Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieser Band enthält folgende Krimis (699) von Alfred Bekker: Der Mann mit der Seidenkrawatte Der Legionär Durchsiebt Der Mann in Kobaltblau Mörderpost Trevellian und der Bazooka-Killer Kommandounternehmen Angkor Kommissar Harry Kubinke und sein Kollege Rudi Meier erfahren von einem großangelegten Verschwörungsplan. Die Sicherheit der Bundeshauptstadt Berlin steht auf dem Spiel. Aber Kubinke und sein Team haben kaum einen Ansatzpunkt für Ermittlungen. Eine Teenagerin hat zuviel gehört und stirbt, ein dubioser Ex-Agent scheint mehr zu wissen, ein Profi-Killer tritt in Aktion und ein Mann mit einer Vorliebe für Seidenkrawatten glaubt, dass seine grausame Rechnung aufgehen wird… Ein ehemaliger Fremdenlegionär wird kurz nach Ende des kalten Krieges dazu angeheuert, russische Nuklearwissenschaftler umzubringen, die im Verdacht stehen, sich von interessierten Drittweltländern anheuern zu lassen. Er gerät in den Strudel einer Verschwörung, aus dem es kein Entkommen mehr gibt - denn plötzlich können ihn die Mächtigen nicht mehr am Leben lassen...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 795
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
7 Thriller in einem Band März 2024
Copyright
Der Mann mit der Seidenkrawatte
Der Legionär
Durchsiebt
Der Mann in Kobaltblau
Mörderpost
Trevellian und der Bazooka-Killer
Kommandounternehmen Angkor
Dieser Band enthält folgende Krimis
von Alfred Bekker:
Der Mann mit der Seidenkrawatte
Der Legionär
Durchsiebt
Der Mann in Kobaltblau
Mörderpost
Trevellian und der Bazooka-Killer
Kommandounternehmen Angkor
Kommissar Harry Kubinke und sein Kollege Rudi Meier erfahren von einem großangelegten Verschwörungsplan. Die Sicherheit der Bundeshauptstadt Berlin steht auf dem Spiel. Aber Kubinke und sein Team haben kaum einen Ansatzpunkt für Ermittlungen. Eine Teenagerin hat zuviel gehört und stirbt, ein dubioser Ex-Agent scheint mehr zu wissen, ein Profi-Killer tritt in Aktion und ein Mann mit einer Vorliebe für Seidenkrawatten glaubt, dass seine grausame Rechnung aufgehen wird…
Ein ehemaliger Fremdenlegionär wird kurz nach Ende des kalten Krieges dazu angeheuert, russische Nuklearwissenschaftler umzubringen, die im Verdacht stehen, sich von interessierten Drittweltländern anheuern zu lassen. Er gerät in den Strudel einer Verschwörung, aus dem es kein Entkommen mehr gibt - denn plötzlich können ihn die Mächtigen nicht mehr am Leben lassen...
Der Legionär übernimmt einen neuen Auftrag.
Er solll ein paar Hacker in Moskau ausschalten, die versuchen, die Bundestagswahl zu beeinflussen.
Auftraggeber ist ein Mann in einem kobaltblauen Anzug.
Aber sehr schnell merkt der Legionär, dass mehr dahintersteckt - und dann wird sein Auftrag plötzlich erweitert und es geht auch für ihn um Leben und Tod...
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Facebook:
https://www.facebook.com/alfred.bekker.758/
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
Ein Harry Kubinke Kriminalroman
Kommissar Harry Kubinke und sein Kollege Rudi Meier erfahren von einem großangelegten Verschwörungsplan. Die Sicherheit der Bundeshauptstadt Berlin steht auf dem Spiel. Aber Kubinke und sein Team haben kaum einen Ansatzpunkt für Ermittlungen. Eine Teenagerin hat zuviel gehört und stirbt, ein dubioser Ex-Agent scheint mehr zu wissen, ein Profi-Killer tritt in Aktion und ein Mann mit einer Vorliebe für Seidenkrawatten glaubt, dass seine grausame Rechnung aufgehen wird…
ALFRED BEKKER wurde vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© Cover:
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Von Alfred Bekker
*
„Ey, Kubinke!”
Der Typ, der mich da so ansprach, war der Mann an der Currywurstbude. Wer mich kennt weiß, dass mein Kollege Kriminalhauptkommissar Rudi Meier und ich dort gelegentlich mal eine Wurst vertilgen. Alle Vegetarier und Angehörigen irgendeiner anderen, mehr oder weniger strengen Ernährungsreligion mögen mir das verzeihen, aber in unserem Job kommt es eben vor, dass man man nur Zeit für Fast Food hat.
Und davon abgesehen schmeckt es mir auch.
Ich wage es kaum, dies zuzugeben.
Ist aber so.
Ich drehte mich um und hatte noch den Mund voll. Deswegen konnte ich dem Currywurstmann nicht antworten.
„Ja, icke bin’s”,sagte der und interpretierte mein grunzendes „Hm” und das anschließende Schweigen fälschlicherweise als Beleidigtsein. „Tut mir leid, natürlich hätte ich >Herr Hauptkommissar Harry Kubinke< sagen sollen. Dit sindse doch, oder?”
„Ja”, brachte ich heraus, nachdem ich das Wurststück runtergeschluckt hatte.
„Oder hatte ich vielleicht noch ein >Von und zu< vergessen?”
„Nee.”
„So mit hochwohlgeboren und Hoppsasassa und Trallala.”
„Wir stehen ja nicht erst seit gestern hier regelmäßig an Ihrer Bude”, sagte mein Kollege Rudi Meier. „Also, was soll jetzt das Theater?” Rudi hatte den Vorteil, dass seine Currywurst bereits vollständig heruntergeschluckt war und jetzt im Magen darauf wartete, verdaut zu werden. Ich hingegen stand jetzt vor der Wahl, mich auf ein Gespräch mit dem Currywurstmann einzulassen und dabei meine Currywurst nicht mehr richtig genießen zu können oder aber ihn schroff abzuweisen und in Kauf zu nehmen, dass er beleidigt war. Was bei dem Besitzer einer Currywurstbude, wo einem die Wurst auch tatsächlich schmeckt, immer ein gewisses, nicht zu unterschätzendes Risiko beinhaltete.
Denn auch wenn der Currywurstmann immer davon redete, dass man nicht so empfindlich sein sollte und er eben eine Berliner Schnauze hätte, war er selbst der Allerempfindlichste.
Ein richtiges Sensibelchen.
Er konnte gut austeilen, aber nicht einstecken.
Soll ja öfter vorkommen.
„Icke will ja bloß mal eine Sache mit euch ansprechen, die ihr sozusagen aus fachlicher Sicht mal ein bisschen beleuchten könntet.”
„Kommt darauf an”, sagte ich.
„Also icke…”, und dabei zeigte er auf sich selbst, „...habe ja meine ganz persönliche Meinung dazu,aber mich würde jetzt mal interessieren, watt Sie dazu sagen. Denn Sie beide sind doch Kommissar.”
„Worum geht’s denn eigentlich?”, fragte mein Kollege Rudi.
Das hatte uns der Currywurstmann bisher noch nicht gesagt.
Und um auf seine Frage eingehen zu können, musste man das eigentlich wissen. Aber trotzdem erwies es sich als Fehler, das Rudi nachgefragt hatte. Denn der Currywurstmann nahm das als eine Art Aufforderung, sich jetzt erstmal zu allem möglichen zu äußern, was ihn so bewegte und was seiner Ansicht nach unbedingt mal gesagt werden müsste. Von der Politik über die Probleme des öffentlichen Nahverkehrs bis hin zum Für- und Wider einer Grippeschutzimpfung. Dass er uns dabei abwechselnd duzte und siezte, wenn er uns direkt ansprach, war dabei noch das geringste Problem.
Aber dann kam er doch noch zum Punkt.
„Watt ick nun wissen will, ist folgendes…”
„Bin ganz Ohr”, sagte ich.
War zwar genau genommen eine Lüge, was was hätte ich sonst sagen sollen?
>Interessiert mich nicht!<
Das hätte mir das Sensibelchen mit der Berliner Schnauze ganz sicher übel genommen.
Manchmal muss man die Wahrheit einfach besser für sich behalten. Vor allem dann, wenn sie den Gesprächspartner beunruhigen könnte.
Inzwischen hatte ich meine Currywurst vertilgt und versuchte, die Erinnerung an den Geschmack so lange wie möglich zu erhalten.
So eine Art luzides Tagträumen mit kulinarischer Note.
Der Currywurstmann sagte: „Also in der Zeitung stand was von einer alten Frau, der laut Zeugenaussagen ein Teenager-Mädchen von hinten mit einer Flasche auf den Kopp gehauen hat, weil die Alte ihr Portemonnaie nicht rausrücken wollte.”
„Tja…”
„Wat sagen Sie dazu?”
„Ist nicht unser Fall”, sagte Rudi.
„Ach! Und dann is datt für Sie erledigt, oder watt?”
„So war das nicht gemeint!”
„Icke fress einen Besen!”
„Das lassen Sie besser bleiben”, sagte ich.
„Wieso?”
„Ihre Currywurst ist besser.”
Er sah mich an wie ein Auto.
Rudi sagte: „Mein Kollege meint, Ihre Currywurst ist besser als ein Besen und deswegen beim Verzehr vorzuziehen.”
Der sensible Currywurstmann runzelte die Stirn.
Die Falten waren sehr tief.
Und sie wirkten sehr skeptisch.
„Jetzt fühle icke mir von dir verarscht”, sagte er. „Sie nehmen mir nicht ernst! Watt machen Sie denn, damit Sie die Kleine kriegen? Es war nicht möglich, die Göre gerichtsfest zu identifizieren, obwohl es Augenzeugen gab. Aber vermutlich kommt die Verwandtschaft von dem Gör und haut jedem auf die Schnauze, der sich an ihr Gesicht erinnert! Und die alte Frau liegt jetzt im Koma und wird wahrscheinlich die Jahre, die ihr noch bleiben, als komatöse Zimmerpflanze dahinvegetieren. Ja, wat is denn ditte? Gerecht jedenfalls nicht!”
„Wie gesagt: Ist nicht unser Fall”, sagte Rudi. „Wir haben auch nur davon gelesen.”
Der Currywurstmann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Typisch”, meinte er. „Typisch Beamte! Womit beschäftigt ihr Brüder euch eigentlich den ganze Tag lang, häh?”
„Organisierte Kriminalität und Terrorismus”, sagte mein Kollege Rudi. „Zum Beispiel. Es gibt da natürlich auch andere Sachen. Serienmörder und…”
„...und so eine Alte, die wegen ein paar Euro ins Koma gehauen wird, die ist kein Fall für euch?”
Ich sagte: „Wir können ja nicht alles machen, oder?”
„Watt soll datt denn heißen?”
„Es gibt ja schließlich noch Kollegen.”
„Ja, dann hoffe icke aber, datt die sich auch darum kümmern!”
„Keine Sorge, das tun die schon”, versicherte Rudi.
Der Currywurstmann beugte sich nach vorn und sein Gesicht wirkte sehr ernst, als er uns jetzt ansah.
„Datt hoffe icke für euch”, sagte er. „Denn sonst kriegt ihr zwei hier demnächst keine Wurst mehr!”
*
„Können wir in Zukunft auf andere Currywurstbuden ausweichen?”, fragte Rudi, als wir schon wieder in unserem Dienstwagen saßen.
„Vom Geschmack her - nein.”
„Und von der Lage her?”
„Auch nein.”
„Es ist die einzige Currywurstbude, die so günstig liegt, dass sie für uns passt.”
„Eben.”
„Ja, und was heißt das nun? Doch nicht etwa, dass wir uns jetzt echt um diesen Fall kümmern, von dem der Currywurstmann gesprochen hat!”
„Nee, der fällt ja nicht in unsere Zuständigkeit.”
„Eben.”
„Manchmal hat man keine Wahl, was?”
„Man muss es nehmen wie es kommt.”
„Es geht um die Wurst, Mann!”
„Ach komm schon!”
Ich ließ den Motor unseres Dienstporsches an und wir fuhren los.
Wir hatten viel zu tun.
Und wenn wir all die Dinge, die auf unserer To-Do-Liste standen, nicht selber anpackten, dann würde es vermutlich niemand tun.
Trotzdem…
Ich konnte den Currywurstmann schon irgendwie verstehen.
Der Fall von der alten Frau, die von einer Teenagerin eine Flasche über den Schädel gezogen bekommen hatte und jetzt im Koma lag, ging mir auch nicht aus den Gedanken.
*
Der alte Mann war hager und gut durchtrainiert. Sein wahres Alter war schwer zu schätzen. Eigentlich unmöglich.
Sein Blick wirkte durchdringend.
Wie der Blick eines Mannes, der alles erkennt, alles erfasst und den man nicht täuschen kann.
Wie ein Schatten war er aus der Dunkelheit aufgetaucht.
„Du warst das mit der alten Frau”, sagte er mit einer dunklen Stimme.
Die Teenagerin stutzte. Ihre Freundin machte eine Blase mit dem Kaugummi, auf dem sie herumkaute.
„Ey Alter, ich schlitz dich auf!”, sagte die Teenagerin jetzt, nachdem sie den ersten Schrecken verdaut hatte. Sie hatte plötzlich ein Springmesser in der Hand. „Red nicht so einen Scheiß oder schlitz dich auf!“
„Ach, ja?“
„Ich stech dich ab wie eine Sau!”, setzte sie noch hinzu.
„Ich weiß, dass du der alten Frau eins über den Schädel gezogen hast”, sagte der alte Mann furchtlos. „Und jetzt liegt sie im Koma.”
„Ey, Scheiße, Mann…”
„Und das alles nur, weil sie dir ihr Portemonnaie nicht geben wollte.”
„Hau ab, du Wichser!”
„Wegen dieser Sache bin ich hier”, sagte der alte Mann.
„Was willst du, Wichser?”
Der alte Mann blieb vollkommen ruhig. „Für Gerechtigkeit sorgen.”
„Bist du ein Bulle oder was?”
„Ich bin im Auftrag der Tochter dieser alten Dame hier, die jetzt im Koma liegt. Die will auch Gerechtigkeit.”
„Ach, ja?”
„Ich finde, dass du bestraft werden solltest.”
„Man kann mich nicht bestrafen! Weil ich nämlich noch zu jung bin, du Arsch!”
„Da hast du Recht. Und da dich das Gesetz anscheinend nicht angemessen bestrafen würde, muss das wohl jemand anderes erledigen.”
Sie sah aus, als würde sie nicht hundertprozentig begreifen, was der alte Mann damit gemeint hatte.
Aber sie begriff eins: Dass er es ernst meinte.
„Willst du mir drohen?”
„Nein, das ist keine Drohung. Das ist eine Ankündigung”, sagte der alte Mann.
Sie verzog das Gesicht.
„Wenn ich meinem Bruder sage, dass er dich in die Mangel nehmen soll, dann macht der das!”
„Dein Bruder ist bei dieser Rocker-Gang, ich weiß.”
„Dann weißt du ja auch, dass die Ernst machen!”
„Ja, das weiß ich.”
„Wenn der mit dir fertig ist, liegst du auch im Koma, Alter!”
„Und was ist mit dir?”, fragte der alte Mann.
Sie stutzte. Schien einen Moment verwirrt zu sein.
„Häh?”
„Ich fragte: Was ist mit dir, wenn dein Bruder mit dir fertig ist?”
„Ey, hast du Scheiße im Gehirn?”
„Dein Bruder und seine Freunde machen viele schlimme Dinge. Aber alten Frauen Flaschen über den Schädel zu ziehen, gehört definitiv nicht dazu. Das verstößt nämlich gegen ihren Ehrenkodex. Was glaubst du, was er mit dir macht, wenn er davon erfährt, was du getan hast?”
Sie wurde blass.
„Du Arsch…”
„Sag du es mir, was er mit dir machen würde. Du kennst ihn besser als ich.”
„Wenn du die Fresse aufmachst, dann stech ich dich ab!”, kreischte sie.
Ihre Freundin sagte: „Komm wir hauen ab.”
Aber die Teenagerin mit dem Messer wollte davon nichts hören. Sie stürzte sich auf den alten Mann, stieß mit dem Messer zu.
Aber der alte Mann wich geschickt aus.
Der Messerstoß ging ins Leere. Mit einer eleganten, fast beiläufigen Bewegung, die an die fließenden Bewegungsabläufe des Tai Chi erinnerte, packte er kurz ihren Arm und hebelte ihn aus. Ganz beiläufig sah das aus. Und mit dieser eleganten Beiläufigkeit lenkte er die Kraft ihres Klingenstoßes gegen die Angreiferin selbst.
Im nächsten Moment steckte ihr die Klinge im Unterleib.
Die Teenagerin brach zusammen.
Sie stöhnte auf wie ein Tier. Ihre Hände versuchten die Blutung aufzuhalten. Aber das war aussichtslos.
„Scheiße!”, rief sie.
Die zweite Teenagerin stand mit offenem Mund da. Wie erstarrt.
Der alte Mann sagte: „Was ist mit dir?”
„Ich war nicht dabei! Wirklich nicht!”
„Ich weiß. Bei der alten Frau warst du nicht dabei. Aber bei anderen Sachen schon.”
„Scheiße, Sie müssen ihr … helfen!”, stammelte sie nach einem kurzen Blick auf ihre Komplizin, die sich am Boden wandt.
„Nein, muss ich nicht”, sagte der alte Mann. „Aber wenn du mich jetzt auch angreifen willst: Nur zu! Ich töte dich gerne in Notwehr!”
Der alte Mann machte einen Schritt auf sie zu.
Jetzt löste sich ihre Erstarrung. Sie rannte davon. Hetzte, drehte sich kurz nochmal um und war dann verschwunden.
Der alte Mann drehte sich zu der am Boden Liegenden um.
„Noch fünf Minuten. Dann bist du tot”, sagte er. „Vielleicht auch zehn. Länger nicht. Ich nehme an, dass eine Schlagader aufgerissen ist.”
„Ich…”
Er beugte sich über sie. Mit schnellen Bewegungen durchsuchte er ihre Kleider. Das war jemand, der gelernt hatte, wie man so etwas machte.
Sie konnte sich nicht dagegen wehren, denn ihre Hände versuchten noch immer, die Blutung aufzuhalten.
Schließlich fand er ihr Smartphone.
Er machte ein Foto von ihr.
„Für deine Profile in diversen sozialen Netzwerken. Deine Freunde sollen dich so sehen wie du jetzt bist.”
„Schwein!”, stieß sie hervor.
Er sah kalt auf sie herab.
„Du wolltest mich abstechen wie eine Sau. Jetzt bist du die abgestochene Sau.”
Der alte Mann war sich nicht sicher, ob sie seine letzten Worte überhaupt noch mitbekommen hatte. Ihre Augen waren nämlich starr und tot.
Sie hatte nicht so lange durchgehalten, wie er gedacht hatte.
„Möge der Richter, vor dem du jetzt stehst, dir ungnädig sein”, sagte der alte Mann halblaut.
*
Ein Bungalow in einem Neubaugebiet im Speckgürtel um die Hauptstadt. Der alte Mann stand vor der Tür und klingelte.
Eine Mittdreißigerin öffnete.
„Guten Tag”, sagte der alte Mann. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass die Angelegenheit erledigt ist.”
Die Mittdreißigerin schluckte.
„Ich wette, das Mädchen musste nicht annähernd so leiden wie meine Mutter.”
„Das trifft leider zu.”
„Meine Mutter wird jetzt ihre letzten Jahre wie eine Zimmerpflanze dahinvegetieren. Möglicherweise bekommt sie alles mit. Eingeschlossen im eigenen Körper. Eine Gefangene, für die es keine Bewährung und keine Hafterleichterung gibt.”
„Ich kann Sie sehr gut verstehen”, sagte der alte Mann. „Auch Ihren Zorn.”
„Meine Mutter hat lebenslänglich.”
„Ich weiß.”
„Und ich auch - in gewisser Weise.”
„Das Mädchen wird nie wieder jemanden etwas antun können.”
Sie schluckte.
„Das ist gut.”
Der alte Mann hob die Augenbrauen.
„Möchten Sie Einzelheiten wissen?”
Die Mittdreißigerin schluckte erneut. „Nein. Aber ich möchte Ihnen danken.”
„Ich tue nur, was getan werden muss. Und das, sonst niemand tut.”
„Ich war erst skeptisch.”
„Ich weiß.”
„Aber jetzt bin ich voller Bewunderung für Ihr Werk. Sie sorgen auf Ihre Weise für Gerechtigkeit.”
„Ein zu großes Wort”, sagte der alte Mann.
Die Mittdreißigerin nickte. „Ich möchte Ihnen etwas geben. Kommen Sie herein?”
„Aber nur kurz. Herr Butter, mein Partner, wartet im Wagen auf mich.”
„Sie arbeiten schon an einem neuen Fall?”
„Ja.”
„Sie scheinen rastlos zu sein.”
„Das bin ich.”
„Kommen Sie herein. Bitte!”
Der alte Mann folgte ihr. Die Mittdreißigerin führte ihn in ein großes Wohnzimmer. „Einen Augenblick”, sagte sie und verschwand im Nebenraum. Als sie zurückkehrte, hatte sie einen Briefumschlag in der Hand. Sie reichte ihn dem alten Mann. Ihr Lächeln wirkte verhalten.
„Das ist für Sie”, sagte sie.
„Ich sagte Ihnen doch ganz zu Anfang, dass ich nichts nehmen werde.”
„Ich möchte aber, dass Sie es nehmen.
„Ich suche mir meine Mandanten aus”, sagte der alte Mann. „Man kann mich nicht beauftragen, ich beauftrage mich selbst.”
„Ja, das sagten Sie bei unserem ersten Treffen. Ich erinnere mich.”
„Wie könnte ich das, wenn ich etwas von ihnen nehmen würde?”
„Bitte.”
„Ich bin finanziell unabhängig.”
„Ich danke Ihnen.”
„Leben Sie wohl. Wir werden uns nicht wiedersehen.”
„Eine Frage noch…”
Er sah sie ruhig an. „Ich kann nicht versprechen, dass ich sie Ihnen beantworte”, sagte er.
„Warum tun Sie das?”
„Auf wiedersehen.”
„Hat es einen persönlichen Grund?”
„Alles, was wir tun, hat letztlich einen persönlichen Grund”, sagte er ausweichend. „Oder habe ich da Unrecht?”
„Nein.”
Ein mildes Lächeln spielte um seine dünnen Lippen. „Sehen Sie!”
„Sie haben mir meine Frage nicht beantwortet.”
„Ich weiß.”
„Was ich nur wissen wollte: Hat es damit zu tun, dass es vielleicht in Ihrem persönlichen Umfeld ein nicht gesühntes Verbrechen gab.”
Der alte Mann zögerte. „Leben Sie wohl”, sagte er dann.
„Ich würde das gerne wissen.”
„Warum?”
„Ich wäre dann nicht - allein.”
„Sie sind nicht allein.”
„Und Sie auch nicht.”
Der alte Mann hatte sich bereits zum Gehen gewandt. Aber dann blieb er stehen. „Es gab tatsächlich ein Verbrechen in meinem persönlichen Umfeld. Zumindest…”
„Ja?”
„...glaubte ich das.”
Eine Falte bildete sich auf ihrer Stirn.
„Gab es nun ein Verbrechen oder nicht?”, hakte sie nach.
Der alte Mann sah sie an. „Das interessiert Sie wirklich?”
„Ja.”
„Meine Schwester erzählte eines Tages, sie sei während eines Frankreichurlaubs von einem Psychopathen vergewaltigt und über Stunden hinweg in einer Garage gefoltert und missbraucht worden.”
„Das ist furchtbar. Ich nehme an, der Täter wurde nie gefasst?”
„Es gab keinen Täter, wie ich schließlich feststellen musste. Sie hatte sich das alles ausgedacht, um Beachtung und Aufmerksamkeit zu bekommen.”
„Sind Sie sicher?”
„Ich wollte das erst lange selbst nicht glauben. Ganz zu Anfang, da hat sie mir vorgeworfen, nicht verständnisvoll und mitfühlend auf ihren Bericht reagiert zu haben. Aber später wurde mir klar, weshalb ich so zurückhaltend war.”
„Warum?”
„Weil es nicht glaubwürdig war. Weil ich schon im ersten Moment spürte, dass da etwas nicht stimmen konnte. Aber in solchen Momenten ist man solidarisch mit dem Familienmitglied und vielleicht etwas blind für die Wahrheit, die offensichtlich war.”
„Offensichtlich?”
„Naja, das ist ein relativer Begriff. Im Endeffekt hat sie uns jahrelang erfolgreich getäuscht und und uns alle mit ihrer Geschichte beschäftigt. Meine Eltern glauben ihr noch immer.”
„Aber Sie nicht.”
„Alles, was es über diesen Fall gibt, ist ein psychiatrisches Gutachten, das wiederum ausschließlich auf ihren eigenen Angaben beruht. Es gibt keine polizeiliche Untersuchung, es gibt keine Spuren, es gibt keine Zeugen… Als ich ihr damals sagte, dass dies kein Ersttäter gewesen sein könne, und dass es vorausgehende ähnliche Fälle gegeben haben müsste, da hat sie das schnell abgewimmelt. Sie litt angeblich unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, aber das seltsame war, dass alles wie auswendig gelernte Schilderungen aus dem Lehrbuch gewirkt hat. Sehen Sie, wenn jemand so etwas erlebt hat, dann kommen einige oder vielleicht auch viele der bekannten Symptome vor. Aber niemals alle auf einmal.”
„Von diesen Dingen verstehe ich nichts.”
„Jedenfalls habe ich schließlich die Wahrheit herausgefunden.”
„Aber was hat das mit dem zu tun, was Sie für mich getan haben?”, fragte sie.
„Das verstehen Sie nicht?”
„Nein.”
„Es gibt Opfer und es gibt Opfer, die keine sind. Ich verhelfe den wahren Opfern zu ihrem Recht.”
„Das ist Ihnen eine Art Inneres Bedürfnis?”
„Ja, so könnte man sagen.”
Einige Augenblicke herrschte nun Schweigen.
„Ich bin froh, dass Sie wir miteinander gesprochen haben”, sagte sie dann.
„Ich auch”, sagte der alte Mann.
„Auf wiedersehen.”
„Nein.”
„Wie bitte?”
„Ich sagte es bereits: Wir werden uns nicht wiedersehen.”
*
Als der alte Mann zum Wagen zurückkehrte, war sein Partner etwas ungeduldig.
„Das hat länger gedauert, als du gesagt hattest, Alter Mann”, sagte er.
„Ich weiß, Butter.”
So nannten sie sich. Der alte Mann redete seinen Partner einfach mit seinem Nachnamen an: Butter. Und Butter sagte „Alter Mann”, wenn er den alten Mann ansprach. Er benutzte diese Bezeichnung wie einen Eigennamen.
Andreas Butter war deutlich jünger als der alte Mann. Die beiden arbeiteten schon eine halbe Ewigkeit zusammen. Ein eingespieltes Team. Butter war jemand, auf den sich der alte Mann absolut verlassen konnte. Und umgekehrt. Beide wussten das zu schätzen.
„Gab’s noch so viel zu quatschen?”, fragte Butter.
„Manchmal…” Der alte Mann sprach nicht weiter.
Butter wartete ab. Er dachte wohl, dass da vielleicht noch was kam. Zum Beispiel der Rest vom Satz.
Aber da kam nichts mehr.
Der alte Mann schien es sich anders überlegt zu haben und nun doch nicht gewillt zu sein, mit Butter darüber zu reden.
„Manchmal was, Alter Mann?”
„Manchmal ergibt es sich einfach so, Butter.”
„Ah, ja.”
„Ist so.”
„Du solltest dir schonmal Gedanken über ein paar Dinge machen, Alter Mann.”
„Worüber, Butter?”
„Darüber, wie wir überleben können, zum Beispiel.”
„Darüber mache ich mir keine Sorgen, Butter.”
„Ach, nein?”
„Nein.”
„Und der Bruder dieser Flaschenschlägerin?”
„Der macht dir wirklich Sorgen, Butter?”
„Nicht wirklich.”
„Dann bin ich ja beruhigt.”
„Aber der und seine Rocker-Gang werden dir übelnehmen, was du getan hast, Alter Mann.”
„Natürlich, Butter.”
„Und wenn wir eines Tages von dreißig bewaffneten Rockern in einem Hinterhof umzingelt werden, dann hätte ich für diesen Fall gerne einen Plan, Alter Mann.”
*
„Habt ihr dat gelesen?”, fragte der Currywurstmann meinen Kollegen Rudi und mich, als wir ein paar Tage später mal wieder Hunger auf eine Wurst hatten.
Ich war nicht so ganz im Bilde.
Zum Zeitunglesen kommt unsereins nicht immer.
Und schon gar nicht, wenn es um die Blätter mit den großen Buchstaben geht. Nicht jede Meldung hat dort tatsächlich auch einen Nachrichtenwert. Zum Beispiel wenn irgendeinem Sternchen, das auf dem absteigenden Karriere-Ast sitzt wie zufällig auf dem roten Teppich bei einer Filmpremiere die Brüste aus dem Kleid fallen, dann ist das manchen Medien eine Schlagzeile wert.
„Ihr seht aus wie Autos”, sagte der Currywurstmann. „Icke kann’s nicht glauben, die ganze Stadt spricht darüber und nur ihr vonne Polente kriegt mal wieder gar nichts mit! Und da wundert man sich dann über Staatsverdrossenheit und sowas.”
„Wie wär’s, wenn du uns einfach sagst, was du eigentlich meinst”, schlug Rudi vor. Er duzte den Currywurstmann jetzt genauso frech, wie der das auch tat. Konnte man richtig finden oder auch nicht. „Wir befragen nämlich schon den ganzen Tag Leute, bei denen wir raten müssen, was sie meinen und bei deren Aussagen wir uns dann hinterher alles haarklein bestätigen lassen müssen.”
„Ja ditte nennt man Rechtsstaat”, belehrte uns der Currywurstmann. „Auch wenn das lästig ist, ist es aber nunmal notwendig ist. Von wegen mit Willkür und so.”
„Worauf ich hinaus wollte: Für den Quatsch, der in der Zeitung steht, haben wir keine Zeit”, sagte Rudi.
„Und was ist mit der Teenagerin, die die alte Frau erschlagen hat?”, fragte der Currywurstmann. „Die ist jetzt selber abgestochen worden. Nicht, dass mir das in dem Fall Leid täte. Aber schön ist es auch nicht.”
„Die Angelegenheit ist bei den zuständigen Kollegen sicherlich in guten Händen”, meinte ich kauend. „Oder gibt’s irgendeinen Grund, etwas anderes anzunehmen, Rudi?”
„Nö”, sagte Rudi kauend.
”Na, also!”, bekräftigte ich.
„Ihr beiden seid wie die berühmten drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts mitkriegen.”
„Nee, da irrst du dich”, behauptete Rudi. „Wir kriegen alles mit. Verlass dich drauf.”
„Nee, besser nicht!”, widersprach der Currywurstmann..
*
Der alte Mann hatte zusammen mit Butter ein Büro im Erdgeschoss eines Altbaus.
Dort tauchte nach ein paar Tagen jemand auf, mit dem er nun wirklich auf keinen Fall gerechnet hätte.
Es war die Freundin der Teenagerin, die die alte Frau für ein paar Euro ins Koma geschlagen hatte.
Butter hatte ihr geöffnet und sie hereingelassen. Der alte Mann ärgerte sich ein wenig darüber. Butter ist zu großherzig, ging es ihm durch den Kopf. Es war immer dasselbe.
„Ich muss Sie sprechen”, sagte sie. Sie kaute auch diesmal auf einem Kaugummi herum. Aber viel nervöser. Und vor allem machte sie keine Blasen, wobei der alte Mann nicht daran glaubte, dass sie das wirklich aus Rücksichtnahme oder Höflichkeit unterließ.
Nein, daran glaubte er nicht.
Vermutlich gab es den einen Grund dafür, dass sie keine Blasen machte.Sie bekam sie aus irgendeinem Grund im Moment einfach nicht hin.
Hatte wohl auch mit ihrer im ganzen ziemlich nervösen Verfassung zu tun.
Der alte Mann erhob sich hinter seinem Schreibtisch.
Den tadelnden Blick in Richtung Butter konnte er diesem nicht ersparen.
„Wenn ich jetzt sagen würde, dass ich mich freue, dich zu sehen, wäre das glatt gelogen”, sagte der alte Mann. „Ich denke, Butter sollte dich wieder hinausbringen.”
„Ey, vielleicht lässt du mich mal ausreden!”
„Was willst du? Mich abstechen? Wie deine Freundin?”
„Ey das war eine blöde Fotze, die hat gekriegt, was sie verdient!”
Der alte Mann runzelte die Stirn. „Wer dich als Freundin hat braucht anscheinend keine Feinde mehr.”
„Ey die Schlampe hat mich gezwungen ihre Sachen mitzumachen und ich habe den Ärger gekriegt.”
„Mir kommen die Tränen.”
„Ist echt wahr! Ich bin nicht traurig, dass die Hure nicht mehr da ist!”
„Ach, wirklich!”
„Ich meine, die wollte dich abstechen und du hast sie erledigt. Das ist doch voll korrekt.”
„Na, wenn du das sagst”
„Ey Mann, was soll ich tun, dass du mir glaubst?”
„Was willst du von mir?”, fragte der alte Mann.
„Ich habe was gesehen und jetzt werde ich verfolgt.”
„So?”
„Da war ein Mann mit einer Seidenkrawatte. Auf der war so ein Zeichen.”
„Was für ein Zeichen?”
„Scheiße, mit sowas kenn ich mich nicht so aus.”
„Wie soll ich dir dann helfen?”
„Es war eine Blume.”
„Genauer?”
„Eine Rose. Schwarz.”
„Hm.”
„Es fiel mir halt auf. Jedenfalls unterhielt der Kerl sich mit einem anderen Mann. In einem Haus. das leer steht, bei uns in der Gegend. Es ging um einen großen Plan und viel Geld…”
„Ah, ja…”
„Scheiße Mann, ich habe fast nichts begriffen, die haben so geschwollen herumgelabert, aber jetzt stecke ich in der Kacke.”
„Und wie kommst du darauf, dass ausgerechnet ich dir helfen könnte?”
„Ich… habe Ihre Website gesehen… Da heißt es doch, dass Sie Leuten helfen und so…”
„Das muss ein Irrtum sein, was du da gesehen haben willst.”
„Nein, das war kein Irrtum.”
„Ich kann dir leider nicht helfen. Aber vielleicht solltest du zur Polizei gehen.”
„Soll das ein Witz sein? Zu den Bullen?”
„Es tut mir leid.”
„Sie helfen Leuten und nehmen kein Geld dafür! Scheiße, warum können Sie nicht mir helfen? Die sind hinter mir her und ich habe keine Ahnung, warum.”
Der alte Mann sah sie an. „Dann denk mal scharf nach. Vielleicht kommst du ja noch drauf. Ich jedenfalls kann leider nichts für dich tun.”
„Blöder Wichser!”
„Bring sie raus, Butter!”, sagte der alte Mann.
„Das wirst du noch bereuen!”, sagte sie, bevor Butter sie hinausführte. „Das wirst du echt noch bereuen.”
Der alte Mann hob die Augenbrauen und erwiderte den giftigen Blick, den sie ihm zuwarf mit stoischer Ruhe.
„Siehst du, genau das ist der Grund dafür, warum ich dir nicht helfen werde. Zumindest ist es einer der Gründe.”
*
„Harry, wir müssen los”, sagte mein Kollege Kommissar Rudi Meier zu mir.
Der eine Grund dafür, dass die tote Teenagerin überhaupt auf unserem Schreibtisch landete, war die Waffe, mit der man sie erschossen hatte. Die konnte nämlich identifiziert werden. Es war nicht das erste Mal, dass man so verwendet hatte.
Und immer in Zusammenhang mit Verbrechen, die der organisierten Kriminalität zugerechnet wurden.
„Das war ein Profi”, sagte ich. „Mit den Bandenkriegen zwischen Clans und Rockern hat das nichts zu tun.”
„Milieu hin oder her?”
„Wenn es mit ihrem Milieu zu tun hätte, wäre sie anders gestorben, Rudi.”
„Vielleicht hast du Recht.”
„Ganz sicher.”
„Na, heute sind wir aber mal wieder sehr überzeugt von uns, was Harry?”
„Wenn du von ‘wir’ sprichst, meinst du dich ja anscheinend auch.”
„Ich habe den Pluralis magistralis verwendet. Wie bei >Wir, Kaiser Wilhelm…<”
„Ich bin nicht adelig, Rudi.”
„Ich weiß.”
„Soll das jetzt irgendeine Andeutung sein?”
„Was denkst du denn?”
„Ich denke… gar nichts.”
„Ach, nee!”
„Ich denke, dass es sich nicht lohnt, darüber weiter nachzudenken.”
Rudi lachte.
Nicht jeder kam mit der Art von Humor klar, die zwischen Rudi und mir üblich war. Aber wir kannten uns inzwischen schon so lange, dass es eigentlich auch nur ganz natürlich ist, dass wir ein paar gemeinsame Eigenarten entwickelt hatten. Fast wie ein altes Ehepaar. Sowas gibt es auch unter Kollegen.
Ein Grund, weshalb wir diese Teenagerin auf unserem Schreibtisch liegen hatten (in Form von Tatortfotos, die die bereits erwähnten hässlichen Details zeigten), war die Tatsache, dass das Mädchen wohl kurz vor ihrem Tod noch Kontakt zu einem Mann aufgenommen hatte, der in unser Ressort fiel.
Man nannte ihn >Alter Mann<.
Die Namen, unter denen er bekannt war, waren alle falsch. Auch der, der im Augenblick in seinem Pass stand und mit dem er beim Einwohnermeldeamt registriert war.
Er war eine Weile für unterschiedliche Geheimdienste tätig gewesen, darunter auch den deutschen BND. Ohne, dass man ihm das im Einzelnen nachweisen konnte, war er aber wohl jemand, der dazu neigte, mehreren Herren zu dienen.
Im Zuge seiner diversen, undurchschaubaren Tätigkeiten, war er vermögend geworden.
Niemand wusste genau, woher das Vermögen des alten Mannes im Einzelnen stammte. Es machte ihn jedenfalls unabhängig. Inwieweit er im nachrichtendienstlichen Geschäft noch mitmischte, wusste niemand so genau. Vielleicht wollte man das auch an den entscheidenden Stellen nicht so genau wissen. Ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, dass an entscheidender Stelle hier und da die Hand über den Mann gehalten wurde, der überall nur mit einer Mischung aus Respekt und Schauder ‘der Alte Mann’ genannt wurde.
>Alter Mann< war in seinem Fall eine Art >Nom de Guerre< für eine zwielichtige, geheimnisumwitterte Gestalt.
Es hieß, dass er inzwischen als eine Art Privatermittler tätig war.
Es gab auch Hinweise darauf, dass er möglicherweise in Fälle von Selbstjustiz verwickelt war. Bewiesen werden konnte das bis jetzt nicht.
Wir suchten die Adresse auf, unter der der alte Mann ein Büro betrieb. Zusammen mit einem gewissen Andreas Butter. Welchen Zweck genau dieses Büro diente war ebenso dubios wie alles andere auch, was mit dem alten Mann zu tun hatte.
„Alter Mann! Wir haben Besuch”, sagte Andreas Butter, der uns die Tür geöffnet hatte.
Butter benutzte >Alter Mann< wie einen Eigennamen.
>Alter Mann< saß hinter einem Schreibtisch, auf dem sich buchstäblich gar nichts befand. Kein Computer. Kein Blatt. Kein Telefon. Nicht einmal ein Kugelschreiber. Es sah nicht so aus, als würde an diesem Schreibtisch viel geschrieben.
Ich fragte mich, ob er überhaupt dazu diente, dass daran gearbeitet wurde.
Jedenfalls in dem herkömmlichen Sinn dieses Wortes, den man eben mit einem Schreibtisch verband.
„Ich habe Sie schon erwartet”, sagte der alte Mann.
„Meines Wissens wurde unser Besuch nicht angekündigt”, stellte Rudi fest.
„Ich bin gewöhnlich gut informiert”, lächelte der alte Mann. „Sie sind Kommissar Rudi Meier… Und dies ist Ihr Kollege Kommissar Harry Kubinke.” Dabei ging sein Blick in meine Richtung.
Ich zeigte ihm meinen Ausweis.
„Ob Sie den jetzt überhaupt noch sehen wollen, weiß ich nicht”, sagte ich.
„Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch”, sagte der alte Mann. „Außerdem ist es doch auch Vorschrift, nicht wahr?”
„Nur auf Verlangen.”
„Das werden Sie besser wissen als ich.”
„Hören Sie, Herr…”
„Sie können mich gerne >Alter Mann< nennen. Butter macht das so - und ich nehme an, dass Sie mich ebenfalls so bezeichnen, wenn Sie in Ihrem Büro über mich reden.”
„Weil Ihre anderen Namen alle falsch sind.”
„Falsch ist ein hartes Wort.”
„Finden Sie?”
„Ich war bisher in einem beruflichen Umfeld tätig, das einen gewissen flexiblen Umgang mit Namen und anderen persönlichen Daten erforderte. Aber das ist alles seinen legalen Gang gegangen.”
„Sie sollen eine Geheimdienstkarriere hinter sich haben.”
„Wenn es so wäre, wäre das doch auch geheim, oder?”
„Sie wissen, wie man sich immer wieder aus der Affäre zieht.”
„Das ist ein Teil des Spiels, an dem ich teilgenommen habe.”
„Habe?”
„Ja.”
”Sie sprechen in der Vergangenheit.”
„Ich bin draußen. Und Privatier, wenn ich das so nennen darf. Aber wenn Sie mit ein paar informierten Personen beim BND, im Verteidigungsministerium oder im Kanzleramt sprechen würden, dann würden Sie feststellen, dass sich dort der eine oder andere durchaus noch an mich erinnert.”
„Ich hoffe in positiver Weise.”
„Fragen Sie diese Personen doch selbst.”
Ich hob die Augenbrauen. Unglücklicherweise wollen diese Personen aber nicht mit mir reden.”
„Das ist bedauerlich”, lächelte >Alter Mann<. „Wirklich bedauerlich. Es könnte daran liegen, dass Ihnen einfach das gewisse Netzwerk fehlt, Herr Kubinke.”
„Sagen Sie bloß, Sie würden mir da mal aushelfen.”
„Wir werden sehen. Zu gegebener Zeit… vielleicht.”
„Sie halten sich immer gerne alle Optionen offen.”
Er hob die Augenbrauen.
Ein Ausdruck des Erstaunens - zumindest bei ihm.
„Sie nicht, Herr Kubinke?”
Ich zeigte ihm das Foto der toten Teenagerin.
„Kennen Sie die?”
„Warum sollte ich?”
„Zum Beispiel, weil wir durch den Verlauf ihres Smartphone-Browsers wissen, dass Sie Ihre Website aufgesucht hat.”
„Ach, diese Seite…”
„Auf der Sie quasi interessierten Personen anbieten, für sie Selbstjustiz zu üben.”
„Mit dieser Seite habe ich nichts zu tun.”
„Ich habe mir die Seite angesehen, da ist Ihr Foto mehrmals zu sehen.”
„Die Fotos stammen aus einem kommerziellen Foto-Stock. Ich arbeite hin und wieder als Model und stelle dann ältere Herren dar. Sie können meine Fotos immer dann auf den Online-Portalen großer Tageszeitungen bewundern, wenn dort ein Artikel zu Entwicklungen in der Rentenpolitik veröffentlicht wird. Manchmal auch, wenn Werbung für Wärmepflaster gemacht wird und jemand abgebildet werden soll, der die brauchen könnte.”
„Das ist doch jetzt eine Ausrede”, sagte ich.
„Es ist einfach die Wahrheit. Wenn Sie die Fakten überprüfen, werden Sie feststellen, dass alles genauso ist, wie ich es Ihnen gesagt habe.”
„Das heißt, mit der Website, auf der Sie Ihre gesetzlich zweifelhaften Dienste anbieten, haben Sie gar nichts zu tun?”
„Exakt.”
„Kaum zu glauben.”
„Überprüfen Sie es. Und fragen Sie die Kollegen, die sich bereits damit beschäftigt und versucht haben, mir Ärger zu machen. Ist alles im Sand verlaufen.”
„Ich werde das tatsächlich überprüfen.”
„Scheint bei Ihnen aus der Mode gekommen sein, die Kollegen zu fragen.”
„Ganz so schlimm ist es nicht.”
„Na, dann bin ich ja beruhigt, Herr Kubinke.”
Jetzt mischte sich mein Kollege Rudi Meier ein. Er sagte: „Wir sind uns sicher, dass die tote Teenagerin versucht hat, Ihre Hilfe zu bekommen. Und wir wüssten gerne Näheres dazu, weil wir annehmen, dass es mit ihrem Tod zu tun hat. Und was Sie über Ihre Website und den ungesetzlichen Service anbieten, der da offeriert wird…”
„Beweisen Sie mir, dass ich irgendetwas gesagt habe, was nicht stimmt”, unterbrach der alte Mann meinen Kollegen. „Sie werden feststellen: Das können Sie nicht. Bis Sie also nicht das Gegenteil beweisen können, sollten Sie davon ausgehen, dass das, was ich gesagt habe, der Wahrheit entspricht.”
„Jemand hat diesem Mädchen eine Kugel in den Kopf gejagt. Wir gehen davon aus, dass das ein Profi war”, sagte ich. „Und wir wissen, dass sie etwas von Ihnen wollte.”
„Ja, und?”
„Bringen Sie das für uns bitte irgendwie zusammen!”
Der alte Mann zögerte.
Er wusste mehr, als er uns bis jetzt gesagt hatte, das stand für mich außer Frage. So etwas hat man im Gefühl, wenn man den Job lange genug macht.
Und das traf auf mich mittlerweile zu.
Der alte Mann warf noch einmal einen Blick auf das Foto von der Toten.
„Sie ist einfach erschossen worden…”, murmelte der alte Mann. „Das ist schrecklich. Obwohl es keine Unschuldige trifft. Sie war an ein paar schlimmen Sachen beteiligt. Aber das hat alles nichts mit dem zu tun, was ihr nun offenbar geschehen ist.”
„Es wäre nett, wenn Sie uns in ganzen Sätzen aufklären, anstatt in Rätseln zu sprechen”, sagte ich.
„Also das Mädchen war tatsächlich hier.”
„Und sie wollte Ihre Hilfe.”
„Richtig.”
„Und dann?”
„Ich habe das abgelehnt.”
„Und ihr gesagt, dass die Website nur ein Fake ist und all das, was Sie mir auch erzählt haben?”
Darauf ging der alte Mann nicht näher ein.
„Sie erklärte mir, dass sie verfolgt würde, seit sie wohl durch Zufall Zeuge eines Gesprächs geworden ist.”
„Ein Gespräch zwischen wem?”
„Das weiß ich nicht, Herr Kubinke. Und sie wusste es auch nicht. Sie hat offenbar auch gar nicht begriffen, worum es bei diesem Gespräch ging. Ich habe das leider erst später begriffen. Und da war es wohl schon zu spät, denn wie ich jetzt von Ihnen erfahre, ist sie aus dem Weg geräumt worden.”
„Was haben Sie später erfahren?”, bohrte ich nach.
„Das Mädchen hat mir von einem Mann erzählt, der eine rote Seidenkrawatte mit schwarzer Rose trägt.”
„Und das bedeutet irgendetwas?”
„Es war die einzige konkrete Angabe, die sie mir gegenüber gemacht hat, Herr Kubinke. Ich konnte damit nichts anfangen und hatte auch keine Ahnung, worum es da gehen könnte. Aber wenig später habe ich das dann doch noch erfahren.”
„Wie?”
„Sagen wir, ich habe meine Fühler ausgestreckt und ein paar Verbindungen spielen lassen, die noch aus meiner aktiven Zeit stammen. Ich kann ihnen nur soviel sagen: Der Mann mit der Seidenkrawatte hat offenbar ein Ding vor, dass so groß ist, das ungeheuerlich sein muss.”
„Was genau?”
„Ich weiß nur, dass es ein Geschäft ist, dass solche Ausmaße hat, dass es unmöglich legal sein kann und plötzlich alle möglichen üblichen Verdächtigen daran mitverdienen möchten. Sollte diese Teenagerin tatsächlich etwas davon mitbekommen haben, dann wäre das tatsächlich ein Todesurteil gewesen. Selbst dann, wenn sie nicht ein Wort davon begriffen hat, was sehr wahrscheinlich der Fall ist.”
„Wer ist dieser Mann mit der Seidenkrawatte?”
„Das müssen Sie schon selbst herausfinden, Herr Kubinke.” Der alte Mann sah mich sehr ernst an. Seine Augen verengten sich etwas. Dann fuhr er fort: „Das ist eine Sache, bei der es nach meinen Informationen um die Sicherheit Deutschlands gehen könnte. Möglicherweise sogar um die Sicherheit Europas.”
„Große Worte.”
„Aber zutreffend.”
„Hat es was mit Terrorismus zu tun?”
„Könnte sein. Aber das kann ich weder ausschließen noch bestätigen.”
„Und wann wären Sie so nett gewesen, das Land vor dieser ominösen Bedrohung zu warnen, wenn wir jetzt nicht auf Sie zugekommen wären?”, fragte mein Kollege Rudi Meier. Seinem Tonfall war anzumerken, dass er ziemlich sauer war.
Der alte Mann lächelte dünn. „Wer sagt denn, dass ich das nicht längst getan habe - allerdings an anderer, sagen wir übergeordneter Stelle.”
„Natürlich! Mit dem gemeinen polizeilichen Fußvolk gibt sich eine große Nummer wie Sie ja auch normalerweis nicht ab!”, konnte Rudi seinen Ärger jetzt überhaupt nicht mehr verbergen.
„Sie tun ihm Unrecht”, mischte sich jetzt Andreas Butter ein.
Der alte Mann hob beschwichtigend die Hand.
„Lass nur, Butter. Ich kann den Ärger der Kommissare schon verstehen.” Er wandte sich an Rudi. „Sie können mir glauben, dass ich alles getan habe, was in meiner Macht steht. Auch wenn davon vielleicht zu Ihnen nichts durchgedrungen sein mag. Und davon abgesehen, bin ich jemand, der es vorzieht im Hintergrund zu bleiben. Das bedeutet, ich werde das, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, in einem offiziellen Verhör nicht wiederholen. Und Sie wissen genau, dass Sie keine Möglichkeit haben, mich zu irgendetwas zu zwingen.”
„Besteht die Möglichkeit, dass Sie noch mehr erfahren?”, fragte ich betont sachlich.
Rudi musste sich offensichtlich erstmal beruhigen.
Es war wohl besser, wenn er erstmal ganz tief durchatmete.
„Sollte ich etwas erfahren, werde ich es Sie umgehend wissen lassen”, versprach der alte Mann. „Ich denke, das wär’s dann wohl, was wir miteinander zu besprechen hatten.”
„Nein, nicht ganz”, widersprach ich.
„Butter wird Sie zur Tür begleiten.”
„Es gibt da noch eine andere Teenagerin, die vor kurzem umgekommmen ist.”
„Ach, ja?”
„Durch ein Messer.”
„Berlin ist ein gefährliches Pflaster geworden, Herr Kubinke.”
„Wir wissen, dass es ihr eigenes Messer war, dass ihr im Unterleib steckte, als sie gefunden wurde.”
„Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen. Heißt es nicht so in der Bibel? Auch wenn es in diesem Fall ein sehr kurzes Schwert ist.”
„Die Tote hatte zuvor eine alte Dame überfallen, ihr eine Flasche über den Schädel gezogen, um ihr das Portemonnaie abzunehmen. Die alte Dame liegt seitdem im Koma.”
„Die Welt ist böse, Herr Kubinke. Aber wem sage ich das…”
„Die alte Dame hat eine Tochter, die sehr unzufrieden darüber ist, wie die Justiz diesen Fall behandelt hat.”
„Ja, und?”
„Man hat Ihren Wagen vor dem Haus der Tochter gesehen. Da gibt es nämlich jemanden in der Nachbarschaft, der so etwas aufschreibt und an das Ordnungsamt weitergibt, wegen vermeintlichen Falschparkens.”
„Dies ist ein freies Land. Ich kann besuchen, wen ich möchte.”
„Sie sind auch in der Nähe des Ortes gesehen worden, an dem die Tote gefunden hat. In einem passenden Zeitfenster.”
„Worauf wollen Sie hinaus?”
„Waren Sie für die Tochter der alten Dame tätig?”
„Ach, Herr Kubinke…”
„Hat sie Sie beauftragt?”
„Mich beauftragt niemand.”
„Nein, ich weiß. Sie suchen sich Ihre Mandanten, für die Sie tätig werden und in deren Namen Sie handeln, selbst aus. So steht es zumindest auf der Website, mit der Sie ja angeblich nichts zu tun haben.”
„Sie können ja gerne ermitteln, auf welcher Karibik-Insel dieser Server steht und vielleicht bekommen Sie es dann ja sogar hin, was ich nicht geschafft habe: Dass diese Website abgeschaltet wird!”
Ich winkte ab. „Ach kommen Sie…”
Der alte Mann hob die Augenbrauen und fragte: „Worauf wollen Sie hinaus?”
„Ich wüsste gerne, was passiert ist”, sagte ich.
Einige Augenblicke herrschte Schweigen.
„Sie sollten jetzt wirklich gehen”, sagte Butter.
„Und ich denke, wir entscheiden, wann es soweit ist, dass wir gehen”, sagte Rudi.
Der alte Mann fixierte mich derweil mit seinem Blick.
Er tat das auf die ganz besondere Art und Weise, die ihm eigen war. Ein ruhiger Blick voller Entschlossenheit war das. Das war jemand, der genau wusste, was er tat. Jemand, der nichts dem Zufall überließ. Jemand, der die Situation stets kontrollierte - und zwar in erster Linie dadurch, dass er in der Lage war, sich selbst zu beherrschen.
In dieser Hinsicht war er mir selbst gar nicht so unähnlich.
„Sie suchen nach der Wahrheit, Herr Kubinke?”
„Ja.”
„Einer Wahrheit, die vermutlich nicht mehr zu ermitteln sein wird.”
„Möglicherweise.”
„Ich werde keine Aussage dazu machen, was sich abgespielt hat. Aber ich könnte eine Aussage dazu machen, was sich abgespielt haben könnte.”
„Das klingt sehr nach Konjunktiv.”
„Richtig.”
„Dann wollen Sie mir wieder ausweichen!”
„Wollen Sie nun hören, was ich darüber zu sagen haben oder nicht?”
„Sprechen Sie!”
„Wie gesagt, es ist das, was geschehen sein könnte.”
„Natürlich.”
„Die Erstochene könnte jemandem begegnet sein. Vielleicht jemanden, der sie angesprochen hat. Vielleicht jemanden, sie auf etwas angesprochen hat, was ihr unangenehm war. Etwas worüber sie nicht sprechen wollte. Die Sache mit der alten Dame zum Beispiel wäre so ein Thema, dass sie sie vielleicht aggressiv gemacht hat.”
„Fahren Sie fort.”
„Es könnte sein, dass sie dann denjenigen, der sie zur Rede stellte angegriffen hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie jemanden angegriffen hat, nicht wahr?”
„Das ist korrekt.”
„Und vielleicht ist diese Angreiferin einfach an den Falschen geraten. Nämlich jemanden, der sich zu wehren wusste.”
„Und warum ist der Angegriffene nicht zur Polizei gegangen? Das wäre schließlich Notwehr gewesen.”
„Vielleicht läge das daran, dass der Angegriffene eine gewisse Zurückhaltung im Umgang mit der Polizei übt und nicht mehr mit ihr zu tun haben will als unbedingt nötig ist.” Sein Lächeln wurde für einen Moment etwas breiter, als man das ansonsten von ihm gewohnt war. „Möglicherweise hätte man ihm auch nicht geglaubt. Aber wie gesagt, das ist nur eine Geschichte darüber, wie es hätte gewesen sein können.”
„Natürlich.”
„Noch Fragen?”
„Wissen Sie, wer der Bruder der - hypothetischen - Angreiferin ist?”
Der alte Mann nickte.
„Der führt eine Rockergang mit Verbindungen ins rechtsradikale Milieu und den Drogenhandel an”, erklärte er gelassen und offensichtlich gut informiert. „Befindet sich in einer Art Dauerfehde mit mehreren arabischen Clans und hat beste Beziehungen in einige Abteilungen der Berliner Polizei, wie es scheint, was es doppelt gefährlich macht, sich mit ihm anzulegen.”
„Dann brauche ich Ihnen ja wohl nicht extra zu sagen, dass Sie diesem Kerl und seinen Leuten jetzt erstmal besser aus dem Weg gehen sollten!”, schloss ich.
*
Rudi war ziemlich außer sich, als wir wieder in unserem Dienstporsche waren.
„Was erlaubt dieser Kerl sich!”
„Rudi…”
„Ja, ist doch wahr, Harry! Ist doch verdammt nochmal wirklich war! Der glaubt wohl, dass er irgend etwas Besonderes ist! Jemand, für den keine Regeln gelten! Eine Art Berliner Version von Batman, dem dunklen Ritter, der in der Nacht durch die Gegend streift und Kriminelle zur Strecke bringt!”
„Ein Batman ohne Umhang, Neopren-Anzug und Maske”, sagte ich.
„Wer weiß, wie der nachts rumläuft, Harry!”
„Können wir ihm irgend etwas beweisen, Rudi?”
„Nein.”
„Na, also!”
„Und was hältst du von seinem Hinweis auf dieses angebliche Kriminelle Riesengeschäft und eine unspezifizierte Bedrohung für Deutschland?”
„Und Europa!”
„Ja, die Welt ist für manche eben nicht genug, Harry.”
„Du bist immer noch ziemlich geladen, Rudi!”
„Stimmt, bin ich. Und du bist erstaunlich ruhig.”
„Was ich von dieser Theorie einer großen Verschwörung halten soll, weiß ich nicht, Rudi. Wir haben keinerlei Ansatzpunkte dazu.”
„Und ich hoffe, das bleibt so.”
„Was sich erfahrungsgemäß schnell ändern kann, Rudi!”
„Man muss den Teufel ja nicht unbedingt an die Wand malen, Harry!”
„Ich frage mich, ob an dem Hinweis auf den Mann mit der Seidenkrawatte etwas dran ist. Das war jedenfalls ziemlich konkret.”
„Na, der Maßstab für das, was du mit dem Wort >konkret< meinst, scheint aber auch ziemlich locker geworden zu sein”, hielt Rudi mir entgegen.
Ich musste zugeben, dass da etwas dran war.
Und irgendwo tief in einer der hinteren Ecken meines Bewusstseins bohrte immer eindringlicher eine fast verdrängte Frage. Sie bohrte sich in mein Hirn hinein und nun konnte ich sie einfach nicht länger ignorieren.
Was sollten wir tun, wenn uns in nächster Zeit jemand über den Weg lief, der eine rote Seidenkrawatte mit schwarzer Rose trug?
*
„Ich habe gehört, dass Sie so etwas geräuschlos über die Bühne bringen“, sagte der Mann mit der roten Seidenkrawatte. Eine schwarze Rose war darauf aufgestickt. Sein Gesicht war hager, das Kinn wie ein V geformt. Die Augen wirkten falkenhaft und kalt. Sie waren so grau wie sein Haar.
Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein braunes Kuvert hervor, das er anschließend dem Mann gab, der neben ihm auf der Parkbank platzgenommen hatte – irgendwo im Park, in der Nähe des Bootshauses am See.
Ein kühler Wind blies.
Das Wasser des Sees kräuselte sich.
Der andere Mann hatte einen Jogging-Anzug an und wirkte etwas verschwitzt. Im Ärmel trug er ein Messer. Es steckte in einer Lederscheide, die mit Riemen am Unterarm befestigt war. Das Sonnenlicht spiegelte sich im glattpolierten Stahl. Mit einer schnellen Bewegung hatte der Mann mit dem Messer das Kuvert geöffnet. Einige Fotos befanden sich darin.
Sein Blick wirkte für einige Momente sehr konzentriert.
Dann entspannte sich seine Züge.
„Betrachten Sie die Sache als erledigt“, sagte der Mann mit dem Messer. „Diese Leute sind schon so gut wie tot.“
„Genau das wollte ich hören“, sagte der Mann mit der roten Seidenkrawatte. Sein Lächeln wirkte gequält. „Die Sache eilt allerdings.“
„Sobald Ihre Anzahlung auf meinem Schweizer Bankkonto eingegangen ist, werde ich in Aktion treten“, erwiderte der Andere. Er steckte das Messer zurück in das Futteral an seinem Unterarm und verdeckte es mit dem Ärmel seines Sweatshirts.
„Ich verlasse mich auf Sie.“
„Das können Sie.“
„Eine persönliche Frage hätte ich noch.“
„Lieber nicht.“
„Waren Sie wirklich bei der Fremdenlegion oder nennt man Sie nur so – den Fremdenlegionär?“
Der Mann mit der Sonnenbrille drehte eines der Fotos um. Auf der Rückseite stand ein Name: Christoph Morkowski. Dazu ein paar persönliche Daten, die zur Ausführung des Auftrags unerlässlich waren. Der 'Fremdenlegionär' steckte das Foto hinter die anderen und nahm sich das nächste vor. „Ich glaube, ich weiß jetzt alles, was ich wissen muss. Und Sie im übrigen auch.“
„War ja nur eine Frage“, meinte der Mann mit der roten Seidenkrawatte.
Der 'Fremdenlegionär' stand auf. Das Kuvert stopfte er in die Bauchtasche, die er mit sich führte. Dann steckt er sich die Ohrstöpsel seines iPods wieder ein. Die Musik war so laut, dass auch sein Gegenüber mithören konnte : 'Highway to Hell'.
„Nehmen Sie nach Möglichkeit keinen Kontakt mehr mit mir auf“, sagte der 'Fremdenlegionär' etwas lauter, als eigentlich nötig gewesen wäre, was wohl daran lag, dass er die Ohrstöpsel schon drin hatte. Ein rothaariger Teenager, der gerade von seinem Skateboard gesprungen war und es dann aufgehoben hatte, um irgend etwas an den Rollen zu überprüfen, sah schon etwas irritiert zu ihnen hinüber.
Der 'Fremdenlegionär' begann zu laufen – wie jemand, der sich nur für einen Augenblick auf die Bank gesetzt hatte, um tief durchzuatmen und neue Kraft zu schöpfen.
Der Mann mit der roten Seidenkrawatte sah ihm nach. Dabei lockerte sich der Griff um die Automatik in der Tasche seines Kaschmirmantels. Die ganze Zeit über, da er mit dem Mann gesprochen hatte, den er unter dem Decknamen 'Fremdenlegionär' kannte, hatte er die Waffe umklammert und sie sogar entsichert. Es war einfach besser, gewissen Leuten nicht zu trauen. Gut möglich, dass der Problemlöser am Ende selbst zum Problem wurde.
Aber der Mann mit der Seidenkrawatte hatte an alles gedacht. Zumindest glaubte er das.
*
Tage später…
Der alte Mann ließ den Blick über die verfallenden Wohnblocks schweifen. Plattenbauten, die vor sich hingammelten und langsam vom Schimmel zerfressen wurden. Hier lebte niemand mehr, der es sich leisten konnte wegzugehen.
Der große Block zur Linken war in Kürze für den Abriss vorgesehen. Der alte Mann hatte davon gehört, dass man sich endlich darauf geeinigt hatte, wer die Kosten für die Entsorgung des ganzen Asbests tragen würde.
Eine Gruppe von Motorradfahrern näherte sich dem Block. Sie ließen die Maschinen aufheulen. Zwanzig Mann waren das. Sie trugen einheitliche, mit martialischen Symbolen besetzte Westen über den Lederjacken.
Kutten nannten sie das.
Sie umkreisten den alten Mann.
Wie Indianer in alten Western-Filmen, die beim Angriff die Wagenburg eines Siedler-Trecks umkreisten.
Nur schossen sie nicht.
Noch nicht.
Dann blieben sie stehen und bildeten einen Kreis um den alten Mann und holten ihre Waffen heraus. Automatische Pistolen, Pump-Guns und sogar eine Utzi.
Der Anführer der Gruppe stieg von seiner Maschine.
Er hatte Sporen an den Cowboystiefeln.
In seinem Gürtel steckte eine Pistole.
Er machte sich gar nicht erst die Mühe, die Waffe zu verbergen. Offenbar gingen er und seine Leute davon aus, sich das hier erlauben zu können. Denn hier war ihr Gebiet. und hier hatten sie das Sagen, so lautete ihre feste Ansicht.
Eine No-Go-Area für alle, die sie hier nicht haben wollten.
Der Kerl mit den Sporen kam auf den alten Mann zu.
„Es gibt eine Sache zwischen uns zu regeln”, sagte er. „Und ich denke, du weißt, worum es geht, Alter Mann.”
„Ich wusste, dass ihr hier auftaucht”, sagte der alte Mann. „Wenn man den richtigen Leuten sagt, wo man sein wird, dann lockt das die Bluthunde an.”
Der Kerl mit den Sporen verzog das Gesicht.
Die Tattoos an seinem Hals verformten sich dabei auf groteske Weise.
„Es heißt, du hättest meine kleine Schwester abgestochen.”
„Ich wollte vermeiden, dass sie mich absticht. Das hatte sie nämlich vor.”
„Sie war eine Schlampe. Und für ihr Alter ziemlich verdorben.”
„Sie hat eine alte Frau ins Koma geprügelt.”
„Sowas tut man nicht.”
„Richtig.”
„Das heißt aber nicht, dass ich irgend jemandem gestatten kann, meine kleine Schwester abzustechen. Egal, aus welchem Grund.” Der Kerl mit den Sporen zog seine Waffe. Eine Automatik. „Tut mir leid, alter Sack!” Er drückte zweimal ab. Die Kugeln trafen den alten Mann in der Brust und ließen ihn rückwärts taumeln und zu Boden gehen.
„Erledigt”, sagte der Kerl mit den Sporen.
Es war sein letztes Wort.
Sein Allerletztes.
*
Die Kugeln kamen lautlos, aber sehr präzise. Die Mitglieder der Rocker-Gang hatten keine Ahnung, wo ihr Feind war. Vermutlich schoss er aus irgendeiner der leerstehenden Plattenbau-Wohnungen heraus. Eine Kugel traf den Anführer im Kopf. Dieser feuerte noch einmal einen ungezielten Schuss ab, ehe er tot zu Boden fiel wie ein gefällter Baum. Innerhalb von wenigen Sekunden sanken auch seine Kumpane zu Boden. Ein Kuttenträger nach dem anderen wurde getroffen, ohne auch nur den Hauch nur die Chance zur Gegenwehr zu haben.
Es dauerte keine halbe Minute und kein einziger von ihnen lebte noch.
Eine Weile geschah gar nichts.
Nur der alte Mann rührte sich noch. Er hatte unter seiner Kleidung Kevlar getragen, was die Schüsse, die ihn getroffen hatten, abgefangen hatte. Er ächzte.
Andreas Butter kam indessen aus einem der Plattenbauten heraus. Im Laufschritt lief er auf den Ort des Geschehens zu. Er trug ein Scharfschützengewehr in der Linken.
„Alles in Ordnung, Alter Mann?”
„Wie kannst du ernsthaft so eine Frage stellen, Butter!”
„Fühlt sich an, als wäre man verprügelt worden, was?”
„Da das schon lange niemand mehr geschafft hat, erinnere ich mich kaum noch daran, wie das war.”
„Soll ich dir aufhelfen?”
„Bin ich ein alter Mann?”
„Ja.”
„Das kriege ich noch selber hin.”
„Mit dieser Gang dürften wir keinen Ärger mehr bekommen”, meinte Butter.
Der alte Mann hatte sich unterdessen mühsam erhoben. Butters Versuch, ihm doch noch zu helfen, wehrte er unwirsch ab.
„Ein Problem weniger, Butter…”
„Sagte ich doch.”
„Dafür ergeben sich mit Sicherheit jetzt andere Schwierigkeiten.”
„Vielleicht sollten wir uns in nächster Zeit etwas zurückhalten.”
„Findest du wirklich, Butter?”
In der Ferne waren Polizeisirenen zu hören.
„Könnte sein, dass sich die Polizei zum ersten Mal seit langer Zeit in diese Gegend traut.”
„Möglich, Butter.”
„Wir sollten nicht so lange warten, bis sie hier sind, Alter Mann.”
„Wo steht der Wagen?”
Butter streckte die freie Hand aus. „Da vorne auf dem Parkplatz. Ich wollte ihn im Auge behalten. Du weißt ja, hier werden so oft die Reifen geklaut.”
*
„Massaker unter kriminellen Rockern”, las Rudi mir die Schlagzeile vor.
„Wenn zwanzig Mann umgenietet werden, dann kann man schon von einem Massaker sprechen”, fand ich. „In diesem Fall kann ich den Sensationsmedien nicht einmal vorwerfen, dass sie übertreiben.”
„Das ist die Handschrift des alten Mannes, würde ich sagen.”
„Zwanzig Mann?” Ich hob die Augenbrauen. „Ich glaube, das wäre selbst für ihn etwas zu viel, glaubst du nicht, Rudi?”
„Ich habe mir mal angesehen, was es bislang zu dem Fall an Fakten gibt, Harry.”
„Der Kerl lässt dich nicht los, was?”
„Es lässt mich nicht los, dass wir ihn weder kriegen noch stoppen können.”
„Hm.”
„Hör zu: Erstens kann es kein Zufall sein, dass jetzt plötzlich der Bruder der erstochenen Teenagerin und seine ganze Rockergang über den Jordan gegangen ist. Das löst für unseren Freund doch ein paar Probleme, oder nicht?”
„Für ein paar andere Leute aber auch.”
„Er ist in der Nähe gesehen worden.”
„Der alte Mann?”
„Ja. Angeblich wurde er erschossen und ist wieder aufgestanden.”
”Wer sagt das?”
„Ein Zeuge.”
„Das bedeutet, der alte Mann hat eine Kevlar-Weste getragen!”
„Ja. Er hat sich mit der Gang getroffen, sich erschießen lassen und dann muss sein Partner, wahrscheinlich dieser Butter, aus einem der Nachbarhäuser gefeuert haben. Systematisch hat er einen nach dem anderen abgeknallt.”
„Man könnte darin so etwas wie Notwehr sehen, wenn man das sehr großzügig auslegt.”
„Ich wette, der alte Mann würde das so sehen - unabhängig davon, was die Gesetze dazu sagen. So macht er das. Er stellt eine Situation her, in der er angegriffen wird und dann schlägt er selbst zu.”
„Wir können ihm das nicht beweisen, Rudi.”
„Ich weiß.”
„Wir haben nichts gegen ihn oder diesen Butter in der Hand.”
„Ich weiß.”
*
Einen Tag später suchten wir das Büro auf, das der alte Mann und Butter betrieben. Es war niemand dort. Die (ohnehin falschen) Namensschilder waren nicht mehr da. Wenn man durch das Fenster sah, konnte man feststellen, dass auch nichts vom Mobiliar geblieben war.
„Ausgezogen”, stellte ich fest.
„Irgendwie überrascht mich das nicht”, gestand Rudi.
„Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir von den beiden noch etwas über den Mann mit der Seidenkrawatte erfahren würden”, meinte ich.
„Hast du das wirklich geglaubt, Harry?”
„Ja.”
„Manchmal kann ich mich über deine Gutgläubigkeit nur wundern, Harry.”
„Ich glaube eben an das Gute im Menschen.”
„So kann man das auch sehen.”
„Da ragt ein Brief aus dem Postkasten…” Ich nahm ihn heraus. Er war an mich adressiert. Zweifellos hatte der alte Mann ihn hier für mich hinterlassen, damit ich ihn fand. Ich öffnete ihn. Es war ein Computerausdruck. >Achten sie auf den ALGO-CYBERMAFIA CLUB”, stand dort.
Rudi blickte mir über die Schulter.
„Soll das ein Hinweis sein oder eher ein Rätsel?”, fragte er.
„Keine Ahnung”, murmelte ich. „Vielleicht ist es beides.”
*
Zwei Wochen später...
Ich hielt den Dienstporsche am Straßenrand, um Rudi an der bekannten Ecke abholen. Mein Kollege unterdrückte ein Gähnen, als er zu mir den Wagen stieg.
Aber mir ging es nicht anders.
„War nicht viel Zeit zum Schlafen in der letzten Nacht, was?“
„Du sagst es Harry.“
Wir hatten die halbe Nacht damit zugebracht, an einer Observation teilzunehmen. Auf einer abgelegenen Industriebrache im Norden der Gropiusstadt sollte ein Drogendeal über die Bühne gehen, wie wir von einem Informanten erfahren hatten.
Dabei hatte sich für uns die Chance geboten, eine ziemlich wichtige Figur des organisierten Verbrechens für lange Jahre aus dem Spiel zu nehmen. Allerdings hatte der uns lange warten lassen. Unser Kollege Stefan Carnavaro, bei dem die Einsatzleitung gelegen hatte, war schon beinahe entschlossen gewesen, den Einsatz abzubrechen.
Aber dann war der Mann, auf den wir alle gewartet hatten, doch noch aufgetaucht und wir hatten zuschlagen können.
Der Austausch von Drogen gegen Geld war sorgfältig per Video dokumentiert worden, sodass am Ende juristisch alles wasserdicht war. Was jetzt noch folgte war das übliche Tauziehen vor Gericht. Rudi und ich würden da auch noch unsere Aussagen machen müssen. Aber ansonsten war unser Job in dieser Sache getan.
Den Rest mussten wir anderen überlassen.
Während der Fahrt zum Präsidium redeten wir nicht viel.
Die Müdigkeit lastete noch bleiern auf uns.
Als wir uns schließlich im Büro von Kriminaldirektor Hoch, unserem Chef, eintrafen, waren unsere Kollegen Stefan Carnavaro und Oliver (genannt 'Ollie') Medina schon dort. Außerdem waren noch die Innendienstler Walter Stein und Manuel Schneyder anwesend. Walter gehört zu unserer Fahndungsabteilung, während Manuel Schneyder einer unserer Verhörspezialisten war.
Für Manuel war diese Besprechung das Ende seines Arbeitstages, während er für uns erst anfing. Manuel hatte nämlich Walid Hassani, den in der vergangenen Nacht festgenommenen Drogenboss, mehrere Stunde lang verhört.
Wir nahmen Platz. Mandy brachte ein Tablett mit dampfenden Kaffeebechern. Die Sekretärin unseres Chefs verließ danach wieder den Raum. Während ich an dem Becher nippte und der Kaffee dafür sorgte, dass ich wieder hellwach wurde, fasste Manuel zusammen, was das Verhör von Walid Hassani ergeben hatte.
Ich sah, dass Rudi sich alle Mühe geben musste, ein ausgiebiges Gähnen zu unterdrücken.
„Ich bin nicht auf den Mund gefallen, aber in diesem Fall hatte ich Mühe, zu Wort zu kommen“, berichtete unser Verhörspezialist. „Hassani hatte eine Batterie von Anwälten dabei, die jede Nuance auf die Goldwaage gelegt haben.“
„Diesmal kann Herr Hassani so gute Anwälte haben wie er will – das wird ihm auch nichts nützen“, war Kriminaldirektor Hoch zuversichtlich.
„Die Beweislage gegen ihn ist erdrückend“, stimmte Stefan zu. „Er wird sich nicht herauswinden können.“
„Ich wette, es läuft in ein paar Tagen auf einen Deal hinaus“, glaubte Ollie.
„Das glaube ich kaum“, widersprach Kriminaldirektor Hoch. „Dafür müsste er der Staatsanwaltschaft schon etwas anbieten können und ehrlich gesagt, sehe ich da im Moment nichts.“
Manuel Schneyder zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, was die Anwälte von Herrn Hassani da noch so aus dem Hut zaubern. Daher sollten wir den Tag nicht vor dem Abend loben.“
„Was jetzt kommt, liegt nicht in unserem Zuständigkeitsbereich“, stellte Kriminaldirektor Hoch klar. „Das müssen wir nehmen, wie es kommt. Aber Ihnen und allen anderen Kollegen, die an diesem Einsatz beteiligt gewesen sind, möchte ich meine Anerkennung für die gute Arbeit aussprechen. Sie haben getan, was erforderlich war, um diesen Verbrecher endlich dingfest zu machen.“ Kriminaldirektor Hoch machte ein ernstes Gesicht. Seine Hände verschwanden in den weiten Taschen seiner Flanellhose. Dann wandte er sich an Manuel. „Sie sind für heute entlassen. Schlafen Sie sich gut aus.“
„Das werde ich“, versprach Manuel und trank seinen Kaffee aus.
„Das Verhör heute Nacht wird sicherlich nicht das letzte Gespräch sein, bei dem Sie sich mit Herrn Hassanis Anwälten herumärgern müssen, Manuel. Dafür müssen Sie fit und erholt sein.“
„Ja.“
Bevor Kriminaldirektor Hoch dann fortfuhr, wartete er noch ab, bis Manuel Schneyder das Besprechungszimmer verlassen hatte.
„Sagt einem von Ihnen der Name ALGO-CYBERMAFIA CLUB etwas?“, erkundigte sich unser Chef anschließend mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich dachte an den seltsamen Hinweis des alten Mannes…
Und natürlich hatte ich mich damit beschäftigt.
Ohne konkretes Ergebnis allerdings.
Zumindest gab es keinerlei Zusammenhang zu irgendeinem Mann mit Seidenkrawatte, der mutmaßlich die Zeugin eines Gesprächs hatte ausschalten lassen.
Und da der alte Mann und Butter anscheinend abgetaucht waren, konnte man sie auch nicht fragen.
Leider.
„Waren das nicht diese Witzbolde, die vor einem Dreivierteljahr die Website des BKA gekapert haben?“, sagte ich.
„Richtig“, nickte Kriminaldirektor Hoch. „An die unangenehmen Einzelheiten möchte ich an an dieser Stelle nicht erinnert werden.“
Es war beileibe nicht die erste Hacker-Attacke dieser Art gewesen. Im Verlaufe der Jahre war es immer wieder Unbefugten gelungen, die Websites von Regierung, Behörde und Polizei zu infiltrieren.
Der Angriff des sogenannten ALGO-CYBERMAFIA CLUB würde für uns alle allerdings wohl unvergesslich bleiben und für Kriminaldirektor Hoch galt das ganz besonders. Schließlich war es sein Gesicht gewesen, das die Hacker in die Fahndungsdossiers von gesuchten Schwerverbrechern eingearbeitet hatten. Kriminaldirektor Hoch war es bis heute unangenehm, auf diesen Vorfall angesprochen zu werden. Erst nach drei Tagen war es Cyber-Spezialisten des BKA gelungen, das eigene Computersystem wieder unter Kontrolle zu bekommen und die Bilder auszutauschen.
Es war nicht einmal möglich gewesen, die BKA-Website abzuschalten. Auch dafür hatten die Mitglieder des ALGO-CYBERMAFIA CLUBS gesorgt.
Bis heute war es nicht möglich gewesen, alle Mitglieder dieser Vereinigung aufzuspüren und vor Gericht zu stellen. Und von einigen bekannten Mitgliedern wusste man zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass sie an der Sache beteiligt gewesen waren, aber es mangelte an gerichtsverwertbaren Beweisen. Auch in dieser Hinsicht waren die Hacker nämlich außerordentlich geschickt vorgegangen.
Immerhin waren einige der Täter verurteilt worden.
Aber die Tatsache, dass nicht alle der daran beteiligten Angreifer aus dem Cyberspace einwandfrei identifiziert waren, sorgte bei einigen unserer Innendienstler bis heute für Unbehagen.
„Ich hoffe nicht, dass wir es wieder mit einer Attacke dieser Gruppe zu tun bekommen“, meinte Rudi.
„Ganz im Gegenteil“, erläuterte Kriminaldirektor Hoch. „Diesmal wendet sich jemand aus dem Umfeld dieser Vereinigung an uns und bittet um unseren Schutz. Es handelt sich um Melanie Morkowski. Sie ist die Schwester von Christoph Morkowski, der im ALGO-CYBERMAFIA CLUB eine gewisse Führungsrolle spielt. Sie will ein Treffen unter konspirativen Bedingungen.“ Kriminaldirektor Hoch wandte sich an Rudi und mich. „Sie beide, Harry und Rudi, werden sich heute Nachmittag zu einer Adresse begeben, die ich Ihnen gleich noch mitteile. Dort werden Sie sich mit Melanie Morkowski treffen.“
Ich atmete tief durch.
„Haben Sie irgendeine Ahnung, was sie von uns will?“, fragte ich.
„Nein.”
„Schade.”
„Der Informant, über den sie Kontakt mit uns gesucht hat, meinte allerdings, es könnte sich um eine Sache handeln, die die nationale Sicherheit Deutschlands betrifft. Und da Melanie Morkowski nun einmal die Schwester eines Mitglieds des ALGO-CYBERMAFIA Clubs ist, glaube ich das sofort.“
„Wir habe Erkenntnisse aus anderen Quellen, dass es in der Vergangenheit bereits Versuche von ausländischen Geheimdiensten und terroristischen Gruppen gegeben hat, die Hacker des ALGO-CYBERMAFIA Clubs für sich einzuspannen“, ergriff Walter Stein das Wort. „Wir wissen doch alle: Der Krieg der Zukunft wird mit Computern ausgefochten. Man zerstört die Infrastruktur des Gegners, indem man in die Computersysteme der Energieversorgung oder wichtiger Industrieanlagen und Behörden einfach lahmlegt und man schaltet damit unter Umständen ein ganzes Land aus, ohne eine einzige Rakete abgefeuert zu haben.“
„Das Schlimme an solchen Angriffen ist, dass sie leider von nahezu jedem ausgeführt werden können, der über die nötigen Kenntnisse verfügt“, sagte Kriminaldirektor Hoch. „Oder man bezahlt jemanden, der diese Kenntnisse hat, das läuft auf dasselbe hinaus.“ Unser Chef wandte sich an Stefan und Ollie. „Ich möchte, dass sämtliche Informanten, die wir zurzeit in der Hacker-Szene haben, abgeschöpft und die Informationen zusammengetragen und ausgewertet werden.“
„Bis jetzt gibt es da kaum Konkretes“, bekannte Stefan.