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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen
haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun.
Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und das Zeichen des
Drachen
von Alfred Bekker
1
Gut, dass ich mir nie ein Tattoo habe stechen lassen.
Aus mehreren Gründen. Einer davon ist, dass ich dann wohl
niemals das geworden wäre, was ich jetzt bin:
Kriminalhauptkommissar.
Mein Name ist Uwe Jörgensen und zusammen mit meinem Kollegen
Roy Müller bin ich in der sogenannten ‘Kriminalpolizeilichen
Ermittlungsgruppe des Bundes’, die hier in Hamburg angesiedelt ist
und sich mit den sogenannten großen Fischen befasst.
Mit Fällen zum Beispiel, die etwas mit organisiertem
Verbrechen zu tun haben oder auch einfach nur Fälle, mit denen die
anderen Abteilungen nicht so richtig klarkommen.
Aber zurück zu der Sache mit den Tattoos.
Die waren früher ein Ausschlusskriterium, wenn man sich bei
der Polizei beworben hat.
Inzwischen sind die Bestimmungen da wohl etwas liberaler
geworden.
Aber früher war man wohl der Ansicht, dass nur Kriminelle und
Seeleute sich tätowieren.
Aber eben keine Polizisten.
Wie auch immer: Ich bleibe lieber im wahrsten Sinn des Wortes
ein unbeschriebenes Blatt.
Nicht so wie die Marie aus dem Club 666 auf St. Pauli.
Die steht mit ihrem tiefen Ausschnitt an der Bar und jeder
kann lesen was da steht: ‘Ich gehöre Vladi’.
Vladi war ihr Ex.
Auch bekannt als ‘der grobe Vladi’.
Dieser Vladi ist vor einem halben Jahr bei einer Schießerei
unter Rockern ums Leben gekommen, aber da war die Marie schon lange
nicht mehr mit ihm zusammen.
Manche Sachen enden bisweilen eben schnell und
plötzlich.
Eine Liebe.
Oder ein Leben.
Nur ein Tattoo hält auf jeden Fall bis zum Lebensende.
Oder sogar darüber hinaus.
Und manchmal hilft es, Morde aufzuklären.
Aber der Reihe nach!
2
»Was ist das denn hier? Die rote Welle?«, knurrte Jakob
Namokel, einer der beiden Wachleute in dem gepanzerten
Geldtransporter der Firma Telso Security GmbH, als sein Kollege
Dietmar Weller an der Kreuzung Heidestraße/ Jarrstraße auf die
Bremse trat.
Die Ampel war soeben auf rot gesprungen. Jakob Namokel blickte
auf die Uhr an seinem Handgelenk.
»Meinst du, wir schaffen es noch, unsere Tour bis zur
Fußball-Übertragung zu Ende zu bringen, Dietmar?«
In diesem Augenblick gingen bei dem vor ihnen wartenden Van
die Türen auf und mehrere Maskierte sprangen heraus. Sie trugen
Kampfanzüge der Armee. Die Gesichter waren mit Sturmhauben bedeckt,
die nur die Augen freiließen.
Auch aus einer auf der rechten Spur positionierten Limousine
sprangen jetzt vier Männer heraus und gingen in Stellung. Ein
Dutzend Mündungen waren auf den Telso-Transporter gerichtet.
»Ich glaube, wir werden es nicht mehr schaffen, Jakob«,
murmelte Dietmar Weller grimmig zwischen den Zähnen hindurch.
Per Knopfdruck betätigte er ein Alarmsignal, das über Funk an
das nächste Revier der Hamburger Polizei übermittelt wurde.
Einer der Gangster bedeutete den Insassen des
Telso-Transporters mit einer eindeutigen Geste, dass sie den Wagen
zu verlassen hätten.
»Diese Idioten! Darauf können die solange warten, bis die
Polizei kommt!«, knurrte Jakob Namokel, während sein Kollege mit
einem Polizisten sprach.
Ein paar Minuten maximal. Dann würde die Polizei in
Mannschaftsstärke hier auftauchen, eventuell sogar unterstützt
durch Spezialeinheiten. Weller gab durch, um wie viele Täter es
sich handelte und wie sie bewaffnet waren.
Hundertmal hatten sie das geübt – und jetzt war der
Ernstfall.
»Der Wagen ist gepanzert«, berichtete Namokel außerdem.
»Dann brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu sagen, dass Sie unter
allen Umständen im Transporter bleiben sollten«, wies der Polizist
sie an. Sein Name war David Kranz. Er versprach, dass sämtliche in
Reichweite befindliche Kräfte sich sofort zum Tatort begeben würden
- inklusive eines Polizei-Helikopters.
»Ich hatte es heute Morgen schon im Gefühl, dass irgendetwas
schiefgehen würde«, meinte Jakob Namokel. Der Klang seiner Stimme
vibrierte leicht und verriet damit, wie es in ihm aussah.
Namokel und Weller waren mit kurzläufigen Revolvern
ausgerüstet. Namokel zog seinen 38er aus dem Holster und überprüfte
die Ladung. Er hatte in den fünf Jahren, die er nun schon als
Wachmann für Telso Security arbeitete, die Waffe noch nie benutzt –
und diesmal sprach eigentlich auch nichts dafür, dass es dazu
kommen würde. Der Transporter war gepanzert. Auch wenn die Bande
einfach das Feuer eröffnete und einen wahren Kugelhagel auf die
Frontseite mit der Fahrerkabine eröffnete, blieben die Insassen
unversehrt. Das Panzerglas der Frontscheibe war so beschaffen, dass
es auch großkalibrige Projektile sicher auffing.
Sechs Überfälle hatte man in letzter Zeit auf die Wagen von
Telso Security unternommen. Den Wachmännern war dabei nur in zwei
Fällen etwas passiert. Diese Überfälle waren begangen worden, als
der Wagen be- oder entladen wurde und die Kollegen dementsprechend
schutzlos gewesen waren.
Aber solange sie in der Kabine blieben, waren sie
sicher.
Zumindest sagte sich das Jakob Namokel immer wieder. Er hatte
eine Frau und zwei kleine Kinder - Zwillinge. Die beiden waren erst
vor wenigen Monaten geboren worden und Jakob war heilfroh gewesen,
endlich den Job bei Telso bekommen zu haben.
Gut bezahlt wurden die Security-Leute dort zwar nicht, und es
war sicher auch ein gewisses Risiko dabei. Aber für Jakob Namokel
war es die erste feste Anstellung seit längerer Zeit und so war er
froh gewesen, überhaupt etwas gefunden zu haben, was ihm
einigermaßen krisensicher erschien.
Die Gedanken rasten nur so durch seinen Kopf. Er dachte an
seine Frau und seine Kinder und das Fußballspiel, das er jetzt wohl
mit Sicherheit versäumte, gleichgültig, was noch geschehen würde.
Das alles vermischte sich in diesen Sekunden zu einem Strudel aus
unzusammenhängenden Eindrücken – bis ein Schock diesen Zustand
abrupt beendete.
Jakob Namokel erbleichte, als er in die Mündung der Bazooka
blickte, die einer der Maskierten in Stellung gebracht und auf die
Frontscheibe ausgerichtet hatte.
Gegen so ein Geschoss gab es keine Panzerung.
Einen kurzen Moment lang fragte sich Jakob Namokel, wieso die
Täter nicht einfach eine Sprengladung an der Hintertür des
Transporters angebracht hatten. Mehrere der letzten Überfälle waren
so verlaufen. Die Wachmänner hatten unterdessen in ihrer Kabine
ausgeharrt, während es hinter ihnen geknallt hatte.
Davon, dass die Hintertüren der Telso Security-Transporter
jetzt gegen Sprengstoff besonders geschützt werden, konnten die
Gangster eigentlich nichts wissen.
Eigentlich …
Wieder erfolgte eine eindeutige Geste.
Jakob Namokel und Dietmar Weller hatten überhaupt keine andere
Wahl – wollten sie nicht riskieren, von der abgefeuerten Bazooka in
Stücke gerissen zu werden.
Panzerglas schützte in diesem Fall nicht.
Zögernd öffnete Dietmar Weller die Tür.
Einer der Bewaffneten zog ihn aus der Kabine. Dann war Namokel
an der Reihe. Auch er wurde grob ins Freie gezerrt und sofort
entwaffnet.
Aber mit einem 38er Special war man, was die Feuerkraft
anging, ohnehin der moderneren Bewaffnung dieser fast militärisch
organisierten Bande hoffnungslos unterlegen.
»Aufmachen!«, rief einer an Namokel gewandt.
»Mach schon, Jakob, wir haben keine andere Wahl«, raunte
Weller ihm zu.
In der Ferne heulten die Polizeisirenen.
Jakob Namokel spürte eine Pistole an der Schläfe. Der Kerl
atmete schwer und schien ziemlich nervös zu sein.
»Aufmachen!«, zischte er.
Jakob Namokel ließ sich das nicht zweimal sagen. Der Maskierte
schob ihn mit der Waffe im Anschlag vor sich her. Ein anderer
Gangster führte Weller mit sich und stieß ihn voran.
Namokel nahm seinen Schlüsselbund vom Gürtel und öffnete die
besonders gesicherte Hecktür des Transporters. Zwei Maskierte
sprangen ins Innere des Wagens. Eine kleine Sprengladung öffnete
ein weiteres, weniger stabiles Schloss.
Der Kerl, der Jakob Namokel die Waffe an die Schläfe gesetzt
hatte, hielt seine Automatik die ganze Zeit über auf den Wachmann
gerichtet. Die Arme waren dabei ausgestreckt. Der Ärmel der
Armee-Jacke im Tarnfarben-Look waren dabei ein paar Zentimeter
hochgerutscht.
Eine Tätowierung wurde am Unterarm sichtbar. Es handelte sich
um einen zweiköpfigen Drachen.
Das Maskierte bemerkte Jakob Namokels stieren Blick. Namokel
schluckte. Der Maskierte drückte plötzlich ab. Getroffen sank
Namokel zu Boden. Regungslos blieb er liegen.
»Hey, bist du verrückt!«, schrie einer der anderen
Maskierten.
In heller Panik versuchte sich Weller im selben Moment
loszureißen. Der Maskierte, der schon Namokel erschossen hatte,
streckte auch ihn mit einem gezielten Schuss nieder.
Ein Maskierter mit einer Uzi im Anschlag ging auf den Mörder
zu und stieß ihn grob an.
»Was soll das, du Idiot?«
»Der Kerl hatte mich erkannt!«
»Wie denn? Du tickst doch nicht mehr richtig!« Er deutete auf
den offen stehenden Transporter. »Alles, was wir an
Geldbomben-Kassetten und so weiter greifen können, wird mitgenommen
und dann nichts wie weg!«
3
Roy und ich waren unterwegs, um einen Zeugen zu vernehmen, der
sich bei uns gemeldet hatte, um in einem Drogenfall auszusagen. Er
hieß Manfred Jessen, war selbstständiger Finanzberater und konnte
uns wichtige Hinweise zu den dunklen Kanälen gegeben, auf dem
einige Drogensyndikate ihr Schwarzgeld blütenweiß machten.
Manfred Jessen wohnte in einem der Apartments am Stadtpark.
Aber Jessen versetzte uns.
Er hatte es vorgezogen, für drei Wochen zu verreisen, wie wir
vom Sicherheitsdienst des Apartmenthauses erfuhren. Dort hatte er
sich nämlich für diese Zeit abgemeldet. Am frühen Morgen hatte er
sein Apartment verlassen. Wie wir telefonisch ermittelten, war er
zum Hamburger Flughafen gefahren und hatte dort einen Flug auf die
Cayman-Islands genommen. Vielleicht hatte ihm jemand sehr
nachdrücklich geraten, Hamburg zu verlassen und auf seine Aussage
zu verzichten. Uns waren die Hände gebunden. Es war immer dasselbe.
Das Gesetz des Schweigens sorgte dafür, dass das organisierte
Verbrechen gedeihen konnte. Nur wenn es gebrochen wurde, hatten wir
von der Kriminalpolizei eine Chance.
Der Sicherheitsdienst der Apartments – eine Firma namens Telso
Security, wie man an der kleinen, in Brusthöhe angebrachten
Aufschrift auf den Uniformen sehen konnte, war so freundlich, uns
mit einem Generalschlüssel in Manfred Jessens Wohnung zu
lassen.
Einen Durchsuchungsbefehl hätten wir dafür niemals bekommen.
Schließlich lag gegen Jessen nichts vor und allein die Tatsache,
dass er uns vage ein paar Hinweise auf dubiose Finanzgeschäfte von
ein paar altbekannten Drogenbaronen offeriert hatte, die wir schon
seit langem gerne hinter Gitter gesehen hätten, reichte dazu
einfach nicht aus.
Unsere Begründung dafür, die Wohnung in Augenschein nehmen zu
können, war der Verdacht, dass Manfred Jessen vielleicht einem
Verbrechen zum Opfer gefallen sein konnte. Wenn es schließlich
zutraf, was er uns so vollmundig am Telefon angeboten hatte und er
tatsächlich über die Geldwäschekanäle der Drogensyndikate ein paar
relevante Aussagen machen konnte, stand er mit Sicherheit auf der
Abschussliste irgendeines Lohnkillers.
»Ein Verbrechen?«, echote Jens Tanner, der Chef der
Tagesschicht bei den Telso Security-Leuten, die im Gebäude ihren
Dienst versahen. »Er hat das Haus verlassen und sich bei meinem
Kollegen persönlich abgemeldet. Jessen wollte, dass jemand gefunden
wird, der für die Fische in seinem Aquarium sorgt. Er selbst könnte
jetzt auf die Schnelle niemanden mehr damit beauftragen.«
»Sagen Sie bloß, so etwas machen Sie auch«, staunte ich.
Jens Tanner zuckte die Schultern.
»Man tut, was man kann. Wir sind zuvorkommend und leisten gute
Arbeit. Die Bewohner dieses Hauses sollen sich bei uns so sicher
wie in Abrahams Schoß fühlen!«
»Hat jemand wirklich gesehen, wie Jessen das Gebäude verlassen
hat oder nehmen Sie das nur an, weil er sich bei Ihnen abmeldete?«,
fragte mein Kollege Roy Müller.
Jens Tanner verdrehte genervt die Augen.
»So kann man natürlich sich auch etwas zusammen konstruieren
…« Er seufzte hörbar und setzte dann hinzu: »Wir haben natürlich
Videoaufzeichnungen in den Fluren. Wenn Sie sich die Mühe machen
wollen, sich die alle anzusehen …«
»Das machen wir!«, kündigte ich an. »Aber viel einfacher ist
es, Sie lassen uns in der Wohnung nachsehen.«
Er rang einen Augenblick mit sich, dann führte er uns zu
Jessens Apartment.
»Wenn ich deswegen meinen Job verliere, dann …«
»Weil Sie uns geholfen haben, Herr Tanner?«, schnitt ich ihm
das Wort ab. »Wohl kaum.«
»Ich verdiene hier einen Hungerlohn – und das obwohl ich
Schichtleiter bin. Aber verdammt noch mal, ich bin auf das Geld
angewiesen.«
»Das macht Ihnen auch niemand streitig.«
Tanner wirkte ziemlich gereizt. Ich fragte mich, warum
eigentlich.
Endlich öffnete er uns Jessens Wohnung. Wir traten ein. Die
Quadratmeterzahl musste sich irgendwo um die hundert bewegen – was
bedeutete, dass Jessens Wohnung erheblich größere Ausmaße hatte als
es in Hamburg durchschnittlich der Fall war. Seine Geschäfte
schienen gut genug zu gehen, um ihm diesen Luxus zu erlauben.
An den Wänden hingen ein paar moderne Gemälde.
»Ich frage mich, hat Jessen die als Wertanlage gekauft oder
sich wirklich für Kunst interessiert«, sagte Roy.
»Kunst eignet sich hervorragend zur Geldwäsche«, gab ich zu
bedenken.
Die Wohnung wirkte wie abgeleckt. Jemand schien alles glänzend
gewienert zu haben. Die Möbel in der Küche glänzten ebenfalls so,
dass man sich darin spiegeln konnte.
Im Schlafzimmer fanden wir das mit Folie eingeschlagene
Bündel. Ein starres Gesicht mit aufgerissenen Augen starrte uns
durch die milchig-trübe Plastikplane entgegen. In der
Schläfengegend befand sich ein Einschussloch.
»Manfred Jessen!«, stieß ich hervor.
Roy hatte bereits das Handy aus der Innentasche seines
Jacketts hervorgeholt und war im Begriff per Kurzwahl eine
Verbindung zu unserem Büro am Bruno-Georges-Platz
herzustellen.
Jens Tanner wandte den Kopf ab. Der Telso Security-Wachmann
war bleich wie die Wand geworden. So etwas war er nicht offenbar
nicht gewöhnt.
4
Nach und nach trafen unsere Kollegen ein. Zuerst waren die
Kollegen der zuständigen Dienststelle am Ort des Geschehens. Etwas
später trafen die Kollegen unserer Abteilung ein. Federführend in
der Geldwäsche-Sache war unser Kollege Stefan Czerwinski. Er war
der stellvertretende Chef unserer Dienststelle. Er kam in
Begleitung von unseren Kollegen Oliver 'Ollie' Medina und Fred
Rochow in Manfred Jessens Wohnung und begrüßte uns
freundlich.
Dr. Bernd Claus, ein Gerichtsmediziner im Auftrag des
Gerichtsmedizin, traf mit einer halbstündigen Verspätung ein, da
der Verkehr rund um den Stadtpark ihn aufgehalten hatte. Auf der
Höhe der Brücke über den Goldbekkanal gab es eine Baustelle, die es
zu einer wahren Qual machte, am Stadtpark entlang Richtung Norden
wie auch Süden zu fahren. Leider waren sämtliche Ausweichstraßen
wohl ebenfalls hoch frequentiert, so dass man im Moment einfach
eine halbe Stunde mehr einplanen musste, als normalerweise
üblich.
So dauerte es geschlagene anderthalb Stunden, ehe endlich die
Spurensicherer der Ermittlungsgruppe des Erkennungsdienstes den
Tatort untersuchen konnten. Dieser zentrale Erkennungsdienst war
ebenfalls in Winterhude angesiedelt und wurde von sämtlichen
Hamburger Polizeieinheiten für ihre Ermittlungen genutzt.
Zwischendurch rief ich noch einmal in unserem Büro an.
Ich ließ mich mit Kollege Max Warter verbinden, einem
Innendienstler aus unserer Fahndungsabteilung. Max hatte in der
Zwischenzeit noch einmal Kontakt mit dem Flughafen aufgenommen. Ein
Mann namens Manfred Jessen stand dort tatsächlich auf der
Passagierliste eines Flugzeugs, das fahrplangemäß zu den
Cayman-Islands gestartet war.
»Niemand kann an zwei Orten zugleich sein«, stellte ich fest.
»Und Herr Jessen ist definitiv hier! Also hat sich jemand für
Jessen ausgegeben, um den Anschein zu erwecken, dass dieser für
Wochen oder Monate nicht im Lande und damit für uns unerreichbar
ist.«
»Du bringst es auf den Punkt, Uwe!«, glaubte Max. »Wir haben
ein paar Kollegen zum Flughafen geschickt und sehen zu, was wir
darüber herausfinden können.«
»Okay, Max. Dann bin ich gespannt darauf, wieder von dir zu
hören, falls sich etwas Neues ergibt!«
Max Warter unterbrach die Verbindung, und ich ließ mein Handy
wieder in der Jackettinnentasche verschwinden.
Wir sprachen mit Manuel Ganz, dem Security-Mann, bei dem
Jessen sich abgemeldet hatte. Er empfing uns in der
Video-Überwachungszentrale des Hauses. Auf mehreren Dutzend
Bildschirmen waren die weiteren Korridore und die Eingangshalle zu
sehen. Machten die diensthabenden Security-Leute eine Beobachtung,
die ihnen in irgendeiner Form verdächtig vorkam, so konnten sie
sofort Alarm schlagen und ihre Kollegen an den Ort des Geschehens
schicken.
Während Jens Tanner dafür sorgte, dass sämtliche relevanten
Videodateien auf Datenträger kopiert wurden, so dass wir sie
unseren Laborkollegen zur Verfügung stellen konnten, sprachen wir
mit Manuel Ganz.
»Manfred Jessen hat also angekündigt, dass er für drei Wochen
verreisen wolle und Sie gebeten, jemanden zu suchen, der seine
Fische füttert«, fasste ich die Aussage des Wachmanns
zusammen.
»Und – haben Sie den zweiten Teil Ihres Auftrags bereits
erfüllt, Herr Ganz?«, fragte ich.
»Nein, dazu ist es noch nicht gekommen«, erklärte Ganz. »Ich
hätte aber bestimmt noch rechtzeitig jemanden gefunden, der das mit
den Fischen übernimmt. Schließlich war das ja nicht die erste
Reise, die Herr Jessen unternahm, seit er bei uns im Haus
lebt.«
Mitten in der Vernehmung klingelte plötzlich mein Handy. Es
war Herr Bock, der Chef des Kriminalpolizei Hamburg persönlich.
»Uwe, wir brauchen Sie und Roy im Moment an der Kreuzung
Heidestraße/Jarrstraße!«, erklärte er in einem Tonfall knapper
Befehle und Anweisungen. »Wir erhielten einen Notruf. Es hat ein
Überfall auf einen Geldtransporter stattgefunden.«
Während mich Herr Bock noch mit weiteren Informationen über
die Begleitumstände versorgte, waren Roy und ich bereits auf dem
Weg ins unterirdische Parkhaus des Apartmentgebäudes, wo wir den
Sportwagen geparkt hatten, den uns die Fahrbereitschaft des
Kriminalpolizei zur Verfügung stellte.
5
Die Vernehmung von Herr Ganz musste von einem der anderen
Kollegen übernommen werden, die sich am Tatort befanden. Angesichts
des akuten Überfalls war klar, dass alle Kräfte, die sich in der
Nähe des Tatorts befanden und irgendwie entbehrlich waren, sofort
abgezogen wurden.
Und auf Roy und mich traf das zu.
Der Fall Manfred Jessen gehörte ja ohnehin zu einem Komplex,
den Stefan und Ollie bearbeiteten.
Vom Tatort an einer Ampel in der Heidestraße waren wir nur
wenige Straßen entfernt. Wir fuhren mit Rotlicht auf dem Dach den
Stadtpark entlang. Eine Eigentumswohnung in einem der Häuser hier
konnte gut und gerne schon mal ein paar Millionen Euro
kosten.
Ich trat das Gaspedal voll durch und musste doch wenig später
wieder in die Eisen gehen. Die Gangster hatten sich genau den
richtigen Zeitpunkt ausgesucht, um dafür zu sorgen, dass wir den
Tatort nicht schnell erreichen konnten. Die Hauptverkehrszeit am
späten Nachmittag setzte ein und wir quälten uns im Schneckentempo
in Richtung der Straßenecke, wo der Überfall stattgefunden
hatte.
Erst in einer der Seitenstraßen zwischen Park und Heidestraße
wurde es etwas besser. Mit Sirenen und Rotlicht fuhr ich drauflos.
Weitere Sirenen heulten hinter den Häuserzeilen auf. Wir waren
nicht die einzigen, die gerufen worden waren.
Rings um die besagte Kreuzung stand der Verkehr. Ein
Hupkonzert erfüllte die Luft. Es gab kein Weiterkommen mehr.
Das vollkommene Chaos war ausgebrochen. Wir stiegen aus dem
Wagen und ließen den Sportwagen kurzerhand stehen, um die letzten
zweihundert Meter, die uns noch vom Tatort trennten, im Dauerlauf
hinter uns zu bringen. Zahllose Passanten standen uns im Weg.
Wir zogen unsere Ausweise und hielten sie hoch.
Als wir den Transporter erreichten, war bereits ein gutes
Dutzend Beamten der Polizei dort.
Die Türen des Transporters standen offen. Von mehreren
Fahrzeugen war der Wagen zugestellt worden.
Wir zeigten einem der Uniformierten unsere Ausweise und
steckten sie dann ein.
»Die beiden Wachmänner, die den Wagen gefahren haben, hat es
erwischt«, berichtete uns der Polizist, dem wir die Ausweise
gezeigt hatten.
Er hieß Jan Thomes.
Wir umrundeten den Transporter.
Mir fiel der Firmenaufdruck auf: Telso Security Service Inc.
konnte man dort lesen. Außerdem gab es eine Telefonnummer und einen
Verweis auf die Internetseite dieses Sicherheitsdienstes.
»Kommt dir auch irgendwie bekannt vor, was?«, meinte
Roy.
»Manchmal gibt es Zufälle …«
Erst viel später sollten wir begreifen, dass das alles mit
vielem zu tun hatte – nur nicht mit Zufällen.
Wir erreichten die Rückfront und drängten uns zwischen
Uniformierten hindurch.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei. Dies ist mein Kollege Roy
Müller«, stellte ich uns vor.
Zwei Männer lagen auf dem Boden. Einer war unzweifelhaft tot.
Aber der Zweite lebte noch. Zwei Polizisten hatten Erste Hilfe bei
ihm geleistet. Er blutete schrecklich. Offenbar hatte er schwere
Schussverletzungen.
Der Einsatzleiter, ein gewisser Polizeiobermeister Görnemann,
wandte sich an uns.
»Übernimmt das Kriminalpolizei den Fall?«, fragte er.
»Das fällt in unser Gebiet - zumal die Firma, der der
Transporter gehört, ihren Hauptsitz in Hamburg-Hamm hat«, sagte
ich. »Aber definitiv kann ich dazu nichts sagen. Im Moment sind wir
zu Ihrer Unterstützung hier.«
»Verzeihen Sie, aber der Rettungsdienst wäre uns im Augenblick
lieber gewesen, Herr Jörgensen!«, erwiderte POM Görnemann.
»Wissen Sie schon, was passiert ist?«, hakte Roy nach.
»Ich habe alles gesehen!«, mischte sich ein Taxifahrer ein,
der mit seinem Wagen jetzt feststeckte. Ich wandte mich dem
untersetzten Mann mit schütterem Haar zu. Meiner Schätzung nach war
er in den 50ern. Er trug ein Sweatshirt mit der Aufschrift I AM THE
GREATEST. Die Fortsetzung war auf der Rückseite zu lesen, wie ich
später sah: ASSHOLE IN TOWN.
»Die haben die Wachleute zum Aussteigen gezwungen! Mit einer
Bazooka.«
»Wo sind die Täter jetzt?«, hakte ich nach.
»Zur U-Bahnstation. Sie haben alles aus dem Wagen geholt und
sind dann auf und davon.« Er steckte die Hand aus. Die nächste
U-Bahnstation war keine dreihundert Meter entfernt.
Roy nahm das Handy, um sich mit der Bahnpolizei in Verbindung
zu setzen.
»Die waren wie Soldaten gekleidet«, berichtete der Taxifahrer
weiter. »Sturmhauben, Tarnanzüge, kugelsichere Westen und so
weiter! Erst habe ich gedacht, dass hier vielleicht eine
Polizeioperation oder so etwas läuft. Ein Spezialteam, das einen
gekaperten Geldtransporter stellt oder was weiß ich. Aber Beamte
eines Spezialteams hätten wohl kaum jemanden kaltblütig
erschossen.«
»Sie sind in die Linie Richtung Hamburg-Mitte eingestiegen«,
meldete Roy unterdessen. »Am nächsten Bahnhof erwartet sie ein
großes Polizei-Aufgebot.«
»Würde mich wundern, wenn die nicht noch irgendetwas anderes
in petto hätten!«, meinte ich daraufhin und wandte mich wieder dem
Taxifahrer zu. »Wie kam es zu den Schüssen?«, fragte ich.
Er zuckte die Schultern.
»Keine Ahnung«, bekannte er. »Plötzlich hat einer der Typen
einfach losgeballert und einen der beiden Wachmänner
abgeknallt.«
»Wo befanden Sie sich, Herr …«
»Stratton. Peter Stratton. Ich war hinter dem Steuer meines
Wagens und habe mich weitgehend in Deckung gehalten, um nichts
abzubekommen. Über Funk habe ich den Überfall gemeldet, als mir
klar war, dass das nicht die Operation eines Spezialteams
ist.«
»Wir brauchen noch Ihre Personalien«, mischte sich Roy ein.
»Außerdem bekommen Sie unsere Karte. Es könnte ja schließlich sein,
dass wir noch Fragen an Sie haben oder Ihnen noch irgendetwas
Wichtiges einfällt.«
In diesem Moment kam der Notarzt des Rettungsdienst mit seinem
Team. Der Einsatzwagen war im Verkehrschaos steckengeblieben, so
dass die Männer die letzten hundert Meter zu Fuß hinter sich
bringen mussten.
Sie nahmen sich sofort des Schwerverletzten an und
transportierten ihn ab. Eine unübersehbare Blutlache blieb auf dem
Asphalt.
6
Das Verkehrschaos rund um den Tatort löste sich in den
nächsten Stunden nur zögernd auf. Wir blieben am Ort, um die
Ermittlungen zu leiten. Anstelle der Erkennungsdienstler der
Ermittlungsgruppe des Erkennungsdienstes griffen wir in diesem Fall
auf unsere eigenen Spurensicherer zurück, die es schließlich ebenso
wie der Gerichtsmediziner schafften, zu uns vorzudringen. Dass die
Fahrzeuge, mit denen die Täter den Überfall begangen und die sie
dann am Tatort zurückgelassen hatten, vor wenigen Tagen als
gestohlen gemeldet worden waren, ließ sich durch eine einfache
Abfrage der Kennzeichen herausfinden, die wir telefonisch
vornahmen.
Unsere Kollegen Tobias Kronburg und Ludger Mathies trafen am
Tatort ein, um uns zu unterstützen - ebenso wie zusätzliche
Einsatzkräfte der Polizei. Es mussten schließlich Dutzende von
Zeugenaussagen aufgenommen werden. Jetzt, unter dem Eindruck des
Geschehenen waren viele Zeugen bereit, auch eine Aussage zu machen.
In einem späteren Stadium der Ermittlungen noch glaubwürdige Zeugen
zu finden, war dagegen ungleich schwieriger.
Unsere Erkennungsdienstler Frank Folder und Martin Horster
nahmen sich neben dem Blut und anderen Spuren, die sich auf dem
Asphalt fanden, auch den Transporter vor.
»Das waren absolute Profis«, lautete Martin Horsters Ansicht.
»Offenbar wussten sie auch sehr gut über die in diesem Wagen
vorhandenen Sicherheitsmerkmale Bescheid. Sie müssen gewusst haben,
dass die Hecktür nicht mit einer einfachen Sprengladung zu öffnen
war.«
»Wieso nicht?«, hakte ich nach.
Martin deutete auf die Innenseiten der Hecktüren.
»Hier wurde vor kurzem eine erhebliche Verstärkung
angebracht.«
»Die hätten mit ihrer Bazooka draufhalten können!«
»Wohl kaum«, meinte Martin. »Die dabei im Innenraum
entstehenden Temperaturen hätten das Bargeld selbst in einem Safe
zum Verglühen gebracht. Aus ihrer Sicht gesehen haben sie es genau
richtig gemacht. Und was ihre Flucht angeht, so wären Sie mit den
Wagen hier in Hamburg auch nicht weit gekommen. Die U-Bahn war da
schon eine vernünftige Alternative.«
Wenig später erhielten wir die Nachricht, dass unsere Kollegen
an der nächsten U-Bahnstation vergeblich auf den Zug mit den
Gangstern gewartet hatten. Die hatten mitten auf der Strecke die
Notbremse gezogen und waren mitsamt ihrer Beute ausgestiegen. Es
war so gut wie unmöglich, die Täter dort zu finden. Und jeder
Gullydeckel konnte ein potentieller Ausstieg sein.
»Die haben genau gewusst, was sie taten«, kommentierte Roy
diese Nachricht.
Bis zum Abend wurden noch Dutzende von Zeugenaussage
aufgenommen. Es würde Tage dauern, bis unsere Innendienstler daraus
die Spreu vom Weizen getrennt hatten.
Aber es gab ein paar elektronische Zeugen, deren
Erinnerungsvermögen unbestechlicher war. Da waren auf der einen
Seite die Aufzeichnungen der Video-Kameras in der U-Bahnstation.
Die entsprechenden Aufnahmen würden zusammen mit den Tatfahrzeugen
und dem Transporter ins Labor wandern und genauestens untersucht
werden.
Zwar waren die Täter vermummt und uniformiert gewesen, aber
möglicherweise gab es dennoch irgendwelche Merkmale, die uns
Hinweise auf die Täter gaben.
Ein Glücksfall für unsere Ermittlungen war jedoch die
Überwachungsanlage eines Juweliergeschäfts an der Ecke
Heidestraße/Jarrstraße.
Roy und ich sahen uns im Geschäft die Aufzeichnungen des
Nachmittags an.
Wie die Täter es geschafft hatten, die Insassen des
Transporters zum Aussteigen zu bewegen, war auf der Aufnahme auf
Grund des Kamerawinkels nicht zu sehen. Dafür war alles aufgenommen
worden, was sich im Heckbereich des Transporters abgespielt
hatte.
Die Aufnahme zeigte, wie die Gangster die beiden Wachmänner
dazu zwangen, die Hecktür zu öffnen. Von innen war eine kleinere
Explosion zu hören. Dann geschah der Mord an dem ersten Wachmann,
dessen Name Jakob Namokel war, wie wir inzwischen wussten.
»Es ist überhaupt kein Grund dafür zu erkennen, weshalb der
Typ mit der Automatik plötzlich ausrastet und Namokel umbringt«,
kommentierte Roy die schrecklichen Bilder.
Ich musste ihm recht geben.
Der Wachmann hatte sich weder unvorsichtig bewegt, noch sich
zu wehren versucht.
Ich atmete tief durch und wandte mich Alex Ditrich zu, dem
Besitzer des Juwelierladens, dessen Überwachungselektronik wir
diese Bilder verdankten. »Wir werden die Aufnahmen ins Labor
mitnehmen müssen«, eröffnete ich ihm.
»Kein Problem«, meinte Ditrich. »Ich brenne Ihnen eine DVD
davon, dann können Ihre Leute im Labor damit anstellen, was sie
wollen. Dauert aber ein paar Minuten.«
»In Ordnung. Haben Sie ansonsten noch irgendwelche
Beobachtungen gemacht, die vielleicht sachdienlich sein
könnten?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe nur schnell zugesehen, dass ich meine Ladentür
abgeschlossen habe. Schließlich wusste ich ja nicht, ob den Typen
vielleicht noch einfällt, ein paar Sachen aus meinen Auslagen
mitzunehmen.«
»Da hatten sie offenbar kein Interesse dran.«
»Wissen Sie, ich vertraue diesen Sicherheitsdiensten
nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte ich.
»Diese Geldtransporter fahren ihre Tour durch die Stadt,
nehmen bei jedem Supermarkt, Juwelier oder was sie ansonsten noch
für Geschäfte unter Vertrag haben, die Tageseinnahmen mit und
bringen sie zur Bank. Meiner Meinung nach ist das doch eine
regelrechte Einladung für Gangster, sich so einen Transport mal
vorzunehmen.«
»Diese Wagen sind sehr gut sichert«, gab ich zu bedenken. »Die
Wachleute tragen Waffen und die Transporter sind so gepanzert, dass
man sie normalerweise auch durch Schusswaffengebrauch nicht so
einfach stoppen kann.«
»Sie haben es ja gleich auf einer DVD, wie leicht das geht.
Nein, ich bringe meine Einnahmen lieber selbst zur Bank. Das ist
sicherer. Das mache ich nun schon seit fünfzehn Jahren so und werde
auch in Zukunft nichts an dieser Praxis ändern.«
Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass statistisch gesehen,
Geldtransporte relativ selten überfallen wurden – und die Täter
dabei aufgrund diverser Sicherheitsmerkmale der Fahrzeuge noch
seltener erfolgreich waren. Aber der Juwelier ließ sich davon nicht
überzeugen.
Roy stieß mir in die Seite und raunte: »Ich glaube, es ist
heute ein schlechter Tag, um Werbung für private Sicherheitsfirmen
zu machen.«
Wahrscheinlich hatte er recht.
7
Der Mann hatte einen Lotussitz eingenommen und die Augen
geschlossen. Aber selbst die ausgefeilteste asiatische
Entspannungstechnik hätte ihn jetzt nicht entkrampfen können. Es
juckte ihn am Arm, knapp oberhalb des doppelköpfigen Drachens, den
er sich dort hatte stechen lassen.
Er atmete tief durch.
Der aufdringliche Klingelton seines Handys machte dem Versuch,
sich innerlich zu versenken, ein jähes Ende. Er griff nach dem
Apparat.
»Ja?«
»Bist du eigentlich verrückt geworden?«
»Major!«
»Ich habe gehört, du willst abtauchen.«
»Ist wohl das Beste, oder?«
»Vielleicht ...«
»Du hilfst mir doch, oder?«
»Sicher. Aber du musst dich noch etwas gedulden.«
»Aber …«
»Und verfall nicht in Panik, klar! Kämpfe ein paar Sandsäcke
nieder, wenn dir das gut tut! Aber behalte verdammt noch mal die
Nerven!«
»Ja.«
»Ich melde mich morgen wieder.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Schweißperlen glänzten auf der Stirn des Mannes mit den
doppelköpfigen Drachen.
8
Am nächsten Morgen trafen wir uns im Büro von Kriminaldirektor
Jonathan D. Bock, unserem Chef, zur Besprechung.
Unser Chef machte ein sehr ernstes Gesicht, hatte die Ärmel
seines Hemdes hochgekrempelt, die Krawatte gelockert und die Hände
in den weiten Taschen seiner Flanellhose vergraben.
Es kam oft vor, dass Herr Bock morgens der Erste war, der im
Büro an seinem Platz und es abends als Letzter verließ. Seit seine
Familie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, hatte er sein
Leben ganz dem Kampf für das Recht verschrieben und erfüllte seinen
Beruf mit besonderer Hingabe, die weit über das normaler Maß
hinausging.
Diesmal hatte ich allerdings den Eindruck, dass er das Büro
überhaupt nicht verlassen, sondern einfach durchgearbeitet hatte.
Dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet.
Als seine Sekretärin Mandy uns ihren hervorragenden Kaffee
servierte, nahm er sich sofort einen Becher und nippte daran. Dann
wischte er sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht und
blickte anschließend auf die Uhr.
»Ich frage mich, wo Frank bleibt«, knurrte er. »Dann werden
wir wohl ohne ihn anfangen müssen.«
Mit ‚Frank’ war unser Erkennungsdienstler Frank Folder
gemeint. Abgesehen von Roy und mir waren noch die Kollegen Ludger
Mathies und Tobias Kronburg anwesend, die beiden Kollegen, die uns
am Tatort an der Heidestraße unterstützt hatten. Außerdem noch
unser Innendienstler Max Warter sowie der Chefballistiker David
Ochmer.
»Der Überfall auf den Geldtransporter, der sich an der
Kreuzung Heidestraße/Jarrstraße ereignet hat, ist Teil einer Serie
ähnlicher Überfälle, die sich im gesamten Großraum Hamburg sowie in
Bremen, Hannover und Lübeck ereignet haben. Alles, was es an Akten
dazu gibt, ist bereits in ihren E-Mail-Postfächern. Max war so
freundlich, darüber hinaus noch ein aussagekräftiges Dossier
zusammenzustellen, dass zunächst einmal eine Grundlage für den
Beginn Ihrer Arbeit sein könnte.«
»Wie viele Überfälle gehören denn bereits zu dieser so
genannten Serie?«, fragte ich.
»Insgesamt sechs«, gab Herr Bock Auskunft. »Aber ich gehe
davon aus, dass dieses Blutbad an der Kreuzung der letzte war, denn
von nun an übernehmen wir den Fall.«
»Wieso ist das nicht schon längst bei uns gelandet?«, fragte
Roy.
Herr Bock hob die Augenbrauen.
»Bislang waren die jeweiligen Polizeidienststellen hier
federführend. Aber erstens sind die derzeit mit anderen Fällen
überlastet und zweitens hat dieser Fall eine immer stärkere
Hamburger Schlagseite bekommen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Die letzten drei Überfälle, die wir bislang zu dieser Serie zählen,
sind auf dem Gebiet von Hamburg begangen worden und die in allen
Fällen betroffene Deutsche Liquiditätsbank hat hier auch ihren
Hauptsitz. Das betroffene Sicherheitsunternehmen ist in
Hamburg-Hamm angesiedelt. Wie auch immer, Sie werden sich beide
Adressen gründlich vornehmen müssen. Bei einer von beiden muss
mindestens der Wurm drin sein, wenn Sie mich nach meiner spontanen
Einschätzung fragen. Am besten Sie fangen mit der Bank an. Vor ein
paar Monaten erhielt die Liquiditätsbank erstmals Drohungen, dass
kein Geldtransporter mehr ihre Filialen erreichen würde und sich
bald alle Geschäftsleute aus Hamburg und Umgebung eine andere Bank
suchen würden. Leider hat die Liquiditätsbank diese Drohungen unter
der Decke gehalten und ist erst jetzt damit herausgekommen.« Herr
Bock seufzte hörbar. »Das kommt davon, wenn man sich von solchen
Erpressern einschüchtern lässt.«
Max Warter ergriff nun das Wort.
»Auffällig ist jedenfalls, diese Taten ausschließlich
Geldtransporte betreffen, die für die Deutsche Liquiditätsbank und
ihre Filialen bestimmt waren und die Täter jedes Mal
außerordentlich gut informiert waren. Sie wussten genau über die
Route Bescheid und kannten offenbar auch die täglich wechselnde
Reihenfolge, in der einzelne Stationen der Route angefahren
wurden.«
»Das bedeutet, die Bande hat Helfer«, stellte Herr Bock fest.
»Es könnte jemand in der Bank sein - oder aber bei dem
beauftragten Sicherheitsdienst«, vermutete ich. »Beim letzten
Überfall an der Kreuzung war dies Telso Security. Wie war das bei
den anderen?«
»Telso ist eine der größten privaten Sicherheitsfirmen hier«,
erläuterte Herr Bock. »Natürlich ist es möglich, dass dort ein
Mitarbeiter falsch spielt – aber dann ist nicht erklärlich, warum
nicht auch andere Auftraggeber, für die Telso Security-Transporte
organisiert, von der Serie betroffen sind.«
»Aber ausschließen können wir diese Spur nicht«, meinte
ich.
Herr Bock stimmte zu. »Da haben Sie natürlich recht,
Uwe.«
Ich wandte mich an Max, unseren Innendienstler.
»Siehst du irgendwelche Zusammenhänge zu dem Mordfall Manfred
Jessen?«, erkundigte ich mich.
Max Warter verengte die Augen und kratzte sich am Kinn.
»Du meinst diesen Zeugen in der Geldwäsche-Angelegenheit, der
sich gemeldet hatte und angeblich ein paar Mafia-Riesen in den
Abgrund reißen wollte.«
»Genau den!«
»Mir ist jetzt keine Parallele bewusst, Uwe«, gestand Max.
»Aber wahrscheinlich ist es das Beste, du sprichst den Fall mal mit
Stefan und Ollie durch. Die sind schließlich an der Sache
dran.«
»Wie kommen Sie darauf, dass da ein Zusammenhang bestehen
könnte, Uwe?«, fragte Herr Bock.
Ich zuckte die Schultern.
»Das war nur so ein Gedanke, weil auch das Gebäude, in dem
Manfred Jessen wohnte, von Telso Security bewacht wird.«
»Ihr Spürsinn in allen Ehren, Uwe – aber ich glaube, da sind
Sie in einer Sackgasse«, erklärte Herr Bock im Brustton der
Überzeugung und dem ganzen Gewicht seiner jahrzehntelangen
Erfahrung.
Ich nippte an meinem Kaffee.
Jetzt kam David Ochmer, unser Chefballistiker, zu Wort. Er
erläuterte uns, welche Erkenntnisse es, seinem vorläufigen
ballistischen Bericht nach, gab.
»Jakob Namokel und Dietmar Weller wurden mit einer Automatik
vom Kaliber 45 niedergeschossen«, berichtete David. »Die Waffe ist
registriert. Es wurde vor fünf Jahren damit eine Straftat begangen.
Beim Überfall auf ein Lebensmittelgeschäft in der Elizabethstraße
machte der Besitzer den Fehler, seinen Besitz verteidigen zu wollen
und wurde mit genau der Automatik erschossen, die auch in diesem
Fall zum Einsatz kam.«
»Wir brauchen sämtliche Akten zu dem Fall!«, forderte Herr
Bock.
»Alles, was nicht über unser Datenverbundsystem zu bekommen
war, habe ich angefordert.«
»Gut.«
»Es wäre ja gut möglich, dass sich da jemand quasi
hochgearbeitet hat«, meinte Roy. »Vom Ladendieb bis zu jemandem,
der Banken ausnimmt.«
»Bevor Sie an die Arbeit gehen, darf ich Ihnen noch sagen,
dass Medien und Bevölkerung außerordentlich großen Anteil an dem
Fall nehmen«, erklärte Herr Bock zum Abschluss der Besprechung.
»Wir stehen also unter erheblichem Erfolgsdruck. Heute Morgen
äußerte sich ein Sprecher der hiesigen Geschäftsleute, dass das
Business zum Erliegen käme, wenn es nicht mehr möglich wäre, sein
Geld unbehelligt zur Bank schaffen zu lassen, und die Aktien der
Bank sind im freien Fall!«
9
Später, als Roy und ich uns in unserem gemeinsamen
Dienstzimmer befanden, sah ich mir immer wieder die
Videoaufzeichnung an, die mit der Kamera des Juweliergeschäfts in
der Heidestraße aufgenommen worden war.
Die Szene, in der Jakob Namokel erschossen worden war,
interessierte ich.
Die Schüsse auf Weller schienen mir eher eine Folge des Chaos
zu sein, dass durch den Mord an Namokel entstanden war.
Ich deutete auf den Computerbildschirm, auf dem ich die DVD
immer wieder ablaufen ließ und mir verschiedene Standbilder
herauspickte, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Roy
schüttelte nur den Kopf darüber.
»Was suchst du auf diesen Bildern?«, fragte er.
»Den Grund für Namokels Tod!«, erklärte ich. »Die Gangster
hatten die Situation vollkommen unter Kontrolle. Es bestand
überhaupt kein Grund für den Kerl, seine Waffe abzudrücken!«
Roy runzelte die Stirn und sah mir über die Schultern.
Zum x-ten Mal ließ ich die Szene ablaufen. Ich hatte das
Gefühl, irgendetwas Entscheidendes übersehen zu haben, konnte aber
nicht sagen, was es war.
»Wie ein Unfall, bei dem die Waffe aus Versehen losgegangen
ist, sieht mir das auch nicht aus«, meinte Roy.
»Ich denke, diese Möglichkeit können wir getrost
ausschließen.«
»Sehe ich auch so.«
Roy deutete auf eine Mappe mit Computerausdrucken, die er in
der Hand hielt.
»Das habe ich mir gerade aus Max' Fahndungsabteilung
abgeholt.«
»Was ist das, Roy?«
»Alles, was es noch über den Überfall in der Elizabethstraße
vor fünf Jahren zu wissen gibt. Die Tat konnte nie aufgeklärt
werden. Es gab drei verdächtige Jugendliche zwischen sechzehn und
neunzehn Jahre, die damals vorübergehend festgenommen wurden: Jost
Gemma, David Wehler und Hartwig Kroner. Aber das Trio hatte ein
Alibi, und man konnte weder die Tatwaffe noch die Beute bei ihnen
finden.«
»Dann hätten wir doch schon mal drei Leute, denen wir mal
einen Besuch abstatten könnten, Roy.«
»Jost Gemma starb zwei Jahre später bei einer anderen
Schießerei. David Wehler war vor einem halben Jahr in eine
Schlägerei in eine Diskothek verwickelt und stach einen Mann mit
einem Springmesser nieder. Er sitzt wegen schwerer Körperverletzung
im Gefängnis.«
»Das klingt ja alles andere als viel versprechend!«
»Einer bleibt uns noch, Uwe! Und das ist Hartwig Kroner. Er
war damals mit sechzehn der Jüngste in dem Trio, das verdächtigt
wurde, den Laden überfallen zu haben. Allerdings ist er auch der
einzige, von dem man strafrechtlich gesehen später nichts gehört
hat.«
»Entweder er war clever genug, sich nicht erwischen zu lassen
oder er hat wirklich sein Leben geändert«, kommentierte ich Roys
Worte.
»Jedenfalls wissen wir nicht, wo er zurzeit steckt. Das
Letzte, was wir von ihm wissen, ist, dass er sich mit achtzehn bei
der Bundeswehr gemeldet hat, aber den Eignungstest nicht
bestand.«
»Das bedeutet, wir haben immerhin seine Fingerabdrücke.«
Roy seufzte hörbar.
»Damit die uns etwas nützen könnten, müssten wir irgendwelche
Vergleichsspuren am Tatort oder in den gestohlenen Fahrzeugen
haben. Der Fingerprint-Abgleich der Fahrzeuge kann noch ein
bisschen dauern, da natürlich auch die Abdrücke aller Personen
ausgeschlossen werden müssen, denen die Fahrzeuge gehörten oder die
rechtmäßig damit gefahren sind. Aber wenn Kroners Abdrücke dabei
gewesen wären, hätte der Computer jetzt schon Alarm
geschlagen.«
Roy hatte recht.
Da die Kollegen aus dem Labor vor dem Ausschluss der nicht
relevanten Abdrücke in den gestohlenen Fahrzeugen alle Spuren einer
Überprüfung unterzogen, um zu sehen, ob irgendein Treffer dabei
war, konnten wir schon zum jetzigen Zeitpunkt sicher sein, dass
Kroner dort keine Spur hinterlassen hatte.
Ich blickte auf die Uhr.
Herr Bock hatte für uns einen Termin mit Vertretern der
Deutschen Liquiditätsbank arrangiert und so wie es aussah, machten
wir uns jetzt besser auf den Weg, um pünktlich zu erscheinen.
Unsere Kollegen Ludger Mathies und Tobias Kronburg kümmerten
sich zur gleichen Zeit um den Telso Security Service und waren
schon gleich nach der Besprechung bei Herrn Bock nach Hamburg-Hamm
zur Firmenzentrale aufgebrochen.
»Wir müssen los, Roy! Vielleicht können uns die Banker ja noch
ein paar Details liefern.«
10
Die Zentrale der Deutsche Liquiditätsbank ist ein modernes
graues Gebäude mit mehreren Blöcken in der Willy-Brandt-Straße in
der Hamburger Altstadt. Mit seinen acht Stockwerken und dem Baustil
unterscheidet es sich doch sehr von den anderen Gebäuden in der
Straße.
Schon am Haupteingang waren Security-Leute der Firma Telso
Security Service GmbH postiert, wie an den Uniformen unschwer zu
erkennen war.
Ich wandte mich an einen der Posten und zeigte ihm meinen
Ausweis.
»Wir werden hier von Direktor Kevin Deggert erwartet«,
erklärte ich.
Der Security-Angestellte nahm über Funk Kontakt mit seinen
Vorgesetzten auf. Dann sagte er: »Warten Sie hier einen Moment! Sie
werden gleich abgeholt.«
Wenig später trat eine junge, attraktive Frau mit dunklen, zu
einem strengen Knoten zusammengefassten Haaren und einem
konservativ wirkenden Kostüm auf uns zu und begrüßte uns.
»Guten Tag, mein Name ist Kati Lambert.«
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei. Dies ist mein Kollege Roy
Müller.«
»Angenehm. Ich werde Sie dann zu Herrn Direktor Deggert
bringen.«
»Danke.«
Wir folgten ihr zu den Aufzügen. Es ging ganz nach oben.
Direktor Deggert war ein großer, korpulenter Mann, der allein
durch seine körperliche Erscheinung schon respekteinflößend wirkte.
Sein dunkles Haar war bereits mit grau durchwirkt. Der dunkelgraue,
dreiteilige Anzug war eine edle Maßanfertigung. Am Handgelenk
blitzte eine Rolex und das Wappen auf seiner Krawattennadel legte
nahe, dass er Mitglied im Harmonie-Club war.
Kati Lambert stellte uns auf gleichermaßen charmante und
geschäftsmäßig-freundliche Art und Weise einander vor.
Direktor Deggert führte uns zu einer Sitzecke. An der Wand
hing ein modernes Gemälde. Auf einem Hinweisschild war zu sehen,
dass es sich um einen Basquiat handelte. Ich nahm an, dass die Bank
das Gemälde als Wertanlage gekauft hatte.
Wir setzen uns und bekamen Kaffee angeboten, was wir dankend
ablehnten.
»Frau Lambert ist meine rechte Hand«, sagte Deggert und ein
versonnenes Lächeln spielte plötzlich um die Lippen des knallharten
Bankers. »Sie ist zwar noch nicht lange hier in der Zentrale, hat
sich aber in meinem Büro schon vollkommen unentbehrlich gemacht.«
Deggert seufzte. »Gute Mitarbeiter sind rar, müssen Sie
wissen.«
»Wo waren Sie vorher?«, fragte ich an Kati Lambert gewandt,
die gerade ihre Beine sehr grazil übereinander geschlagen
hatte.
»Bis vor sechs Wochen war ich noch im Büro der Filialleitung
unserer Niederlassung in Berlin«, sagte sie.
»Ja, der Job verlangt von guten Leuten heute, dass sie mobil
sind«, meinte Deggert. »Das ist der Preis des Erfolgs …«
»Herr Deggert, seit kurzem ist die Kriminalpolizei Hamburg
federführend bei den Ermittlungen in Bezug auf die Serie von
Überfällen auf Geldtransporter, von denen Ihre Bank in letzter Zeit
heimgesucht wird. Die bisherigen Ermittlungen der Kollegen haben
nach wie vor keinen zwingenden Ermittlungsansatz gefunden. Und
abgesehen davon, dass alle Taten von sehr gut über die
Sicherheitsmaßnahmen informierten Tätern auf ähnliche Weise
begangen wurden, liegt für uns den Schluss nahe, dass entweder bei
Ihnen oder in der beauftragten Transportfirma jemand sitzt, der mit
den Gangstern zusammenarbeitet«, sagte Roy sachlich.
Deggert runzelte die Stirn. Eine tiefe Furche erschien mitten
auf seiner Stirn und sein Gesicht bekam einen dunkelroten
Farbton.
»Glauben Sie, darüber hätten wir nicht auch schon
nachgedacht?«
»Bevor diese Serie begann, haben Sie Drohungen erhalten …«,
gab Roy ein weiteres Stichwort.
Deggert nickte.
»Ja, das ist richtig und Ihre Kollegen haben uns oft genug vor
Augen gehalten, wie dumm es von uns gewesen ist, die Sache unter
der Decke zu halten. Aber Sie müssen auch unsere Seite
verstehen!«
»Dafür sind wir hier«, sagte ich.
Deggert atmete tief durch und beruhigte sich wieder etwas. Ich
fragte mich, weshalb sich so viel Dampf in diesem Kessel angestaut
hatte … War das wirklich nur der Druck, den ihm wahrscheinlich der
Vorstand auf Grund der Serie von Überfällen machte? Schwierigkeiten
mit Kunden, die vielleicht der Bank schon ihr Vertrauen entzogen
hatten? Oder steckte noch etwas anderes dahinter?
Ich beobachtete Deggert genau.
Er griff in die Seitentasche seines Jacketts und holte ein
silbernes Pillendöschen hervor, nahm daraus ein Dragee und steckte
es sich in den Mund. Ohne Wasser schluckte er es hinunter. Wenig
später schien es ihm schon wieder besser zu gehen.
»Wir stehen hier alle ziemlich unter Druck, Herr Jörgensen«,
entschuldigte er sich.
»Ich denke, angesichts dessen, was geschehen ist, wundert das
niemanden«, sagte ich.
»Glauben Sie mir, wir haben unser Personal durchforstet und
nach Zusammenhängen gesucht. Wir haben alle überprüft, die
möglicherweise die Gelegenheit hatten, Informationen an die Täter
weiterzuleiten. Trotzdem hat es weitere Überfälle gegeben.«
»Was ist mit Telso Security?«, fragte ich. »Haben Sie mal
darüber nachgedacht, den Security Service zu wechseln?«
»Ja, natürlich. Das Problem ist, dass Telso gegenwärtig
Marktführer in und um Hamburg in diesem Bereich ist. Wir brauchen
einen Security-Partner, der in der Lage ist, sämtliche Transporte
und Sicherungsaufgaben in den Filialen zu übernehmen. Wenn ein
Sicherheitskonzept nicht aus einem Guss ist, dann weiß sehr schnell
die eine Hand nicht, was die andere tut.«
»Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass es keine andere
Security-Firma gibt, die in der Lage wäre, diese Aufgabe zu
übernehmen.«
»Wir sind durch langfristige Verträge gebunden. Außerdem
scheint das Problem, wie ich leider zugeben muss, eher bei uns zu
liegen. Schließlich gibt es auch andere Banken, deren Sicherheit
von Telso Security gewährleistet wird und deren Transporte nicht
überfallen werden.«
»Im Übrigen gibt es im Moment tatsächlich einen Engpass auf
dem Geldtransporter-Markt«, mischte sich nun Kati Lambert ein. »Ich
weiß nicht, ob Sie von dem Berliner Bankenskandal gehört haben
...«
Das hatten wir natürlich. Die Sache war groß durch die Medien
gegangen. Die Bank nutzte ihre Rücklagen für ihr verlustreiches
Kreditgeschäft und insbesondere zum Ausbau des katastrophalen
Immobiliendienstleistungsgeschäfts. Immobilienfonds wurden, um
trotz der schlechten Lage ein Wachstum zu erzielen, mit sehr
günstigen Konditionen ausgestattet. So wurde die wahre Lage der
Bank über diese Fonds verschleiert. Kritische Immobilien wurden von
Kreditnehmern gekauft und in die Fonds verschoben. Diese Fonds
wurden dann als sichere Anlage an Privatanleger verkauft. Doch dann
erschienen in den Medien die ersten Berichte über Scheingeschäfte,
Tricks in der Bilanzierung sowie über finanzielle Schwierigkeiten.
Der versuchte Verkauf einer Immobilientochter an eine Scheinfirma
auf den Caiman Inseln, die durch Kredite der Gesellschaft der
betroffenen Bank finanziert werden sollte, gab den Anstoß.
Daraufhin schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein und ermittelte.
Um ihre Geschäfte fortführen zu können, hätte die Bank 2
Milliarden Euro benötigt.
Kurz hintereinander wurde in dieser Zeit in mehreren Gebäuden
der Bank eingebrochen, jedoch stellten die Ermittlungsbehörden
keine Zusammenhänge fest.
Es rollten zwar ein paar Köpfe, doch das nutzte den
Geschädigten natürlich kaum etwas.
»Ich habe davon gehört«, sagte ich.
»Dann verstehen Sie sicher, dass man den Security Service
nicht leichtfertig wechselt, zumal wenn man jahrelang ohne
Beanstandung gut zusammengearbeitet hat«, fuhr Kati Lambert fort.
»Das ist auch eine Frage des Vertrauens. Diese Überfälle mögen
schlimm sein, zumal sie jetzt erstmalig ein Menschenleben gefordert
haben. Aber für unsere Bank wäre der Fall, wenn Geschäftsleute und
Firmen uns den Rücken kehren, weitaus schlimmer. Und Sie können mir
glauben, dass sich gerade in dieser Branche einige schwarze Schafe
tummeln. Unternehmen, die Leute mit zweifelhafter Vergangenheit
einstellen, weil sie das Personal nicht richtig überprüfen und
dergleichen ...«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Sehen Sie, Herr Jörgensen, wir machen unseren Kunden ein
ungewöhnlich günstiges Komplett-Angebot. Wenn Sie Geschäftsmann
wären und einen Laden hätten, dessen Einnahmen Sie täglich zur Bank
bringen wollten, damit sie sicher aufgehoben sind, dann übernehmen
wir alles für Sie. Unser Transporter kommt bei Ihnen vorbei, nimmt
das Geld mit. Sie gehen keinerlei Risiko ein, weil die Bank
beziehungsweise die Versicherung dafür einsteht. Im Endeffekt ist
das alles viel billiger, als wenn Sie selbst einen Geldtransporter
mieten. Und mit Ihrer Geldplombe privat zur Bank zu gehen, kann ich
Ihnen angesichts der Kriminalität heutzutage auch nicht empfehlen.
Aber da brauche ich Ihnen ja wohl nichts erzählen ...«
»Davon abgesehen wird die Frage, ob wir den Security-Partner
wechseln sollen, auf der nächsten Vorstandssitzung erörtert
werden«, erklärte Deggert. »Ich persönlich habe meine Meinung dazu,
aber es steht durchaus zur Disposition, dass wir uns trotz all der
damit verbundenen Schwierigkeiten mittelfristig einen anderen
Partner im Sicherheitsbereich suchen.«
Mir fiel das überraschte Gesicht von Kati Lambert bei dieser
Bemerkung auf. Anscheinend war sie über diese Entwicklung der Dinge
noch nicht in Kenntnis gesetzt worden. Allerdings hatte sie ihre
Gesichtszüge lediglich für wenige Augenblicke nicht vollständig
unter Kontrolle. Danach umspielte wieder das gewohnte
geschäftsmäßig freundliche Lächeln um ihren volllippigen
Mund.
»Wir brauchen eine aktuelle Liste ihrer Mitarbeiter«, erklärte
ich.
»Die müssten Ihre Kollegen bereits haben!«, sagte Deggert.
»Wird so etwas dann bei Ihnen nicht weitergeleitet?«
»Doch, aber die Listen, die uns vorliegen, sind bereits mehr
als zwei Monate alt. Wir brauchen aktuelle Daten.«
»Natürlich. Frau Lambert wird das für Sie übernehmen.«
»Reicht es, wenn ich Ihnen das Datenmaterial im Laufe des
Tages per E-Mail zuschicke?«, fragte Kati Lambert.
Ich nickte und gab ihr meine Karte.
»Das reicht. Kennzeichnen Sie bitte alle Personen, die Zugang
zu den sicherheitsrelevanten Daten hatten. Von denen brauchen wir
sämtliche gespeicherten Personaldaten, Bewerbungsunterlagen und was
Ihnen sonst noch vorliegt.«
»Natürlich.«
Roy mischte sich jetzt in das Gespräch ein.
»Wer legt eigentlich die Routen fest, die die Transporter
nehmen?«
»Diese Routen wechseln ständig«, erklärte Deggert. »Dafür ist
Herr Ronny Mattus von Telso Security zuständig. Er achtet sehr
darauf, dass keine Route zweimal hintereinander gefahren
wird.«
»Haben Sie Zugang zu diesen Daten?«
»Ja, schließlich gibt es ja nicht nur Transporte, die Geld zu
uns bringen, sondern auch solche, die Bargeld von unseren
Hauptniederlassungen zu den einzelnen Zweigstellen bringen. Das
muss alles koordiniert werden. Daher gibt es eine ständige
Online-Verbindung, deren Sicherheit regelmäßig überprüft wird. Das
letzte Mal übrigens von Ihren Kollegen aus Bremen.«
»Wer ist in Ihrem Haus für die Koordination der Transporte und
die Absprachen mit Telso Security verantwortlich?«, hakte ich nach.
»Für die Hamburger Filialen ist das Herr Rainer Bircher, aber
…«
»Dann müssten wir dringend mit Herrn Bircher sprechen.«
»Er ist leider seit drei Tagen schwer erkrankt«, gab Deggert
Auskunft.
»Ich nehme an, er wird vertreten«, schloss Roy.
Deggert nickte.
»Frau Lambert war so freundlich, das zu übernehmen. Ich sagte
ja, dass sie inzwischen ziemlich unentbehrlich geworden ist.«
»Dann schlage ich vor, setzen wir beide die Unterhaltung im
Büro von Herrn Rainer Bircher fort«, sagte ich, an Kati Lambert
gerichtet. »Während mein Kollege sich noch etwas mit Direktor
Deggert unterhält, könnten Sie mir ein Bild davon vermitteln, wie
die Koordination mit Telso Security im Einzelnen so abläuft.«
Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Kati Lambert die
Aussicht auf ein Gespräch unter vier Augen mit mir nicht gefiel.
Über den Grund dafür dachte ich intensiv nach, fand allerdings
keine Lösung. Ihr Lächeln wirkte sehr kontrolliert und
berechnend.
»Dann folgen Sie mir bitte, Herr Jörgensen.«
11
»Sie können mich ruhig Uwe nennen«, sagte ich, als wir das
Büro von Rainer Bircher betraten.
»Das hört sich so an, als gingen Sie davon aus, dass wir in
Zukunft öfter miteinander zu tun haben?«
»So ist es.«
»Hören Sie, ich glaube Ihnen gerne, dass die Aufklärung einer
Serie von Überfällen, wie die von der unser Bankhaus heimgesucht
wird, etwas knifflig ist – nur glaube ich nicht, dass dieses Büro
dafür der richtige Ansatzpunkt wäre.«
»Das überlassen Sie getrost mir.«
»Das klingt selbstbewusst, Herr Jörgensen …«
»Uwe!«
»Um ehrlich zu sein, wäre es mir lieber, wir würden unseren
Kontakt auf einer geschäftsmäßigen Ebene halten.«
Ich zuckte die Schultern.
»Ganz wie Sie wünschen«, sagte ich nach dieser überraschend
kalten Dusche. Ich fragte mich, aus welchem Grund ich ihr
offensichtlich unsympathisch war. War ihr meine Anwesenheit
vielleicht deswegen unangenehm, weil sie glaubte, dass ich bei
unseren Ermittlungen irgendetwas über sie herausfand, dass aus
ihrer Sicht besser unentdeckt blieb? Oder konnte sie einfach meine
Nase nicht leiden?
Sie zeigte mir Rainer Birchers Arbeitsplatz und aktivierte den
Online-Zugang zu den Daten über die aktuellen und geplanten
Geldtransporte.
»Die Daten befinden sich auf einem auswärtigen Server, zu dem
sowohl Telso Security als auch die Deutsche Liquiditätsbank Zugriff
haben müssen«, erläuterte Kati Lambert. »Ich telefoniere außerdem
mehrmals täglich mit Herrn Ronny Mattus von Telso, um alles optimal
abzustimmen.«
Ich betrachtete den Bildschirm, sah mir die Liste der
Transporte an und war beeindruckt. Die Routen mussten einerseits
unter Sicherheitsgesichtspunkten ständig – am besten täglich –
verändert werden, damit potentielle Täter nicht durch genaue
Beobachtung herausfinden konnten, wohin der jeweilige Transporter
an einem bestimmten Tag als Nächstes fahren und wie viel Geld er
voraussichtlich aufnahm. Schließlich war es ein kleiner
Unterschied, ob die Tageseinnahmen eines Kaufhauses eingeladen
wurden oder stattdessen der Umsatz eines Blumenladens an der Ecke.
»Telso vertritt die Ansicht, dass es am abschreckendsten auf
potentielle Täter wirkt, wenn die Aussicht einen großen Gewinn zu
machen, von vorn herein schon zweifelhaft ist«, meinte Kati
Lambert.
»Das heißt, niemand soll wissen, wie viel Geld jeweils in den
Wagen ist.«
»Ja. Das können im Extremfall mal nur 5000 Euro für einen
Geldautomaten in der Elizabethstraße sein, dessen Bargeldbestand
außer der Reihe ausgegangen ist und schnell nachgefüllt werden
muss, um die Kunden nicht zu verärgern oder …«
»… gut eine Million Euro wie bei dem letzten Überfall an der
Heidestraße«, vollendete ich ihren Satz.
Sie sah mich mit ihren großen dunklen Augen an. Irgendein
Gedanke schien ihr durch den Kopf zu gehen und sie für einen kurzen
Moment von unserem Gespräch abzulenken. Dann ging ein Ruck durch
ihren grazilen, wohlproportionierten Körper. Sie strich sich eine
verirrte Strähne aus dem Gesicht und war wieder ganz im Hier und
Jetzt.
»Ja, genau, Herr Jörgensen«, murmelte sie.
»Wie in der Lotterie – Niete oder Jackpot. Nur, dass diese
Bande schon sechsmal hintereinander den Jackpot geholt hat.«
»Und jetzt denken Sie, dass jemand wie ich dazu prädestiniert
wäre, mit den Tätern zusammenzuarbeiten.«
»Wenn ich an deren Stelle wäre, würde ich mich an Sie wenden.
Oder an Ronny Mattus bei Telso.«
»Was mich angeht, so können Sie mich gerne auf Herz und Nieren
durchleuchten, Herr Jörgensen. Aber das werden Sie ja ohnehin tun,
nicht wahr?«
»Ich tue nur meine Pflicht, Frau Lambert.«
»Bevor Sie mir dann aber Handschellen anlegen, sollten Sie mal
über eine Kleinigkeit nachdenken!«
»Und die wäre?«
»Ich vertrete Herrn Bircher seit drei Tagen. Ob diese drei
Tage ausreichen, um so ein Verbrechen vorzubereiten, müssen Sie
beurteilen. Es wäre also tatsächlich theoretisch möglich, dass ich
vertrauliche Informationen weitergeleitet habe. Aber was ist mit
den anderen fünf Überfällen? Die lagen überhaupt nicht im
Zuständigkeitsbereich unserer Hamburger Zentrale, sondern wurden
von den jeweils anderen Filialen aus koordiniert, weswegen es ja
wohl auch sehr sinnvoll war, dass sich Ihre Kollegen dort vor Ort
zunächst um die Fälle gekümmert haben.«
Ich versuchte einigermaßen entspannt zu lächeln und etwas die
Schärfe aus unserem Dialog zu nehmen.
»Eins zu null für Sie«, sagte ich. »Nehmen Sie das nicht
persönlich, aber ich muss einfach an jede Möglichkeit
denken.«
»Dafür habe ich Verständnis.«
»Woran ist übrigens Herr Bircher erkrankt?«
»Er hat irgendetwas mit dem Magen und liegt derzeit im
Krankenhaus. Was genau mit ihm los ist, konnten die Ärzte noch
nicht sagen, jedenfalls fällt er für eine Weile aus.«
»Ich verstehe.« Mit dem ausgestreckten Arm deutete ich auf den
Computer. »Wir haben ein paar Spezialisten in unserer Zentrale, die
in den nächsten Tagen das gesamte Computersystem Ihrer Bank mal
unter die Lupe nehmen werden.«
»Vertrauen Sie den Ermittlungsergebnissen Ihrer Kollegen denn
nicht? Das Computernetzwerk war sauber.«
»Hacker sind schon unbemerkt in die Zentralrechner des BKA
hineingekommen, warum nicht auch in Ihr System? Eine zweite
Überprüfung kann nicht schaden.«
»Dann sprechen Sie mit Herrn Direktor Deggert.«
»Ich bin überzeugt davon, dass mein Kollege Müller genau das
im Moment mit ihm erörtert.«
Es entstand eine Pause. Kati Lambert rieb die Innenflächen
ihrer Hände aneinander und ich hatte den Eindruck, dass sie mir
noch irgendetwas sagen wollte. Schließlich brachte sie heraus: »Sie
haben vorhin Direktor Deggert danach gefragt, warum bis jetzt nicht
der Security Service gewechselt wurde.«
»Ja, und um ehrlich zu sein, hatte mich seine Argumentation
nicht wirklich überzeugt.«
»Sie haben recht. Selbst wenn man niemanden findet, der in der
Lage wäre, den kompletten Sicherheitsbereich bei der Bank zu
übernehmen, so spräche doch eigentlich nichts dagegen, wenigstens
bei den Geldtransporten einen Wechsel vorzunehmen.«
»Und warum tut die Liquiditätsbank das nicht?«
»Ganz einfach. Wenn wir die Verträge vorzeitig kündigen,
zahlen wir eine Konventionalstrafe. Schließlich hat Telso im
Hinblick auf eine langfristige Zusammenarbeit mit uns erhebliche
Investitionen getätigt. Das geht von der Anschaffung zusätzlicher
Wagen bis hin zur Harmonisierung der Organisationssoftware.«
»Ihre Bank müsste also zahlen. Aber die Überfälle …«
»Sind versichert. Zumindest, bis die Versicherung unser
Institut vor die Tür setzt. Mit der Liquiditätsbank macht man das
nicht so einfach, irgendwann ist aber auch beim Versicherer die
Hutschnur erreicht und wir sind draußen.«
Ich atmete tief durch, warf zwischendurch einen Blick aus dem
Fenster. Von Rainer Birchers Büro hatte man einen guten Blick auf
die belebte Geschäftsstraße.
»Sie identifizieren sich stark mit Ihrer Bank«, sagte
ich.
»War das eine Frage oder Feststellung, Herr Jörgensen?«
»Sie sprechen immer von wir, wenn Sie Ihr Unternehmen
meinen.«
»Aber Sie trauen mir trotzdem zu, dass ich uns berauben
wollte.«
Ich lächelte.
»Schlagfertig sind Sie, dass muss der Neid Ihnen lassen,
Kati.«
Ihr Lächeln wirkte kühl. In ihren Augen glitzerte es auf eine
eigenartige Weise.
»Tun Sie mir einen Gefallen und nennen Sie mich nicht
so!«
12
Nachdem wir das Bankgebäude verlassen hatten, kauften wir in
einer Imbissbude an der Straße einen Hot Dog.
»Irgendetwas stimmt mit dieser Kati Lambert nicht«, meinte
ich, nachdem ich Roy von dem Gespräch berichtet hatte. Mein Kollege
grinste breit.
»Nur weil die Dame dich nicht leiden kann? Vielleicht hätte
ich besser den Part übernommen, mit ihr im Büro zu
verschwinden.«
»Ganz im Ernst, Roy. Die Frau machte mir einen sehr
eigenartigen Eindruck, so als würde sie dauernd fürchten, dass ich
etwas entdecken könnte, was …«
»Ja, und?«
»Roy, sie saß an der Quelle! Sie hatte alle Daten zur
Verfügung.«
»Warten wir einfach mal ab, was der Personenabgleich
erbringt!«
»Sicher.«
»Außerdem sollen wir in der Zentrale anrufen. Vielleicht hat
Max inzwischen herausgefunden, wie wir die Spur von Ronny Kroner
aufnehmen können. Wenn du mich fragst, die Pistole ist im
Augenblick die heißeste Spur, die wir haben. Alles andere ist
nichts weiter als Kaffeesatzleserei!«
Ich starrte nachdenklich aus dem Fenster. Draußen auf der
Bundesstraße staute sich mal wieder der Verkehr, weil einen
Kilometer weiter nördlich eine Baustelle war. Irgendein undichtes
Gasrohr versetzte alle in Aufregung. Die Sache machte schon seit
Tagen in lokalen Medien Hamburgs Schlagzeilen, weil man
befürchtete, dass dies nicht die einzige Gasleitung war, bei der
die Renovierung viel zu lange auf sich warten ließ.
»Hey, bist du noch auf dieser Welt, Uwe?«, drang Roys Stimme
in meine Gedanken.
»Mir geht die Szene nicht aus dem Kopf, wie Jakob Namokel
ermordet wurde.«
»Versuch das aus dem Kopf zu bekommen, Uwe, sonst bist du
schneller ein Fall für den Psychiater, als du denkst.«
»Red keinen Unsinn!«
»Es ist erwiesen, dass man auch durch das Anschauen von
Bildern – etwa in den Nachrichtensendungen des Fernsehens –
traumatisiert werden kann. Sekundärtrauma heißt das.«
»Roy, red keinen Unsinn! Die Szene war schrecklich, aber das
ist ja nicht der Punkt, auf den ich hinaus will!«
»Sondern?«
»Ich versuche die ganze Zeit schon, einen Sinn in das zu
bekommen, was ich gesehen. Verstehst du? Und ich habe das Gefühl,
dass mir noch irgendeine wesentliche Information fehlt, um zu
begreifen, was da geschah. Wie bei einem Standbild, an dem ein paar
Buchstaben fehlen und man dann herauszufinden versucht, was da mal
gestanden hat.«
Roy atmete tief durch.
»Ich glaube, wir kommen in dieser Sache am weitesten mit ganz
normaler, penibler Polizeiarbeit. Abgleich der Personaldaten der
Deutschen Liquiditätsbank und von Telso Security anhand eines
Rasters, das alle wichtigen Merkmale enthält. Zum Beispiel ob
jemand Zugang zu den Daten hatte, ob derjenige wusste, wie viel
Geld im Wagen sein würde und so weiter.«
Aber ich ließ mich nicht von meiner Idee abbringen, dass diese
Mordszene der Schlüssel zu allem war.
»Roy, die Gangster haben zuvor nie jemanden umgebracht. Bei
keinem der vorangegangenen Überfälle ist es dazu gekommen. Aber
diesmal hat einer der Täter durchgedreht. Dafür muss es einen Grund
geben und dieser Grund liegt in dem, was da passiert ist.«
»Was du sagst wäre logisch, wenn wir annehmen könnten, dass
Jakob Namokel sich gewehrt hätte …«
»Hat er aber nicht!«
»… oder einen der Täter erkannte!«
»Das konnte er auf Grund der Maskierung wohl kaum. Die trugen
alle Militärsachen. Keiner hat irgendetwas getragen, das sich als
individuelles Kennzeichen geeignet hätte. Jedenfalls nicht, soweit
es mir auf der Aufnahme aufgefallen ist.«
»Na, wenn dir eine vernünftige Lösung einfällt, dann lass es
mich wissen!«
»Roy, ich möchte, dass wir Namokels Angehörigen einen Besuch
abstatten. Das müsste zwischendurch irgendwie drin sein.«
Roy nahm den letzten Happen seines Hot Dogs und meinte dann
mit vollem Mund: »Eigentlich reicht es doch, wenn ein Kollege der
Polizei sein Beileid ausgedrückt hat.«
»Natürlich. Aber ich möchte mehr über Namokel wissen.«
»Und was genau?«
»Keine Ahnung. Alles, was uns helfen könnte zu erklären, wieso
plötzlich einer der Täter ihn ausgewählt und erschossen hat.«
»Okay, Uwe. Wie du meinst. Aber ich hätte eine ganz einfache
Erklärung für dich, die du am besten erst mal akzeptieren solltest,
bis du wirklich schwerwiegende Argumente dafür findest, dass es
auch anders gewesen sein könnte.«
»Und was für eine Erklärung wäre das?«
»Der Täter ist einfach durchgedreht. Die nervliche Belastung
war zu groß. Im Hintergrund hörte er schon die Sirenen der Polizei.
Er weiß genau, dass alles auf die Sekunde geplant ist und jede
Verzögerung das Aus bedeuten kann. Vielleicht hat Namokel auch noch
eine dumme Bemerkung gemacht, und da hat der Kerl einfach
abgedrückt. Der berühmte Tropfen, der das Fass ...«
»Namokel hat seine Lippen nicht bewegt«, stellte ich fest. »An
die Möglichkeit irgendeines unbedachten Kommentars habe ich nämlich
auch schon gedacht.«
»Uwe, leg das gedanklich zu den Akten! Konzentriere dich auf
die nächsten Schritte, die vor uns liegen!«
13
Wir gingen zurück zum Sportwagen, den wir in einer
Seitenstraße abgestellt hatten. Circa fünf Minuten mussten wir bis
dahin laufen.
Auf dem Weg hatten wir telefonischen Kontakt zum Büro. Max
Warter und seiner Fahndungsabteilung war es gelungen, die Adresse
von Hartwig Kroners Mutter ausfindig zu machen. Sie wohnte jetzt
anderswo, hatte geheiratet und hieß jetzt nicht mit mehr Kroner
sondern Blochmann.
»Die Adresse von Namokels Angehörigen liegt dann doch fast auf
dem Weg«, meinte ich.
»Wo wohnen die denn?«, hakte Roy nach.
»Etwas außerhalb.«
Roy seufzte.
»Du hast dir das vorher gut überlegt, was?«
»Sicher.«
Wir fuhren also über die Elbbrücke hinüber nach Hamburg-Mitte.
Roy drängte darauf, zuerst der Kroner/Blochmann-Spur
nachzugehen.
Alexandra Blochmann – wie sich Kroners Mutter jetzt nannte,
lebte in einer schmucklosen Straße von mehrgeschossigen Häusern am
Rande von anschließenden Autowerkstätten. Hier wohnten die Leute,
denen Wohnungen in Hamburg einfach zu teuer war.
Wir parkten den Sportwagen vor dem Eingang.
Es gab keinerlei Sicherheitselektronik. Die Haustür stand
offen. Ein paar junge Männer mit Baseballkappen und weiten, tief
hängenden Cargo-Hosen lungerten an einer Ecke herum und
beobachteten uns misstrauisch. Der Flur des Hauses war mit Graffiti
besprüht.
Wir gingen zum Lift, mussten allerdings feststellen, dass er
defekt war. Das entsprechende Schild hatte schon Staub angesetzt
und es sah nicht so aus, als würde jemand in nächster Zeit auch nur
daran denken, diesen Schaden zu beheben. Also machten wir uns zu
Fuß in den sechsten Stock auf, wo Alexandra Blochmann lebte.
Ein Hüne von einem Mann öffnete uns. Er war mindestens zwei
Meter zehn groß, war Mitte fünfzig und wirkte für sein Alter recht
durchtrainiert.
»Wer stört?«, knurrte er uns an, als wir gerade zum dritten
Mal die Klingel betätigten.
»Jörgensen, Kriminalpolizei. Wir müssen mit Frau Alexandra
Blochmann sprechen.«
»Was wollen Sie von meiner Frau?«
»Das müssen wir schon selbst mit ihr besprechen.«
Herr Blochmann trat etwas vor. Die Arme waren verschränkt. Er
trug einen farbigen Jogginganzug und ein eng anliegendes T-Shirt,
das seinen kugelrunden Bauch genauso betonte, wie die
beeindruckenden Bizeps an den Oberarmen.
»Ausweis!«, brummte er.
Wir hielten ihm unsere Ausweise unter die Nase. Von da an
wurde er etwas kooperativer. Ich fragte mich, ob er schon mal Ärger
mit der Polizei gehabt hatte. Der Schluss lag nahe. Andernfalls
hätte er uns wahrscheinlich etwas freundlicher empfangen.
Wir folgten ihm ins Wohnzimmer.
»Frau Alexandra Blochmann?«, fragte ich.
Eine etwa fünfzigjährige Frau mit braunen Haaren und einem
ziemlich erstaunten Gesicht starrte uns ungläubig an.
»Die bin ich. Was wollen Sie von mir?« Wir zeigten auch ihr
unsere Ausweise. Sie warf einen skeptischen Blick darauf. »Ich
nehme nicht an, dass Sie gekommen sind, um irgendeine übertretene
Geschwindigkeitsbegrenzung zu ahnden.«
»Wir sind überhaupt nicht Ihretwegen hier, Frau
Blochmann.«
Sie hob die Augenbrauen.
»Ach, nein?«