
Häusern. Die Gebäude waren in einem erbarmungswürdigen Zustand.
Fenster waren mit Spanplatten zugenagelt. Hier war
Sanierungsgebiet. Wahrscheinlich würde es nicht mehr allzu lange
dauern und diese schmucklosen Blocks würden der Abrissbirne zum
Opfer fallen. Obszöne Graffiti prangten am Beton.
»Was soll das?«, rief Larina. »Warum fährst du hier
hin?«
Victor stoppte ziemlich abrupt.
Larina wurde nach vorn gegen die Rückseite des Fahrersitzes
geschleudert. Als sie aufblickte, streckte Victor ihr den Lauf
einer Automatik entgegen.
Larina wurde bleich.
»Tut mir leid. Aber der Chef meint, du seist lebendig ein zu
großes Sicherheitsrisiko.«
»Aber ...«
»Steig aus!«
Eine Mercedes-Limousine bog in die Sackgasse ein und hielt
hinter dem Chrysler.
Larina wandte den Blick. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie
drei Männer in dunklen Anzügen aus der Limousine steigen.
Einer trug eine Uzi-Maschinenpistole. Die anderen griffen
unter die Jacketts und zogen Pistolen hervor.
»Tja, das sind unsere Leute«, meinte Victor und verzog grimmig
das Gesicht. »Sind eigentlich 'nen bisschen früh dran. Sonst hätte
ich mich hier noch mit dir vergnügen können, bevor …» Er sprach
nicht weiter. In seinen Augen blitzte es.
»Was hindert dich jetzt daran?«
»Der Chef hat so etwas nicht gern.«
»Ja, der Chef ist ein Gentleman«, sagte Larina ironisch.
Die dunkel gekleideten Männer aus der Limousine näherten
sich.
»Steig aus!«, sagte Victor. »Mein Job ist hier zu Ende. Mit
dem Rest habe ich nichts zu tun.«
Er setzte ihr die Pistole an die Schläfe. Sie fühlte das kalte
Metall der Mündung.
Ihre Blicke begegneten sich. Victor grinste zynisch.
Der Handkantenschlag kam so schnell und präzise, dass er ihn
nicht kommen sah. Wie ein Rasiermesser durchschnitt Larinas Rechte
die Luft. Victor stöhnte auf, als der furchtbare Schlag seine
Halsschlagader traf.
Im selben Moment bog sie mit der Linken Victors Waffenarm
seitwärts. Ein Schuss löste sich, ging in die Sitzpolster der
Rückbank. Aber da lebte Victor schon nicht mehr. Der Kahlkopf
sackte kraftlos in sich zusammen.
Larina riss die Waffe an sich.
Dann vollführte sie eine Aufwärtsbewegung damit. Ihr erster
Schuss riss ein Loch in die Heckscheibe des Chryslers und traf den
Kerl mit der Uzi mitten in der Stirn. Die Wucht des Geschosses riss
ihn nach hinten und ließ ihn gegen die Motorhaube der
Mercedes-Limousine prallen.
Ihn hatte Larina wegen der überlegenen Feuerkraft seiner Waffe
zuerst ausschalten müssen.
Blitzartig warf Larina sich zwischen den beiden Vordersitzen
des Chryslers hindurch nach vorne. Zwei, drei Kugel zischen dicht
an ihr vorbei. Dort, wo sie sich noch vor Sekundenbruchteilen
befunden hatte, rissen die Projektile das Polster der Rückbank
auf.
Larina riss die Waffe hoch.
Ihr Schuss ging dicht an der Kopfstütze des Fahrersitzes
vorbei, dann durch die Seitenscheibe der Hintertür.
Ein Schrei gellte.
Einer der Schwarzgekleideten krümmte sich, klappte dann
zusammen wie ein Taschenmesser.
Der dritte Mann war in Deckung gehechtet.
Larina war sehr gelenkig und zierlich. Sie robbte zur
Beifahrertür. Der tote Victor war dabei eine gewisse Deckung für
sie. Sie öffnete die Tür, robbte auf die Straße und rollte auf dem
Boden herum.
Schritte klackerten auf dem Asphalt.
Larina blickte unter dem Chrysler her und für einen Augenblick
sah sie die Füße ihres Gegners.
Larina rollte unter einen der am Straßenrand parkenden Wagen,
kroch über die Straße und tauchte auf der anderen Seite wieder
hervor. Sie hockte sich hin, packte Victors Automatik mit beiden
Händen und wartete.
Wieder hörte sie das Klackern auf dem Asphalt.
Du hättest Turnschuhe tragen sollen, mein Freund, dachte
Larina kalt. Das wird dich das Leben kosten ...
Der Dunkelgekleidete umrundete den Chrysler. Der Lauf seiner
Waffe irrte suchend umher.
Larina tauchte blitzartig hinter ihrer Deckung hervor.
Der Mann in schwarz versuchte noch, die Waffe in ihre Richtung
zu reißen. Larina feuerte einen Sekundenbruchteil schneller.
Das Projektil fuhr durch das Brustbein. Sein blütenweißes Hemd
wurde rot. Er machte einen taumelnden Schritt zurück. Seine Augen
wurden starr. Dann knallte er vornüber auf den Asphalt.
Larina atmete tief durch. Sie sah sich um. Die Automatik
steckte sie hinter den Hosenbund.
Dafür wird noch jemand bezahlen, durchzuckte es sie wie ein
greller Blitz. Dann ging sie zu dem zerschossenen Chrysler, um ihre
Tasche zu holen, in die sie ihr sparsames Kostüm gepackt
hatte.
5
In den nächsten Stunden hatten wir alle Hände voll zu
tun.
Die Personalien der Gäste von Dagarows Party mussten
aufgenommen werden. Wir vernahmen Dutzende von Personen, von denen
wir annahmen, dass sie vielleicht etwas aussagen konnten.
In einem Nebenraum des Hotels unterhielten Roy und ich uns
unter anderem mit Madleen Dagarow, die jetzt einen ziemlich
ernüchterten Eindruck machte.
»Sie wollten meinem Mann eine Falle stellen ... Na ja,
irgendwann musste es ja mal soweit kommen, Herr Hofstetter!«
»Ich bin Kriminalhauptkommissar Uwe Jörgensen«, erinnerte ich
sie.
Sie hob die Hände. »Ich vergaß!«
»Haben Sie irgendeine Ahnung davon, wer Ihren Mann umbringen
wollte?«
»Das waren viele«, meinte sie. »Ich will mich da selbst gar
nicht ausschließen. Wie oft ich ihn verflucht habe, wenn er mit
diesen jungen Dingern rumgemacht hat!«
»Und?«, fragte ich. »Haben Sie etwas damit zu tun?«
Sie verzog das Gesicht.
»Wäre eine originelle Rache, was? Big Joe stirbt durch ein
Show-Girl, das aussieht wie eine der Stripperinnen, die in den
Clubs auftreten, die er kontrolliert.« Sie sah mich mit ihren
eisgrauen Augen an. »Ich weine ihm keine Träne nach«, sagte sie
dann. »Und ich nehme an, dass von Big Joes Vermögen genug für mich
übrig bleibt, um damit für den Rest meiner Tage ein sorgenfreies
Leben führen zu können.«
»Wer so eine Frau hat, braucht keine Feinde mehr«, meinte Roy,
als sie aus dem Raum gegangen war.
»Hilfe können wir jedenfalls von ihr nicht erwarten«, meinte
ich dazu.
»Sich über den Tod seines Ehemannes zu freuen, ist nicht
strafbar, Uwe.«
»Ich weiß.«
»Und wenn sie tatsächlich einen Mordauftrag gegeben hat, wird
sie klug genug gewesen sein, dafür die Schwarzgeldreserven zu
gebrauchen, die Big Joe zweifellos angehäuft hat.«
Die Vernehmungen waren zunächst nicht sehr ergiebig. Niemand
hatte etwas Verdächtiges bemerkt. Das gesamte Geschehen war von
unseren Kollegen auf Video aufgezeichnet worden. Wir hatten dafür
gesorgt, dass jede Bewegung und jedes Wort von Big Joe später vor
Gericht gegen ihn verwendet werden konnte. Aber so weit hatte seine
Mörderin es nicht kommen lassen.
Herrn Velten, unserem 'Zeichner', fiel nun die Aufgabe zu, aus
dem vorhandenen Material möglichst schnell ein Standbild
herauszufischen, das das Gesicht der Täterin deutlich zeigte.
Aber mindestens ein Dutzend der insgesamt etwa dreißig
Show-Girls, die Dagarow für den Abend engagiert hatte, sah der Frau
auf dem Bild zum Verwechseln ähnlich, so dass sich kaum jemand
zuverlässig daran erinnerte, die Täterin vor dem Mord schon einmal
gesehen zu haben.
Wie wir bei den Vernehmungen erfuhren, handelte es sich
tatsächlich um Stripperinnen. Eigentlich arbeiteten sie für Sergej
Janov, den Inhaber des Nachtclubs GO-GO, der unter Dagarows
Kontrolle stand. Keine der Schönen kannte die 'Kollegin' genauer,
die das martialische Killer-Girl nicht nur gespielt hatte.
Aber das war auch kein Wunder. Die Girl-Truppe war ziemlich
zusammengewürfelt. Untereinander kannten sie sich kaum.
»Sergej Janov hat alle Mädchen zusammengeholt, die gut genug
Deutsch sprachen, so dass man sie auf so einer Party vorzeigen
konnte«, meinte eine der Frauen. Sie hatte sich leider schon
umgezogen und ihre freizügige Kostümierung gegen eine ziemlich
biedere und hochgeschlossene Seidenbluse vertauscht. Ihr Name war
Marita Schmitt, sie kam aus einem kleinen Dorf südlich von Hamburg
und arbeitete seit zwei Jahren mehr oder minder regelmäßig in
Sergej Janovs GO-GO. Daneben aber auch in einigen anderen
Table-Dance-Clubs auf St. Pauli und Altona wie sie angab.
»Sie betonen das mit der Sprache sehr ...«, hakte ich
nach.
»Na ja, bei uns arbeiten eben auch viele Frauen, die erst seit
kurzem in Deutschland sind.«
»Aus Osteuropa?«
»Ja«, nickte sie. »Aber ich möchte für mich persönlich
klarstellen, dass ich keine Prostituierte bin.«
»Uns geht es um die Killerin ...«, erklärte ich.
»Verstehe.«
»Wo waren Sie, als die Tat geschah?«
»Keine fünf Schritt entfernt. Ich war gerade damit
beschäftigt, Drinks zu verteilen. Es ist gar nicht so einfach, in
der einen Hand eine MPi und in der anderen ein Tablett zu
balancieren, aber Herr Dagarow steht auf derartige Spielchen.« Sie
schluckte und setzte dann hinzu: »Ich meine: Er stand. Er lebt ja
schließlich nicht mehr.«
»Sie haben also genau mitbekommen, was passierte ...«
»Ja. Wahrscheinlich werde ich davon ewig Alpträume
haben.«
»Versuchen Sie sich zu erinnern, ob Sie die Täterin schon
irgendwann einmal gesehen haben!«
»Mein Gott ...«
»Vielleicht in Janovs Laden«, half ich ihr auf die
Sprünge.
»Glauben Sie, der engagiert mich noch mal, wenn ich hier so
etwas herumerzähle?«
»Hören Sie zu, es geht um mehrfachen Mord und einige
Schwerverletzte, die vielleicht für den Rest ihres Lebens
gezeichnet sind!«, versetzte ich scharf. »Diese Frau hat
rücksichtslos auf alles geschossen, was sich in Herrn Dagarows
Umgebung befand. Auch eine Ihrer Kolleginnen hat es erwischt, falls
Sie das nicht schon vergessen haben! Die Notfallambulanz hat sie
ins Krankenhaus gebracht, aber ob sie danach wieder schön genug
sein wird, um als Stripperin zu arbeiten, steht in den Sternen. Und
Sie haben keine andere Sorge, als dass Herr Janov Sie schief
ansieht - wobei er von uns sicher nichts erfahren wird.«
Sie atmete tief durch.
»Okay«, sagte sie. »Einmal habe ich sie gesehen.«
»Wann und wo war das?«
»Gestern. Ich hatte mal wieder einen Auftritt im GO-GO. In
letzter Zeit werden die Engagements dort immer rarer, weil Janov
nur diese Billig-Girls genommen hat, die Dagarow ihm besorgt hat.
Na ja, ich hatte mich gerade 'umgezogen'. Die Tür zur Garderobe
stand offen, und ich sah Janov mit der Lockenmähne auf dem Flur
stehen. Sie redeten miteinander.«
»Worüber?«
»Ich konnte nichts verstehen. Die redeten in einer fremden
Sprache.«
»Haben Sie eine Ahnung, welche das war?«
»Hörte sich an wie Russisch oder so. Ich musste an ihnen
vorbei, um zur Bühne zu gelangen. Da haben sie geschwiegen und ich
dachte nur: Wieder so ein verdammtes Billig-Girl, für das Janov
nicht mal die Hälfte bezahlt und die außerdem noch für ihn
anschaffen geht!«
»Haben Sie die Frau danach noch einmal gesehen?«
»Nein. Sie muss durch den Hinterausgang verschwunden
sein.«
6
Das GO-GO lag nur ein paar Blocks vom Panorama Hotel entfernt
in der Straußstraße, deren Name allerdings nichts mit einem der
ehemaligen CSU-Chef und Bayerischen Ministerpräsidenten gleichen
Namens zu tun hatte.
Eigentlich nur ein Katzensprung, bei dem man darüber
nachdenken konnte, ob es sich überhaupt lohnte, den Wagen zu
benutzen. Aber auf Grund der Verkehrsführung über einige
Einbahnstraßen mussten wir einen beträchtlicher Umweg machen.
Man sagte Sergej Janov Ambitionen nach, an Dagarows Stelle in
der Organisation zu treten. Er war Weißrusse, wie Big Joe.
Aus der Tatsache, dass er am Vorabend des Mordes noch mit der
Killerin gesprochen hatte, machte ihn zwar noch nicht gleich zum
Auftraggeber. Aber immerhin kannte er das Killer-Girl. Ganz gleich,
ob er nun der Auftraggeber war oder nicht.
Die Leuchtreklame des GO-GO blitzte grell aus dem Lichtermeer
der Straße heraus. Ich musste den Sportwagen, den mir die
Fahrbereitschaft der Kriminalpolizei sowohl für Dienst- als auch
für Privatfahrten zur Verfügung stellte, in einer Nebenstraße
abstellen. Rund um das GO-GO war alles zugeparkt.
Mein Smoking, den ich im Hotel getragen hatte, hatte etwas
gelitten, aber das fiel in der Dunkelheit nicht so auf. Darum ließ
uns der Türsteher auch anstandslos durch.
Im Inneren tanzten nackte Girls im zuckenden Licht der
Laserblitze.
Kollege Roy Müller stieß mich an.
»Pass auf, dass dir die Augen nicht rausfallen!«
»Keine Sorge ...«
Wir gingen zur Bar. Eine Blondine, deren Ausschnitt fast bis
zum Bauchnabel reichte, beugte sich zu uns herüber.
»Was kann ich denn für euch tun?«
»Wir möchten gerne Herrn Janov sprechen.«
»Ich weiß nicht, ob er für Sie zu sprechen ist, Herr
...«
Ich legte den Dienstausweis auf den Tisch.
»Ich glaube schon.«
Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Ihr Blick wurde kühl
und taxierend.
»Einen Moment«, meinte sie, nahm einen Telefonhörer und sprach
mit jemandem, der hier offenbar mehr zu sagen hatte als sie. Ich
konnte nur Bruchstücke verstehen, die Musik dröhnte zu laut.
Wenig später kam aus einem der Nebenausgänge des GO-GO ein
breitschultriger Kerl in dunklem Lederjackett. Eine Narbe zog sich
quer über seine linke Gesichtshälfte. Er trat zu uns an die
Bar.
»Das sind die Leute vom Kriminalpolizei«, erklärte die
Blondine.
Der Mann mit der Narbe nickte. Sein Mund war ein dünner
Strich. Er sagte kein Wort, machte nur eine ruckartige Bewegung mit
dem Kopf, mit der er uns wohl bedeuten wollte, ihm zu folgen. Er
drehte sich um und führte uns durch eine Seitentür hinaus. Es ging
einen Flur entlang, bis wir vor einer gepanzerten Stahltür standen.
Sergej Janov war entweder übertrieben ängstlich oder hatte so
gefährliche Feinde, dass er sich besser auf diese Weise
verbarrikadierte.
Der Mann mit der Narbe betätigte die Gegensprechanlage.
»Die Kriminalpolizei-Fuzzys sind hier«, sagte er.
Eine wispernde, etwas näselnde Stimme antwortete: »Was wollen
sie?«
»Das können Sie Ihnen am besten selbst sagen, Herr
Janov!«
Der Narbige bedeutete uns, etwas näher ans Mikrofon der
Gegensprechanlage zu treten.
»Ich bin Uwe Jörgensen von der Kriminalpolizei Hamburg«,
erklärte ich. »Machen Sie bitte die Tür auf! Mein Kollege und ich
haben Ihnen ein paar Fragen zu stellen.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Es geht um den Mord an Jossif Dagarow, den Sie vielleicht
besser unter dem Namen 'Big Joe' kennen.«
Einige Augenblicke lang herrschte auf der anderen Seite der
Leitung Schweigen.
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«, fragte die näselnde
Stimme dann.
»Nein, aber wenn Sie's darauf anlegen, bekomme ich den
innerhalb einer halben Stunde!«
»Ich habe nichts mit der Sache zu tun!«
»Das zu beurteilen, überlassen Sie bitte uns. Im Übrigen ist
meine Geduld langsam am Ende! Entweder Sie machen die Tür auf und
wir unterhalten uns von Angesicht zu Angesicht, oder ich komme mit
einem Durchsuchungsbefehl wieder und lasse sämtliche Gäste
erkennungsdienstlich behandeln. Außerdem würde ich die Kollegen
informieren. Ich bin sicher, die werden auf interessante Dinge
stoßen, wenn ...«
Janov fiel mir ins Wort.
»Überprüf die Ausweise, Ralf - und dann lass sie rein!«
Der Narbige nickte, sah sich unsere Ausweise an und wenig
später öffnete sich die Panzertür. Janovs Büro war sehr weiträumig.
Es hatte die Ausmaße einer mittleren Hamburger Wohnung. Ein großer
Billardtisch befand sich in der Mitte. Ein kleiner, dicklicher Mann
stand davor und ließ gerade die Kugeln über den Tisch sausen. Eine
dunkelhaarige Schönheit war damit beschäftigt, ihre Kleider wieder
in Ordnung zu bringen.
Janovs Stoß mit dem Kö ging daneben. Die Kugeln rollten wirr
durcheinander. Sein Grinsen wirkte gequält, als er der Schönen auf
den Po schlug.
»Geh ein bisschen spielen, Schätzchen!«
Die Dunkelhaarige ging an uns vorbei, zwinkerte Roy
herausfordernd zu und ließ uns dann allein. Der Bodyguard ließ die
Panzertür ins Schloss fallen und stellte sich dann breitbeinig
davor.
»Wer hat Ihnen von Herrn Dagarows Ermordung erzählt?«, fragte
ich sofort.
»Niemand.«
»Komisch, gerade hatte ich den Eindruck, dass Sie bereits sehr
gut Bescheid wüssten.«
»Na ja, das Ganze war ja hier in der Nähe und wenn ein Mann
wie Big Joe ums Leben kommt, dann spricht sich das 'rum.«
»Von wem wissen Sie es?«, fragte ich noch einmal. »Ich will
eine präzise Antwort.«
»Vielleicht aus den Lokalnachrichten im Radio oder ...«
»Nein, die haben es noch nicht gebracht.«
»Also gut. Es war Cecile, eines der Show-Girls, die Dagarow
für den Abend engagiert hatte. Sie sagte, da wäre eine junge Frau
mit einer MPi aufgetaucht und hätte wahllos herumgeballert.« Er
grinste. »Gut, dass ich nicht auf die Täterbeschreibung passe und
außerdem ein Alibi habe. Sonst würden Sie mir sicher einen Strick
daraus drehen.« Er kicherte.
»Ich kann nichts Lustiges daran finden, Herr Janov«, erwiderte
ich kühl. »Zwei unserer Kollegen sind bei diesem Attentat ums Leben
gekommen. Sie können sicher sein, dass wir so lange nachforschen
werden, bis wir nicht nur die Täterin haben, sondern auch ihre
Auftraggeber.«
»Wer sagt Ihnen, dass es einen Auftraggeber gibt?«
»Die Fragen stellen wir«, erinnerte Roy ihn. »Und im Übrigen
ist Ihr Kopf auch noch lange nicht aus der Schlinge, egal was Ihre
Untergebenen Ihnen für ein Alibi geben.«
Janov erstarrte. Er warf den Kö ärgerlich auf den Billardtisch
und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Was wollen Sie eigentlich? Finden Sie die Täterin, anstatt
mich zu belästigen!«
»Sie kennen sie«, stellte ich fest.
»Sie meinen, weil ich Dagarow die Show-Girls für seine Party
besorgt habe? Hören Sie, die Killerin wird sich da eingeschlichen
haben. Und außerdem ...«
»Und außerdem haben Sie mit der Frau gestern gesprochen, Herr
Janov. Sie war hier und Sie haben sich auf dem Flur mit ihr
unterhalten. Auf Russisch.«
Janov sah mich entgeistert an. Er schien zu überlegen, wieviel
ich noch wusste. Sein Lächeln sollte Gelassenheit
vortäuschen.
»Wer behauptet denn so etwas?«
»Die Frau hat eine Lockenmähne, die bis auf die Schultern
reicht und Sie werden sie kaum so schnell vergessen haben. Wie
heißt sie?« Ich hielt ihm einen Schnellausdruck von dem Bild unter
die Nase, das der Kollege Velten mit Hilfe seines Laptops und eines
integrierten Druckers angefertigt hatte. Er nahm das Blatt, starrte
das Bild an.
»Okay«, sagte er. »Sie heißt Larina.«
»Und weiter?«
»Keine Ahnung. Ist wahrscheinlich nicht einmal ihr wirklicher
Name. Sie wollte bei mir auftreten, ich wollte sie auch engagieren.
Aber gestern kam sie dann zu spät. Schon am ersten Tag. Da hat es
einen etwas heftigen Wortwechsel gegeben. Das war alles.«
»Auf Russisch.«
»Weißrussisch. Sie ist eine Landsmännin von mir.«
»Haben Sie ihr Papiere besorgt?«
»Herrje noch mal, nein!«, schimpfte Janov, der ziemlich
gereizt war. »Ich weiß, dass Sie mir in dieser Hinsicht was
anhängen wollen, aber wenn Sie so weitermachen, können Sie sich am
besten mit meinen Anwälten unterhalten.«
»Wenn Ihnen das lieber ist, können wir uns auch im Präsidium
über die Sache unterhalten«, setzte ich ihm die Daumenschrauben an.
»Kostenlose Übernachtung in einer unserer Gewahrsamszellen mit
inbegriffen. Dagegen könnte selbst eine ganze Kompanie von Anwälten
ersten morgen etwas machen.«
Janov sah ein, dass er den Bogen überspannt und zu hoch
gepokert hatte. Bei mir war er da an den Falschen geraten. Er fuhr
sich mit der flachen Hand über das Gesicht.
»Hören Sie, ich habe nur Nachteile von Big Joes Tod«, jammerte
er und wirkte wenig überzeugend dabei.
»In der Szene redet man ganz anders darüber«, unterbrach ihn
Roy. »Sieht so aus, als würden Sie nun zur Nummer eins in der
Organisation aufsteigen.«
»Von welcher Organisation reden Sie?«, fauchte er. »Sie
sollten nur Dinge sagen, die Sie auch beweisen können, sonst
verklage ich Sie wegen Verleumdung!«
Er ging hinter den großen Schreibtisch, nahm den Telefonhörer.
Sein Kopf war dunkelrot.
Die Finger flogen über die Tastatur.
Sekundenbruchteile später gab es eine gewaltige
Detonation.
Der Knall war so laut, dass ich einen Augenblick dachte, kein
Trommelfell mehr zu besitzen.
Hörer und Telefon zerplatzten.
Die Explosionsgeräusche mischten sich mit einem Todesschrei.
Beißender Qualm entwickelte sich innerhalb von Augenblicken.
Sergej Janov sackte vornüber auf den Schreibtisch. Er hatte
keine linke Hand mehr.
Sein Gesicht war grauenvoll zugerichtet. Blut floss in Strömen
auf den Fußboden.
7
Eine Viertelstunde später war rund um das GO-GO der Teufel
los. Kollegen der Polizei waren mit mehreren Einsatzfahrzeugen
angerückt. Außerdem waren da noch der Gerichtsmediziner und die
Kollegen der Spurensicherung. Außerdem eine ganze Anzahl von
Kollegen, darunter auch unsere Sprengstoffspezialisten Rohmann und
Lorenz, die den Tatort genauestens unter die Lupe nahmen.
Selbst unser Chef, Kriminaldirektor Jonathan Bock, war nach
Hamburg-Harburg gekommen. Wir trafen ihn draußen, im Freien. Meine
Augen taten weh. Der beißende Qualm, der bei der Explosion
entstanden war, hatte seine Wirkung getan.
Kriminaldirektor Bock war von Roy telefonisch über das
Wichtigste informiert worden. Herr Bock hörte schweigend zu,
während ich ihm noch ein paar Details berichtete.
Dann sagte er: »Dagarow ermordet, kurz bevor wir ihn in eine
Falle locken konnten - und jetzt, nur ein paar Stunden später,
erwischt es einen Mann, von dem wir annehmen, dass er die Nummer
zwei in Dagarows Organisation war. Das kann kaum ein Zufall
sein!«
»Janov hat gestern mit der Killerin gesprochen. Ich habe
jedenfalls keinen Anlass, die Aussage der Stripperin anzuzweifeln«,
sagte ich.
»Dass er nur ihren Vornamen - Larina - kannte, war wohl eine
Schutzbehauptung«, vermutete Roy.
»Die Verbindungslinien zwischen beiden Morden sind klar«, war
ich überzeugt. »Über die Täterin wissen wir nur, dass sie
vermutlich Weißrussin ist. Das ist nicht besonders viel ...«
»Ihr Bild geht durch den Computer«, erklärte Herr Bock.
»Aber viel dürfen wir uns nicht davon versprechen.«
»Vielleicht bringt die Haaranalyse etwas.«
»Wenn wir Glück haben, Uwe. Ist Marco Kerscher schon vernommen
worden?«
»Das hat Stefan erledigt.«
»Wir werden Kerscher genau unter die Lupe nehmen
müssen.«
»Was sollte er mit der Sache zu tun haben?«, fragte ich. »Er
hat doch nur Nachteile davon, dass Janov nicht ordnungsgemäß
verhaftet werden konnte. Wer braucht denn jetzt noch Kerschers
Aussage?«
»Die Staatsanwaltschaft wird zu ihrem Wort stehen müssen. Und
wer weiß? Vielleicht hätte Dagarow seinerseits Kerscher so schwer
belasten können, dass er es einfach nicht so weit kommen lassen
durfte.«
»Sie denken also, der Zeitpunkt des Mordes an Dagarow hängt
mit unserer Falle zu tun, in die Big Joe leider nicht mehr
hineintappen konnte?«
Herr Bock nickte. »Ja, das nehme ich an.«
»Das heißt, es gab eine undichte Stelle«, meinte Roy.
»Richtig. Ich bete dafür, dass sie nicht in unserer Abteilung
oder bei der Staatsanwaltschaft zu finden ist. Ansonsten wusste
aber nur Kerscher von dem Deal. Und der hatte keinerlei
Veranlassung dazu, so etwas weiterzuerzählen. Das hätte ihn den
Kopf kosten können, wenn jemand in der Szene davon Wind bekommen
hätte.«
Was Herr Bock uns da erzählte, gefiel mir nicht. Aber
natürlich mussten wir bei unserer Arbeit immer damit rechnen, dass
es auch bei uns undichte Stellen gab.
Ein mattes Lächeln flog über Herrn Bocks Gesicht. Er sah auf
die Uhr.
»Sie können sich noch ein paar Stunden aufs Ohr hauen, bevor
ich Sie morgen früh in meinem Dienstzimmer zur Besprechung erwarte.
Im Moment können Sie beide ohnehin nichts tun.« Er zuckte die
Schultern. »Wer weiß? Vielleicht wissen wir morgen schon
mehr.«
»Und Sie, Herr Bock?«, erkundigte ich mich. Unser Chef war
morgens der erste im Polizeipräsidium. Und oft blieb er bis spät in
die Nacht. Trotzdem hatte man nie den Eindruck, einen übermüdeten
Mann vor sich zu haben.
»Gute Nacht, Uwe.«
8
Es war weit nach Mitternacht, als Larina ins Taxi stieg.
»So spät noch unterwegs?«, fragte der rothaarige Mann am
Steuer.
»Sie sehen es ja.«
»Ist 'ne miese Gegend hier. Also, 'ne Frau hier alleine, ich
weiß nicht ...«
»Ich kann hervorragend auf mich aufpassen! Spielen Sie nicht
mein Kindermädchen, sondern fahren Sie einfach los!«
Als sie einstieg, sah der Rothaarige im Rückspiegel kurz, wie
sich Larinas T-Shirt verdächtig spannte.
»Sie haben 'ne Waffe?«, fragte er.
Er hatte einen sechsten Sinn dafür, nachdem er schon mehrfach
Opfer von Überfällen geworden war. Allerdings war es noch nie
vorgekommen, das eine Frau versuchte, ihm die paar Euros
abzunehmen, die er bei sich trug. Ein bisschen Wechselgeld, mehr
war es nicht. Den Rest lieferte er während einer Schicht immer
wieder ab. Schließlich sollte es sich für den Täter nicht
lohnen.
Larina erstarrte einen Moment. Dann schaltete sie.
»Klar hab ich 'ne Waffe. Wie Sie schon sagten, es ist 'ne
miese Gegend.«
Dem Rothaarigen schien das als Erklärung zu genügen. Für alle
Fälle hatte er auch selbst eine Waffe. Sie steckte unter dem
Fahrersitz. Ein Griff und er konnte sie hervorreißen. Auch wenn es
nicht legal war: Sicher war sicher.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte der Fahrer.
»Fahren Sie einfach ein bisschen in der Stadt rum. Ich sag
Ihnen dann noch Genaueres.«
»Wie Sie wollen. Wenn Sie auch entsprechend bezahlen können,
fahre ich Sie überall hin.«
Larina holte einen Hunderter aus den engen Taschen ihrer Jeans
heraus und reichte ihn nach vorn.
»Das dürfte als Anzahlung reichen, oder?«
»So war das nicht gemeint.«
»Ich denke, für den Schein kann ich jetzt auch erwarten, dass
Sie mich mit Ihrem Gequatsche verschonen.« Ihr Tonfall war
eisig.
Der Rothaarige schwieg.
Er folgte Larinas Anweisungen und fuhr sie kreuz und quer
durch Harburg, Hamburg Mitte und St. Pauli. Es schien kein System
hinter ihren Anweisungen zu stehen.
Larina sah sich immer wieder um. Erst als sie sich sicher war,
dass ihnen niemand folgte, fragte Sie: »Kennen Sie das Hamburger
Konsulat Weißrusslands?«
»Klar weiß ich, wo das russische Konsulat in Hamburg
ist.«
»Das Weißrussische. Oder offiziell gesprochen: Das Konsulat
der Republik Belarus. Rechtlich eine Außenstelle der Botschaft von
Belarus in Berlin.«
Der Rothaarige grinste.
»Gibt's da einen Unterschied?«
»Ich mag Ihre Witze nicht, Herr!«
»Okay, okay! Ich werd's schon finden!«
Eine Viertelstunde später erreichten sie ein dreistöckiges
Gebäude in der Elbchaussee. Die oberen Stockwerke ragten über die
hohe Mauer hinweg, die das ganze Anwesen umgab. Zusätzlich war das
Grundstück mit elektrisch geladenem Draht gesichert. Großformatige
Warnschilder sollten Unbefugte davon abschrecken, auf das Gelände
vorzudringen.
»Soll ich auf Sie warten?«, fragte der Rothaarige, als Larina
ausstieg.
»Verpiss dich!«
»Ich meine ja nur für den Fall, dass dort im Moment niemand
für Sie Zeit hat.« Dabei deutete er auf das Konsulat und
kicherte.
Larina schlug die Tür zu. Das Taxi brauste davon.
Das Killer-Girl trat an das stabile gusseiserne Tor und
betätigte die Gegensprechanlage.
»Ich möchte Major Vladimir Grischenko sprechen«, sagte sie auf
Weißrussisch, nachdem sich eine etwas müde klingende Stimme in
gebrochenem Deutsch gemeldet hatte.
»Wer sind Sie?«, fragte die Stimme zurück.
»Larina. Sagen Sie Grischenko das, er wird Bescheid wissen.
Aber wenn Sie sich nicht beeilen, wird es Sie mehr kosten, als nur
Ihren Posten. Das verspreche ich Ihnen.«
Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Dann öffnete sich
selbsttätig das gusseiserne Tor.
Larina betrat das Grundstück des Konsulats.
Sie hörte schnelle Schritte von mehreren Seiten, wirbelte
herum und dachte eine Sekunde lang daran, die Pistole aus ihrem
Hosenbund herauszureißen.
Ein scharfes Ritsch-Ratsch war etwa ein Dutzendmal zu
hören.
Von allen Seiten war sie umringt. Männer in Tarnanzügen,
Sturmhauben und kugelsicheren Westen hatten ihre Maschinenpistolen
auf Larina angelegt. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Eine
falsche Bewegung und sie wäre förmlich durchsiebt worden.
Scheinwerfer blendeten sie. Sie konnte so gut wie nichts
erkennen.
Ehe sie sich versah, wurde sie roh gepackt, durchsucht und
entwaffnet. Mit eisernem Griff hielten zwei der Vermummten sie
fest.
Larina zitterte.
Dann trat aus dem Dunkel eine hoch aufgeschossene Gestalt. Ein
Zigarettenstummel glühte zwischen den Lippen des Mannes. Seine
Haare waren weißblond.
»Major Grischenko wartet auf Sie«, murmelte er zwischen den
Lippen hindurch. Er machte eine ruckartige Bewegung mit dem
Kopf.
Larina wurde abgeführt.
9
Als wir uns am nächsten Morgen in Herrn Bocks Büro zur
Besprechung trafen, servierte seine Sekretärin Mandy den im
gesamten Polizeipräsidium berühmten Kaffee. Ein Gebräu, das
seinesgleichen sucht. Jedenfalls fühlte ich mich schon viel wacher,
als ich den ersten Schluck genommen hatte.
Außer Roy und mir waren auch die Kollegen Medina und
Czerwinski anwesend.
Fred Rochow verspätete sich etwas, weil er im Hamburger
Rush-hour-Verkehr steckengeblieben war.
Kollege Max Bienert, ein Innendienstler aus unserer
Fahndungsabteilung, erläuterte uns die neuesten Erkenntnisse, was
die Morde an Dagarow und Janov anging.
»Das Phantombild des Killer-Girls ist an alle Zeitungen, sowie
an Rundfunk und Fernsehen gegangen. Vielleicht hat die Dame ja
jemand gesehen«, erläuterte Carter.
»Sofern sie ihr Kostüm nicht gewechselt hat, bestimmt«,
witzelte Kollege Ollie Medina.
Kollege Bienert blieb ernst.
»Den Gefallen wird sie uns kaum getan haben. Ich möchte Ihnen
etwas anderes zeigen.« Er schaltete einen Projektor ein. Ein
Schwarzweißbild erschien. »Sie sehen hier Bilder eines
diplomatischen Empfangs im Generalkonsulat von Belarus«, erläuterte
Carter. Mit einem Laserpointer fuhr er auf der Fotografie herum und
deutete auf eine Frau in einem dunklen, tief ausgeschnittenen
Kleid. Sie trug blondes, kurz geschnittenes Haar. »Sehen sich diese
Frau an! Auf den ersten Blick fällt es einem vielleicht nicht auf,
aber sie ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Killerin.« Bienert
zeigte eine Ausschnittvergrößerung, auf der nur das Gesicht zu
sehen war. »Wir haben das Gesicht elektronisch bearbeitet, so dass
es deutlich wird.« Ein weiteres Bild zeigte die Lady mit blonder
Lockenmähne. Dann folgte ein Videostandbild, das von unseren Leuten
am Abend des Attentats aufgenommen worden war.
»Der Fall ist eindeutig«, erklärte Bienert. »Mit Hilfe
telemetrischer Messverfahren haben wir die Abstände zwischen den
Augen, zwischen Nase und Mund und so weiter exakt bestimmt. Sie
stimmen überein. Der Computer ist unbestechlich.«
»Wer ist sie?«, fragte ich.
Bienert zeigte wieder das erste Bild von dem Empfang.
»Das wissen wir leider immer noch nicht. Dafür kennen wir den
Mann, an dessen Arm sie hängt ... Vladimir Grischenko. Er gehört
der offiziell als Diplomat der Botschaft in Berlin an und genießt
diplomatische Immunität. Nach Informationen unserer Kollegen vom
Geheimdienst ist Grischenko allerdings ein Major des dortigen
Auslandsgeheimdienstes.«
»Wir wissen, dass Big Joe Dagarow Kontakte zum weißrussischen
Geheimdienst pflegte«, ergänzte Herrn Bock. »Allerdings dachte ich
bislang, dass die hauptsächlich darin bestanden, dass er offizielle
Stellen in Minsk schmierte, um seine krummen Geschäfte ohne
Schwierigkeiten durchführen zu können.«
Herr Bienert zuckte die Achseln. »Wir wissen, dass
Weißrussland alles andere als ein demokratischer Musterknabe unter
den neuen Nationen Osteuropas ist. Die Kommunisten haben sich in
Nationalisten verwandelt und ihre Macht größtenteils behalten. Wir
wissen außerdem, dass Dagarow an einigen Unternehmen in Minsk
beteiligt war, dass er erhebliche Summen aus dem Heimatland seiner
Vorfahren transferiert bekam, die ihn auf Umwegen über die Schweiz
und Lichtenstein erreichten. Wir gehen davon aus, dass Big Joe
Bargeldkuriere nach Minsk schickte, um schwarzes Geld in weißes
verwandelte. Aber wenn man so etwas in größerem Maßstab macht, dann
geht das kaum, ohne dass die offiziellen Stellen das zumindest
dulden. Aber die Zusammenhänge zwischen Dagarow und dem
weißrussischen Geheimdienst scheinen doch noch etwas enger zu
sein.« Bienert zeigte uns einige Standbilder aus den
Videoaufzeichnungen im Panorama Hotel. Es zeigte Dagarow und einen
Mann mit grauen Haaren. »Dieser Mann lebte vor fünf Jahren als
Bernd Schmitz in Frankfurt am Main. Seine wahre Identität kennen
wir nicht. Er war Profi-Killer für die Mafia. Durch einen
Überläufer wissen wir, dass er mindestens einen Auftrag im Dienst
des Minsker Geheimdienstes ausführte.«
»Könnte dieser Schmitz so etwas wie der Partner unseres
Killer-Girls gewesen sein?«, vermutete Roy Müller.
»Schließlich muss jemand den Aufzug präpariert haben
...«
»Der Schluss liegt nahe«, nickte Bienert. »Die Fahndung nach
'Schmitz' läuft schon seit Jahren, aber er ist wie ein Chamäleon.
Ein Meister der Tarnung.«
»Wenn er schlau war, sitzt er bereits in einem Flieger in die
Karibik«, meinte ich.
»Das wollen wir nicht hoffen«, sagte Herr Bock ernst. »Auf
jeden Fall wird das Konsulat Weißrusslands ab sofort beobachtet.«
Er wandte sich an Roy und mich. »Sie beide werden diesen Grischenko
aufsuchen. Entweder in seiner privaten Residenz oder im Konsulat.
Ich werde das abklären. Natürlich werden wir auch dort
Beschattungsteams einsetzen.« Herr Bock atmete tief durch. »Was
Grischenko angeht, so müssen wir den mit Glacéhandschuhen anfassen,
sonst gibt es schwerste diplomatische Verwicklungen. Nach dem
Kosovo-Krieg ist die Stimmung in Minsk sowieso alles andere als
positiv. Vergessen Sie nie, dass dieser Mann diplomatische
Immunität genießt. Er braucht Ihnen auf Ihre Fragen noch nicht
einmal zu antworten, wenn er das nicht will.«
»Feine Arbeitsbedingungen«, meinte Roy.
Herr Bock hob die Augenbrauen.
»Mit etwas Geschick gelingt es Ihnen beiden vielleicht, ein
paar Informationen über die Killerin herauszukitzeln.« Herr Bock
drehte sich zu Stefan Czerwinski und Ollie um. »Sie beide hören
sich bitte noch mal in Janovs Dunstkreis um. Ich bin überzeugt
davon, dass es zwischen den beiden Morden einen engen Zusammenhang
gibt, auch wenn wir ihn im Moment noch nicht kennen.«
10
Das Meeresrauschen war ohrenbetäubend.
Der Mann lag auf dem Kamm einer Düne. Er blickte durch die
Zieloptik eines Spezialgewehrs. 400 Meter war der Bungalow
entfernt. Mit dieser Waffe war es kein Problem, auch aus größerer
Entfernung noch exakt zu treffen.
Der Mann justierte an der Vergrößerung herum.
Durch die großen Terrassenfenster hatte er einen guten Blick
ins Innere des Bungalows. Im Fadenkreuz erschien ein Mann im grauen
Anzug.
Der Killer lächelte kalt.
Das war der Mann, den er suchte.
Der Druck auf den Abzug wurde stärker.
Ein Geräusch drang immer lauter durch das Meeresrauschen
hindurch. Eine Mercedes-Limousine kam über die schmale Straße, die
zu dem einsamen Ferienhaus führte.
Der Killer zögerte.
Mal sehen, was passiert, dachte er. Abknallen kann ich das
Schwein immer noch ...
11
Larina wusste nicht, wie lange sie in dem Kofferraum der
großen Mercedes-Limousine verbracht hatte. Mindestens eine Stunde.
Aber in der absoluten Dunkelheit, die sie umgab, hatte sie
jegliches Gefühl für Zeit verloren.
Der Wagen hielt mit einem Ruck.
Sie hörte Schritte und Stimmen.
Der Kofferraum öffnete sich.
Das Licht blendete sie, und im ersten Moment sah sie gar
nichts. Sie hörte nur das Meeresrauschen. Der Wind roch nach
Seetang. Hände packten sie und holten sie grob aus dem Kofferraum
heraus. Männer in dunklen Anzügen umgaben sie, blickten sie kalt
an. Die Läufe mehrerer Waffen waren auf sie gerichtet.
Maschinenpistolen waren ebenso darunter wie automatische
Pistolen vom Typ Walther PPK. Einer trug eine Colt Magnum, der in
der aufgehenden Sonne blinkte.
Larina versuchte, sich auszurechnen, wie spät es war.
Vielleicht fünf oder sechs Uhr morgens.
Sie sah sich um.
Sylt, dachte sie. Dies muss Sylt sein, jedenfalls sieht es so
aus.
Von der Fahrzeit her konnte das auch hinkommen.
»Mitkommen«, murmelte einer der dunkel Gekleideten und gab
Larina einen Stoß. Sie taumelte vorwärts.
»Heh, was soll das?«, rief sie.
Sie bekam keine Antwort.
Der Kerl mit dem Magnum Colt stieß ihr den Lauf in den
Rücken.
Sie wurde auf den kleinen, quadratischen Flachdachbungalow
zugeführt, der direkt am Strand lag. Weit und breit waren nur
Dünen, Sand und das Meer. Ein perfekter Ort, um jemanden für immer
verschwinden zu lassen, dachte Larina.
Sie wurde ins Haus geführt, einen kurzen Flur entlang, dann
ins spärlich eingerichtete Wohnzimmer.
Ein Mann im grauen Anzug saß auf der Couch und aß Erdnüsse,
die in einer Schale auf dem Tisch standen.
»Vlad, was wird hier eigentlich gespielt?«, rief Larina
empört. »Deine Leute behandeln mich wie den letzten Dreck!«
Grischenko machte ein Zeichen mit der Hand. Die Bewacher
ließen Larina los und traten einen Schritt zur Seite.
»Setz dich, Larina!« Grischenko deutete auf einen der Sessel.
Sie zögerte. »Na, los!«, forderte er. »Oder willst du hier Wurzeln
schlagen?«
Sie setzte sich schließlich.
»Hör zu, Vlad, es ist einiges schief gegangen, und ...«
»Ich weiß, ich weiß, Larina.« Er nahm die Zeitung, die neben
ihm auf der Couch lag, faltete sie auseinander und legte sie auf
den Tisch. »Ein schönes Foto von dir, Schätzchen. Vor allem das
Kostüm. Oben ohne steht dir!« Grischenko lachte heiser.
»Sehr witzig«, erwiderte Larina.
»Wir konnten alle nicht ahnen, dass die Kriminalpolizei gerade
an diesem Abend Big Joe offenbar eine Falle stellen wollte und alle
aufgezeichnet hat«, sagte Grischenko dann. »Trotzdem - du und dein
Partner, ihr habt die Sache hervorragend über die Bühne gebracht.
Meinen Glückwunsch.«
»Vlad, dein Geschwätz kannst du dir sparen. Ich brauche Hilfe,
mir steht das Wasser bis zum Hals - und deine Leute behandeln mich
wie eine Gefangene. Was wird hier gespielt, verdammt
nochmal!«
Grischenkos Züge wurden eisig.
»Es steht dir nicht gut, wenn du fluchst«, sagte er dann. »Das
Problem ist, dass du nach dem, was passiert ist, zu einem
Sicherheitsrisiko geworden bist. Auch für mich! Ich werde im
Konsulat einiges zu erklären haben ...«
Larinas Gesicht verlor die Farbe.
»Janovs Leute wollten mich umbringen, kurz nachdem der Job
erledigt war ... Du hast dahintergesteckt! Und ich Dummkopf geh zu
dir, damit du mich aus dem Schlamassel ziehst ...«
»Irren ist menschlich …» Grischenko stand auf.
Er nahm noch zwei Erdnüsse, dann wandte er sich an den Kerl
mit dem Magnum Colt.
»Gebt euch Mühe, klar? Es soll nichts von ihr übrigbleiben.
Der Säurekanister steht im Keller ... Und räumt hier 'nen bisschen
auf, wenn's vorbei ist!«
»Klar, Chef!«
Vladimir Grischenko tätschelte gönnerhaft Larinas Wange.
»Zu dumm, dass dieser göttliche Körper bald chemisch völlig
zersetzt sein wird. Aber so spielt das Leben. Glaub mir, wenn die
Dinge anders stünden, hätte ich etwas für dich getan!«
Grischenko wandte sich in Richtung Tür. Die Drecksarbeit würde
er seinen Leuten überlassen.
Einer der Bewacher schraubte bereits einen Schalldämpfer auf
seine Automatik.
In diesem Moment zersprang mit lautem Geklirr eine
Scheibe.
Grischenko stand wie erstarrt da. Seine Augen waren wie
gefroren, sein Haar färbte sich blutrot. Der Schuss hatte ihn
mitten in den Hinterkopf getroffen. Er taumelte nach vorn und
schlug der Länge nach auf den Boden.
Der Kerl mit der Schalldämpfer-Waffe riss die Pistole hoch.
Aber ihm blieb keine Zeit mehr, irgendetwas zu tun. Zwei Schüsse
trafen ihn in den Oberkörper, ließen ihn wie eine leblose Puppe
zucken. Die Wucht der Treffer schleuderte ihn gegen eine
Schrankwand, an der er dann zu Boden rutschte.
Larina nutzte ihre Chance.
Sie rammte dem Kerl mit dem Colt Magnum einen Ellbogen ins
Gesicht und sprang dann nach vorne. Mit einem tollkühnen Satz warf
sie sich gegen die gläserne Terrassentür. Das Glas
splitterte.
Sie kam hart auf den Boden, rollte über die Schulter auf den
Waschbetonstein ab, mit denen die Terrasse gepflastert war. Ein
Schuss zischte über sie hinweg. Es war der letzte, den der Mann mit
dem Magnum-Colt je abgeben würde.
Auf seiner Stirn hatte sich ein roter Punkt gebildet, der
rasch größer wurde. Ein Einschussloch.
Larina rappelte sich hoch. In geduckter Haltung rannte sie
davon. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Schüsse aus dem Nichts
abgegeben hatte.
Vielleicht wird er mich genauso abknallen, wie Grischenko und
seine Leute, ging es ihr für eine Sekunde durch den Kopf. Aber sie
hatte nichts zu verlieren.
Schüsse peitschten.
Larina hörte einen Aufschrei, der einen Moment später jäh
erstarb, als ein weiterer Schuss abgegeben wurde.
Larina hechtete hinter eine Düne.
Sie keuchte.
Der Meerwind trocknete den kalten Angstschweiß, der ihr auf
der Stirn stand.
Sie wartete ab, presste sich gegen den kühlen Sand.
Dann hörte sie Schritte.
Sie blickte auf.
Ein Mann ging auf sie zu. Er hielt ein Gewehr lässig in der
Linken.
»Bernd!«, stieß Larina überrascht hervor.
Der Mann, den sie Bernd genannt hatte, lächelte dünn.
»Noch mal davongekommen, was?«
»Was machst du hier?«
»Ich wollte Grischenko zur Rechenschaft ziehen. Er hat uns
betrogen.«
»Das ist mir inzwischen auch klar.«
»Leider wird es ohne seine Hilfe ziemlich schwierig
unterzutauchen. Vor allem für dich. Schließlich ist dein
entzückendes Bild der Presseaufmacher heute. Und es würde mich auch
nicht wundern, wenn eine kleine Video-Sequenz deines Auftritts
heute Morgen im Frühstücksfernsehen gezeigt wird.« Bernd grinste.
»Bei der Prüderie, die inzwischen auch hierzulande um sich
gegriffen hat, vermutlich mit schwarzem Balken vor deinem
Oberkörper ...«
Larina sah Bernd nachdenklich an.
»Was spielst du für ein Spiel, Bernd?«
»Grischenko hat versucht, mich abzuservieren ... Genau wie
dich! Aber jetzt werde ich mir bei den Leuten, die über Grischenko
stehen, das holen, was mir zusteht. Den Lohn für einen gut
durchgeführten Job - und eine Zulage für mein Schweigen.«
Larina sah ihn an.
»Hilf mir!«, sagte sie.
Er lächelte dünn.
»Habe ich das nicht bereits?«
12
Exakt um 10.00 Uhr erreichte uns ein Anruf von
Kriminalhauptkommissar Frank Lorenz, dem Chef des Polizeireviers in
Hamburg.
Einer seiner Leute hatte die Aussage eines Taxifahrers
aufgenommen, der mitten in der Nacht eine junge Frau zum
belarussischen Konsulat gefahren hatte.
Am nächsten Morgen war ihm dann beim Blick in die Zeitung
aufgefallen, dass er vermutlich eine Mörderin befördert hatte.
Jetzt war er scharf auf eine eventuelle Belohnung.
Kollege Fred Rochow wurde abgestellt, um den Taxifahrer noch
einmal genauestens zu befragen und seine Aussagen zu
überprüfen.
Wir fuhren indessen zum belarussischen Konsulat.
»Wenn wir Glück haben, dann ist Larina noch auf dem
Konsulatsgelände«, meinte Roy.
Ich zuckte die Achseln, während wir an einer Kreuzung warten
mussten.
»Unser Killer-Girl wird einen Grund gehabt haben, sich an das
Konsulat zu wenden. Und der einleuchtendste wäre, dass Larina dort
Hilfe erwartet.«
Pavel Kostadinov, ein Mitarbeiter des belarussischen
Konsulats, empfing Roy und mich in einem weiträumigen Büro. Herr
Bock hatte zuvor sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, um dieses
Treffen zu ermöglichen.
Der Empfang war kühl und geschäftsmäßig.
»Wir wollen eigentlich mit Major Grischenko sprechen«,
erklärte ich, nachdem wir uns vorgestellt und unsere Ausweise
vorgezeigt hatten.
»Ich bedaure sehr, aber Herr Grischenko ist im Moment nicht im
Haus. Ihre Fragen bitte!«
Ich legte ein Fahndungsfoto von Larina auf den Tisch.
»Das ist ein Bild der Täterin«, erklärte ich. »Sie nennt sich
Larina und ist vermutlich Weißrussin.«
»Nun, dann wünsche ich Ihnen viel Glück bei der Fahndung. Nur
frage ich mich, weshalb Sie damit zu uns kommen. Die Tatsache, dass
sie möglicherweise eine Bürgerin unseres Staates ist, kann dafür
allein doch nicht ausschlaggebend sein.«
»Wir erhofften uns nähere Informationen über Ihre Identität,
denn sie ist mit Major Grischenko bekannt. Es gibt Fotos, die diese
Frau auf Empfängen Ihres Konsulats zeigt. Optisch hat sie sich
etwas verändert, aber ...«
»Wenn Sie damit andeuten wollen, dass unser Konsulat
irgendetwas mit der Ermordung eines gewissen Dagarow zu tun haben,
dann weise ich das in schärfster Form zurück.«
»Davon kann keine Rede sein«, versucht ich ihn zu
beschwichtigen. Mir war klar, dass ich in ein Fettnäpfchen getappt
war. Ein falsches Wort und Kostadinov würde uns die Tür weisen,
ohne dass wir etwas dagegen tun konnten. »Es geht uns darum, den
Mord an Jossif Dagarow und zwei Kollegen der Kriminalpolizei
aufzuklären. Und alles, was wir von Ihnen erhoffen, sind
Informationen ...«
Ich holte ein Foto aus der Innentasche meiner Lederjacke, das
Larina mit Grischenko zusammen zeigte. Kostadinov nahm es mit
eisiger Miene entgegen.
»Diese Frau gehört weder zum Konsulatspersonal noch ist sie
mir sonst wie bekannt«, erklärte er dann pflichtgemäß. »Woher
stammt dieses Bild übrigens?«
Ich überhörte die Frage geflissentlich. Stattdessen erklärte
ich: »Es wäre sehr wichtig für uns, mit Herrn Grischenko persönlich
zu sprechen. Auf dem Foto wirken die beiden sehr vertraut. Es ist
ja möglich, dass diese Larina nur eine flüchtige Bekanntschaft von
Herrn Grischenko war, aber selbst dann kann er uns vielleicht
wichtige Details zu ihrer Persönlichkeit sagen, die es uns am Ende
leichter machen, sie aufzuspüren. Jede Kleinigkeit kann da wichtig
sein.«
»Es tut mir leid, aber Herr Grischenko ist nicht zu
sprechen.«
»Ist er vielleicht in seiner Residenz?«
»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Jörgensen!«