Commissaire Marquanteur
und der Würger von Marseille: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Drogendealer werden in der südfranzösischen Stadt Marseille
auf eine schon fast rituelle Art getötet, jeder bekommt eine
Henkerschlinge um den Hals, geknüpft aus einem Springseil. Ein
Kampf zwischen zwei Drogenbanden? So sieht es aus, doch wer gegen
wen? Denn auf beiden Seiten gibt es Opfer? Mischt noch eine dritte
Gruppe mit? Commissaire Marquanteur und die Kriminalpolizei von
Marseille stehen vor einem Rätsel.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Jack Raymond, Jonas Herlin, Dave Branford, Chris Heller, Henry
Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Cassiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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1
Ein ziemlich frischer Wind wehte über die Hafengegend von
Marseille. François und ich genehmigten uns an einer Bude ein
Krabbencroissant.
Mein Name ist Pierre Marquanteur. Ich bin Commissaire und
zusammen mit meinem Kollegen François Leroc bei der Force spéciale
de la police criminelle, kurz FoPoCri, einer in Marseille
angesiedelten Spezialabteilung gegen das organisierte
Verbrechen.
»Wie ist dein Croissant?«, fragte François.
»Gut.«
»Ich finde, es ist ein bisschen zu viel Creme fraiche
drauf.«
»Und zu wenig Krabben?«
»Ja.«
»Wie immer.«
»Das alte Problem.«
»Das wirst du den Krabbencroissantmachern nicht mehr
abgewöhnen können, François.«
»Ich weiß.«
»Hat also keinen Sinn, sich darüber zu beklagen.«
»Aber man wird es ja wohl noch sagen dürfen, oder?«
»Sicher.«
Mir fiel ein Seil auf.
Ein Springseil, mit Griffen an den Enden.
Es lag in einer Pfütze.
Irgendjemand hatte es hier zurückgelassen.
Vielleicht spielende Kinder?
Allerdings war es schon eine Weile her, dass ich Kinder mit
einem Springseil hatte spielen sehen. Heute gab es Smartphones und
Computerspiele. Wer brauchte da ein Springseil? Aber vielleicht war
ich da auch einfach nicht auf dem aktuellen Stand der Dinge – als
Alleinstehender ohne Familienanhang.
»Hat sicher ein Jogger verloren«, meinte mein Kollege François
Leroc, der das Seil auch gesehen hatte. »Eine Strecke laufen, dann
ein paar Einheiten mit dem Springseil und anschließend wieder
laufen. Soll viel bringen.«
»Klingt anstrengend.«
»Gehört zu einem guten Boxtraining.«
»Und wo lässt man das Seil beim Laufen?«
»Dafür gibt’s Gürteltaschen, Pierre.«
»Glücklicherweise müssen wir nicht ermitteln, wie dieses Seil
hierherkommt«, sagte ich und stopfte den letzten Rest vom
Krabbencroissant in meinen Mund. Egal, was François jetzt sagte –
meine Antwort musste ein paar Momente warten. Momente, die ich zum
Kauen brauchte.
»Kann man nicht abschalten, diesen Ermittlungsreflex«, sagte
François.
»Hm«, sagte ich und schluckte runter.
»Also das Springseil – ich tippe auf die Boxschule zwei
Straßen weiter«, sagte François.
»Und ich auf spielende Kinder«, gab ich zurück.
»Hör mal, Pierre!«, gab François kopfschüttelnd zurück.
Ich hob die Augenbrauen. »Was ist?«
»In welchem Zeitalter bist du denn stehengeblieben,
Pierre?«
»Wieso?«
»Kinder spielen doch heute nicht mehr mit einem
Springseil.«
»Nicht?«
»Schon lange nicht mehr, Pierre. Das war vielleicht in deiner
Kindheit so, aber seitdem hat sich ein bisschen geändert.«
»Kennst du überhaupt irgendwelche Kinder – ich meine
persönlich und aus deinem Umfeld?«
François schüttelte den Kopf. »Nö.«
Er war Single wie ich. Und er machte genau wie ich einen
Fulltime-Job, der für Privates wenig Zeit ließ. Familienleben
vertrug sich damit nicht wirklich.
»Wie willst du das dann so pauschal ausschließen, François?«,
fragte ich ihn zurück.
Mein Kollege sah mich ziemlich erstaunt an.
*
Georges Rennie stellte sein Cabriolet an den Straßenrand und
stieg aus. Er nahm die Sonnenbrille ab und blickte sich um. Eine
Rolex blitzte am Handgelenk auf. Der dunkle Ledermantel reichte bis
zum Boden. Die Häuserzeile in der Straße wirkte wie ausgestorben.
Eine Mülltonne war umgeworfen worden. Der Inhalt lag zur Hälfte auf
dem Boden. Einige Fahrzeuge standen am Straßenrand. Bei manchen
fehlten Reifen.
Rennie blickte auf die Uhr.
Komm schon, lass dir nicht so viel Zeit!, dachte er.
Plötzlich hörte Rennie ein Stöhnen. Augenblicklich war er
alarmiert und hatte die Hand an der Waffe, die er im Hosenbund
trug. Ein Mann taumelte aus einem der Hauseingänge hervor. Sein
Gesicht war blutüberströmt. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur
unverständliche Laute hervor und strauchelte zu Boden. Georges
Rennie riss die die Waffe hervor.
Von allen Seiten tauchten nun plötzlich in Leder gekleidete,
bewaffnete Gestalten auf. Automatische Pistolen, Baseballschläger,
Schlagringe und sogar MPs gab es bei ihnen. Das ratschende Geräusch
eines durchgeladenen Pump Action-Gewehrs ließ Rennie herumwirbeln.
Ein Mann mit gelockten Haaren und kantigem Gesicht grinste
schief.
»Wer nicht hören will, muss fühlen, Georges!«
»Antoine!«, stieß Rennie hervor. Seine Augen waren
schreckgeweitet. Er riss die Waffe hoch, aber noch ehe er abdrücken
konnte, hatte sein Gegenüber gefeuert. Rennie machte drei taumelnde
Schritte zurück und rutschte am Kotflügel seines Cabriolets zu
Boden.
2
Die in Leder Gekleideten kamen näher heran.
»Schön, dass du mich noch wiedererkennst«, sagte Antoine und
verzog dabei das Gesicht.
Er war zweifellos der Anführer der Gruppe.
Rennies rechter Arm, mit dem er die Waffe hielt, gehorchte ihm
nicht mehr. Mit der Linken versuchte er die Blutung an der Schulter
zu stoppen. Aber das war aussichtslos. Rot rann es ihm zwischen den
Fingern hindurch. Rennie atmete flach. Sein Gesicht war zu einer
Maske des Schmerzes geworden.
Antoine nahm ihm die Waffe ab.
»Kaliber fünfundvierzig – eine viel zu wuchtige Waffe für ein
Spielkind wie dich!«
»Antoine, ich …«
»Halt ja das Maul!« Antoine erhob sich und warf einem seiner
Leute die 45er zu. »Stellt ihn auf die Füße!«, befahl er
anschließend.
Zwei seiner Männer packten Georges Rennie grob und rissen ihn
hoch.
Antoine spuckte verächtlich aus.
Dann stieß mit dem Lauf seines Pump Action-Gewehres gegen
Rennies verletzte Schulter, so dass dieser vor Schmerzen
aufstöhnte. Antoine grinste.
»Wieso plötzlich so sensibel, Georges?« Er tätschelte Rennie
in gespielter Gönnerhaftigkeit die Wange. »Weißt du, Georges, du
hast mich auch verletzt. Nicht körperlich, aber …« Er zog die Hand
zurück, ballte sie zu Faust und drückte sie auf die linke Brust.
»Hier drinnen, verstehst du? Ich habe gedacht, du würdest mein Wort
respektieren. Ich dachte, du hättest begriffen, dass du hier nichts
mehr zu suchen hast und ausschließlich wir in diesen Gebieten die
Geschäfte abwickeln. Aber du scheinst mich nicht ernst genommen zu
haben, und das trifft mich tief.«
Rennie schluckte. Er zitterte leicht.
»Antoine, wir können doch reden!«
Antoines Faust sauste Georges Rennie mitten ins Gesicht. Er
musste festgehalten werden, um nicht zu Boden zu rutschen. Rennies
Mund wurde zu einer blutigen Höhle, der sich ein schmerzvolles
Stöhnen entrang. Antoine grinste zynisch.
»Reden?« Er lachte heiser. »Du wohl kaum noch, Georges!«
Die anderen lachten heiser.
3
Inzwischen hatten zwei von Antoines Leuten den verletzten
Mann, der Georges Rennie aus einem der Hauseingänge
entgegengetaumelt war, grob an den Schultern gepackt. Der Mann trug
einen Parka mit der Aufschrift ADVENTURER an Brust und Schulter.
Die Aufschrift in Brusthöhe konnte man kaum noch lesen, denn der
Parka war über und über mit Blut besudelt. Das Gesicht war eine
einzige Wunde, die Augen so stark angeschwollen, dass er kaum noch
sehen konnte. Mit dem rechten Bein konnte er offenbar nicht mehr
auftreten, und der linke Arm hing schlaff von der Schulter. Er
zitterte. Die blauen Augen flackerten unruhig. Es war offenkundig,
dass er äußerst brutal verprügelt worden war.
»Was sollen wir mit dem Kerl machen?«, fragte einer der
Männer, die ihn an den Armen hielten.
Antoine grinste schief.
»Du bist doch hier gewesen, um deinen Stoff zu kaufen, nicht
wahr?«, sprach er den Mann mit der Adventurer-Jacke an. Dieser war
jedoch unfähig, etwas sagen. Antoine deutete auf Rennie.
»Durchsucht ihn nach Stoff – und dann stopft das Zeug seinem Kunden
ins Maul! Der Kunde ist doch König und sollte bekommen, was er
wollte!«
Gelächter brandete auf.
Ziemlich grob durchsuchten Antoines Männer Georges Rennie und
förderten einiges an Crack zu Tage. Das mit Backpulver verkochte
Kokain lag in würfelförmigen Stücken vor – Steine genannt. Rennie
hatte jeweils fünf davon in Cellophan eingepackt. Vier solcher
Päckchen trug er in den Taschen. Daneben tauchten noch einige
Briefchen reines Kokain auf.
Der Mann mit der Adventurer-Jacke wurde festgehalten. Jemand
hielt ihm die Nase zu, damit er den Mund öffnete, aus dem Blut
rann. Antoine stopfte dem Kerl eigenhändig einen Crack-Würfel nach
dem anderen in den Mund, bis nichts mehr hineinpasste. Der
Adventurer musste würgen, röchelte, spuckte die Würfel wieder
aus.
»Lasst ihn los!«, befahl Antoine. Dann wandte er sich an den
Adventurer-Mann. »Du weißt in Zukunft, wo du die Steine kaufst,
klar?«
Der Angesprochene stieß nur einen unartikulierten Laut
hervor.
»Betrachte alles, was du noch im Mund hast als Probelieferung
und verschwinde! Aber sollten wir dich je wieder dabei erwischen,
wie du dein Crack bei jemand anderem als bei uns kaufst, dann
kommst du nicht mehr so preiswert davon. Verstanden?«
»Er kann doch nichts sagen, Antoine! Schließlich hat er die
Schnauze voll!«, lachte eines der Gangmitglieder, die Rennie
festhielten.
»Verschwinde!«, zischte Antoine.
Seine Leute ließen den Mann mit der Adventurer-Jacke los. Er
wankte davon, zog das Bein dabei nach. Wenig später verschwand er
in einem Hauseingang.
Jetzt wandte sich Antoine an Georges Rennie.
»Du kommst allerdings nicht so leicht davon!« Er machte seinen
Leuten ein Zeichen, woraufhin sie Rennie losließen. Antoine lud die
Pumpgun durch. »Hör zu, ich gebe dir fünf Minuten Vorsprung! Lauf,
so schnell du kannst – und falls wir dich einholen und noch in
unserem Gebiet erwischen, hast du heute zum letzten Mal deine
Steine angeboten!«
4
Georges Rennie hetzte die Straße entlang, bog in eine enge
Gasse, die zwischen zwei Häusern geblieben war und gelangte in
einen Hinterhof. Ein Stapel alter Autoreifen und mehrere
ausgeschlachtete Pkw-Wracks waren hier zu finden. Viele der Fenster
in den umliegenden Häusern waren zerschlagen. Manche mit Brettern
vernagelt. Ein paar Obdachlose wärmten sich an einem Feuer.
»Hey, was ist denn mit dem da?«, rief einer von ihnen.
Rennie nahm die heisere Stimme nur wie aus weiter Ferne war.
Ihm war schwindelig. Der Puls raste. Schweißperlen glänzten auf
Georges Rennies Stirn. Er hetzte weiter. Er wusste in Pointe-Rouge
Bescheid. Rennie war hier aufgewachsen und kannte jeden
Schleichweg.
Seine Schulter schmerzte höllisch – ebenso wie sein
Unterkiefer.
Georges Rennie war kaum noch in der Lage, einen klaren
Gedanken zu fassen. Immer wieder hinterließ er Blutspuren auf dem
Asphalt. Schließlich erreichte er die Ausfahrt des Hinterhofs und
gelangte in eine Seitenstraße. Er überquerte sie. Auf der anderen
Seite befand sich eine stillgelegte Lagerhalle. Das Grundstück war
mit einem hohen Maschendrahtzaun umgeben. Es gab jedoch mehrere
Stellen, an denen der Draht aufgeschnitten und zur Seite gebogen
worden war. Rennie zwängte sich durch eines der Löcher. Er verfing
sich mit seiner Kleidung im Draht.
Den Wagen, der am Straßenrand hielt, bemerkte er zunächst
nicht. Die Tür wurde geöffnet, jemand stieg aus. Die Schritte auf
dem Asphalt waren fast lautlos.
Rennie drehte sich herum und zuckte förmlich zusammen.
Zweimal ertönte ein Geräusch, das wie ein heftiges Niesen
klang. Eine Pistole mit Schalldämpfer. Die Projektile trafen
Georges Rennie in der Brust und im Kopf.
Mit starren, toten Augen sackte er in sich zusammen.
5
Der Tatort war mit Flatterband abgesperrt worden. Kein Mensch
konnte genau sagen, wie die Straße hieß, denn irgendwelche
Witzbolde hatten sich einen Spaß daraus gemacht, die Schilder
abzumontieren. Laut der letzten Version des Stadtplans handelte
sich um die Rue Catalane.
Mein Kollege François Leroc und ich befanden uns in einer der
übelsten Gegenden in Pointe-Rouge. Die Polizei traute sich nur mit
angelegten Kevlar-Westen hierher. Dementsprechend waren diesmal
auch ungewöhnlich viele Sicherheitskräfte an dem Einsatz beteiligt,
bei dem es eigentlich nur darum ging, den Tatort vor dem Betreten
Unbefugter zu schützen.
Ich parkte den Sportwagen bei den anderen Einsatzfahrzeugen.
Abgesehen von den Einsatzkräften der Polizei waren auch bereits die
Kollegen des Erkennungsdienstes und der Mordkommission des
zuständigen Polizeireviers vor Ort.
Dr. Bernard Neuville von der Gerichtsmedizin traf gerade ein.
Wir warteten auf ihn, und er begrüßte uns freundlich.
»Haben Sie schon eine Ahnung, was uns hier erwartet, Monsieur
Marquanteur?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Wir kommen von einer Zeugenvernehmung in Altona und waren
gerade in der Nähe, als uns der Anruf aus der Zentrale erreichte«,
berichtete ich. »Das Opfer ist ein Drogendealer und hat einen
Strick um den Hals. Damit gehört er vermutlich in die Serie, mit
der wir gerade zu tun haben.«
»Drei ähnliche Fälle in vier Wochen«, ergänzte François. »Da
will einer die Szene ganz gehörig aufräumen.«
Ein uniformierter Kollege hielt uns an. Wir zeigten ihm unsere
Dienstausweise.
»Commissaire Alexandre wartet schon auf Sie!«, sagte der
Polizist.
Wir erreichten schließlich den Tatort.
Ein Toter lag auf dem Bürgersteig. Zwei Schusswunden in Kopf
und auf der Brust waren unübersehbar. Außerdem gab es noch eine
Wunde an der Schulter, die sehr viel größer war und sehr stark
geblutet haben musste. Darüber hinaus hatte der Tote allerdings
noch weitere Verletzungen. Man hatte ihm brutal die Zähne
eingeschlagen.
Commissaire Hercule Alexandre von der Mordkommission des
zuständigen Reviers war gerade in ein Gespräch mit einer
Mitarbeiterin des Erkennungsdienstes verwickelt, die sofort durch
die weißen Schutzoveralls auffielen.
»Zwei Hülsen lagen hier herum«, sagte die Kollegin. Sie hieß
Sandra Catteau. Ich kannte sie flüchtig von anderen Tatorten.
»Alles spricht dafür, dass der Mord mit einer Waffe verübt wurde,
mit der Projektile vom Kaliber neun Millimeter verschossen
werden.«
Commissaire Alexandre drehte sich zu uns herum. Wir grüßten
knapp.
»Ich habe Sie sofort rufen lassen, denn ich nehme an, dass
dieser Mord etwa mit Ihrer Serie zu tun hat.«
Ich blickte auf den Toten. Er trug einen bis zu den Knöcheln
reichenden Ledermantel. Die Augen starrten ins Nichts. Ein
fingerdickes Seil hing ihm locker um den Hals. Es war zur Schlinge
geknüpft – wie bei einem Galgen.
»Der Mann hieß Georges Noel Rennie«, berichtete Commissaire
Alexandre. »Er trug einen Führerschein bei sich. Laut Computer ist
er mehrfach wegen Drogendelikten, Körperverletzung, Hehlerei und
ähnlichem verurteilt worden und hat ein paar Jahre im Gefängnis
verbracht.«
»Ein Drogendealer, dem symbolisch ein Strick um den Hals
gelegt wurde«, sagte François. »Da scheint es jemand auf die
kleinen Crack-Verteiler abgesehen zu haben.«
Commissaire Alexandre deutete auf die Straße.
»Hier soll angeblich die Grenze zum Gebiet der Gang namens Les
Araignées (“die Spinnen”) sein. Zumindest, wenn man unseren
Informanten Glauben schenkt.«
Die Araignées waren eine Drogengang, die sowohl uns, als auch
den Kollegen des örtlichen Polizeireviers und dem Drogendezernat
zunehmend Sorgen bereitete. Sie hatten ihr Gebiet innerhalb eines
Jahres verdreifacht und wir vermuteten, dass sie von einem der
großen Syndikate als Verteiler eingesetzt wurden.
»Ich nehme an, dass da irgendeine große Nummer im Hintergrund
das Verteilersystem für Drogen unter seine Kontrolle bringen will«,
glaubte Commissaire Alexandre. »Aber das herauszufinden ist Gott
sei Dank nicht mein Job, sondern Ihrer.«
»Hatte Rennie Drogen bei sich?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Alexandre.
Inzwischen nahm Dr. Bernard Neuville seine Erstuntersuchung
des Toten vor.
»Drei Schusswunden«, erklärte er. »Tödlich war der Treffer im
Kopf, vielleicht auch der Schuss in die Brust. Das kann ich aber
erst nach der Obduktion sagen.«
Nur das Projektil im Kopf befand sich noch im Körper, da es
keine Austrittswunde gab. Das Projektil, das durch die Brust
gegangen war, steckte im Asphalt und wurde von Sandra Catteau
eingesammelt. Aber die Kugel, die Georges Rennie durch die Schulter
gefahren war, fehlte.
So sehr die Kollegen des Erkennungsdienstes auch in
unmittelbarer Nähe danach suchten, sie tauchte einfach nicht auf.
»Eigentlich ist das nur so zu erklären, dass diese Verletzung
nicht hier erfolgte«, stellte Sandra Catteau klar. »Außerdem bin
ich mir ganz sicher, dass es ein größeres Kaliber gewesen ist.«
»Dann wurde Rennie angeschossen, flüchtete hierher und wurde,
kurz bevor er das Gebiet der Araignées verlassen konnte, von zwei
weiteren Kugeln aus einer anderen Waffe niedergestreckt«, fasste
François den vermuteten Tathergang zusammen.
Commissaire Alexandre zeigte uns noch, was man bei dem Toten
gefunden hatte: Ein Handy, ein Notizbuch und eine Brieftasche mit
insgesamt 5000 Euro, mehreren Kreditkarten und einem Führerschein.
Daneben gab es auch eine Visitenkarte einer Hilfsorganisation für
Drogenabhängige. AIDE nannte sich die.
»War Rennie selbst süchtig?«, fragte ich, an Dr. Neuville
gewandt.
»Definitiv kann ich das erst nach der Obduktion sagen«,
lautete die Antwort des Gerichtsmediziners. »Allerdings muss er
zumindest gekokst haben. Die Nasenschleimhäute sind völlig
ruiniert.«
»Die meisten Kleindealer sind selbst mehr oder minder schwer
abhängig«, meinte Commissaire Alexandre. »Auf diese Weise fangen
die meisten mit diesem Teufelsbusiness an. Ein bisschen Stoff für
einen Kumpel kaufen und etwas mehr nehmen, als man selbst bezahlt
hat …«
Außerdem fand sich noch ein Schlüsselbund in seiner
Hosentasche. Das Notizbuch enthielt Abkürzungen und Zahlen.
»Vielleicht die Telefonnummern seiner Kunden?«, vermutete
François.
»Mit etwas Glück vielleicht die seines Lieferanten.«
Ein Handy klingelte mit der Melodie von Take Five. Es war
Commissaire Alexandres Apparat. Er sagte dreimal knapp: »Ja!« Dann
beendete er das Gespräch und wandte sich an mich. »Auf Monsieur
Rennies Namen ist ein Cabriolet zugelassen. Kollegen haben den
Wagen ein paar Straßen weiter gefunden.«
»Ich schlage vor, wir sehen uns den auch mal an«, sagte
François.
Ich hatte nichts dagegen einzuwenden.
6
Die Straße, in der das Cabriolet gefunden worden war, hatten
wir schnell erreicht. Uns fiel gleich der Einsatzwagen der Polizei
auf. Er stand mit seinen leuchtenden Blaulichtern am Straßenrand.
Zwei Uniformierte durchsuchten gerade einen jungen Mann,
höchstens Mitte zwanzig.
Ich fuhr den Sportwagen an den Straßenrand. Wir stiegen aus.
François deutete auf die Reihe der auf der gegenüberliegenden
Straße abgestellten Fahrzeuge, denen zum Teil die Reifen abmontiert
worden waren.
»Hier lässt man besser seinen Wagen nicht länger stehen als
unbedingt nötig, was?«
»Selbst, wenn die Polizei daneben steht«, nickte ich.
»Wenn Georges Noel Rennie seinen Wagen hier stehen ließ, hat
die Tragödie, die zu seinem Tod führte, vermutlich auch hier
begonnen.«
»Er bekam einen Schuss ab, flüchtete, wurde verfolgt und bekam
dort, wo er gefunden wurde, den Rest.«
»Es sind zwei gewesen, Pierre. Zwei Waffen – und daher wohl
vermutlich auch zwei Personen.«
Wir erreichten das Cabriolet. Unsere Vermutung bestätigte
sich. Einer der Kotflügel war blutbesudelt. Der Wagen musste
unbedingt von den Kollegen des Erkennungsdienstes unter die Lupe
genommen werden.
»Hey, nichts anrühren!«, rief uns einer der Polizisten zu.
Ich ging auf ihn zu und hielt ihm meinen Ausweis entgegen.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri. Dies ist mein Kollege François
Leroc.«
»Entschuldigen Sie«, erwiderte der Polizist, ein groß
gewachsener, breitschultriger Mann mit rötlichem Haar. »Ich bin
Inspecteur Saby und mein Kollege hier ist Inspecteur Aubertin.
Commissaire Alexandre hat uns gebeten, in der Gegend nach dem Wagen
von diesem Rennie zu suchen. Hier ist er! Und der Kerl hier hat
sich daran zu schaffen gemacht.«
Der junge, lockenköpfige Mann stand breitbeinig an der Wand,
während Inspecteur Aubertin ihn abtastete. Ein Schlagring, ein
Springmesser und ein langläufiger Revolver vom Kaliber 45 kamen zum
Vorschein. Der Revolver glänzte metallisch und war offenbar auf
Hochglanz poliert. Der Griff war aus Perlmutt und wies ein paar
charakteristische Verzierungen auf. Unter anderem war der Kopf
eines Cowboys zu sehen.
»Sehr geschmackvoll«, meinte François. Er nahm Inspecteur
Aubertin die Waffe ab und tütete sie in Cellophan ein.
»Das könnte die Waffe sein, aus der Rennie zum ersten Mal
getroffen wurde«, schloss ich.
Inzwischen war auch ein Führerschein sichergestellt worden.
Ich sah mir das Dokument an. Das Gültigkeitsdatum war ziemlich
plump gefälscht. Der junge Mann hieß Jean-Michel Somme, und er
wohnte nur ein paar Blocks weiter.
Handschellen klickten.
Ich trat näher an ihn heran.
»Wissen Sie, wessen Cabriolet das ist?«
»Keine Ahnung!«
»Sie brauchen nichts zu sagen, aber wenn Sie sich dazu
entschließen auszusagen, kann alles vor Gericht gegen Sie verwendet
werden«, belehrte ihn François.
Inspecteur Aubertin packte den Gefangenen bei den Schultern
und drehte ihn herum. Er lehnte gegen die Wand.
»Ich hatte ihn bereits rechtlich belehrt, Monsieur Leroc. Aber
einmal mehr kann ja kaum schaden.«
»Für meine Begriffe sah das so aus, als wollte er den Wagen
kurzschließen«, sagte Inspecteur Meier.
»Ihr Bullen könnt mich mal kreuzweise!«, rief er.
»Wir suchen den Schützen, der auf den Besitzer des Cabriolets
geschossen hat«, erklärte ich ihm. »Aus Ihrer Waffe wurde vor
Kurzem noch geschossen, das kann man riechen. Wenn wir Sie mit zur
Dienststelle nehmen, kann man an Ihren Händen nach Schmauchspuren
suchen und einwandfrei feststellen, ob Sie innerhalb der letzten
Tage eine Waffe benutzt haben.«
»Ja, ich habe mit der Waffe geschossen, und ich weiß auch,
dass das öffentliche Tragen von Schusswaffen in Marseille nicht
gestattet ist. Aber – verdammt noch mal – mit dem Mord an diesem
Typen habe ich nichts zu tun!«
»Wahrscheinlich haben Sie ihn nur verletzt, aber ein paar
Straßen weiter hat ihm jemand den Rest gegeben«, sagte ich. »Der
Kerl hieß Georges Noel Rennie. Er hat mit Drogen gedealt. Kennen
Sie ihn?«
»Nein.«
»Jetzt machen Sie schon den Mund auf! Kooperation kann man das
bis jetzt wirklich nicht nennen!«
»Verdammt!«
»Na los!«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Was interessiert mich dieser Mist, ich wollte nur den Wagen
haben. Aber das verdammte Ding hat irgend so eine Sicherheitssperre
oder etwas in der Art. Das kann man nicht einfach kurzschließen.«
Er atmete tief durch.
»Rennie hatte ein Buch mit vielen Nummern darin. Wenn Sie sein
Kunde waren, dann sagen Sie uns das besser jetzt!«, verlangte
ich.
»Ich war nicht sein Kunde!«
Ich ließ nicht locker.
»Was war los? Hat es Streit gegeben wegen einer Lieferung?
Enthielten die Crack-Steine nur noch Backpulver und kaum noch
Kokain?«
»Das ist doch Unsinn, Mann!«
»Oder ist Rennie einfach nur in ein Gebiet eingedrungen, in
dem er keinen Zutritt hatte?«
»Verdammt, hast du keine Ohren, Bulle? Ich habe den Typen
nicht gekillt! So wahr ich hier stehe!«
»Haben Sie irgendetwas gesehen?«
Auf einmal starrte der Lockenkopf mit vor Schreck geweiteten
Augen an mir vorbei. Die Pupillen waren ziemlich stark vergrößert.
Ein Indiz dafür, dass er irgendetwas genommen hatte.
»Nein!«, schrie er.
Im nächsten Moment peitschten Schüsse. Der erste traf
Jean-Michel Somme mitten in den Kopf. Er taumelte zurück, schwankte
kurz und ging dann wie ein gefällter Baum zu Boden.
Inspecteur Aubertin griff zur Waffe an der Hüfte, aber er kam
nicht mehr dazu, die Dienstwaffe aus dem Holster zu reißen. Eine
Kugel traf ihn in die Brust, riss das Hemd auf und blieb in der
Kevlar-Weste hängen. Er wurde zu Boden gerissen. Der zweite Schuss
traf ihn am Hals. Blut trat aus. Er versuchte, die Blutung mit der
Hand zu stoppen. Vergeblich! Das Blut rann ihm zwischen den Fingern
hindurch. Er sank zu Boden. François und ich gingen in Deckung,
während wir unsere Dienstwaffen zogen und auf jenes Fenster im
fünften Stock schossen, aus dem man auf uns angelegt hatte. Ein
Schattenriss war dort an einem offenen Fenster zu sehen. Der
Gewehrlauf mit dem aufgesetzten Schalldämpfer reichte ziemlich weit
hinaus.
»Kümmern Sie sich um Inspecteur Aubertin!«, wandte ich mich an
Meier.
François und ich schnellten aus unsere Deckung. Wir rannten
schräg über die Straße und näherten uns jenem Gebäude, aus dem die
Schüsse abgegeben worden waren.
Die Haustür war ausgehängt. Der Flur mit Graffiti besprüht.
Ein Mann saß in sich zusammengesunken in einer Ecke. Seine Augen
waren geschlossen. Ein Spritzbesteck lag auf dem Boden verstreut.
Er atmete ruhig und regelmäßig. In der Lunge rasselte es dabei
erschreckend geräuschvoll.
»Haben Sie hier jemanden gesehen?«, fragte François. Er musste
seine Frage noch einmal wiederholen, damit sein Gegenüber sie
überhaupt zur Kenntnis nahm.
Der Mann riss die Augen auf, sah meinen Kollegen an und
schloss sie sofort wieder. Es hatte keinen Sinn, ihn
anzusprechen.
Wir erreichten den Lift, aber dort gab es nichts weiter als
leere Schächte. Außerdem stellten wir fest, dass zumindest im
Erdgeschoss sämtliche Türen ausgehängt worden waren. Ich
bezweifelte, ob hier überhaupt noch jemand wohnte – von den Ratten,
die ab und zu über den Flur huschten mal ganz abgesehen.
Wir nahmen das Treppenhaus, pirschten uns Absatz für Absatz
nach oben. Dabei hielten wir uns immer schön außen, weil man nur
von dort einigermaßen die Übersicht behalten kann. Mit der Waffe im
Anschlag arbeiteten wir uns voran. Wenn der Schütze, der den jungen
Mann namens Jean-Michel Somme auf dem Gewissen hatte, sich noch im
Haus befand und verschwinden wollte, musste er uns eigentlich
entgegen kommen.
Beinahe lautlos brachten wir die Treppen bis zum fünften Stock
hinter uns.
Ein Luftzug wehte durch das gesamte Gebäude. Es musste
Dutzende von Fenstern hier geben, die seit einem Jahr oder länger
ohne Glas waren. Die Wände waren kahl, der Putz blätterte ab.
Wir schlichen durch einen langen, breiten Korridor. Rechts und
links schlossen sich die Wohnungen an. Auch hier waren überall die
Türen ausgehängt worden. Offenbar hatte man alles aus dem Haus
geholt, was noch irgendwie Wert besaß.
Ein Geräusch ließ uns aufhorchen. Ich rannte diesem Geräusch
nach bis ans Ende des Korridors. François folgte mir. Ein großer
Raum von mindestens zwanzig Quadratmetern lag vor uns. Ich war mit
ein paar Sätzen bei der Fensterfront. In etwa der Hälfte der
Fenster war noch Glas.
Ein Schuss zischte in eines der Fenster hinein und zerstörte
es vollkommen.
Ich duckte mich, als ich draußen Schritte hörte. Mit beiden
Händen fasste ich die Waffe und tauchte aus meiner Deckung hervor.
Ein Mann mit Lederjacke und Piratentuch rannte über das Flachdach
des angrenzenden Nachbarhauses davon. THE HELL’S FINEST stand in
verschnörkelten Fraktur-Lettern auf seiner Jacke.
Er drehte sich um, riss sein Gewehr in meine Richtung und
feuerte sofort, ohne zu zielen. Es handelte sich um ein
Sturmgewehr. Der Mann mit dem Piratentuch hatte es auf Dauerfeuer
geschaltet. Ich duckte mich. Die Schüsse fraßen sich überall im
Raum in den Beton der gegenüberliegenden Wände. Die wenigen noch
intakten Fensterscheiben zersprangen.
François blieb bei der Tür und sprang zur Seite, um nichts
abzubekommen.
Ich tauchte aus der Deckung hervor, nachdem der Geschosshagel
verebbt war.
Der Kerl lief weiter über das Flachdach.
Ich kletterte durch eines der Fenster und folgte ihm.
»Stehen bleiben! FoPoCri!«, rief ich und gab einen Warnschuss
ab.
Er reagierte darauf nicht. Schließlich erreichte er das Ende
des Flachdachs. Zum Nachbargebäude gähnte ein Abgrund von
zweieinhalb Metern. Er sprang, rollte sich auf der anderen Seite
auf dem Boden ab und feuerte anschließend in meine Richtung. Die
Kugeln zischten an mir vorbei. Ich duckte mich und schoss zurück.
Der Kerl rappelte sich auf und lief weiter.
Ich gab erneut einen Warnschuss ab. Dann zielte ich auf seine
Beine und erwischte ihn an der Wade. Er schrie auf und verlangsamte
das Tempo etwas.
Ich sprang unterdessen über den zweieinhalb Meter breiten
Abgrund und holte auf.
Der Kerl mit dem Piratentuch hatte inzwischen den Dachausstieg
erreicht und war wenig später verschwunden. Ich hetzte ihm
hinterher.
Am Boden war etwas Blut. Also hatten wir auf jeden Fall einen
genetischen Fingerabdruck von ihm, wenn er uns durch die Lappen
ging.
Der Dachausstieg bestand aus einem kleinen Gebäudeaufbau von
ungefähr drei mal vier Meter.
Die feuerfeste Stahltür musste irgendwann einmal gewaltsam
geöffnet worden sein und ließ sich nicht mehr schließen. In Höhe
des Schlosses war sie stark verbogen.
François holte mich ein.
Ich riss die Tür vollends auf, François hob die Dienstwaffe.
Aber es war natürlich niemand mehr dort.
Eine Treppe führte hinab.
François nahm sein Handy ans Ohr und rief Verstärkung. Auf dem
Boden waren erneut Blutspuren. Wir gelangten über die Dachtreppe
ins Treppenhaus. In der Tiefe waren Schritte zu hören. Jemand lief
eilig nach unten.
Wir folgten Absatz für Absatz und sicherten uns gegenseitig
dabei. Schließlich gelangten wir ins Erdgeschoss, das offenbar
bewohnt wurde. Immerhin standen an den meisten Briefkästen der
unteren Reihe Namen. Der Aufzug war allerdings stillgelegt.
Wir hörten Schritte.
Eine junge Frau trat aus dem Korridor und erstarrte, als sie
unsere Waffen sah.
»Marquanteur, FoPoCri!«, stellte ich mich vor und hielt ihr
meinen Ausweis entgegen. »Hier muss gerade ein Mann mit Piratentuch
und Lederjacke hergelaufen sein.«
»Ich habe niemanden gesehen«, behauptete sie.
»Er trägt eine Jacke mit der Aufschrift Hell’s Finest!«
»Wie ich schon sagte, hier war niemand.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Suzanne Marais, Apartment eins-null-acht.«
»Sie muss jemanden gesehen haben«, stellte François klar.
»Hier ist nämlich Blut.« Er stand ein paar Schritte weiter im
Korridor und deutete auf den Boden.
Von draußen war jetzt das Geräusch eines startenden Motorrads
zu hören.
»Gibt es hier einen Hinterausgang?«, fragte François.
»Ja, den Korridor entlang und dann gleich links.«
»Merci.«
7
Wir erreichten einen Hinterhof.
Ein Motorrad heulte auf. Die Maschine war aufgebockt. Zwei
junge Männer standen daneben. Einer betätigte das Gas, der andere
schraubte am Motor herum. Die beiden erstarrten, als sie uns sahen.
Der Motor wurde abgestellt.
»Fehlanzeige, François. Das sind die Falschen«, murmelte
ich.
François suchte auf dem Boden nach Blutspuren. Es lag
eigentlich nahe, dass der Flüchtige diesen Weg genommen
hatte.
Wir gingen auf die beiden jungen Männer zu und zogen unsere
Ausweise.
»FoPoCri«, konnte ich gerade noch sagen, bevor der Größere der
beiden die Hände hob und damit begann, sich zu verteidigen, noch
bevor ihm etwas vorgeworfen worden war.
»Wir sind sauber, Mann! Keine Drogen! Gar nichts!«
»Wir haben Sie gar nicht verdächtigt«, erklärte ich. »Wir
suchen einen Kerl mit einer Schusswunde am Bein.« Ich gab ihnen
eine kurze Beschreibung. Die äußere Erscheinung des flüchtigen
Killers war eigentlich so prägnant, dass jede Verwechslung
ausgeschlossen war.
»Wir haben hier niemanden gesehen«, versicherten beide
unisono.
»Und von den Schüssen haben Sie wahrscheinlich auch nichts
gehört?«
»Hier in der Gegend haben alle schon mal ein paar Schüsse
gehört«, meinte der Größere.
Und der andere ergänzte: »Meistens ist das harmlos.«
»Wieso ist es harmlos, wenn geschossen wird?«, fragte
ich.
»Oft schießt ja doch nur jemand auf ein paar
Blechdosen.«
»Verboten ist es trotzdem.«
»Wenn Sie hier leben würden, dann würden Sie auch zusehen, nur
gut bewaffnet durch die Straßen zu gehen.«
»Gut bewaffnet oder unter dem Schutz guter Freunde«, ergänzte
der andere.
Ich verstand, was er meinte. Den Schutz einer Gang.
Blut konnten wir nirgends entdecken – aber dazu war angesichts
des fleckigen, mit Öllachen übersäten Bodens wahrscheinlich ohnehin
nur ein Spurensicherer in der Lage.
François ließ den Blick schweifen.
»Der Kerl ist auf und davon«, glaubte er.
Ich wandte mich noch einmal an die beiden jungen Männer.
»Sagt Ihnen der Name Georges Noel Rennie etwas? Er handelte
mit Crack.«
»Nein.«
»Ein Typ mit einem Ledermantel bis zu den Knöcheln.«
Jetzt klingelte es bei den beiden.
»Ach, Sie meinen >Neo< Georges!«, meinte der
Größere.
»Neo Georges?«, echote ich.
»Ja, Sie erwähnten doch gerade seinen Ledermantel. Er sah aus
wie Neo aus den Matrix-Filmen. Fand er wohl cool.«
»Er wurde hier in der Nähe angeschossen, flüchtete
anschließend und bekam dann noch mal zwei Kugeln ab.«
»Kein Wunder«, sagte der Kleinere.
»Wieso?«, wollte ich wissen.
»Weil er ein mieses Arschloch war. Er hat gepanschten Stoff
verkauft, und in seinem Crack war kaum noch Kokain, sondern
irgendein anderes Zeug, das ziemlich ungesund sein muss.«
»Quatsch nicht so viel, Ricky!«, wies ihn der Größere zurecht.
Ricky verzog das Gesicht
»Wieso, es weiß doch sowieso jeder, was mit Neo Georges los
war. Die mieseste Ratte weit und breit! Und Carla würde noch leben,
wenn diesem Dreckskerl früher jemand gezeigt hätte, wo die Grenze
ist!«
»Meinen Sie die Grenze des Gang-Territoriums der Araignées?«,
fragte ich.
Das verschlug beiden erst mal die Sprache.
»Jedenfalls dürfte es hier in der Gegend nicht viele geben,
die den Tod von Neo Georges bedauern«, fuhr er schließlich fort.
»Wer ist diese Carla?«, hakte ich nach.
»Carla Meziére – starb vor vier Wochen. Ich mochte sie ganz
gerne und hatte auch mal was mit ihr, aber wenn sie auf Crack war,
hatte sie nichts anderes als den Stoff im Hirn. Dann war sie
ungenießbar.«
»Und ihr nehmt nichts?«, fragte François.
Der Größere grinste.
»Unsere Droge heißt Benzin!«
8
Wir nahmen die Personalien der beiden jungen Männer auf. Sie
hießen Richard Ricky Michot und Justin Beltran.
»Die Sache mit Carla Meziére sollten wir überprüfen«, fand
François. »Am Ende haben wir es nur mit einem einfachen Rachedrama
zu tun – und nicht mit den Ausläufern eines Drogenkriegs um
Verteilernetze für Crack.«
»Du vergisst das Seil, das man Rennie um den Hals gehängt
hat«, gab ich zu bedenken.
»Das war ein Allerweltsseil, Pierre. Es könnte sich jemand an
diese Serie als Trittbrettfahrer drangehängt haben.«
»Dazu passt Rennie wiederum zu perfekt ins bisherige
Opfer-Profil!«
»Eben deshalb!«
»Aber vorher befragen wir noch einmal die Lady, die uns auf
den Hof geschickt hat.«
»Wieso?«
»Sie hat uns angelogen, François, und ich möchte wissen, was
bei ihr zutage kommt, wenn wir etwas nachbohren.«
»Vielleicht nur, dass sie vor der herrschenden Gang so viel
Respekt hat, dass sie lieber mit niemandem spricht, der von der
Polizei oder dem FoPoCri kommt!«
»Und wenn schon! Dann sagt das auch etwas.«
Wir kehrten in das Haus zurück und suchten im Erdgeschoss nach
Apartment 1.08. Der Name Suzanne Marais stand in verblassten
Buchstaben auf dem Klingelschild.
François klingelte.
Zunächst erfolgte keine Reaktion.
»Madame Marais, hier ist noch mal die FoPoCri. Wir haben noch
ein paar Fragen!«
Erneut warteten wir. Auf der anderen Seite der Tür waren jetzt
Geräusche zu hören. Etwas, das wie Schritte klang. In diesem Moment
tauchte Suzanne Marais im Korridor auf. Offenbar hatte sie in der
Zwischenzeit das Haus verlassen und kehrte nun zurück. Sie hielt
ein Verbandskissen vor den Bauch gepresst. Ihre Augen waren
schreckgeweitet.
»Bitte nicht …«, sagte sie.
François und ich entfernten uns von der Wohnungstür. François
postierte sich rechts davon mit der Waffe in der Hand. Ich zog
ebenfalls die Dienstwaffe und trat ihr entgegen.
»Der Kerl mit dem verletzten Bein ist in Ihrer Wohnung, nicht
wahr?« Ich sprach mit gedämpfter Stimme.
»Er hat mein Baby!«, flüsterte sie.
Draußen waren Sirenen zu hören. Das musste die Verstärkung
sein, die François gerufen hatte. Aber die kam jetzt in einem
ungünstigen Augenblick. Der Krach durch die Sirenen war bestens
dazu geeignet, den Täter in Panik zu versetzen und eine
Kurzschlusshandlung auszulösen.
»Keine Sorge, wir werden nichts tun, was Ihr Baby gefährdet«,
versprach ich, während Suzanne Marais bereits die Tränen über das
Gesicht liefen. Ihr Make-up wurde zu einem Aquarell.
»Er wartet auf mich«, flüsterte sie zitternd. »Ich sollte ihm
Verbandszeug holen – wegen seinem Bein. Da habe ich das Erste
Hilfe-Kissen aus meinem Wagen geholt. Er steht um die Ecke.«
»Okay.«
Ich griff zum Handy. Über das zuständige Revier ließ ich mich
mit dem Einsatzleiter der Beamten verbinden, die sich gerade
näherten.
»Wir haben einen Entführungsfall, in dem ein Kleinkind
betroffen ist«, fasste ich die Lage zusammen und gab die genaue
Adresse und Apartmentnummer durch.
»Am besten gehe ich zu ihm herein und verbinde ihm seine
Schusswunde«, schlug Suzanne Marais vor.
»Dann hat der Kerl eine zweite Geisel!«
»Aber er wird denken, dass ich die Polizei gerufen habe, wenn
ich nicht mehr bei ihm auftauche.«
Die Sirenen verstummten. Die Kollegen von der Polizei würden
jetzt dafür sorgen, dass der Block weiträumig abgesperrt wurde.
Aus der Wohnung drangen jetzt polternde Geräusche, so als ob
etwas umgestürzt wäre.
Das Baby schrie.
Uns blieb keine andere Wahl, als zu handeln, auch wenn das
Risiko hoch war.
Für uns und das Baby.
François und ich wechselten einen Blick. Er nickte. Auf die
Verstärkung zu warten, wäre jetzt fahrlässig gewesen.
François trat die Tür ein. Sie flog zur Seite. Ich stürzte mit
der Waffe in der Hand in das Apartment. Das Baby lag in seiner
Wiege und schrie noch immer. Der Flüchtige hatte sich zum Fenster
geschleppt. Sein verletztes Bein war dunkelrot. Die Wunde blutete
stark und war längst durch den hellblauen Stoff seiner Jeans
gedrungen.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand er da, wollte offenbar aus
dem Fenster klettern und riss jetzt das Sturmgewehr hoch.
Anschließend erstarrte er. Wie gefroren wirkte er.
»Das Spiel ist aus!«, rief ich. »Bevor Sie geschossen haben,
drücke ich ab!«
Einen Augenblick lang verharrte er regungslos. Schweißperlen
standen auf seiner Stirn. Dann ließ er das Gewehr sinken. Es glitt
zu Boden. An der Mauer ließ er sich zu Boden rutschen. Das Gesicht
war schmerzverzerrt.
François war sofort bei ihm und nahm die Waffe an sich.
»Sie sind verhaftet«, stellte ich klar und klärte ihn über
seine Rechte auf.
»Ihre verdammten Sprüche können Sie sich sparen!«, presste der
Kerl zwischen den Zähnen hindurch. Die Wunde am Bein schien ihm
ziemlich zuzusetzen.
9
Der Kerl mit der Hell’s Finest-Lederjacke weigerte sich,
irgendeine Aussage zu machen. Aber er verlangte lautstark nach
einem Arzt.
Wir riefen den Notdienst. Danach durchsuchten wir ihn und
förderten dabei noch eine Automatik, ein Springmesser und einen
Elektroschocker zutage. Der Führerschein war schlecht gefälscht. Er
war auf den Namen Anas Mutlak ausgestellt, aber wir waren uns
ziemlich sicher, dass der Name nicht stimmte.
»Ich weiß nicht, weshalb Sie so herumeiern«, sagte François an
seine Adresse gerichtet. »Wenigstens Ihren richtigen Namen könnten
Sie uns schon sagen. Wir bekommen ihn ohnehin heraus, nachdem Ihre
Fingerabdrücke durch den Computer gegangen sind. Jedenfalls kann
ich mir nicht vorstellen, dass jemand, der mit einer Militärwaffe
kaltblütig auf einen Mann anlegt, der Justiz vorher noch nie
aufgefallen ist!«
»Ihr könnt mich alle mal!«, knurrte er.
Die Kollegen der Polizei trafen schließlich ein. Etwas später
auch der Krankenwagen der Notfall-Ambulanz . Der Mann, der sich
Anas Mutlak nannte, wurde erstversorgt und anschließend in die
Gefängnisklinik gebracht.
Anschließend befragten wir noch einmal Suzanne Marais, die
jetzt unseren Fragen gegenüber sehr viel aufgeschlossener war. Sie
hielt erleichtert ihr Kind auf dem Arm und drückte es an sich. Die
Erleichterung war ihr überdeutlich anzumerken. Aber François und
mir fiel ein mindestens ebenso großer Stein vom Herzen. Kidnapping
mit einem Kleinkind ist grundsätzlich eine sehr heikle Sache.
Gleichgültig was man tut oder lässt, man ist immer nahe daran, zu
einer Katastrophe beizutragen.
»Ich danke Ihnen beiden«, sagte sie.
»Kannten Sie Georges Noel Rennie, genannt Neo Georges?«,
fragte ich. »Der Mann mit dem langen Ledermantel.«
Suzanne Marais nickte.
»Ein Crack-Dealer, glaube ich. Aber mehr weiß ich auch
nicht.«
Ich ließ noch nicht locker.
»Wissen Sie, wer ihn erschossen haben könnte?«
»Keine Ahnung. Ich nehme nichts und hatte deswegen mit dem
Typen nichts zu tun. Der kam immer wieder als einer der größten
Angeber daher. Was aus den Leuten wurde, denen er sein Zeug
verkauft hat, war ihm wohl völlig gleichgültig. Ein Typ, der für
ein paar Euros über Leichen geht und wahrscheinlich seiner eigenen
Großmutter noch Crack andrehen würde.« Sie seufzte. »Ja, sehen Sie
mich nicht so an! Wenn ich die Polizei gerufen hätte, hätte der
Kerl dafür gesorgt, dass mir jemand den Hals umdreht. Er hatte
schließlich mächtige Freunde hier in der Gegend.«
»Was für Freunde?«
»Na, die, die ihm den Stoff lieferten. Aber mehr weiß ich
darüber auch nicht.«
»Was ist mit Jean-Michel Somme? Unsere Kollegen haben ihn
erwischt, als er sich Rennies Cabriolet unter den Nagel reißen
wollte.«
»Jean-Michel ist ein Typ hier aus der Gegend. Wohnt nur einen
Block weiter. Eine Freundin von mir hat ein Kind von ihm, aber er
hat sie sitzen lassen. Autos knacken sieht ihm ähnlich. Der ist
einfach zu dämlich, um mehr aus sich zu machen.«
»Gehört er zu den Araignées?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Glaube ich nicht.«
»Weshalb?«
»Na, die greifen doch genug Geld in der Gegend ab. Dann
bräuchte Jean-Michel keine Autos mehr zu knacken, sondern könnte
sie bar bezahlen. Aber genau weiß ich das natürlich nicht.«
Von den Schießereien auf der Straße wollte sie nichts
mitbekommen haben. Weder von dem Schuss auf Rennie noch von
Jean-Michel Sommes Ermordung. Schließlich sei ihre Wohnung zur
anderen Seite des Hauses ausgerichtet. Ich ließ ihr zum Schluss
noch meine Karte da.
Vielleicht fiel ihr ja noch irgendetwas ein, das uns
weiterbringen konnte.
10
Wir kehrten zu Rennies Wagen zurück.
Um unseren toten Kollegen Aubertin kümmerte sich inzwischen
der Gerichtsmediziner Dr. Neuville, während sich Sandra Catteau vom
Erkennungsdienst den Wagen vornahm und zusammen mit zwei Kollegen
Spuren sicherte.
Der Verdacht, dass Rennie hier angeschossen worden war, schien
sich zu bestätigen, als unsere Kollegin Sandra Catteau ein
Projektil fand.
Wir hörten uns in der Nachbarschaft um. Aber niemand wollte
etwas gesehen oder gehört haben.
Pure Angst regierte hier.
In einem Hauseingang nur wenige Meter vom Standort des
Cabriolets entfernt, fanden wir in einer Ecke einen Mann, der einen
mit Blut besudelten Parka mit der Aufschrift Adventurer trug. Er
zitterte. Am Kopf klaffte eine Wunde, die dringend genäht werden
musste. Es war offensichtlich, dass man ihn brutal verprügelt
hatte.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri«, sagte ich. »Ich denke, Sie
brauchen ärztliche Hilfe, Monsieur …«
Er blickte auf und sah mich mit einem leeren Blick an.
»Alles in Ordnung, danke«, murmelte er. So als müsste er sich
selbst auch noch davon überzeugen, bekräftigte er seine absurde
Aussage auch noch. »Ich brauche nichts! Wirklich!«
»Gar nichts ist in Ordnung!«, widersprach ich. »Wir haben
einen Arzt in der Nähe, der sich Ihre Verletzung mal ansehen
könnte.«
Der Mann lachte heiser. Er spuckte Blut dabei. Offenbar hatte
er mehrere Zähne verloren.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
Er brauchte einige Augenblicke, bis er wieder sprechen konnte
und sein zerstörter Mund dazu in der Lage war, einen Namen
hervorzubringen.
»Hugues Soles.«
»Haben Sie irgendetwas bei sich, womit sich das belegen
lässt?«
»Nein.«
»Kein Führerschein?«
»Der Letzte ist schon drei Jahre abgelaufen. Liegt in meiner
Wohnung, dritter Stock Apartment drei-null-eins. Ich hatte eine
kurze Schwächephase und bin deswegen nicht bis dorthin gekommen.«
François holte Dr. Neuville, während ich bei Soles blieb. Ich
nahm an, dass er cracksüchtig war, aber mir fehlte eine Handhabe,
seine Sachen danach zu durchsuchen.
»Georges Noel Rennie oder Neo Georges, wie er auch genannt
wird, wurde draußen auf der Straße angeschossen. Haben Sie davon
etwas mitbekommen?«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Eine Antwort blieb er
schuldig.
Der Gerichtsmediziner war wenig später bei uns. Er untersuchte
den Verletzten kurz und führte eine Erstversorgung durch.
»Er ist auf Crack und hat mehrere Knochenbrüche«, wandte er
sich an mich und bestätigte meinen Verdacht. »Dieser Mann gehört
sofort in eine Klinik.«
»Sie haben das Crack von Neo Georges, nicht wahr?«, sagte ich
in Soles’ Richtung. »Aber jemand hat was dagegen, dass Georges
Rennie sich hier herumtreibt und dealt. Wahrscheinlich die
Konkurrenz, und da dies das Gebiet der Araignées ist, werden die
wohl alles getan haben, um Rennies Kundschaft klar zu machen, dass
sie ihren Stoff woanders kaufen soll. Deswegen haben die Sie
verprügelt und Rennie erschossen. Und jetzt sagen Sie schon, was
Sie wissen, Soles! Sonst wird alles nur noch schlimmer!«
»Sind Sie auch da, um mich zu schützen, wenn ich diesen Leuten
das nächste Mal begegne?«, fragte Soles.
»Wir können diese Kerle aus dem Verkehr ziehen, wenn Sie uns
Namen und Adressen nennen«, mischte sich François ein.
»Damit dann irgendein findiger Anwalt dafür sorgt, dass sie
wieder laufen gelassen werden und nachher vielleicht eine
Bewährungsstrafe bekommen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke!
Darauf kann ich verzichten.«
»Pierre, sich schlage vor, wir nehmen Monsieur Soles vorläufig
fest. Verdacht auf Drogenhandel. Schließlich könnte er auch ein
Geschäftspartner von Georges Rennie gewesen sein.«
»Mal sehen, was wir in seiner Wohnung so finden«, stimmte ich
zu. »Außerdem bekommt er dann in der Gefängnisklinik eine
angemessene ärztliche Versorgung.«
»Das können Sie nicht machen!«, rief Soles. »Wenn Sie mich
festnehmen, wird jeder denken, dass ich mit Ihnen geredet
habe.«
»Aber so können wir Sie auch nicht hier zurücklassen, Monsieur
Soles«, hielt ich ihm entgegen. »Also entweder lassen Sie sich von
der Notfall-Ambulanz mitnehmen oder die Gefängnisklinik wird Sie
versorgen!«
François beugte sich zu ihm herunter. Soles hustete Blut.
»Lassen Sie die Kerle damit nicht durchkommen, und sagen Sie
uns, was passiert ist!«, forderte mein Kollege. »Das meiste wissen
wir doch sowieso schon. Ich verspreche Ihnen, dass wir damit nicht
hausieren gehen.«
Soles zögerte.
»Okay«, gab er schließlich nach. »Ich gehe auf Ihre
Bedingungen ein.«
»Es ist besser, so glauben Sie mir«, bestärkte ihn
François.
Soles brauchte erneut einige Augenblicke, um sprechen zu
können.
»Ich wartete auf Rennie. Er hatte Verspätung. Da kamen diese
Schweine und haben mich halbtot geschlagen.«
»Namen, Monsieur Soles!«, forderte ich.
»Sie hatten schon recht!«
»Womit?«
»Es waren die Araignées. Der Anführer heißt Antoine Moyon. Der
ist ziemlich ehrgeizig und geht rücksichtslos gegen jeden vor, der
in seinem Bezirk, wie er das nennt, Stoff auf den Markt
bringt.«
»Wo finden wir den?«
»Es gibt ein Billard-Lokal ein paar Straßen weiter. Das heißt
Le Piège. Dort soll er angeblich häufiger sein.«
»Und wie war das mit Rennie?«, hakte François nach.
Soles zögerte. Dann gab er sich einen Ruck und sprach doch
weiter: »Als Rennie auftauchte, haben die mich auf die Straße
getrieben, mir den Mund mit Crack-Steinen vollgestopft und mich
davongejagt wie einen Hund. Rennie war umringt von Antoine Moyons
Leuten. Ich habe alles gesehen.«
»Dann sagen Sie es!«, fordere ich. »Je mehr Sie uns sagen,
desto leichter können wir diesen Moyon und seine Bande aus dem
Verkehr ziehen.«
»Es gab einen Schuss. Rennie wurde getroffen. Und dann habe
ich gehört, wie Antoine Moyon sagte, dass Rennie fünf Minuten
Vorsprung bekäme.«
»Vorsprung?«, echote ich.
»Ich nehme an, sie wollten eine Jagd auf ihn veranstalten. Das
ist nicht das erste Mal, dass die Araignées so etwas mit jemanden
machen, den sie einschüchtern wollen.«
»Und am Ende dieser Jagd war Rennie tot«, murmelte
François.
»Was wissen Sie über Jean-Michel Somme?«, fragte ich.
»Ich habe schon mehr als genug geredet«, fand Soles. »Und wenn
Sie glauben, dass ich irgendetwas von dem, was ich Ihnen gesagt
habe, vor Gericht wiederholen würde, dann liegen Sie falsch. Da
können Sie sich auf den Kopf stellen, aber ich werde nicht ein
Sterbenswörtchen von mir geben.«
11
Ein Wagen der Notfall-Ambulanz holte Hugues Soles ab.
Inzwischen hatte Commissaire Alexandre seine Arbeit am ersten
Tatort beendet und traf nun bei uns ein. Ich bat ihn darum, Beamten
zu Soles’ Bewachung abzustellen.
Alexandre seufzte.
»Georges Rennie und Jean-Michel Somme – zwei Morde innerhalb
so kurzer Zeit und so nahe beieinander. Das hat man selbst in
meinem Revier selten – und hier auf Pointe-Rouge sind wir schon
einiges gewohnt.«
»Wir müssen abwarten, ob beide Fälle wirklich zusammenhängen«,
sagte François.
»Gehen wir den bisher ermittelten Tathergang doch mal durch«,
schlug ich vor. »Hugues Soles wartet auf seinen Crack-Dealer und
wird von den Araignées verprügelt. Der Dealer – Rennie – taucht
auf, bekommt von Antoine Moyon persönlich einer Kugel durch die
Schulter.«
»Wahrscheinlich hat er noch ein paar nette Worte zu hören
bekommen – so nach der Devise: Lass dich hier mit deinem Stoff nie
wieder blicken! Das Gebiet gehört uns!«, ergänzte François.
»Dann haben sie diese Jagd veranstaltet, von der Soles
sprach.«
»Damit er sich das Ganze gut merkt.«
»Aber wieso ihn dann noch erschießen?«, fragte ich.
»Das werden wir genauer wissen, wenn wir diese Araignées
verhaftet und ihre Waffen überprüft haben, Pierre. Wenn erst
feststeht, wer geschossen hat, ist vielleicht auch bald die nötige
Gesprächsbereitschaft vorhanden.«
»Wie passt Jean-Michel Somme da hinein?«, fragte ich.
»Ganz einfach, der hat den Wagen gesehen, große Augen gekriegt
und dachte, dass er sich so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen
darf«, schlug François zur Erklärung vor.
»Trotzdem bleibt die Frage: Wieso bekommt er dann gleich
darauf eine Kugel in den Kopf, François?«
»Leider spricht der Killer nicht mit uns. Aber das kann sich
ja noch ändern.«
Commissaire Alexandre mischte sich nun in das Gespräch ein.
»Eines steht jedenfalls fest«, sagte er. »Der Mann, der Somme
und unseren Kollegen erschossen hat, hätte das niemals getan, wenn
er dazu nicht die Erlaubnis der Araignées gehabt hätte.«
»Dann ist diese Gang der Schlüssel zu allem«, meinte
François.
Commissaire Alexandre nickte.
»Das sehe ich genauso.«
Wir gingen zum Wagen und gingen mit dem eingebauten Rechner
online. Unter dem Namen Antoine Moyon war über das
Datenverbundsystem eine ganze Palette von Einträgen abrufbar. Er
hatte einiges an Vorstrafen auf dem Kerbholz. Körperverletzung und
Drogendelikte. Außerdem kamen bei ihm einige Jahre im Gefängnis
zusammen. Aber in den letzten fünf Jahren war es stiller um ihn
geworden. Er hatte sich offenbar nicht mehr so leicht erwischen
lassen. Jetzt war er fünfunddreißig. Die letzte Adresse war vier
Jahre alt und lag in der Straße, wo damals seine Mutter gewohnt
hatte.
Auch Jean-Michel Somme und Hugues Soles überprüften wir. Soles
hatte noch eine Bewährung wegen Diebstahl laufen. Es handelte sich
wohl um Beschaffungskriminalität zur Finanzierung seiner
Crack-Sucht.
»Darum wollte der partout in nichts hineingezogen werden«,
stellte François fest.
Außerdem überprüften wir noch den Killer, der Jean-Michel
Somme und unseren Kollegen Inspecteur Aubertin erschossen hatte.
Aber die Suche gestaltete sich nicht so leicht. Es gab zwei
straffällig gewordene Männer, die Anas Mutlak hießen und in der
Vorstrafenkartei zu finden waren. Leider stimmte keines der Bilder
mit dem Mann überein, den wir verhaftet hatten.
»Ich hab’s doch gewusst«, stieß ich hervor. »Der Name im
Führerschein stimmte nicht.«
»Oder unser Monsieur Mutlak war bisher ein Unschuldslamm und
ist hier deswegen nicht registriert«, gab François zu
bedenken.
»Glaubst du das wirklich?«
»Es wäre schon sehr unwahrscheinlich«, gab François zu. »Dann
sollten Maxime und unsere Kollegen vom Innendienst die Sache
übernehmen. Wir verzetteln uns doch hier nur.«
Kollegin Sandra Catteau kam an unseren Sportwagen. Die
Mitarbeiterin des Erkennungsdienstes klopfte gegen meine Scheibe,
woraufhin ich sie hinunterließ.
»Ich habe noch zwei Dinge, die ich Ihnen gerne über
Jean-Michel Somme sagen würde, Monsieur Marquanteur.«
»Bitte!«
»Erstens war er selbst wohl auch cracksüchtig. Die
Autoknackerei finanzierte ihm vielleicht die Sucht. Wir haben
Spezialwerkzeug in seinen Jackentaschen gefunden, die einem beim
Kurzschließen helfen könnten. Und zweitens …«
»Machen Sie es nicht so spannend!«
Sie reichte mir eine Visitenkarte. Sie war in Cellophan
eingepackt.
»AIDE«, murmelte ich. »Das kommt mir bekannt vor. Rennie hatte
auch so eine Karte bei sich.«
»Ja, aber drehen Sie diese mal um!«
Auf der anderen Seite war handschriftlich eine Handynummer
notiert, dazu ein Name: Anas.
»Dieser Anas könnte einer der Mitarbeiter von AIDE sein«,
glaubte François.
»Fragen wir dort einfach mal nach, ob jemand bei AIDE unsere
Fragen beantworten kann.«
12
Nachdem die Arbeiten am Tatort beendet waren, fuhren François
und ich zu Antoine Moyons letzter Adresse. Eine Frau in den
Sechzigern öffnete uns ihre Apartmentwohnung im fünften Stock eines
Mietshauses. Jennifer Moyon stand am Klingelschild.
»Sie lebt also noch immer hier«, meinte François.
»Allerdings glaube ich kaum, dass sie uns viel über Ihren Sohn
verraten wird.«
»Abwarten, Pierre!«
Sie öffnete die Tür nur einen Spalt. François hielt ihr den
Ausweis entgegen.
»François Leroc, FoPoCri. Madame Moyon, wir suchen Ihren Sohn
Antoine.«
»Er ist nicht hier«, behauptete Madame Moyon.
»Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn wir uns davon
überzeugen«, ergriff ich das Wort. »Außerdem würden wir Ihnen bei
der Gelegenheit gerne ein paar Fragen stellen.«
»Wer ist da?«, rief eine Männerstimme aus einem Nachbarraum.
»Das FoPoCri!«, rief Madame Moyon zurück und öffnete uns die
Tür.
Wir traten ein und wurden in ein Wohnzimmer geführt, das mit
Polstermöbeln völlig überladen war. Auf der Couch saß ein Mann im
gleichen Alter wie Madame Moyon. In der Rechten hielt er eine
Flasche Bier. Im Fernsehen lief ein Fußball-Spiel.
»Das ist mein Lebensgefährte, Monsieur Eric Abadie.«
Wir stellten uns vor, aber Monsieur Abadie schien sich nicht
sehr für uns zu interessieren. Seine Aufmerksamkeit galt in erster
Linie dem Spiel.
»Kommen die wegen deinem Sohn?«, fragte er schließlich, ohne
den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
»Ja«, sagte Madame Moyon.
»Jetzt hast du ihn schon jahrelang nicht mehr gesehen, und es
gibt trotzdem nichts als Ärger mit ihm.«
Madame Moyon wandte sich an mich.
»Wir gehen am besten in die Küche«, sagte sie. Wenig später
bot sie uns in der Küche einen Platz an. »Was hat er angestellt?«,
fragte sie. »Antoine, meine ich.«
»Jemand hat gesehen, wie er auf einen Mann geschossen
hat.«
Sie seufzte.
»Er ist kein schlechter Junge, er hat nur schlechten
Umgang.«
»Ihr Sohn ist fünfunddreißig – und nun wirklich kein Junge
mehr«, gab ich zu bedenken.
»Mag sein. Für mich wird er das aber immer bleiben.«
»Was wissen Sie über seinen Umgang?«, mischte sich François
ein. »Er soll eine Gang namens Araignées anführen.«
»Wie Eric gerade schon sagte: Wir haben seit Jahren keinen
Kontakt mehr. Ich weiß, dass bei Antoines Geschäften nicht alles
mit rechten Dingen zugehen kann – so, wie der mit dem Geld um sich
wirft. Aber ich bete trotzdem dafür, dass er …« Sie sprach nicht
weiter. Einen Augenblick später versuchte sie fortzufahren, brach
aber erneut ab und fragte schließlich: »Ist der Mann, auf den er
geschossen hat, tot?«
»Ja«, gab ich Auskunft. »Er hat ihn zuerst angeschossen, dann
eine Jagd mit seinen Gangmitgliedern auf ihn veranstaltet und
schließlich war er tot – wenige Meter, bevor er das Gebiet der
Araignées verlassen konnte. Allerdings wissen wir nicht, ob er die
tödlichen Schüsse abgefeuert hat oder einer seiner Leute.«
»Oh, mein Gott, das klingt ja furchtbar!« Tränen glitzerten in
Madame Moyons Augen.
»Ich habe dir immer gesagt, der taugt nichts«, rief Eric
Abadie aus dem Wohnzimmer. Offenbar hatte er mit einem Ohr unsere
Unterhaltung verfolgt.
»Vor zwei Jahren war mein Sohn zum letzten Mal hier«,
berichtete Madame Moyon in gedämpftem Tonfall. »Er konnte einfach
nicht akzeptieren, dass ich mich von seinem Vater getrennt und mit
Eric ein neues Leben angefangen habe. Es kam zum Streit zwischen
Eric und Antoine. Antoine hat meinen Lebensgefährten
krankenhausreif geschlagen, und ich konnte Eric nur mit Mühe davon
abhalten, Anzeige zu erstatten, denn dann wäre Antoines Bewährung
widerrufen worden. Seitdem haben wir keinen Kontakt mehr.«
»Als Sie noch Kontakt hatten – mit wem war er da zusammen?
Freunde, Bekannte, vielleicht hatte er ja auch eine
Freundin?«
»Er hatte eine Freundin. Sie hieß Linda Sulpice. Soweit ich
das beurteilen konnte, war sie in Ordnung. Antoine war eine Weile
unter ihrer Adresse erreichbar.«
»Wie lautet die?«
»Das weiß ich nicht mehr. Sie werden Antoine dort auch kaum
antreffen. Er hat mit ihr Schluss gemacht.« Sie schluckte. »Eines
müssen Sie mir versprechen!«
»Das kommt darauf an«, erwiderte ich.
»Wenn Sie meinen Sohn festnehmen, dann sorgen Sie dafür, dass
ihm nichts geschieht. Ich weiß, dass er wahrscheinlich schreckliche
Dinge getan hat, aber mir ist auch klar, dass er nicht mehr lange
leben wird, wenn er so weitermacht. Entweder wird ihn eine
Polizeikugel treffen oder irgendjemand aus einer anderen Gang rammt
ihm ein Messer in den Rücken. Und das will ich beides nicht.«
»Wir werden tun, was wir können«, versprach ich.
13
Wir kehrten zum Sportwagen zurück und setzten uns in den
Wagen. François fuhr den eingebauten Rechner hoch. Wir ließen den
Namen Linda Sulpice online überprüfen. Es gab Dutzende von
Einträgen unter diesem Namen. Wir grenzten das Alter ein und
suchten nach einer jungen Frau, die mit Drogen in Kontakt gekommen
war und in Pointe-Rouge lebte.
Es gab nur einen Treffer.
Und da die Betreffende auch noch zusammen mit Antoine Moyon
bei einer Razzia wegen Drogenbesitzes vorläufig festgenommen und
überprüft worden war, musste das die Frau sein, die wir
suchten.
»Glaubst du wirklich, dass das etwas bringt, Pierre?«,
zweifelte François.
»Abwarten!«
»Wahrscheinlich ist es effektiver, wenn wir uns dieses
Billard-Lokal namens Le Piège vornehmen, von dem Hugues Soles
sprach.«
»Wenn ich Moyon wäre und gerade jemanden umgebracht hätte,
würde ich mich dort für eine Weile nicht zeigen, wo mich jeder
vermutet«, hielt ich ihm entgegen. »Außerdem dürfte dort um diese
Zeit auch noch nicht viel los sein. Davon abgesehen brauchen wir
Verstärkung, um dort etwas ausrichten zu können.«
»Dann werde ich mal unser Büro anrufen, um die
anzufordern.«
»Okay! Aber vorher haben wir Zeit genug, Linda Sulpice
aufzusuchen.«
Ihre letzte Bewährung lief noch. Daher war auch die Adresse
noch aktuell. Ihr Vorstrafenregister zeigte neben Drogendelikten
auch Verurteilungen, die im Zusammenhang mit
Beschaffungskriminalität standen.
14
Linda Sulpice wohnte im dritten Stock eines heruntergekommenen
Mietshauses.
Wir stellten den Sportwagen in der Nähe ab.
Die Haustür war offen. Sicherheitstechnik gab es hier
natürlich nicht, aber immerhin funktionierte der Aufzug. Wenig
später standen wir vor Linda Sulpices Apartment. Die Tür war nur
angelehnt. Die Klingel funktionierte nicht.
»Madame Sulpice?«, fragte ich.
Keine Antwort.
François nahm seine Dienstwaffe in die Rechte. Ich öffnete die
Tür vollends. Das Einzimmer-Apartment machte einen chaotischen
Eindruck. Kleidungsstücke lagen überall herum. Auf dem
Wohnzimmertisch standen Dutzende von Flaschen. Außerdem ein
Spritzbesteck.
Ein Mann stand mitten im Raum. Er trug einen dunklen Bart und
hatte schwarzes, dichtes Haar. Vor ihm auf der Couch lag eine junge
Frau. Man musste zweimal hinsehen, um Linda Sulpice von den uns
zugänglichen Fotos wieder zu erkennen. Sie trug nur Slip und
T-Shirt. Ihre Arme waren zerstochen.
Die Augen wirkten starr.
Und tot.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri«, sagte ich und trat näher. »Was
tun Sie hier?«
Der Mann hob die Hände.
»Nicht schießen, ich bin unbewaffnet! Gabriel Lavigne,
Mitarbeiter von AIDE.«
François senkte seine Waffe.
»Sie gehören dieser Organisation an, die Drogensüchtigen
hilft?«
»Ja, ganz genau.« Er holte einen Ausweis aus der Tasche, der
ihn als Mitarbeiter dieser Organisation auswies. Außerdem hatte er
einen Führerschein und einen Personalausweis bei sich, der in
Ordnung war und dessen Angaben mit den Angaben auf dem AIDE-Ausweis
übereinstimmten. Ich sah mir die Dokumente eingehend an und gab sie
Lavigne anschließend zurück. »In diesem Fall bin ich zu spät
gekommen …«
»Sie kannten Madame Sulpice gut?«, fragte ich.
»Wie man es nimmt. Sie hat an einem unserer
Entziehungsprogramme teilgenommen. Ich habe sie ab und zu besucht,
um zu sehen, wie sie zurechtkommt. Crack, Heroin, Speed … Linda
gehörte zu denjenigen, die alles Mögliche durcheinander nehmen. Da
ist die Entgiftung besonders schwierig. Aber sie war seit einem
halben Jahr clean und hatte sogar einen Job hier in der Nähe in
einem Supermarkt. Aber offenbar war das nicht genug Halt für sie.
Jedenfalls hat sie wieder angefangen, was zu nehmen und sich einen
goldenen Schuss gesetzt.« Er sah mich prüfend an. Seine Augenbrauen
zogen sich zusammen, und auf der Stirn bildete sich eine tiefe
Furche. »Seit wann interessiert sich das FoPoCri für eine einfache
Drogentote?«
»Sie soll die Freundin von Antoine Moyon gewesen sein.«
»Ja, aber das ist lange her«, sagte Lavigne.
»Der Name Antoine Moyon scheint Ihnen auch etwas zu sagen«,
stelle ich fest.
Lavigne lachte heiser.
»Wem nicht? Schließlich soll er die mächtigste Gang der Gegend
anführen.«
»Die Araignées.«
»Widerliche Typen. Handeln mit Drogen und brechen jedem die
Knochen, der ihnen nicht passt.«
»So wie Georges Noel Rennie, genannt Neo Georges.«
»Was ist mit dem?«, fragte Lavigne ziemlich unwirsch. »Hat ihm
jemand sein mieses Crack in den Rachen gesteckt?«
»Er hat ein paar Kugeln und einen Strick um den Hals verpasst
bekommen. Wir glauben, dass Antoine Moyon und seine Araignées etwas
damit zu tun haben und hofften eigentlich, durch Linda an Moyon
heranzukommen.«
Lavigne zupfte sich unruhig am Bart und nickte schließlich.
»Hier herrscht ewiger Krieg«, erklärte er nach einer kurzen
Pause. »Und der Auslöser sind die Drogen. Jeder will das Geschäft
für sich haben. Das gilt für Moyons Leute genauso wie für Rennies
Lieferanten, zu denen die Organisation von Arthur Sabatini
gehören.«
Arthur Sabatini war der Anführer eines der größten
Drogensyndikate. Wir gingen davon aus, dass er zur ’Ndrangheta
gehörte, einer Mafia-Organisation, die in ganz Europa aktiv war.
Lider auch in Marseille.
»Woher wollen Sie so genau wissen, dass Rennie durch Arthur
Sabatinis Organisation beliefert wurde?«, fragte ich.
»Man hört so einiges, wenn man die Ohren immer offen lässt«,
meinte Lavigne und kicherte daraufhin etwas seltsam. Dann wurde er
plötzlich sehr viel ruhiger. »Brauchen Sie mich noch?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, aber vielleicht haben wir später noch ein paar Fragen
an Sie.«
»Kein Problem. Aber dann spenden Sie doch auch etwas für unser
Therapiezentrum«, gab Gabriel Lavigne zurück und reichte mir eine
seiner Karten. »Sie sind nicht zu beneiden, schließlich müssen die
Drecksarbeit verrichten – nicht, dass Sie das falsch verstehen,
aber so ist es nun einmal.« Lavigne schluckte.
François telefonierte in der Zwischenzeit bereits mit
Commissaire Alexandre.
»Verstärkung ist unterwegs, außerdem ein
Erkennungsdienst-Team«, berichtete er.
15
Am frühen Abend trafen wir uns mit einigen unserer Kollegen in
der Nähe eines Billard-Lokals, das den Namen Le Piège trug. Unter
den Kollegen, die an diesem Einsatz teilnahmen, waren auch Stéphane
Caron und unser Kollege Boubou Ndonga sowie die Commissaires Fred
Lacroix und Josephine Latiche.
»Wir haben die Wohnung von Georges Rennie durchsucht«, wandte
sich Stéphane an mich. »Der Computer wird noch untersucht, und
dasselbe gilt für die Telefonverbindungen.«
»Er hatte ein wahres Waffenlager zu Hause«, ergänzte Boubou.
»Er hat mit allem gedealt, was verboten ist. Heroin, Kokain oder
synthetische Drogen. Wir fanden auch eine Apparatur, mit deren
Hilfe er Kokain mit Backpulver aufgekocht und verlängert
hat.«
»Crack«, murmelte ich.
»Damit ist der größte Profit zu erzielen, weil in die Steine
natürlich immer nur ein Bruchteil des eigentlichen Kokains
hineingestreut wird!«
»Von wem wurde er beliefert?«, fragte ich.
»Die Kollegen der Drogenfahndung zählen ihn zum Verteilernetz
von Grand Arthur Sabatini, dem aufstrebenden Mafia-Stern der
’Ndrangheta.«
In diesem Punkt deckte sich die Ansicht unserer Kollegen der
Drogenfahndung offenbar mit Lavignes Annahme.
»Und die Araignées? Ich wette, die bekommen ihren Stoff aus
anderer Quelle«, nahm ich an.
Stéphane nickte.
»Grand Arthur würde die Araignées am liebsten aus Marseille
hinausfegen und durch seine eigenen Dealer ersetzen. Das tut er
auch – und zwar durch Niedrigpreise. Umgekehrt hat sich das
Territorium der Gang innerhalb eines halben Jahres verdoppelt.
Zwischen Moyon und Sabatini herrscht eine Art Krieg. Wer die
Araignées beliefert, ist unbekannt, aber es mehren sich die
Anzeichen, dass sie nicht in irgendeine feste Syndikatsstruktur
eingegliedert sind, sondern sich ihren Stoff nach Marktlage
besorgen.«
»Das ist ein riskantes Spiel!«
»Aber es erklärt zumindest teilweise ihre Brutalität.«
»Wurden die beiden anderen Opfer, die wir mit einem Strick
aufgefunden haben, nicht auch mit Arthur Sabatini in Verbindung
gebracht?«, fragte ich.
»Ja«, bestätigte Stéphane. »Und das erhärtet den Verdacht
gegen Moyon und die Araignées.«
Damit hatte unser Kollege natürlich recht. Hinter Arthur
Sabatini stand ein mächtiges Syndikat, das es sich leisten konnte,
die Konkurrenz durch Dumping-Preise aus dem Markt zu drängen. Für
Gangleader wie Antoine Moyon blieb nur die blanke Gewalt, um sich
dagegen zu wehren, wenn sie sich gegen Sabatinis Organisation
behaupten wollten.
Fred Lacroix und Josephine Latiche beobachteten Le Piège von
außen. Die mit etwas Verspätung eintreffenden Kollegen Josephe
Kronbourg und Léo Morell postierten sich in der Nachbarstraße so,
dass sie den Hintereingang im Blick hatten, während François und
ich zusammen mit Boubou und Stéphane das Lokal betraten.
Ein breitschultriger Mann mit Ledermütze und Bodybuilderfigur
wollte uns bereits am Eingang wieder hinausweisen, aber der
Ausweis, den Stéphane Caron ihm unter die Nase hielt, belehrte ihn
eines Besseren.
»Dies ist ein sauberer Laden«, behauptete er.
»Wie heißen Sie?
»Konrad Peyot.«
»Wenn Sie hier bestimmen können, wer ein und aus geht, dann
sagt Ihnen sicher der Name Antoine Moyon etwas.«
Der Kerl grinste.
»Im Gegensatz zu Ihnen frage ich nicht jeden nach seinem
Namen, der hier auftaucht.«
Stéphane hielt ihm den Zeigefinger wie eine Waffe entgegen.
»Jetzt hören Sie mir gut zu, Monsieur Peyot! Wir können Sie
auch mit zur Dienststelle nehmen, Sie erkennungsdienstlich
behandeln und Ihren Namen und Ihr Gesicht durch den Computer laufen
lassen. Wenn dieser Abgleich nur irgendeinen Zusammenhang mit
Antoine Moyon ergibt, dann werden Sie eine Menge Probleme bekommen,
denn Moyon sitzt bis zum Hals im Dreck.«
»Sie suchen Moyon?«, fragte er sichtlich beeindruckt. Seine
Frage diente einzig und allein dem Zweck, etwas Zeit zu gewinnen.
»Die Mühe, hier zu suchen, können Sie sich getrost sparen. Antoine
ist nicht hier.«
»Reden wir drinnen weiter! Wir würden uns nämlich gerne selbst
davon überzeugen«, verlangte ich.
Konrad Peyot knurrte irgendetwas vor sich hin. Dass er
plötzlich so handzahm war, musste damit zusammenhängen, dass er auf
keinen Fall mit der Justiz in Konflikt kommen wollte. Vielleicht
hatte er noch eine Bewährung laufen oder war zu einem
Gerichtstermin nicht erschienen.
Im Inneren von Le Piège herrschte gedämpftes Licht. Heavy
Metal-Musik lief im Hintergrund. Höchstens ein Dutzend
Billardspieler waren an den Tischen und ließen die Kugeln über den
grünen Filz schnellen.
Peyot führte uns zum Schanktisch.
Ein hagerer Mann mit hoher Stirn stand dahinter. Er hatte die
Arme verschränkt, die mit Tätowierungen übersät waren.
»Das sind Polizisten, die suchen Antoine«, berichtete
Peyot.
Ich hielt dem Hageren meinen Ausweis hin.
»Wollen Sie mir hier das Geschäft ruinieren, oder was soll
das?«, rief der Mann empört.