813 oder Das Doppelleben und die drei Verbrechen des Arsène Lupin - Leblanc Maurice - E-Book

813 oder Das Doppelleben und die drei Verbrechen des Arsène Lupin E-Book

Leblanc Maurice

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Beschreibung

Auf der Schwelle des Salons blieb Rudolf Kesselbach abrupt stehen, ergriff den Arm seines Sekretärs und flüsterte mit besorgter Stimme: "Chapman, hier ist schon wieder jemand eingedrungen." "Aber Herr Kesselbach", protestierte der Sekretär, "Sie haben eben erst selbst die Tür zum Vorzimmer aufgeschlossen, und während wir im Restaurant zu Mittag aßen, ist der Schlüssel in Ihrer Tasche geblieben." "Chapman, hier ist schon wieder jemand eingedrungen", wiederholte Kesselbach. Er zeigte auf eine Reisetasche, die auf dem Kaminsims stand. "Da haben Sie den Beweis. Die Tasche war verschlossen, jetzt ist sie es nicht mehr." Chapman wandte ein: "Sind Sie ganz sicher, daß Sie die Tasche geschlossen haben, Herr Kesselbach? Sie enthält doch nur Kleinigkeiten ohne Wert, Toilettenartikel und dergleichen." "Sie enthält nichts anderes, weil ich vor dem Hinausgehen sicherheitshalber meine Brieftasche herausgenommen habe, sonst ... Nein, ich sage Ihnen, Chapman, man ist hier eingedrungen, während wir zu Mittag aßen." An der Wand hing ein Telefonapparat. Er nahm den Hörer ab. "Hallo ... hier Kesselbach, Appartement 415. Das ist richtig, Fräulein, bitte verbinden Sie mich mit der Abteilung der Sûreté im Polizeipräsidium ... Die Nummer brauchen Sie nicht, oder? Gut, danke ... Ich warte am Apparat." Eine Minute später sprach er weiter: "Hallo? Hallo? Ich möchte mit Herrn Lenormand, dem Chef der Sûreté, sprechen. Mein Name ist Kesselbach ... Hallo? Aber ja, Herr Lenormand weiß, worum es geht. Ich rufe mit seiner Erlaubnis an ... So? Er ist nicht da ... Mit wem habe ich das Vergnügen? ... Herr Gourel, Polizeiinspektor ... Aber mir scheint, Herr Gourel, daß Sie gestern bei meiner Unterredung mit Herrn Lenormand anwesend waren ... Nun, mein Herr, heute hat sich die gleiche Geschichte wiederholt. Man ist in das Appartement eingedrungen, in dem ich wohne. Wenn Sie jetzt kommen würden, könnten Sie vielleicht anhand der Indizien herausfinden ... Innerhalb von ein oder zwei ...

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Maurice Leblanc8  1  3oderDAS DOPPELLEBEN UNDDIE DREI VERBRECHENDES ARSÈNE LUPIN

ERSTER TEILDas Doppelleben des Arsène Lupin

Ein Gemetzel

»Sie enthält nichts anderes, weil ich vor dem Hinausgehen sicherheitshalber meine Brieftasche herausgenommen habe, sonst … Nein, ich sage Ihnen, Chapman, man ist hier eingedrungen, während wir zu Mittag aßen.«

An der Wand hing ein Telefonapparat. Er nahm den Hörer ab.

»Hallo … hier Kesselbach, Appartement 415. Das ist richtig, Fräulein, bitte verbinden Sie mich mit der Abteilung der Sûreté im Polizeipräsidium … Die Nummer brauchen Sie nicht, oder? Gut, danke … Ich warte am Apparat.«

Eine Minute später sprach er weiter:

»Hallo? Hallo? Ich möchte mit Herrn Lenormand, dem Chef der Sûreté, sprechen. Mein Name ist Kesselbach … Hallo? Aber ja, Herr Lenormand weiß, worum es geht. Ich rufe mit seiner Erlaubnis an … So? Er ist nicht da … Mit wem habe ich das Vergnügen? … Herr Gourel, Polizeiinspektor … Aber mir scheint, Herr Gourel, daß Sie gestern bei meiner Unterredung mit Herrn Lenormand anwesend waren … Nun, mein Herr, heute hat sich die gleiche Geschichte wiederholt. Man ist in das Appartement eingedrungen, in dem ich wohne. Wenn Sie jetzt kommen würden, könnten Sie vielleicht anhand der Indizien herausfinden … Innerhalb von ein oder zwei Stunden? Das wäre perfekt. Sie brauchen sich nur das Appartement 415 zeigen zu lassen. Nochmals vielen Dank!«

Rudolf Kesselbach, der Diamantenkönig, wie er genannt wurde – oder, nach seinem anderen Spitznamen, der Herr des Kaps – der Multimillionär Rudolf Kesselbach – sein Vermögen wurde auf über hundert Millionen geschätzt – befand sich auf der Durchreise in Paris und bewohnte seit einer Woche in der vierten Etage des Palace-Hotels das Apartment 415, das aus drei Zimmern bestand. Die beiden größeren auf der rechten Seite, der Salon und das Schlafzimmer, hatten Blick auf die Avenue, während das andere Zimmer auf der linken Seite, das der Sekretär Chapman bewohnte, zur Rue de Judée hin lag.

Neben diesem Zimmer waren fünf Räume für Frau Kesselbach reserviert, die sich derzeit in Monte Carlo befand, wo sie auf Nachricht ihres Mannes wartete, daß sie abreisen und ihm nachfolgen sollte.

Einige Minuten lang lief Rudolf Kesselbach mit besorgter Miene umher. Er war noch ein junger Mann, hochgewachsen und mit gesunder Gesichtsfarbe; seine verträumten Augen, deren blasses Blau durch eine goldene Brille zu sehen war, verliehen ihm einen sanften, schüchternen Ausdruck, der in auffälligem Gegensatz zu der Energie der eckigen Stirn und des knochigen Kiefers stand.

Er ging zum Fenster: Es war geschlossen. Außerdem, wie hätte jemand durch dieses Fenster eindringen können? Der separate Balkon, der die Wohnung umgab, schloß auf der rechten Seite ab und war links durch eine Steinwand von den anderen Balkonen nach der Rue de Judée getrennt.

Er ging in sein Zimmer. Es hatte keine Verbindung zu den benachbarten Räumen. Dann ging er in das Zimmer seines Sekretärs: Die Tür, die zu den fünf für Frau Kesselbach reservierten Räumen führte, war geschlossen und der Riegel vorgeschoben.

»Ich verstehe das nicht, Chapman, schon mehrfach habe ich hier Dinge festgestellt, seltsame Dinge, wie Sie zugeben müssen. Gestern war es mein Gehstock, den man an eine andere Stelle bewegt hat. Vorgestern hat man sich offensichtlich an meinen Papieren zu schaffen gemacht … und doch, wie kann das möglich sein?«

»Es ist unmöglich, Herr Kesselbach«, bestätigte Chapman, dessen ruhiges, ehrliches Gesicht nicht die geringste Besorgnis zeigte. »Sie vermuten einfach … Sie haben keine Beweise … nur Eindrücke … Außerdem kann man nur durch das Vorzimmer in dieses Appartement gelangen. Sie haben am Tag Ihrer Ankunft einen speziellen Schlüssel anfertigen lassen, und nur Ihr Diener Edwards besitzt einen Zweitschlüssel. Ist er vertrauenswürdig?«

»In den zehn Jahren, seit er in meinen Diensten steht, war er das … Aber Edwards ißt zur gleichen Zeit wie wir zu Mittag, und das ist ein Fehler. In Zukunft soll er erst hinuntergehen, wenn wir wieder zurück sind.«

Chapman zuckte leicht mit den Schultern. Der Herr des Kaps gebärdete sich mit seinen unerklärlichen Ängsten wirklich etwas sonderbar. Was für ein Risiko ging man in einem Hotel ein, wenn man keine Wertgegenstände oder größere Geldsummen bei sich trug oder im Zimmer hatte?

Sie hörten, wie die Tür zum Vorraum geöffnet wurde. Es war Edwards.

Kesselbach rief ihn.

»Tragen Sie die Livree, Edwards? Gut! Ich erwarte heute keinen Besuch, Edwards, oder vielmehr doch, einen, nämlich den von Herrn Gourel. Bis dahin bleiben Sie im Vorzimmer und bewachen die Tür. Wir müssen ernsthaft arbeiten, Herr Chapman und ich.«

Die ernsthafte Arbeit dauerte einige Augenblicke, in denen Kesselbach seine Post durchsah, drei oder vier Briefe überflog und auf die Antworten diktierte, die zu schreiben waren. Doch plötzlich bemerkte Chapman, der mit erhobener Feder wartete, daß Kesselbach an etwas anderes als an seine Post dachte. Er hielt eine schwarze Nadel, die wie ein Angelhaken gebogen war, zwischen seinen Fingern und betrachtete sie aufmerksam.

»Chapman«, sagte er, »sehen Sie mal, was ich auf dem Tisch gefunden habe. Es ist offensichtlich, daß diese gebogene Nadel etwas zu bedeuten hat. Das ist ein Beleg, ein Beweisstück. Nun können Sie nicht mehr behaupten, daß niemand hier gewesen ist. Denn schließlich ist die Nadel nicht von selbst dorthin gekommen.«

»Nein«, antwortete der Sekretär, »sie ist durch mich dorthin gelangt.«

»Wieso?«

»Mit dieser Nadel war meine Krawatte am Kragen befestigt. Ich habe sie gestern abend, während Sie lasen, herausgezogen und aus Unachtsamkeit verbogen.«

Kesselbach stand pikiert auf, ging ein paar Schritte und blieb dann stehen.

»Sie lachen wahrscheinlich, Chapman … und Sie haben Recht … Ich bestreite nicht, daß ich seit meiner letzten Reise nach Kapstadt ziemlich … überspannt bin. Sie wissen gar nicht, was es Neues in meinem Leben gibt … ein großartiges Projekt … eine enorme Sache … die noch in den Nebeln der Zukunft liegt, sich aber schon abzeichnet … und die kolossal sein wird … Ach, Chapman, Sie können sich das nicht vorstellen. Geld ist mir egal, ich habe es … ich habe zu viel davon … Aber das ist mehr, das ist Macht, Stärke, Autorität. Wenn die Wirklichkeit dem entspricht, was ich vorausahne, werde ich nicht nur der Herr des Kaps sein, sondern auch der Herr anderer Reiche … Rudolf Kesselbach, Sohn eines Augsburger Kesselschmieds, wird auf Augenhöhe mit jenen Menschen stehen, die ihn bisher von oben herab behandelt haben … Er wird ihnen sogar überlegen sein, Chapman, er wird ihnen überlegen sein, da können Sie sicher sein, und wenn jemals …«

Er unterbrach sich, sah Chapman an, als würde er bedauern, schon zu viel gesagt zu haben, doch schloß er, von seinem Eifer mitgerissen:

»Sie verstehen also, Chapman, warum ich mir Sorgen mache … Da ist eine Idee in meinem Gehirn, die viel wert ist, und jemand ahnt diese Idee vielleicht und bespitzelt mich … davon bin ich überzeugt …«

Ein Klingeln ertönte.

»Das Telefon …« sagte Chapman.

»Ist das Zufall«, murmelte Kesselbach, »das …«

Er nahm den Hörer ab.

»Hallo? … Wer ist das? Der Oberst? … Ja, ich bin es … Gibt es etwas Neues? … Gut … Dann warte ich auf Sie … Kommen Sie mit Ihren Leuten? Gut … Hallo! Nein, wir werden ungestört sein … Ich werde die notwendigen Anweisungen geben … Ist es so ernst? … Ich wiederhole, daß ich eine strikte Anweisung geben werde … Mein Sekretär und mein Diener werden die Tür bewachen, und niemand wird hineingehen. Sie kennen den Weg, nicht wahr? Verlieren Sie also keine Minute.«

Er legte den Hörer auf und sagte gleichzeitig:

»Chapman, zwei Herren werden kommen … Ja, zwei Herren … Edwards wird sie hereinführen …«

»Aber … Herr Gourel … der Inspektor …«

»Er kommt später … in einer Stunde … Dann können sie sich zumindest treffen. Also sagen Sie Edwards, er soll sofort ins Büro gehen und Bescheid sagen. Ich bin für niemanden da … außer für die zwei Herren, den Oberst und seinen Freund, und für Herrn Gourel. Lassen Sie die Namen notieren.«

Chapman führte die Anweisung aus. Als er zurückkam, hielt Kesselbach in der Hand einen Umschlag oder vielmehr eine kleine Mappe aus schwarzem Maroquinleder, die allem Anschein nach leer war. Er schien zu zögern, als ob er nichts damit anzufangen wüßte. Sollte er sie in seine Tasche stecken oder irgendwo anders ablegen?

Schließlich trat er an den Kamin und warf die Ledermappe in seine Reisetasche.

»Lassen Sie uns die Post zu Ende bringen, Chapman. Wir haben zehn Minuten Zeit. Oh! Ein Brief von meiner Frau. Warum haben Sie mich nicht darauf hingewiesen, Chapman? Haben Sie denn die Handschrift nicht erkannt?«

Er machte keinen Hehl aus der Erregung, die sich seiner bemächtigte, den Brief zu berühren und zu betrachten, den seine Frau mit ihren Fingern gehalten hatte, und worin sie einige ihrer geheimen Gedanken offenbarte. Er atmete seinen Duft ein, und nachdem er ihn entsiegelt hatte, las er ihn langsam vor, mit halblauter Stimme, in Bruchstücken, die Chapman hören konnte:

»Ein bißchen müde … ich verlasse das Zimmer nicht … ich langweile mich … wann kann ich zu Dir kommen? Dein Telegramm wird freudig erwartet …«

»Haben Sie heute morgen telegrafiert, Chapman? Dann wird Frau Kesselbach also morgen, Mittwoch, hier sein.«

Er sah so fröhlich aus, als wäre die Last seiner Geschäfte plötzlich leichter geworden und er von allen Sorgen befreit. Er rieb sich die Hände und atmete tief durch, wie ein starker Mann, der sich seines Erfolges sicher war, ein unbeschwerter Mann, der das Glück besaß und imstande war, sich zu verteidigen.

»Es klingelt, Chapman, es hat im Vorzimmer geklingelt. Gehen Sie nachsehen.«

Aber Edwards trat ein und meldete:

»Zwei Herren möchten Herrn Kesselbach sprechen. Es sind die Herren …«

»Ich weiß schon. Sind sie im Vorzimmer?«

»Jawohl, Herr Kesselbach.«

»Schließen Sie die Tür des Vorzimmers wieder und öffnen Sie niemandem mehr, außer Herrn Gourel, dem Polizeiinspektor. Sie, Chapman, holen Sie die Herren und sagen Sie ihnen, daß ich zuerst mit dem Oberst sprechen möchte, mit dem Oberst allein.«

Edwards und Chapman gingen hinaus und schlossen die Tür zum Salon. Rudolf Kesselbach ging zum Fenster und lehnte seine Stirn an die Scheibe.

Draußen, direkt unter ihm, rollten Fuhrwerke und Autos auf den beiden Straßenseiten, die durch eine doppelte Linie voneinander abgegrenzt waren. Die strahlende Frühlingssonne ließ das Kupfer und den Lack glitzern. An den Bäumen sproß schon ein wenig Grün, und die Knospen der Kastanienbäume begannen, ihre kleinen neuen Blätter zu entfalten.

»Was zum Teufel macht Chapman?« murmelte Kesselbach … »Wie lange der schon redet …«

Er nahm eine Zigarette vom Tisch, zündete sie an und nahm ein paar Züge. Ein leiser Schrei entfuhr ihm. Neben ihm stand ein Mann, den er nicht kannte.

Er trat einen Schritt zurück.

»Wer sind Sie?«

Der Mann – es war ein korrekt gekleideter Herr, ziemlich elegant, schwarzes Haar und Schnurrbart, harter Blick – der Mann kicherte:

»Wer ich bin? Nun, der Oberst …«

»Aber nein, aber nein, der, den ich so nenne, der mir unter diesem Namen … vereinbarungsgemäß … schreibt, der sind Sie nicht.«

»Doch, doch … der andere war nur … Aber sehen Sie, mein lieber Herr, all das ist nicht wichtig. Die Hauptsache ist, daß ich … ich bin. Und ich schwöre Ihnen, daß ich das bin.«

»Also, mein Herr, Ihr Name?«

»Der Oberst … bis auf weiteres.«

Eine wachsende Angst überkam Kesselbach. Wer war dieser Mann? Was wollte er von ihm?

Er rief:

»Chapman!«

»Was für eine komische Idee, zu rufen! Reicht Ihnen meine Gesellschaft nicht?«

»Chapman!« wiederholte Kesselbach. »Chapman! Edwards!«

»Chapman! Edwards!« rief seinerseits der Unbekannte. »Was macht ihr denn, meine Freunde? Man ruft euch.«

»Mein Herr, ich bitte Sie, ich befehle Ihnen, mich durchzulassen.«

»Aber, mein lieber Herr, wer hindert Sie daran?«

Er trat höflich zur Seite. Kesselbach ging auf die Tür zu, öffnete sie und fuhr plötzlich zurück. Vor der Tür stand ein anderer Mann mit einer Pistole in der Hand.

Kesselbach stammelte:

»Edwards … Chap…«

Er brachte es nicht zu Ende. Er hatte in einer Ecke des Vorzimmers seinen Sekretär und seinen Diener gesehen, die geknebelt und verschnürt nebeneinander lagen.

Kesselbach war trotz seines unruhigen, leicht erregbaren Gemütes tapfer, und das Gefühl einer unmittelbaren Gefahr ließ ihn nicht etwa zusammenbrechen, sondern gab ihm seine ganze Kraft und Energie zurück.

Langsam, während er Angst und Erstaunen vortäuschte, wich er zum Kamin zurück und lehnte sich gegen die Wand. Sein Finger suchte nach der elektrischen Klingel. Er fand sie und drückte lange auf den Knopf.

»Und nun?« fragte der Unbekannte.

Ohne zu antworten, drückte Kesselbach weiter.

»Und nun? Hoffen Sie, daß jemand kommt, daß das ganze Hotel in Aufruhr gerät, nur weil Sie den Knopf drücken? … Aber, mein armer Herr, drehen Sie sich doch um, dann sehen Sie, daß die Leitung durchgeschnitten ist.«

Kesselbach drehte sich schnell um, als ob er sich selbst überzeugen wollte, fuhr aber mit einer raschen Bewegung in die Reisetasche, griff nach einem Revolver, richtete ihn auf den Mann und drückte ab.

»Donnerwetter!« sagte dieser. »Sie laden also Ihre Waffen mit Luft und Stille?«

Der Abzug klackte ein zweites Mal, dann ein drittes Mal. Es gab keinen Knall.

»Noch drei Schüsse, König des Kaps. Ich bin erst zufrieden, wenn ich sechs Kugeln im Leib habe. Wie? Sie geben es auf? Schade … der Anfang sah doch gut aus.«

Er packte einen Stuhl bei der Lehne, wirbelte ihn herum, setzte sich rittlings darauf und deutete auf einen Sessel.

»Nehmen Sie doch Platz, lieber Herr Kesselbach, und fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Möchten Sie eine Zigarette? Für mich nicht. Ich bevorzuge Zigarren.«

Auf dem Tisch stand ein Kästchen. Er wählte eine helle, gut geformte Upman, zündete sie an und verbeugte sich.

»Ich danke Ihnen. Diese Zigarre ist köstlich. Und nun lassen Sie uns ein wenig plaudern, wenn es recht ist.«

Rudolf Kesselbach hörte erstaunt zu. Was war das für ein seltsamer Mensch? Als er ihn jedoch so friedlich und gesprächig sah, wurde er allmählich ruhiger und begann zu glauben, daß die Situation ohne Kampf oder Gewalt gelöst werden könnte. Er zog eine Geldbörse aus seiner Tasche, faltete sie auseinander, zeigte ein ansehnliches Bündel Banknoten und fragte:

»Wieviel?«

Der andere sah ihn verblüfft an, als ob er es kaum verstehen würde. Nach einer Weile rief er dann:

»Marco!«

Der Mann mit dem Revolver trat ein.

»Marco, der Herr ist so freundlich, dir einige Scheinchen für die Garderobe deiner Freundin zu schenken. Nimm sie an, Marco.«

Während er mit der rechten Hand den Revolver hielt, streckte Marco die linke Hand aus, nahm die Scheine entgegen und zog sich zurück.

»Nachdem diese Frage Ihrem Wunsch gemäß geklärt ist«, fuhr der Unbekannte fort, »kommen wir nun zum Zweck meines Besuchs. Ich werde mich kurz und präzise fassen. Ich möchte zwei Dinge. Erstens eine kleine Mappe aus schwarzem Maroquin, die Sie normalerweise bei sich tragen. Zweitens eine Kassette aus Ebenholz, die sich gestern noch in der Reisetasche befand. Gehen wir der Reihe nach vor. Die Mappe aus Maroquin?«

»Verbrannt.«

Der Unbekannte runzelte die Stirn. Er dachte gewiß an jene guten alten Zeiten, in denen es noch überaus wirksame Mittel gab, um allzu verschwiegene Menschen zum Reden zu bringen.

»Nun gut, sei es drum. Das werden wir sehen. Was ist mit der Ebenholzkassette?«

»Verbrannt.«

»Ah!« knurrte er. »Sie machen sich über mich lustig, mein guter Mann.«

Er drehte ihm unerbittlich den Arm um.

»Rudolf Kesselbach, gestern betraten Sie die Crédit Lyonnais am Boulevard des Italiens, wobei Sie ein Paket unter Ihrem Mantel versteckten. Sie haben ein Schließfach gemietet … Genauer gesagt: das Schließfach Nummer 16, Reihe 9. Nachdem Sie unterschrieben und bezahlt hatten, gingen Sie hinunter in den Tresorraum, und als Sie wieder hochkamen, hatten Sie Ihr Paket nicht mehr bei sich. Ist das korrekt?«

»Vollkommen.«

»Also sind die Kassette und die Mappe bei der Crédit Lyonnais.«

»Nein.«

»Geben Sie mir den Schlüssel zu Ihrem Schließfach.«

»Nein.«

»Marco!«

Marco kam herbeigeeilt.

»Los, Marco, den vierfachen Knoten.«

Bevor er sich zur Wehr setzen konnte, wurde Rudolf Kesselbach mit langen Stricken verschnürt, die ihm in die Haut schnitten, sobald er sich rührte. Seine Arme wurden auf den Rücken gebunden, sein Oberkörper an den Sessel gefesselt und seine Beine wie die Beine einer Mumie mit Binden umwickelt.

»Durchsuch ihn, Marco.«

Marco durchsuchte ihn. Zwei Minuten später übergab er seinem Chef einen kleinen, flachen, vernickelten Schlüssel, der die Nummern 16 und 9 trug.

»Gut. Keine Mappe aus Maroquin?«

»Nein, Chef.«

»Er ist im Schließfach. Herr Kesselbach, bitte nennen Sie mir das Paßwort.«

»Nein.«

»Sie weigern sich?«

»Ja.«

»Marco?«

»Chef?«

»Setz den Lauf deines Revolvers an die Schläfe des Herrn.«

»Erledigt.«

»Halt deinen Finger an den Abzug.«

»Hab ich.«

»Nun, mein alter Kesselbach, bist du willig zu reden?«

»Nein.«

»Du hast zehn Sekunden, nicht eine mehr. Marco?«

»Chef?«

»In zehn Sekunden pustest du dem Herrn das Hirn weg.«

»Verstanden.«

»Kesselbach, ich zähle: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …«

Rudolf Kesselbach machte ein Zeichen.

»Willst du reden?«

»Ja.«

»Das war auch höchste Zeit. Also, das Paßwort für das Schließfach?«

»Dolor.«

»Dolor … Schmerz … Heißt Frau Kesselbach nicht Dolores? … Marco, du wirst tun, was wir besprochen haben … Kein Fehler, verstanden? Ich wiederhole … Du gehst zu Jérôme ins Büro, du weißt, wo, übergibst ihm den Schlüssel und sagst ihm das Paßwort: Dolor. Ihr geht zusammen zur Crédit Lyonnais. Jérôme wird allein hineingehen, das Identitätsregister unterschreiben, in den Tresorraum hinabsteigen und alles mitnehmen, was sich im Schließfach befindet. Verstanden?«

»Ja, Chef. Aber wenn das Paßwort für das Schließfach zufällig nicht das Wort Dolor …«

»Sei still, Marco. Wenn Ihr die Crédit Lyonnais verlaßt, trennst du dich von Jérôme, gehst nach Hause und rufst mich an, um mir das Ergebnis der Operation mitzuteilen. Wenn sich das Schließfach mit dem Wort Dolor zufällig nicht öffnet, werden mein Freund Kesselbach und ich ein kurzes Gespräch führen. – Kesselbach, bist du sicher, daß du dich nicht geirrt hast?«

»Ja.«

»Dann rechnest du damit, daß die Durchsuchung zu nichts führt. Das werden wir sehen. Verschwinde, Marco.«

»Was ist mit Ihnen, Chef?«

»Ich bleibe hier. Oh, du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe mich noch nie so wenig in Gefahr befunden. Nicht wahr, Kesselbach, Ihre Anweisung war strikt?«

»Ja.«

»Teufel, du sagst mir das in sehr eilfertiger Weise. Hast du etwa versucht, Zeit zu gewinnen? Dann würde ich wie ein dummer Junge in der Falle sitzen.«

Er überlegte, sah seinen Gefangenen an und kam zu dem Schluß:

»Nein, das ist nicht möglich, man wird uns nicht stören.«

Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als es im Vorzimmer klingelte. Er drückte Rudolf Kesselbach die Hand auf den Mund.

»Ach, du alter Fuchs, du hast jemanden erwartet!«

Die Augen des Gefangenen strahlten vor Hoffnung. Man hörte, wie er unter der Hand, die ihm den Mund zuhielt, spöttisch lachte. Der Unbekannte bebte vor Wut.

»Schweig, sonst erwürge ich dich. Hier, Marco, knebel ihn. Mach schnell … gut.«

Es klingelte erneut. Er rief, als wäre er Rudolf Kesselbach, und als wäre Edwards noch da:

»Machen Sie doch auf, Edwards.«

Dann ging er langsam in den Vorraum und deutete mit leiser Stimme auf den Sekretär und den Diener:

»Marco, hilf mir, die beiden in das Zimmer dort zu schieben, so daß man sie nicht sehen kann.«

Er hob den Sekretär hoch, Marco trug den Diener weg.

»Gut, jetzt geh zurück in den Salon.«

Er folgte ihm, ging ein zweites Mal durch die Eingangshalle und sagte laut und erstaunt:

»Aber Ihr Diener ist nicht da, Herr Kesselbach … nein, lassen Sie sich nicht stören … schreiben Sie Ihren Brief zu Ende … Ich gehe selbst hin.«

Und seelenruhig öffnete er die Haustür.

»Herr Kesselbach?« wurde er gefragt.

Vor ihm stand ein Koloß mit einem breiten, fröhlichen Gesicht und lebhaften Augen, der von einem Bein auf das andere trat und mit den Händen die Krempe seines Hutes verdrehte.

Er antwortete:

»Jawohl, der wohnt hier. Wen darf ich melden?«

»Herr Kesselbach hat telefoniert … er erwartet mich …«

»Ach, Sie sind es … Ich werde Bescheid geben … Wollen Sie sich bitte eine Minute gedulden? … Herr Kesselbach wird gleich mit Ihnen sprechen.«

Er ließ den Besucher unverfroren auf der Schwelle des Vorzimmers warten, an einer Stelle, von der aus man durch die offene Tür einen Teil des Salons überblicken konnte. Und langsam, ohne sich umzudrehen, ging er zurück zu seinen Komplizen, der bei Kesselbach stand, und sagte zu ihm:

»Wir sitzen in der Patsche. Das ist Gourel von der Sûreté …«

Der andere griff nach seinem Messer. Er packte ihn am Arm:

»Mach keine Dummheiten. Ich habe eine Idee. Aber du mußt mich um Himmels willen richtig verstehen, Marco, und sprich deinerseits … Sprich, als wärest du Kesselbach … Hörst du, Marco, du bist Kesselbach.«

Er sprach derart kaltblütig und autoritär, daß Marco ohne weitere Erklärung verstand, daß er die Rolle Kesselbachs spielen sollte. Marco sprach so, daß man ihn hören konnte:

»Sie werden mich entschuldigen, mein Lieber. Sagen Sie Herrn Gourel, daß es mir leid tut, aber ich habe den Kopf voll mit anderen Dingen … Ich werde ihn morgen früh um neun Uhr empfangen, ja, um genau neun Uhr.«

»Gut«, flüsterte der andere, »nun rühre dich nicht mehr.«

Er ging zurück ins Vorzimmer, wo Gourel wartete, und sagte zu ihm:

»Herr Kesselbach läßt sich entschuldigen. Er beendet gerade eine wichtige Arbeit. Ist es möglich, daß Sie morgen früh um neun Uhr kommen?«

Es trat Stille ein. Gourel schien überrascht und ein wenig besorgt zu sein. Der Unbekannte ballte die Faust in seiner Tasche. Eine verdächtige Bewegung, und er hätte zugeschlagen.

Schließlich sagte Gourel:

»Nun gut … Bis morgen neun Uhr, aber trotzdem … Nun gut! Ja, neun Uhr, ich werde da sein …«

Er setzte seinen Hut wieder auf und entfernte sich durch die Korridore des Hotels.

Im Salon brach Marco in Gelächter aus.

»Klasse, Chef. Den haben wir schön reingelegt.«

»Mach schon, Marco, beschatte ihn. Wenn er das Hotel verläßt, laß ihn ziehen, triff dich wie vereinbart mit Jérôme … und ruf an.«

Marco eilte davon.

Der Unbekannte griff nach einer Karaffe auf dem Kaminsims, goß sich ein großes Glas Wasser ein, das er in einem Zug austrank, befeuchtete sein Taschentuch, wischte sich damit die schweißbedeckte Stirn, setzte sich dann zu seinem Gefangenen und sagte mit affektierter Höflichkeit zu ihm:

»Nun ist es wohl nötig, Herr Kesselbach, daß ich Ihnen die Ehre erweise, mich vorzustellen.«

Dann zog er eine Karte aus seiner Tasche und verkündete:

»Arsène Lupin, Gentleman und Einbrecher.«

2

Der Name des berühmten Abenteurers schien auf Kesselbach den besten Eindruck zu machen. Lupin bemerkte es gleich und rief:

»Aha, mein guter Herr, Sie atmen auf! Arsène Lupin ist ein feinfühliger Einbrecher, Blut ist ihm zuwider, er hat nie ein anderes Verbrechen begangen, als sich die Güter anderer anzueignen, ein Kavaliersdelikt also, und Sie sagen sich, daß er sein Gewissen nicht mit einem unnötigen Mord belasten wird. Zugegeben … Aber wird Ihr Verschwinden unnötig sein? Das ist alles. In diesem Moment schwöre ich Ihnen, daß ich nicht scherze. Zur Sache, Kamerad!«

Er rückte seinen Stuhl näher an den Sessel, lockerte den Knebel seines Gefangenen und sagte deutlich:

»Höre, Kesselbach! Am Tag deiner Ankunft in Paris nahmst du Kontakt zu einem Mann namens Barbareux auf, dem Leiter einer Agentur für vertrauliche Auskünfte, und weil dein Sekretär Chapman nichts davon wissen sollte, nannte sich Barbareux, wenn er sich schriftlich oder telefonisch bei dir meldete, ›Oberst‹. Ich beeile mich, dir zu sagen, daß Barbareux der ehrlichste Mensch der Welt ist. Aber ich habe das Glück, einen seiner Angestellten zu meinen besten Freunden zählen zu können. Durch ihn erfuhr ich den Grund für deine Vorgehensweise mit Barbareux, und so kam ich dazu, mich um dich zu kümmern und dir mit Hilfe nachgemachter Schlüssel einige Hausbesuche abzustatten, bei denen ich leider nicht fand, was ich suchte.«

Er dämpfte seine Stimme, versenkte seine Augen in die seines Gefangenen, forschte in dessen Blick, versuchte dessen geheime Gedanken zu erkunden und fragte schließlich:

»Kesselbach, du hast Barbareux beauftragt, in der Pariser Unterwelt einen Mann zu finden, der den Namen Pierre Leduc trägt oder getragen hat und von dem es folgende Kurzbeschreibung gibt: Größe, ein Meter fünfundsiebzig, blond, Schnurrbart. Besonderes Merkmal: Infolge einer Verletzung fehlt die Kuppe des kleinen Fingers seiner linken Hand. Außerdem hat er eine fast verblaßte Narbe an der rechten Wange. Dir scheint an dem Auffinden dieses Mannes viel gelegen zu sein, als ob dir daraus erhebliche Vorteile erwachsen könnten. Wer ist dieser Mann?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Antwort klang bestimmt und entschieden. Wußte er es oder wußte er es nicht? Das spielte keine Rolle. Auf jeden Fall war er entschlossen, nichts zu verraten.

»Mag sein«, sagte sein Gegner, »aber hast du genauere Informationen über ihn als die, welche du Barbareux gegeben hast?«

»Keine.«

»Du lügst, Kesselbach. Zweimal hast du vor Barbareux in die Papiere geschaut, die sich in der Ledermappe befanden.«

»Das haben sie in der Tat.«

»Was ist mit der Mappe?«

»Sie ist verbrannt.«

Lupin zuckte vor Wut zusammen. Offensichtlich ging der Gedanke an die Folter und die Vorteile, die sie bot, wieder durch sein Gehirn.

»Verbrannt? Aber die Kassette … gib es doch zu … gib zu, daß sie bei der Crédit Lyonnais ist?«

»Ja.«

»Und was ist in der Kassette?«

»Die zweihundert schönsten Diamanten aus meiner Privatsammlung.«

Diese Behauptung schien dem Abenteurer nicht zu mißfallen.

»Aha, die zweihundert schönsten Diamanten! Sag mal, das ist aber ein Vermögen … Ja, das bringt dich zum Lächeln … Für dich ist das eine Bagatelle. Und dein Geheimnis ist besser als das … Für dich, ja, aber für mich?«

Er nahm eine Zigarre, entzündete ein Streichholz, das er gedankenverloren verlöschen ließ, und blieb einige Zeit nachdenklich und regungslos stehen.

Die Minuten verstrichen.

Er fing an zu lachen.

»Du hoffst doch nicht etwa, daß die Expedition fehlschlägt und wir das Schließfach nicht öffnen? Das ist möglich, mein Alter. Aber dann mußt du mir meine vergeblichen Mühen bezahlen. Ich bin nicht hergekommen, um dein Gesicht in einem Sessel zu sehen … Die Diamanten, da es die Diamanten gibt … Sonst die Ledermappe … Du mußt dich entscheiden …«

Er sah auf seine Uhr.

»Eine halbe Stunde … Teufel! … Das Schicksal läßt mich warten … Kein Grund zu lachen, Kesselbach. So wahr ich ein ehrlicher Mann bin, am Ende werde ich nicht mit leeren Händen heimgehen …«

Das Telefon klingelte. Lupin griff schnell zum Hörer und veränderte den Klang seiner Stimme, indem er den rauhen Tonfall seines Gefangenen nachahmte:

»Ja, ich bin Rudolf Kesselbach … Gut, verbinden Sie mich bitte, Fräulein … Bist du es, Marco? … Perfekt … Ist alles gut verlaufen? … So ist es recht! … Keine Zwischenfälle? … Kompliment, Junge … Was habt ihr gefunden? Die Ebenholzkassette … Sonst nichts … keine Dokumente? … Sieh einer an! … Und in der Kassette … Sind die Diamanten schön? … Gut, gut! … Einen Moment, Marco, ich muß nachdenken … Weißt du, das alles … Wenn ich dir meine Meinung sagen sollte … Halt, warte … bleib am Apparat …«

Er drehte sich um.

»Kesselbach, liegt dir viel an deinen Diamanten?«

»Ja.«

»Würdest du sie mir abkaufen?«

»Vielleicht.«

»Für wieviel? Fünfhunderttausend?«

»Fünfhunderttausend … ja …«

»Da ist nur ein Haken … Wie soll der Tausch ablaufen? Mit einem Scheck? Nein, du würdest mich austricksen … oder ich würde dich austricksen … Hör zu, übermorgen früh gehst du zur Lyonnais, nimmst deine fünfhundert Scheine und machst einen Spaziergang im Bois de Boulogne, in der Nähe von Auteuil … Ich werde die Diamanten bei mir haben … in einer Tasche, das ist bequemer … die Kassette sieht man zu sehr …«

»Nein … Nein … Die Kassette … Ich will alles …«

»Ha!« sagte Lupin und lachte laut auf … »Du bist auf den Trick hereingefallen … Die Diamanten sind dir egal … Man kann sie ersetzen … Aber an der Kassette hängst du wie an deiner eigenen Haut … Nun, du wirst sie bekommen, deine Kassette … so wahr ich Arsène heiße … Du wirst sie morgen früh als Postpaket bekommen!«

Er griff wieder zum Telefon.

»Marco, hast du die Kassette vor dir? … Ist daran etwas Besonderes? Ebenholz mit Elfenbeinintarsien … ja, das kenne ich … japanischer Stil, Vorstadt Saint-Antoine … Keine Markierungen? Aha! Ein kleines rundes Etikett, blau umrandet, mit einer Nummer … ja, eine Artikelnummer … keine Bedeutung. Und die Unterseite der Schachtel, ist sie dick? … Teufel! Kein doppelter Boden also … Gib acht, Marco, untersuch mal die Elfenbeineinlagen auf der Oberseite … oder nein, besser gesagt den Deckel.«

Er jubelte vor Freude.

»Der Deckel! Das ist es, Marco! Kesselbach hat mit den Augen geblinzelt … Wir sind dem Ziel nahe! … Ach, mein alter Kesselbach, du hast nicht bemerkt, daß ich dich beobachtet habe. Du armer Tölpel!«

Zurückkehrend zu Marco:

»Nun, wie weit bist du? Ein Spiegel auf der Innenseite des Deckels? … Ist er beweglich? Gibt es da Fugen? Nein … nun, dann zerbrich ihn … Aber ja doch, ich sage dir, du sollst ihn zerbrechen … dieser Spiegel gehört dort nicht hin … er wurde nachträglich eingesetzt.«

Lupin wurde ungeduldig.

»Dummkopf, misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen … Gehorche …«

Er mußte das Geräusch gehört haben, das Marco am Ende der Leitung machte, um den Spiegel zu zerbrechen, denn er rief triumphierend aus:

»Habe ich dir nicht gesagt, Kesselbach, daß die Jagd ein Erfolg wird? … Hallo? Wie weit bist du? Nun? … Ein Brief? Hurra! Alle Diamanten von Kapstadt und das Geheimnis des guten Mannes!«

Er drückte den Hörer fester an sein Ohr und sprach weiter:

»Lies, Marco, lies langsam … Den Umschlag zuerst … Gut … Jetzt wiederhole.«

Er wiederholte selbst:

»Kopie des Briefes, der in der schwarzen Ledermappe enthalten ist.«

»Und was kommt als Nächstes? Reiß den Umschlag auf, Marco. Darf ich, Kesselbach? Es ist nicht sehr anständig, aber schließlich … Los, Marco, Herr Kesselbach erlaubt es dir. Bist du fertig? Dann lies vor.«

Er hörte zu und spottete dann lachend:

»Verdammt, das ist nicht gerade blendend. Mal sehen, ich fasse zusammen. Ein einfaches Blatt Papier, das doppelt gefaltet ist und dessen Falten wie neu aussehen … Gut … Oben rechts auf diesem Blatt stehen folgende Worte: ein Meter fünfundsiebzig, kleiner Finger links abgeschnitten … Ja, das ist die Personenbeschreibung von Pierre Leduc. In der Handschrift von Kesselbach, nicht wahr? … Gut … Und in der Mitte des Blattes in großen Druckbuchstaben das Wort ›APOON‹. Marco, mein Kleiner, du wirst das Blatt in Ruhe lassen, du wirst die Kassette und die Diamanten nicht anrühren. In zehn Minuten bin ich mit meinem guten Mann fertig. In zwanzig Minuten bin ich bei dir … Ach übrigens, hast du mir den Wagen geschickt? Perfekt. Bis später.«

Er stellte den Apparat wieder an seinen Platz, ging durch den Flur, dann ins Schlafzimmer, vergewisserte sich, daß der Sekretär und der Diener ihre Fesseln nicht gelockert hatten und sie nicht Gefahr liefen, an ihren Knebeln zu ersticken, und kehrte dann zu seinem Gefangenen zurück.

Sein Gesichtsausdruck war entschlossen und unerbittlich.

»Schluß mit dem Lachen, Kesselbach. Wenn du nicht redest, ist es dein Pech. Hast du dich entschieden?«

»Wozu?«

»Keine Dummheiten. Sag, was du weißt.«

»Ich weiß nichts.«

»Du lügst. Was bedeutet das Wort ›Apoon‹?«

»Wenn ich es wüßte, hätte ich es nicht aufgeschrieben.«

»Nun gut, aber auf wen, auf was bezieht es sich? Wo hast du es abgeschrieben? Woher hast du es?«

Kesselbach antwortete nicht. Lupin fing wieder an, nervöser und gereizter:

»Hör zu, Kesselbach, ich mache dir einen Vorschlag. So reich und wichtig du auch bist, zwischen dir und mir gibt es keinen großen Unterschied. Der Sohn des Kesselschmieds von Augsburg und Arsène Lupin, der König der Einbrecher, können sich einigen, ohne daß einer von beiden das Gesicht verliert. Ich stehle in Wohnungen, du stiehlst an der Börse. Das ist alles Jacke wie Hose. Also, Kesselbach, laß uns in dieser Sache zusammenarbeiten. Ich brauche dich, weil mir die Informationen fehlen. Du brauchst mich, weil du es alleine nicht schaffst. Barbareux ist ein Narr. Ich bin Lupin. Einverstanden?«

Schweigen herrschte. Lupin beharrte mit bebender Stimme:

»Antworte, Kesselbach, einverstanden? Wenn du einwilligst, finde ich ihn für dich in achtundvierzig Stunden, deinen Pierre Leduc. Denn um ihn handelt es sich doch, nicht wahr? Geht es darum? So antworte doch! Was ist mit diesem Mann los? Warum suchst du ihn? Was weißt du über ihn? Ich will es wissen.«

Er beruhigte sich plötzlich, legte dem Deutschen die Hand auf die Schulter und sagte in einem kühlen Ton:

»Nur ein Wort. Ja oder nein?«

»Nein.«

Er zog aus Kesselbachs Weste eine wunderschöne goldene Taschenuhr und legte sie auf die Knie des Gefangenen.

Dann knöpfte er die Weste auf, schlug das Hemd auseinander, entblößte die Brust, nahm einen Dolch mit stählerner Klinge auf goldenem Griff, der neben ihm auf dem Tisch lag, und setzte die Spitze an die Stelle der Brust, wo unter der nackten Haut das Herz pochte.

»Ein letztes Mal?«

»Nein.«

»Herr Kesselbach, es ist acht Minuten vor drei Uhr. Wenn Sie in acht Minuten nicht geantwortet haben, sind Sie tot.«

3

Am folgenden Morgen erschien Inspektor Gourel genau zu der Uhrzeit, die ihm vorgegeben worden war, im Palace-Hotel. Ohne anzuhalten und ohne auf den Aufzug zu warten, stieg er die Treppe hinauf. In der vierten Etage bog er nach rechts ab, folgte dem Korridor und klingelte an der Tür des Appartements 415.

De er keinerlei Geräusch vernahm, klingelte er erneut. Nach einem halben Dutzend vergeblicher Versuche ging er zum Büro dieser Etage, wo sich gerade ein Concierge befand.

»Ist Herr Kesselbach nicht da? Ich habe schon zehnmal geklingelt.«

»Herr Kesselbach hat nicht hier übernachtet. Wir haben ihn seit gestern nachmittag nicht mehr gesehen.«

»Was ist mit seinen Diener und seinen Sekretär?«

»Auch die haben wir nicht gesehen.«

»Also haben auch sie nicht im Hotel geschlafen?«

»Zweifellos.«

»Zweifellos? Aber Sie sollten Gewißheit haben.«

»Warum? Herr Kesselbach wohnt hier nicht als Gast des Hotels, sondern in seiner Privatwohnung. Sein Dienst wird nicht von uns, sondern von seinem Diener verrichtet, und wir wissen nichts darüber, was in seiner Wohnung vor sich geht.«

»In der Tat … in der Tat …«

Gourel schien sehr verlegen zu sein. Er war mit klaren Befehlen gekommen, mit einem präzisen Auftrag, innerhalb dessen Grenzen seine Intelligenz sich entfalten konnte. Außerhalb dieser Grenzen wußte er nicht so recht, wie er handeln sollte.

»Wenn der Chef hier wäre …« murmelte er, »wenn der Chef hier wäre …«

Er zeigte seine Karte und nannte seine Titel. Dann fragte er auf gut Glück:

»Sie haben sie also nicht zurückkommen sehen?«

»Nein.«

»Aber Sie haben sie fortgehen sehen?«

»Auch nicht.«

»Wenn das so ist, woher wissen Sie dann, daß sie fortgegangen sind?«

»Von einem Herrn, der gestern nachmittag in Appartement 415 war.«

»Ein Herr mit braunem Schnurrbart?«

»Ja. Ich begegnete ihm, als er gegen drei Uhr ging. Er sagte zu mir: ›Die Herrschaften aus 415 sind gerade ausgegangen. Herr Kesselbach wird heute nacht im Hôtel des Réservoirs in Versailles schlafen. Sie können ihm seine Post dorthin schicken.‹«

»Aber wer war dieser Herr? In welcher Funktion sprach er?«

»Ich weiß es nicht.«

Gourel wurde unruhig. Das alles kam ihm ziemlich seltsam vor.

»Haben Sie den Schlüssel?«

»Nein. Herr Kesselbach hat spezielle Schlüssel anfertigen lassen.«

»Lassen Sie uns nachsehen.«

Gourel klingelte erneut stürmisch. Er schickte sich schon an zu gehen, da bückte er sich plötzlich und drückte sein Ohr fest an das Schlüsselloch.

»Hören Sie … es klingt … aber ja, es ist ganz deutlich … Ächzen … Stöhnen …«

Er stieß mit der Faust gegen die Tür.

»Aber mein Herr, Sie haben kein Recht …«

»Ich habe nicht das Recht dazu?«

Er schlug mit doppelter Kraft, aber so vergeblich, daß er bald aufgab.

»Schnell, schnell, einen Schlosser.«

Einer der Hoteldiener rannte davon. Gourel ging geräuschvoll und unschlüssig hin und her. Die Bediensteten aus den anderen Etagen bildeten Gruppen. Die Menschen aus den Büros und aus der Direktion kamen dazu. Gourel rief aus:

»Aber kann man nicht durch die angrenzenden Zimmer hineingelangen? Sind sie mit der Wohnung verbunden?«

»Ja, aber die Verbindungstüren sind immer auf beiden Seiten verriegelt.«

»Dann rufe ich die Sûreté an«, sagte Gourel, für den es offensichtlich keine Rettung außerhalb seines Chefs gab.

»Und das Kommissariat«, ergänzte jemand.

»Ja, wenn Sie es möchten«, antwortete er im Tonfall eines Herrn, den diese Formalität wenig interessiert.

Als er vom Telefon zurückkam, war der Schlosser gerade dabei, seine Schlüssel auszuprobieren. Der letzte entriegelte das Schloß. Gourel trat schnell ein.

Er rannte sofort zu der Stelle, von der das Stöhnen kam, und stieß auf die Körper des Sekretärs Chapman und des Dieners Edwards. Der eine, Chapman, hatte mit viel Geduld seinen Knebel ein wenig gelockert und stöhnte leise vor sich hin. Der andere schien zu schlafen.

Sie wurden befreit. Besorgt fragte Gourel:

»Was ist mit Herrn Kesselbach?«

Er ging in den Salon. Kesselbach saß, gefesselt an die Lehne des Sessels, neben dem Tisch. Sein Kopf war auf die Brust gesunken.

»Er ist ohnmächtig«, sagte Gourel und ging auf ihn zu. »Er muß sich angestrengt haben, was ihn erschöpft hat.«

Schnell schnitt er die Stricke durch, mit denen die Schultern gefesselt waren. Der Oberkörper fiel nach vorne. Gourel hielt ihn auf, wich zurück und schrie erschrocken auf:

»Aber er ist tot! Fühlt nur … die Hände sind eiskalt, und seht euch die Augen an!«

Jemand vermutete:

»Zweifellos eine Schlaganfall oder ein geplatztes Aneurysma.«

»In der Tat gab es keine Spuren einer Verletzung, es war ein natürlicher Tod.«

Man legte die Leiche auf das Sofa und öffnete ihre Kleidung. Auf dem weißen Hemd zeigten sich sofort rote Flecken, und als man es beiseite zog, fand man auf der Brust an der Stelle des Herzens eine kleine Wunde, aus der ein dünnes Rinnsal Blut floß.

Dem Hemd war eine Karte angeheftet.

Gourel beugte sich vor. Es war die Karte von Arsène Lupin, die ebenfalls blutbefleckt war.

Da richtete sich Gourel auf, herrisch und schroff:

»Ein Verbrechen! Arsène Lupin! Raus … Alle raus … Niemand darf in diesem Salon oder dem Schlafzimmer bleiben … Die Herren sollen in ein anderes Zimmer gebracht und versorgt werden! Alle raus … Keiner rührt etwas an … Der Chef wird kommen!«

4

Arsène Lupin!

Gourel wiederholte diese beiden schicksalhaften Worte mit absolut versteinerter Miene. Sie klangen in ihm wie eine Totenglocke. Arsène Lupin! Der König der Banditen! Der größte aller Spitzbuben! Also, war das möglich?

»Aber nein, aber nein«, flüsterte er, »das ist nicht möglich, denn er ist tot!«

Nur, war er wirklich tot?

Arsène Lupin!

Fassungslos und stumm stand Gourel neben der Leiche, drehte und wendete die Karte mit einer Beklemmung, als hätte ihm gerade ein Gespenst den Fehdehandschuh hingeworfen. Arsène Lupin! Sollte er etwas tun? Handeln? Den Kampf mit seinen eigenen Mitteln aufnehmen? Nein, nein, es war besser, nicht zu handeln … Fehler waren unvermeidlich, wenn er die Herausforderung eines solchen Gegners annahm. Und außerdem: Würde der Chef nicht gleich kommen? Der Chef wird kommen! Gourels gesamte Psychologie ließ sich in diesem kleinen Satz zusammenfassen. Geschickt und ausdauernd, voller Mut und Erfahrung, von herkulischer Kraft, war er einer von denen, die nur dann vorwärtschritten, wenn sie geführt wurden, und die nur dann gute Arbeit leisteten, wenn sie ihnen befohlen wurde.

Wie sehr hatte sich dieser Mangel an Initiative verschlimmert, seit Lenormand im Dienst der Sûreté den Platz von Dudouis eingenommen hatte! Lenormand, das war ein Chef! Mit dem war man sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein! So sicher sogar, daß Gourel stehen blieb, sobald der Impuls des Chefs ausblieb.

Aber der Chef würde kommen! Nach seiner Uhr berechnete Gourel den genauen Zeitpunkt der Ankunft. Hoffentlich kam ihm der Polizeikommissar nicht zuvor, oder der Untersuchungsrichter, der wahrscheinlich schon gerufen worden war, oder der Gerichtsmediziner, der unpassende Feststellungen treffen würde, bevor der Chef die Möglichkeit hatte, die wesentlichen Punkte des Falles in seinem Kopf festzulegen.

»Nun, Gourel, wovon träumst du?«

»Der Chef!«

Lenormand war ein noch junger Mann, wenn man nach seinem Gesichtsausdruck und den hinter den Brillengläsern blitzenden Augen urteilte; aber er war fast ein alter Mann, wenn man seinen krummen Rücken, seine trockene, wachsartige Haut, seine grauen Bart- und Kopfhaare, seine ganze gebrochene, zögerliche, kränkliche Erscheinung in Betracht zog.

Er hatte sein Leben mühsam als Regierungskommissar auf den gefährlichsten Positionen in den Kolonien verbracht. Dort bekam er neben dem Fieber eine trotz seines körperlichen Verfalls unbeugsame Energie, die Gewohnheit, allein zu leben, wenig zu reden und schweigend zu handeln, eine gewisse Misanthropie und plötzlich, mit etwa fünfundfünfzig Jahren, durch die berühmte Affäre der drei Spanier von Biskra, die allseitige, verdiente Anerkennung. Man machte die Ungerechtigkeit wieder gut und ernannte ihn sofort zum Chef in Bordeaux, dann zum stellvertretenden Chef in Paris und nach dem Tod von Dudouis zum Chef der Sûreté. Und auf jedem dieser Posten hatte er eine so ungewöhnliche Findigkeit in den Vorgehensweisen, so viel Können, so neue, so originelle Qualitäten gezeigt und vor allem hatte er so gute Erfolge bei der Aufklärung der letzten vier oder fünf Skandale erzielt, daß die öffentliche Meinung begeistert war und seinen Namen denen der berühmtesten Kriminalpolizisten gleichstellte. Gourel verehrte ihn. Er war der Favorit seines Chefs, der ihn wegen seiner Schlichtheit und seines passiven Gehorsams liebte, und stellte Lenormand über alle anderen. Er war das Idol, der Gott, der sich nicht irrt.

Lenormand wirkte an diesem Tag besonders müde. Er setzte sich ermattet hin, schlug die Schöße seines alten Gehrockes auseinander, der wegen seines altmodischen Schnittes und seiner olivgrünen Farbe berühmt war, löste sein ebenfalls berühmtes braunes Halstuch, und brummte:

»Erzähl!«

Gourel berichtete alles, was er gesehen und erfahren hatte, in zusammengefaßter Form, wie es ihm sein Chef beigebracht hatte.

Aber als er Lupins Karte vorzeigte, fuhr Lenormand zusammen.

»Lupin!« rief er.

»Ja, Lupin! Der Mistkerl ist wieder da wie Phönix aus der Asche.«

»Umso besser, umso besser«, sagte Lenormand nach einem Moment des Nachdenkens.

»Gewiß ist das umso besser«, wiederholte Gourel, der sich darin gefiel die raren Worte seines Vorgesetzten zu kommentieren, an dem er nichts auszusetzen hatte als dessen mangelnde Gesprächigkeit, »umso besser, denn Sie werden sich endlich mit einem würdigen Gegner messen … Und Lupin wird seinen Meister finden … Lupin wird nicht mehr existieren … Lupin …«

»Such!« schnitt Lenormand ihm das Wort ab.

Es klang wie der Befehl eines Jägers an seinen Hund. Und in der Tat suchte Gourel vor den Augen seines Chefs wie ein guter Hund, ein lebhafter und intelligenter Spürhund. Mit der Spitze seines Stocks deutete Lenormand auf eine Ecke oder einen Sessel, so wie ein Jäger auf einen Busch oder ein Grasbüschel deutet, und Gourel suchte mit peinlich genauer Gründlichkeit.

»Nichts«, sagte der Inspektor.

»Nichts für dich«, knurrte Lenormand.

»Das wollte ich damit sagen … Ich weiß, daß manche Dinge zu Ihnen wie Menschen sprechen, wie echte Zeugen. Aber immerhin liegt hier ein Mord vor, der auf Lupins Konto gebucht werden kann.«

»Der erste«, sagte Lenormand.

»Der erste, in der Tat … Aber es war unvermeidlich. Man kann ein solches Leben nicht führen, ohne irgendwann von den Umständen zu einem Mord gedrängt zu werden. Kesselbach wird sich gewehrt haben …«

»Nein, da er gefesselt war.«

»In der Tat«, gab Gourel verblüfft zu, »das ist sogar sehr merkwürdig … Warum sollte er einen Gegner töten, der schon keiner mehr war? … Aber das macht nichts! Wenn ich ihm doch gestern, als wir uns auf der Schwelle des Vestibüls gegenüberstanden, am Kragen gepackt hätte …«

Lenormand war über den Balkon gegangen. Dann sah er sich Kesselbachs Schlafzimmer auf der rechten Seite an und überprüfte, ob die Fenster und Türen geschlossen waren.

»Die Fenster in diesen beiden Zimmern waren geschlossen, als ich eintrat«, bestätigte Gourel.

»Geschlossen oder nur angelehnt?«

»Niemand hat sie berührt. Sie sind geschlossen, Chef …«

Ein Stimmengewirr rief sie zurück in den Salon. Dort fanden sie den Gerichtsmediziner, der die Leiche begutachtete, und Formerie, den Untersuchungsrichter.

Formerie rief:

»Arsène Lupin! Endlich! Was bin ich glücklich, daß mich ein wohlwollender Zufall wieder mit diesem Banditen konfrontiert! Der Bursche wird sehen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin! … Und dieses Mal handelt es sich um einen Mord! … Hab acht, Meister Lupin!«

Formerie hatte die seltsame Geschichte mit dem Diadem der Prinzessin von Lamballe und die bewundernswerte Geschicklichkeit, mit der ihn Lupin vor einigen Jahren überlistet hatte, nicht vergessen. Der Fall war in die Annalen der Justiz eingegangen. Man lachte noch immer darüber, und Formerie pflegte einen gerechten Groll und den sehnlichen Wunsch nach Vergeltung.

»Das Verbrechen ist offensichtlich«, sagte er mit überzeugtem Gesichtsausdruck, »das Motiv werden wir leicht finden. Also ist alles in Ordnung … Herr Lenormand, ich habe die Ehre … Es freut mich …«

Formerie war keineswegs erfreut. Im Gegenteil, die Anwesenheit von Lenormand war ihm sehr unangenehm, da der Chef der Sûreté seine Verachtung für ihn kaum verbarg. Dennoch richtete er sich auf und sagte freundlich wie immer:

»Sie schätzen also, Doktor, daß der Tod vor etwa zwölf Stunden eingetreten ist, vielleicht sogar vor mehr? … Das ist auch meine Vermutung … wir sind uns völlig einig … Und die Tatwaffe?«

»Ein Messer mit einer sehr dünnen Klinge, Herr Untersuchungsrichter«, antwortete der Arzt … »Sehen Sie, man hat die Klinge mit dem Taschentuch des Toten abgewischt …«

»In der Tat … in der Tat … die Spur ist sichtbar … Und nun werden wir den Sekretär und den Diener Kesselbachs vernehmen. Ich zweifle nicht daran, daß ihre Befragungen etwas Licht ins Dunkel bringen werden.«

Chapman, der zusammen mit Edwards in sein eigenes Zimmer links neben dem Salon gebracht worden war, hatte sich bereits von dem Erlebten erholt. Er berichtete ausführlich die Ereignisse des Vortags, Kesselbachs Bedenken, den angekündigten Besuch des sogenannten Oberst und schließlich den Überfall, dessen Opfer sie geworden waren.

»Aha!« rief Formerie. »Es gibt einen Komplizen! Und Sie haben seinen Namen gehört … Marco, sagen Sie … Das ist sehr wichtig. Wenn wir den Komplizen haben, sind wir einen Schritt weiter …«

»Ja, aber wir haben ihn nicht«, warf Lenormand ein.

»Das werden wir sehen … alles zu seiner Zeit. Weiter, Herr Chapman, ist dieser Marco sofort nach dem Klingeln von Herrn Gourel gegangen?«

»Ja, wir haben ihn gehen hören.«

»Und nach seinem Fortgehen haben Sie nichts mehr gehört?«

»Doch … ab und zu, aber nur vage … Die Tür war geschlossen.«

»Was haben Sie denn gehört?«

»Stimmengewirr. Der Mann …«

»Nennen Sie ihn bei seinem Namen, Arsène Lupin.«

»Arsène Lupin muß telefoniert haben.«

»Perfekt! Wir befragen die Telefonistin des Hotels, die für die Verbindungen mit der Stadt zuständig ist. Und später? Haben Sie ihn auch herauskommen hören?«

»Er hat nachgesehen, ob wir immer noch gut gefesselt waren. Eine Viertelstunde später ist er gegangen und hat die Tür zum Vorraum hinter sich zugezogen.«

»Ja, sobald er seine Tat vollbracht hatte. Perfekt … Perfekt … Alles fügt sich zusammen … Und dann?«

»Danach haben wir nichts mehr gehört … die Nacht verging … ich schlief vor Müdigkeit ein … Edwards auch … erst heute morgen …«

»Ja … ich weiß … Also, das ist gar nicht schlecht … alles paßt zusammen …«

Er notierte die Einzelheiten seiner Untersuchung. In einem Ton, als handele es sich um ebenso viele Siege über den Unbekannten, murmelte er nachdenklich:

»Der Komplize … das Telefon … die Tatzeit … die wahrgenommenen Geräusche … Gut … Sehr gut … Jetzt müssen wir nur noch das Motiv für das Verbrechen feststellen. In diesem Fall, da es sich um Lupin handelt, ist das Motiv klar. Herr Lenormand, Sie haben nicht die geringste Spur eines Einbruchs bemerkt?«

»Es gibt keine.«

»Das bedeutet, daß der Diebstahl an der Person des Opfers selbst stattgefunden hat. Wurde seine Brieftasche gefunden?«

»Ich habe sie in der Jackettasche gelassen«, sagte Gourel.

Sie gingen alle in den Salon, wo Formerie feststellte, daß sich in der Brieftasche nur Visitenkarten und Ausweispapiere befanden.

»Das ist seltsam. Herr Chapman, können Sie uns vielleicht sagen, ob Herr Kesselbach einen Geldbetrag bei sich hatte?«

»Ja; am Vortag, also vorgestern, sind wir zur Crédit Lyonnais gegangen, wo Herr Kesselbach ein Schließfach gemietet hat …«

»Ein Schließfach bei der Crédit Lyonnais? Gut … das müssen wir nachprüfen.«

»Bevor wir gingen, hat Herr Kesselbach sich ein Konto eröffnen lassen und fünf- oder sechstausend Francs in Banknoten mitgenommen.«

»Perfekt … nun sind wir im Bilde.«

Chapman fuhr fort:

»Es gibt noch einen weiteren Punkt, Herr Untersuchungsrichter. Herr Kesselbach, der seit einigen Tagen sehr besorgt war – ich habe Ihnen den Grund dafür genannt … ein Projekt, dem er höchste Bedeutung beimaß – Herr Kesselbach schien zwei Dinge besonders zu schätzen: erstens eine Kassette aus Ebenholz, und diese Kassette hatte er bei der Crédit Lyonnais deponiert, und zweitens eine kleine Mappe aus schwarzem Maroquin, in der sich einige Papiere befanden.«

»Was ist mit dieser Mappe?«

»Vor Lupins Ankunft hat er sie vor meinen Augen in diese Reisetasche hier gelegt.«

Formerie nahm die Tasche und durchsuchte sie. Die Mappe befand sich nicht darin. Er rieb sich die Hände.

»Schön, alles fügt sich zusammen … Wir kennen den Täter, die Umstände und das Motiv des Verbrechens. Dieser Fall wird sich nicht hinziehen. Wir sind uns doch in allem einig, Herr Lenormand?«

»In nichts.«

Es gab einen Moment allgemeiner Verblüffung. Der Polizeipräsident war eingetroffen und hinter ihm hatten sich trotz der Polizisten, welche die Tür bewachten, Reporter und Hotelangestellte Zugang verschafft und standen im Vorzimmer.

So bekannt der Mann auch für seine rauhe Art war, die nicht ohne eine gewisse Grobheit auskam und ihm bereits einige Vorhaltungen von höherer Stelle eingebracht hatte, so verwirrend war die Schroffheit der Antwort. Vor allem Formerie schien verblüfft zu sein.

»Aber«, sagte er, »ich sehe darin nichts als eine ganz einfache Sache: Lupin ist der Dieb …«

»Warum hat er getötet?« warf Lenormand ein.

»Um zu stehlen.«

»Entschuldigung, die Zeugenaussagen beweisen, daß der Diebstahl vor dem Mord stattgefunden hat. Kesselbach wurde zuerst gefesselt und geknebelt und dann bestohlen. Warum sollte Lupin, der bisher noch nie einen Mord begangen hat, einen Mann töten, der bereits hilflos und ausgenommen war?«

Der Untersuchungsrichter strich über seine langen, blonden Koteletten mit einer Geste, die ihm eigentümlich war, wenn ihm eine Frage unlösbar erschien. Er antwortete nachdenklich:

»Darauf gibt es mehrere Antworten …«

»Welche?«

»Das kommt darauf an … es hängt von einer ganzen Reihe noch unbekannter Elemente ab … Außerdem gilt der Einwand nur für die Beweggründe. Über den Rest sind wir uns einig.«

»Nein.«

Auch dieses Mal war die Antwort eindeutig, schneidend, fast unhöflich, so daß der Richter, der völlig ratlos war, nicht einmal zu protestieren wagte und diesem merkwürdigen Mitstreiter sprachlos gegenüberstand. Am Ende sagte er:

»Jeder hat sein eigenes System. Ich wäre neugierig, das Ihre kennenzulernen.«

»Ich habe keins.«

Der Chef der Sûreté stand auf und ging einige Schritte durch den Salon, wobei er sich auf seinen Stock stützte. Um ihn herum schwieg man, und es war schon merkwürdig zu sehen, wie dieser alte, kränkliche und gebrochene Mann die anderen durch die Kraft einer Autorität beherrschte, die man erduldete, ohne sie jedoch zu akzeptieren.

Nach einem langen Schweigen sagte er:

»Ich möchte die Räume besichtigen, die an dieses Appartement angrenzen.«

Der Direktor zeigte ihm den Grundriß des Hotels. Das rechte Zimmer, Kesselbachs Zimmer, hatte keinen anderen Ausgang als den Vorraum des Appartements selbst. Aber das linke Zimmer, das des Sekretärs, hatte eine Verbindung zu einem anderen Zimmer. Er sagte:

»Sehen wir es uns an.«

Formerie konnte es sich nicht verkneifen, mit den Schultern zu zucken und zu murren:

»Aber die Verbindungstür ist verriegelt und das Fenster geschlossen.«

»Sehen wir es uns an«, wiederholte Lenormand.

Man führte ihn in diesen Raum, welcher der erste der fünf für Frau Kesselbach reservierten Räume war. Dann wurde er auf seine Bitte hin auch in die angrenzenden Räume geführt. Alle Verbindungstüren waren auf beiden Seiten verriegelt.

Er fragte:

»Ist einer dieser Räume belegt?«

»Keiner.«

»Die Schlüssel?«

»Die Schlüssel sind immer im Büro.«

»Also konnte niemand hineingehen?«

»Niemand, außer dem Hausdiener, das für das Lüften und Staubwischen in dieser Etage zuständig ist.«

»Lassen Sie ihn kommen.«

Der Hausdiener, ein Mann namens Gustave Beudot, antwortete, daß er am Vortag seinem Auftrag entsprechend die Fenster aller fünf Räume geschlossen hatte.

»Um wieviel Uhr?«

»Um sechs Uhr abends.«

»Und Sie haben nichts bemerkt?«

»Nein, nichts.«

»Und heute morgen?«

»Heute morgen habe ich die Fenster pünktlich um acht Uhr geöffnet.«

»Und Sie haben nichts gefunden?«

»Nein … nichts … Ach, doch …«

Er zögerte. Man bedrängte ihn mit Fragen, und schließlich gestand er:

»Nun, ich habe neben dem Kamin in 420 ein Zigarettenetui aufgelesen, das ich heute abend ins Büro bringen wollte.«

»Haben Sie es bei sich?«

»Nein, es ist in meinem Zimmer. Es ist ein Etui aus poliertem Stahl. Auf der einen Seite befinden sich Tabak und Zigarettenpapier, auf der anderen Streichhölzer. Es hat zwei goldene Initialen – ein L und ein M.«

»Was sagen Sie da?«

Chapman war vorgetreten und hatte die Frage gestellt. Er schien sehr überrascht zu sein, und befragte den Diener weiter:

»Ein Etui aus poliertem Stahl, sagen Sie?«

»Ja.«

»Mit drei Fächern für Tabak, Papier und Streichhölzer … Russischer Tabak, nicht wahr, fein und hell?«

»Ja.«

»Holen Sie es … Ich möchte es sehen … mich selbst überzeugen …«

Auf ein Zeichen des Chefs der Sûreté entfernte sich Gustave Beudot. Lenormand hatte sich hingesetzt und musterte mit scharfem Blick den Teppich, die Möbel und die Vorhänge. Er fragte:

»Sind wir hier in Appartement 420?«

»Ja.«

Der Richter spottete:

»Ich möchte gerne wissen, welchen Zusammenhang Sie zwischen diesem Vorfall und dem Verbrechen herstellen. Fünf geschlossene Türen trennen uns von dem Raum, in dem Kesselbach ermordet wurde.«

Lenormand würdigte ihn keiner Antwort.

Es verging einige Zeit. Gustav kam nicht zurück.

»Wo schläft er, Herr Direktor?« fragte der Chef.

»In der sechsten Etage, zur Rue de Judée hin, also über uns. Es ist merkwürdig, daß er noch nicht zurück ist.«

»Wären Sie so freundlich, jemanden zu schicken?«

Der Direktor machte sich selbst auf den Weg und wurde von Chapman begleitet. Einige Minuten später kam er allein zurückgerannt und war völlig aufgelöst.

»Was ist los?«

»Tot …«

»Ermordet?«

»Ja.«

»Zum Teufel, die sind scharf, die Schurken!« rief Lenormand. »Beeilung, Gourel, alle Türen des Hotels sollen geschlossen werden … Überwachen Sie die Ausgänge … Und Sie, Herr Direktor, führen Sie uns in das Zimmer von Gustave Beudot.«

Der Direktor ging voraus. Als er das Zimmer verließ, bückte sich Lenormand und hob ein kleines, rundes Stück Papier auf, das seine Augen bereits fixiert hatten.

Es war ein Etikett mit blauem Rand, auf dem die Zahl 813 stand. Für alle Fälle steckte er es in seine Brieftasche und folgte den anderen.

5

Eine kleine Wunde auf dem Rücken, zwischen den beiden Schulterblättern …

Der Arzt erklärte:

»Genau die gleiche Wunde wie bei Kesselbach.«

»Ja«, sagte Lenormand, »es war die gleiche Hand, die zugestoßen hat, und die gleiche Waffe, die benutzt wurde.«

Der Lage des Toten nach zu urteilen, war der Mann überrascht worden, als er vor seinem Bett kniete und unter der Matratze nach dem Zigarettenetui suchte, das er dort verborgen hatte. Der Arm steckte noch zwischen der Matratze und dem Lattenrost, aber das Etui fand sich nicht.

»Das muß ein sehr kompromittierender Gegenstand sein«, meinte Formerie, der sich nicht mehr traute, eine konkrete Meinung zu äußern.

»Ja«, sagte der Chef der Sûreté.

»Aber wir haben die Initialen, ein L und ein M … und damit werden wir, da Chapman sie erkannt zu haben scheint, bald mehr wissen.«

Lenormand sprang auf.

»Chapman! Wo ist er?«

Sie suchten im Flur bei den Menschen, die sich dort drängten: Chapman war nicht da.

»Herr Chapman hatte mich begleitet«, sagte der Direktor.

»Ja, ja, ich weiß, aber er ist nicht mit Ihnen nach unten gegangen.«

»Nein, ich hatte ihn bei dem Toten gelassen.«

»Sie haben ihn dort gelassen? … Allein?«

»Ich habe ihm gesagt: ›Bleiben Sie hier, rühren Sie sich nicht vom Fleck!‹«

»Und es war niemand da? Sie haben niemanden gesehen?«

»Auf dem Flur, nein.«

»Aber in den angrenzenden Mansarden oder dort, hinter dieser Ecke, versteckte sich dort niemand?«

Lenormand schien sehr aufgeregt. Er lief hin und her, öffnete die Türen der Zimmer. Plötzlich rannte er los, mit einer Beweglichkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte.

Er eilte die sechs Treppen hinunter, daß der Direktor und der Untersuchungsrichter ihm kaum folgen konnten. Unten angekommen stieß er vor dem Haupteingang auf Gourel.

»Ist niemand hinausgegangen?«

»Niemand.«

»Und die andere Tür, Rue Orvieto?«

»Dort habe ich Dieuzy postiert.«

»Mit einem klaren Befehl?«

»Ja, Chef.«

In der großen Eingangshalle des Hotels drängten sich unruhig die Reisenden und kommentierten die mehr oder weniger zutreffenden Berichte, die sie über das seltsame Verbrechen vernahmen. Alle Bediensteten, die per Telefon gerufen worden waren, trafen nach und nach ein. Lenormand befragte sie sofort.

Keiner von ihnen konnte auch nur den geringsten Anhaltspunkt geben. Die einzige Ausnahme war ein Zimmermädchen aus der fünften Etage. Sie war ungefähr zehn Minuten zuvor zwei Herren begegnet, welche die Hintertreppe zwischen der fünften und vierten Etage hinuntergingen.

»Sie gingen sehr schnell hinunter. Der vordere hielt den anderen an der Hand. Ich war erstaunt, diese beiden Herren auf der Hintertreppe zu sehen.«

»Würden Sie sie wiedererkennen?«

»Den ersten nicht. Er hatte den Kopf weggedreht. Der war schlank und blond. Er trug einen schwarzen Schlapphut und schwarze Kleidung.«

»Und der andere?«

»Der andere war ein Engländer, mit einem vollen, glattrasierten Gesicht und karierter Kleidung. Er hatte nichts auf dem Kopf.«

Die Beschreibung paßte genau auf Chapman. Die Frau fügte hinzu:

»Er sah aus … ganz komisch, als wäre er verrückt.

Die Bestätigung Gourels reichte Lenormand nicht aus. Er befragte nacheinander die Pagen, die an den beiden Türen standen.

»Kennen Sie Herrn Chapman?«

»Ja, mein Herr, er hat sich immer mit uns unterhalten.«

»Haben Sie ihn fortgehen sehen?«

»Nein. Er ist heute morgen nicht fortgegangen.«

Lenormand wandte sich an den Polizeikommissar:

»Wie viele Männer haben Sie, Herr Kommissar?«

»Vier.«

»Das ist nicht genug. Rufen Sie an, daß man alle verfügbaren Männer schickt. Und organisieren Sie bitte selbst die strengste Überwachung aller Ausgänge. Belagerungszustand, Herr Kommissar …«

»Aber meine Gäste«, protestierte der Hoteldirektor.

»Ihre Gäste sind mir egal, mein Herr. Meine Pflicht steht an erster Stelle, und meine Pflicht ist es, zu verhaften, koste es, was es wolle …«

»Sie glauben also?« fragte der Untersuchungsrichter vorsichtig.

»Ich glaube nicht, mein Herr … Ich bin mir sicher, daß der Urheber des Doppelmordes sich noch im Hotel befindet.«

»Aber Chapman …«

»Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nicht dafür bürgen, daß Chapman noch am Leben ist. Gourel, nehmen Sie zwei Männer und durchsuchen Sie alle Zimmer in der vierten Etage … Herr Direktor, einer Ihrer Angestellten soll sie begleiten. In die anderen Etagen werde ich mich selbst begeben, sobald wir Verstärkung bekommen. Los, Gourel, auf die Jagd, und halten Sie die Augen offen, das ist Großwild.«

Gourel und seine Männer eilten davon. Lenormand blieb in der Halle nahe bei den Büros. Diesmal dachte er nicht daran, sich hinzusetzen, wie es seine Gewohnheit war. Er ging vom Haupteingang zum Eingang an der Rue Orvieto und wieder zurück zum Ausgangspunkt.

Von Zeit zu Zeit befahl er:

»Herr Direktor, lassen Sie die Küche bewachen, dort könnte jemand entfliehen … Herr Direktor, sagen Sie Ihrer Telefonistin, daß sie niemanden im Hotel verbinden darf, der In die Stadt telefonieren will. Wenn jemand aus der Stadt anruft, soll sie mit der gewünschten Person verbinden, aber den Namen der Person notieren … Herr Direktor, lassen Sie eine Liste Ihrer Gäste erstellen, deren Namen mit einem L oder einem M anfängt.«

All das sagte er mit lauter Stimme wie ein Armeegeneral, der seinen Leutnants Befehle erteilt, von denen der Ausgang der Schlacht abhängt.

Und es war wirklich ein unerbittlicher und schrecklicher Kampf, der sich in der eleganten Umgebung eines Pariser Luxushotels abspielte, zwischen der mächtigen Persönlichkeit eines Chefs der Sûreté und diesem mysteriösen Unbekannten, der verfolgt, gejagt und beinahe schon gefangen wurde, aber so unglaublich raffiniert und grausam war.

Beklemmung ergriff die Schaulustigen, die sich schweigend und schwer atmend in der Mitte der Halle versammelt hatten. Sie erschraken bei jedem Geräusch, waren besessen von dem teuflischen Bild des Mörders. Wo hatte er sich versteckt? Würde er auftauchen? Weilte er gar unter ihnen? Vielleicht dieser? Oder jener?

Die Nerven waren so angespannt, daß die Menschen kurz davor waren, aufzubegehren, die Türen aufzureißen und auf die Straße zu laufen, wenn der Meister nicht da gewesen wäre. Seine Anwesenheit wirkte beruhigend und besänftigend. Man fühlte sich sicher, wie die Passagiere auf einem Schiff, das von einem tüchtigen Kapitän gesteuert wird.