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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und die menschliche
Bombe
von Alfred Bekker
1
Hamburg 2001
Wir trugen Nachtsichtgeräte und kugelsichere Westen.
Mitten in dem Waldstück im Stadtpark befanden sich mehrere
Limousinen mit laufendem Motor auf einen schmalen, unbefestigten
Weg, der normalerweise nur von Joggern benutzt wurde. Etwa ein
halbes Dutzend Personen standen herum. Männer in dunklen Anzügen
und MPis im Anschlag ließen nervös den Blick schweifen.
Ein hagerer Mann mit grauen Haaren und ein Koloss mit starkem
Übergewicht standen sich gegenüber. Jeder hatte einen seine
bewaffneten Leibwächter in der Nähe. Unter den Bodyguards des
Hageren befanden sich mein Freund und Kollege Roy Müller ...
Wir hatten ihn als verdeckten Ermittler bei Jan Sieweke, einem
Kokain-Händler untergebracht. Da einige von Siewekes Leuten in
letzter Zeit bei den immer wieder aufflackernden Bandenkriegen
umgekommen waren, hatte Roy die Chance gehabt, ziemlich schnell in
eine ziemlich wichtige Position zu kommen. Über die Mikrofone, die
Roy am Körper trug, hörten wir jedes Wort, das gesprochen
wurde.
Wir standen kurz vor dem entscheidenden Moment.
Der Mann, an den wir eigentlich heran wollten, war der
Dicke.
Anton Plonka, einer der aggressivsten Bandenchefs, die zur
Zeit aus der Unterwelt emporstrebten. Er hatte einen Teil des
Kokain-Handels binnen kürzester Zeit unter seine Kontrolle
gebracht. Wir hatten Grund zu der Annahme, dass er dabei nicht
einmal vor der Ermordung von Verwandten haltgemacht hatte. Ein
Krimineller, dem die Regeln der Altvorderen offenbar nicht
sonderlich viel bedeuteten. Plonka war 32 - wenn ihm nicht ein
früher Tod durch seine Fettsucht einen Strich durch die Rechnung
machte, hatte er eine glänzende Karriere in der Unterwelt vor
sich.
Aber wir dachten gar nicht daran, ihn noch weiter hochkommen
zu lassen.
Plonka hatte jetzt schon genug auf dem Kerbholz.
Und in dieser Nacht wollten wir den Sack zumachen.
Irgendwo zwischen den Büschen saß einer unserer Kollegen mit
einer Video-Kamera. Richtmikrofone waren außerdem noch auf die
Szenerie gerichtet. Wir waren also nicht nur auf die Mikros
angewiesen, die der Kollege Roy Müller gut getarnt am Körper
trug.
Man konnte nie wissen ...
Das Schlimmste, was uns passieren konnte war, am Ende ohne
gerichtsverwertbare Beweise in nennenswertem Umfang vor dem
Staatsanwalt zu stehen. Dieser Schlag gegen das organisierte
Verbrechen musste sitzen. Andernfalls hatten wir in den nächsten
Jahren einiges an Ärger zu erwarten. Denn zweifellos hatte der
Dicke große Pläne.
»Erst das Geld!«, sagte einer von Plonkas Leuten.
Wir hörten ihn alle über unsere Ohrhörer. Ich hielt die
Dienstpistole vom Typ SIG Sauer P226 mit beiden Händen, wie zwei
Dutzend weitere Kollegen bereit dazu, jeden Moment aus dem Gebüsch
hervorzustürzen und der Aktion den krönenden Abschluss zu geben:
Plonkas Verhaftung, nachdem man ihn in flagranti beim Deal seines
Lebens erwischt hatte.
Jeder von uns wartete darauf, dass der stellvertretende Chef
Stefan Czerwinski den Einsatzbefehl an uns alle weitergab. Bis
dahin hieß es, regungslos auszuharren.
Jan Sieweke winkte einem seiner Leute. Ein bulliger Kerl im
dunklen Anzug kam mit einem Koffer herbei, öffnete ihn, so dass
Anton Plonka den Inhalt sehen konnte.
»Jetzt die Ware!«, forderte Jan Sieweke.
In Anton Plonkas Mundwinkel steckte ein Zigarrenstummel. Er
nahm ihn mit zwei Fingern heraus, verzog das Gesicht.
Das Ding war ihm offenbar verloschen. Anstatt etwas zu sagen,
machte er eine knappe Geste. Einer seiner Leute öffnete einen
Kofferraum. Plonka deutete dorthin. Er spuckte irgendetwas aus,
winkte Sieweke herbei und ging mit ihm zusammen zum Wagen.
Die Leibwächter beider Seiten wurden etwas nervös, als Plonka
seine fleischige Pranke auf Jans Schulter legte.
Sie erreichten den Wagen.
Es standen zu viele Leute herum. Man konnte nicht sehen, was
sich im Kofferraum befand. Aber wenn sich unser V-Leute-Netz nicht
völlig vertan hatte, dann war der Kofferraum voll von sorgfältig
abgepacktem Kokain höchster Reinheitsstufe.
Kollege Roy Müller wich etwas zurück. Er wusste, dass es
gleich losgehen würde. Sein Blick streifte kurz über die
umliegenden Gebüsche. Er wollte natürlich möglichst nicht in der
Schusslinie stehen, wenn es losging.
Wir trugen Kevlar-Westen, Roy aber nicht.
Plonka nahm ein Plastikpäckchen aus dem Kofferraum heraus. Der
Inhalt war weiß.
»Hier, Jan! So guten Stoff hast du noch nie ...«
Weiter kam Plonka nicht mehr. Eine gewaltige Detonation riss
Jan Sieweke förmlich auseinander und erwischte auch den nur wenige
Zentimeter von ihm entfernt stehenden Plonka. Beide wurden durch
einen Feuerball eingehüllt. Die in der Nähe stehenden Leibwächter
wurden wie Puppen durch die Luft geschleudert. Schreie gellten
durch die Nacht.
»Verdammt, was ist da los?«, hörte ich meinen Kollegen Fred
Rochow über mein Headset, das mich mit den anderen akustisch
verband.
Ganz offensichtlich war jemand schneller als wir gewesen und
hatte Plonka auf seine Weise ausgeschaltet. Leider würde ihm jetzt
niemand mehr irgendwelche Fragen stellen können.
Aber das war vielleicht auch der Sinn dieser Aktion.
Druckwelle und Hitze waren bis zu uns spürbar gewesen.
Wer immer dahinter stehen mochte, hatte auf Nummer sicher
gehen wollen.
Sekunden später glich der Treffpunkt mitten im Waldstück einem
Schlachtfeld. Schrecklich verstümmelte, halbverkohlte Leichen und
Leichenteile lagen überall herum.
Die Überlebenden rappelten sich auf. Einer der Kerle ließ vor
lauter Nervosität seine MPi losknattern. Einige Zweige kamen von
den Bäumen herunter.
»Einsatz!«, befahl Stefan Czerwinski über Headset an
alle.
Auch wenn diese Aktion absolut nicht so verlaufen war, wie wir
sie geplant hatten - wir mussten sie jetzt so zu Ende bringen, dass
uns wenigstens die niederen Chargen der Bande nicht durch die
Lappen gingen. Ich sah mich nach Roy um.
Er trug zwar Mikros am Körper, so dass wir hören konnten, was
in seiner Umgebung gesprochen wurde, aber ein Ohrhörer wäre zu
risikovoll gewesen.
Wir stürzten mit der Waffe im Anschlag aus unserer Deckung
hervor.
»Kriminalpolizei! Waffen fallenlassen!«, erscholl es über ein
Megafon.
Offenbar glaubte einer der Kerle nicht daran, er ballerte mit
seiner MPi drauflos. Ich warf mich zu Boden.
Sandra Matting, eine junge Kollegin, die gerade bei uns auf
der Dienststelle angefangen hatte, erwischte die Garbe voll. Ihr
Körper zuckte. Der Großteil der Projektile traf sie am Oberkörper.
Dort, wo die Kevlar-Weste sie gut schützte. Trotzdem konnten solche
Treffer blaue Flecken, manchmal sogar Rippenbrüche verursachen,
denn die Aufprallenergie der Geschosse wurde durch die
Undurchlässigkeit der Weste ja lediglich auf ein größeres Gebiet
verteilt, so dass ihnen die Durchschlagskraft genommen wurde. Die
Wucht blieb.
Sie schrie auf.
Eine Kugel erwischte sie am Kopf.
Der MPi-Mann ließ uns keine andere Wahl. Nur
Sekundenbruchteile später zuckte auch sein Körper. Mehrere von uns
feuerten auf ihn. Er sackte zu Boden, blieb regungslos
liegen.
Vielleicht hatte er einfach nicht daran glauben können, dass
es wirklich die Kriminalpolizei war, das sie eingekreist
hatte.
Angesichts der Explosion hatte er wohl eher mit einer
konkurrierenden Gang gerechnet.
Für Kollegin Sandra Matting war es der erste und letzte
Einsatz dieser Art gewesen.
Wir rappelten uns auf, stürmten weiter. Die anderen
überlebenden Gangster waren zum Glück vernünftiger. Angesichts der
Übermacht warfen sie die Waffen weg.
Jetzt sah ich auch Roy. Er hatte sich hinter einer der
Limousinen verschanzt.
Einen nach dem anderen nahmen wir fest. Insgesamt fünf
Personen. Ein weiterer war in einem beklagenswerten Zustand. Er lag
in seinem Blut. Über Funk forderten wir die Notfallambulanz an.
Meine Kollegen Ollie Medina und Fred Rochow führten
Erste-Hilfe-Maßnahmen durch, aber es war fraglich, ob sie ihn lange
genug durchbringen konnten.
Ich steckte schließlich die SIG wieder ein, wandte mich an
Roy.
»Alles okay?«
»Mit mir schon, Uwe.«
»Das meinte ich.«
Roy war so geschockt wie wir alle. Vielleicht sogar noch ein
bisschen mehr. Denn um ein Haar hätte auch er so dicht bei der
Detonation gestanden, dass nicht viel mehr als ein paar
abgerissene, halbverkohlte Gliedmaßen von ihm übrig geblieben
wäre.
Ich hörte beiläufig, wie Stefan Czerwinski die Kollegen des
zentralen Hamburger Erkennungsdienstes anforderte. Außerdem sollte
Wilfried Barkow, unser Chef-Feuerwerker, so schnell wie möglich den
Weg hierherfinden. Wahrscheinlich befand sich Wilfried gerade im
Bett und musste erst herausgeklingelt werden. Aber was die
Detonation anging, die hier stattgefunden hatte, so mussten wir
einen Spezialisten an die Sache heranlassen.
Roy und ich traten an den Kofferraum der Limousine heran, vor
dem Jan Sieweke und Anton Plonka ihren Deal hatten über die Bühne
bringen wollen.
Überall war Kokainstaub.
Stoff in einem Wert, wie ihn sich ein gewöhnlich Sterblicher
kaum vorstellen konnte, war im wahrsten Sinn des Wortes in die Luft
gegangen. Einiges war direkt verschmort. Aber einige Kilos verwehte
jetzt der Wind.
»Sandra Matting hat es erwischt«, meinte ich.
»Die Neue?«, fragte Roy.
»Ja.«
»Verdammt!«
Ich sah mir die Stelle an, an der die Überreste von Plonka und
Sieweke zu finden waren. Es war kaum etwas von den beiden übrig
geblieben. Ein Anblick wie aus einem Gruselkabinett. Es konnte
einem schlecht werden dabei.
»Offenbar hat Plonka es mit seinem aggressiven Eroberungskurs
etwas übertrieben«, meinte ich.
Roy nickte düster.
Wir sind beide einiges gewöhnt. Schließlich kommt es im Rahmen
unserer Tätigkeit als Kommissare häufig vor, dass wir einen Tatort
in Augenschein nehmen müssen. Aber diesmal war Roys Gesicht
ziemlich blass geworden.
»Die Zahl von Plonkas Feinden dürfte genauso schnell
angestiegen sein wie die Zahl seiner Untergebenen«, meinte mein
Freund und Kollege.
»Fällt dir irgendetwas ein, was im Nachhinein auf das hier
hinwies?«, fragte ich Roy. Schließlich war er in den letzten Wochen
beinahe rund um die Uhr in Siewekes Umgebung gewesen.
Roy wirkte nachdenklich, schüttelte dann schließlich den
Kopf.
»Das sollte ein ganz normaler Deal werden. Vielleicht etwas
größer als bisher. Sieweke sollte von Plonka zu einem seiner
Hauptverteiler aufgebaut werden.«
»Sagte Sieweke das?«
»Ja. Aber Jan ging davon aus, dass ihm in Plonkas Organisation
eine blendende Zukunft bevorstünde.«
»Offenbar hatte jemand was dagegen.«
»Allerdings!« Roy machte eine kurze Pause, ehe er dann
fortfuhr: »Die beiden hatten übrigens noch ein anderes Geschäft
vor.«
»Welches?«
»Handel mit gefälschtem CiproBay. Du weißt doch, dieses
Anti-Milzbrand-Präparat. Der Hersteller kommt mit der Lieferung
kaum nach und verdient sich 'ne goldene Nase daran, seit ein paar
Irre dazu übergegangen sind, Milzbrandsporen in großem Stil über
die Post an Senatsabgeordnete und Medienvertreter zu
verschicken.«
Eine regelrechte Hysterie war seitdem in dieser Hinsicht
ausgebrochen. Auch bei unseren Kollegen vom BKA waren schon
derartige, mit Milzbrand-Sporen versehene Sendungen eingegangen. Ob
islamistische Terroristen dahintersteckten oder einheimische
Terror-Gruppen war noch nicht klar. Zur Zeit sah es eher danach
aus, dass dieser mörderische Spuk aus unserem eigenen Land kam. Und
dann gab es natürlich die unzähligen Trittbrettfahrer, die statt
Milzbrandsporen nur Waschpulver versandten, um damit Panik
auszulösen.
Plonka schien eine andere Art von Trittbrettfahrer gewesen zu
sein.
Mit nachgemachten und vielleicht sogar völlig wirkungslosen
Anti-Milzbrand-Präparaten konnte man jetzt vielleicht ein Vermögen
machen. Aber nur, wenn man schnell war. Wenn der Bayer-Konzern die
Produktion erst gesteigert und die Regierung sich reichlich
bevorratet hatte, war die Gewinnchance vertan.
»Was wusste Sieweke darüber?«, fragte ich.
Roy machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich würde sagen - gar nichts. Er war nur völlig happy
darüber, dass der große Plonka auch ihn an diesem Business
beteiligen wollte.«
»Dann herrschte also wirklich Sonnenschein zwischen den
beiden.«
»Absolut!«
2
Als wir am nächsten Morgen im Büro von Herrn Jonathan D. Bock,
dem Chef unserer Dienststelle in Hamburg saßen, hatten einige von
uns Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. Selbst der legendäre Kaffee
von Herrn Bocks Sekretärin Mandy half da nur bedingt. Der
nächtliche Einsatz steckte uns noch in den Knochen. Und die Art und
Weise, wie der Einsatz beendet worden war, konnte keinem von uns
gefallen.
»Es scheint, als würden die Auseinandersetzungen im
Kokain-Geschäft wieder mit einer Brutalität geführt, die wir lange
nicht hatten«, sagte Herr Bock mit ernstem Gesicht.
Außer Roy und mir waren auch die Kollegen Fred Rochow, Oliver
'Ollie' Medina, Stefan Czerwinski, Ludger Mathies und Tobias
Kronburg anwesend. Dazu noch ein paar Innendienstler. Wilfried
Barkow, der Cheffeuerwerker hatte mit seinen Leuten die Nacht über
durchgemacht. Er hatte dicke Ringe unter den Augen. Ich hoffte,
dass er und seine Kollegen wenigstens etwas über die Ursache der
Detonation herausgefunden hatten.
Max Warter konnte natürlich auch nicht fehlen.
Der Innendienstler hatte die Videoaufzeichnungen ausgewertet,
die bei dem Einsatz entstanden waren.
»Diesen Vorteil haben wir diesmal immerhin«, meinte er. »Wir
haben hervorragende Aufnahmen dieses Mordanschlags - und darum
handelt es sich zweifellos, wie mir Wilfried sicher bestätigen
wird!«
Wilfried Barkow nickte.
»Absolut!«
Warter führte uns dann eine bestimmte, entscheidende Stelle
aus den Aufnahmen vor. Es handelte sich genau um den Moment, in dem
die Detonation die beiden Drogenhändler zerrissen hatte. Warter
wandte sich mit einem Ausdruck des Bedauerns an uns.
»Tut mir leid, dass ich euch das nochmal zumuten muss,
Kollegen. Aber bedenkt, dass ich mir diese Szene mindestens
hundertmal ansehen musste, um zu Erkenntnissen zu kommen.
Appetitlich ist das nicht, aber ...«
»Schon gut, Max«, unterbrach ihn Herr Bock mit einem leichten
Anflug von Ungeduld.
Max Warter nickte.
»Wenn Sie die Bilder in Zeitlupe sehen, dann wird es deutlich,
was ich meine. Ich habe die Aufnahmen mit Wilfried durchgesprochen,
und wir sind uns einig.«
»Worin?«, hakte Herr Bock nach.
»Darin, dass Jan Sieweke den Sprengstoff bei sich gehabt haben
muss. Sehen Sie ...«
In der Zeitlupe konnten wir verfolgen, wie die Detonation bei
Sieweke ihren Anfang nahm. Er blickte an seinen Körper hinab.
Sekundenbruchteile später flog sein Bauch mehr oder weniger
auseinander. Jedenfalls hatte es den Anschein.
Innerhalb eines Augenaufschlags war dann nichts mehr zu sehen.
Nur noch grelles Licht.
Herr Bock runzelte die Stirn.
»Könnte das ein Unfall gewesen sein?«, fragte unser
Chef.
»Durchaus«, meinte Warter. »Allerdings sprechen einige Dinge
dagegen ...«
»Welche zum Beispiel?«
Warter wandte sich an Wilfried Barkow, unseren
Cheffeuerwerker.
Dieser nippte gerade an seinem Kaffeebecher. Er hatte diese
anregende Ladung Koffein mit Sicherheit noch viel nötiger als wir.
Schließlich hatten wir immerhin ein paar Stunden Schlaf hinter uns,
während Barkow die Nacht hatte durcharbeiten müssen.
»Bei dem verwendeten Sprengstoff handelt es sich
höchstwahrscheinlich um Sakalit-13«, erklärte Barkow. »Eine
Substanz, die sich vor allem für die Verwendung bei elektronischen
Zündern, Zeitzündern und dergleichen eignet. Sakalit-13 ist extrem
sicher. Dass die Ladung aus Versehen losgegangen ist, würde ich
fast kategorisch ausschließen. Wenn ein Unfall vorlag, dann hat es
an einer falschen Einstellung des elektronischen Zünder
gelegen.«
»Haben Sie darüber schon irgendwelche näheren Erkenntnisse?«,
fragte Herr Bock.
Wilfried Barkow schüttelte bedauernd den Kopf.
»Leider nein«, sagte er. »Am Tatort konnten keinerlei Spuren
der Zündvorrichtung gefunden werden. Und dass es sich um
Sakalit-13-Sprengstoff handelt, wissen wir eigentlich nur durch
eine charakteristische Verfärbung der Stichflamme zu Anfang der
Detonation. Soll ich das Band noch einmal zurückspulen?«
»Ich glaube, das ist nicht nötig«, entschied Herr Bock. Er
wandte sich an Stefan Czerwinski, seinen Stellvertreter. Der
flachsblonde Kommissar hatte die Beine übereinander geschlagen.
»Lassen Sie Ihre Kontakte, die sie im Untergrund haben, spielen,
Stefan. Es muss da doch jemanden geben, der Plonka nicht leiden
konnte und ihm deswegen auf die Füße treten wollte.«
»In Ordnung«, nickte Stefan.
»Vielleicht weiß ja auch einer Ihrer Informanten etwas über
ein paar Kilo Sakalit-13, die verschwunden sind.«
»Gramm!«, korrigierte Wilfried Barkow. »Von dieser Substanz
sind nicht mehr als ein paar Gramm nötig, um eine derartige
Detonation zu erzeugen.«
Herr Bock hob respektvoll die Augenbrauen.
»Alle Achtung!«, staunte er. »Wer immer dieses Teufelszeug
entwickelt hat, muss einiges auf dem Kasten haben!«
»Die Zeiten, in denen man für die Entwicklung eines neuen
Sprengstoffs den Nobelpreis bekommt, sind allerdings wohl vorbei«,
warf ich ein. Ich hatte mir die Bemerkung einfach nicht verkneifen
können.
Herr Bock nickte nachdenklich.
»Mir kann diese Art von Fortschritt auch gestohlen bleiben,
Uwe. Aber vielleicht kommen wir über den Sprengstoff an die Täter.
Wenn es sich um eine Neuentwicklung handelt, dann kann es nicht
allzu viele Produzenten geben.« Herr Bock wandte sich an Fred
Rochow. »Vielleicht könnten Sie das abchecken, Fred. Max braucht
erst einmal eine Mütze voll Schlaf.«
»Ich kümmere mich darum«, versprach Fred.
Herr Bock wandte sich jetzt mir und Roy zu.
»Sie kannten von uns allen Jan Sieweke am besten, Roy«,
stellte er fest. Roy bestätigte das durch ein Nicken. »Wäre er zu
einem Selbstmord fähig gewesen?«
»Sie meinen, er ist mit einer Ladung Sprengstoff um den Bauch
an Plonka herangegangen, um ihn in die Luft zu jagen?«
»Inzwischen ist in dieser Hinsicht ja nichts mehr
unmöglich.«
Roy atmete tief durch.
»Das halte ich für ziemlich ausgeschlossen.«
»Wieso?«, hakte Herr Bock nach.
»Er hing erstens keinen fanatischen Ideen nach, wenn man davon
absieht, dass er davon besessen war, Geld zu scheffeln. Zweitens
war er ausgesprochen wehleidig, ein richtiger Hypochonder. Dauernd
hat er seine Leute damit genervt. Selbst beim Zahnarzt brauchte er
eine Vollnarkose.«
»Aber Sie haben die Bilder gesehen, Roy.«
»Sicher.« Roy zuckte die Achseln. »Das, was ich gesehen habe,
kann ich mit dem Mann, den ich kennengelernt habe, nicht
zusammenbringen.«
»Sie kennen Jan Siewekes privates Umfeld am besten, Roy. Ich
möchte, dass Sie es zusammen mit Uwe durchleuchten.«
»In Ordnung.«
Etwa eine halbe Stunde später saßen Roy und ich in unserem
gemeinsamen Dienstzimmer. Der Computerbildschirm flimmerte, und wir
blätterten in Dossiers und Computerausdrucken. Einige Dutzend
Personen gehörten zum Umfeld Siewekes. Ein Teil davon war in der
letzten Nacht verhaftet worden oder umgekommen. Was den Rest
anging, mussten wir entscheiden, wo es sich lohnte
anzusetzen.
Außerdem lagen uns Verbindungsnachweise und Abhörprotokolle
seiner Telefon-, Fax- und E-Mailverbindungen vor. Alles nur
harmloses Zeug. Der Deal im Stadtpark war durch einen Boten
bestätigt worden, den Plonka geschickt hatte. Und wäre Roy nicht
bei Jan Siewekes Leuten erfolgreich eingeschleust gewesen, hätten
wir vielleicht nie davon erfahren.
Roy warf schließlich genervt den leeren Kaffeebecher in den
Papierkorb.
»Da ist doch nichts dabei!«, meinte er. »Jedenfalls nichts,
was uns etwas darüber verraten könnte, wieso Jan sich in die Luft
gesprengt hat.«
»Hast du gestern Nacht nicht irgendetwas bemerkt?«, fragte
ich.
»Ich saß neben ihm. Es war wie immer. Jan glaubte, dass er
einen Migräneanfall kriegt und war ziemlich stinkig, weil er zu
nervös war, seine Tabletten aus der Jackentasche zu fingern. Er hat
furchtbar herumgeschrien. Aber das war bei Jan nichts Besonderes.
Er war für seinen Jähzorn berüchtigt. Da brauchst du dir nur die
Abhörprotokolle anzusehen ...«
»Lass die vergangenen Wochen noch mal Revue passieren, Roy!
Vielleicht fällt dir im Nachhinein irgendein Detail ein, das uns
weiterbringen könnte.«
»Ich war die ganze Zeit in seiner Nähe - zusammen mit ein paar
anderen Gorillas, die er angeheuert hatte. Bis auf die zwei oder
drei Stunden, in denen er sich den Backenzahn hat ziehen lassen.
Mit Vollnarkose.«
Ich sah mir das Verzeichnis der Personen auf, die unter den
Telefonkontakten zu finden waren.
»Bei diesem Dr. Vincent Bretzke ...«, stellte ich fest.
»Der hat eine noble Adresse am Stadtpark. Wir mussten vor der
Tür stehen und Wache halten.«
»Du Ärmster!«
Roy verzog das Gesicht.
»Lass uns mit Chantal Kadatz anfangen.«
»Wer ist das? Ich finde sie hier nicht auf der Liste.«
»Eine Edelnutte. Jan war ihr völlig verfallen. Dass du sie auf
der Telefonliste nicht findest, liegt daran, dass ihr Anschluss
unter dem Namen von Reinhold Wilk zu finden ist. Er bezahlt ihn
schließlich auch.«
»Wer ist Wilk? Ihr Zuhälter?«
»Genau.«
»Musstet ihr vor Chantals Apartment auch Wache halten,
Roy?«
»Sehr witzig! Wenn ich mir nicht ein paar Wochen Löcher in den
Bauch gestanden hätte, wären wir nie an Plonka und Sieweke
herangekommen.«
3
Die Praxis von Dr. Vincent Bretzke lag in einem exklusiven
Komplex am Stadtpark. Die Promis, die hier ihr Domizil
aufgeschlagen hatten, konnten zu Fuß hierherkommen, wenn sie eine
Behandlung der Sonderklasse haben wollten. Hypnose, Bohren mit dem
Laser und nötigenfalls auch eine Vollnarkose waren hier kein
Problem.
Die Sprechstundenhilfe blickte auf, als der Mann mit der Narbe
vor dem Tresen auftauchte. Sie erschrak etwas. Die Narbe zog sich
von der Nasenwurzel fast bis zum Kinn. Ansonsten hatte der Mann ein
kantiges Gesicht und wirkte sehr gepflegt. Er trug einen
dunkelgrauen, dreiteiligen Anzug.
Und Handschuhe. Dunkle, eng anliegende Lederhandschuhe.
Schon das war merkwürdig.
Am Kittel der Sprechstundenhilfe hing ein kleines Schild, auf
dem ihr Name stand. Rita Zeiler. Sie war hübsch, hatte brünettes,
leicht gelocktes Haar und ein feingeschnittenes Gesicht.
»Tut mir leid, aber Sie sind etwas zu früh. Wir haben noch
nicht geöffnet und außerdem müssten Sie sich vorher anmelden
...«
Der Mann mit der Narbe griff unter sein Jackett. Eine
Automatik mit langgezogenem Schalldämpfer kam darunter
hervor.
Die Sprechstundenhilfe schreckte zurück. Sie hatte keine Zeit,
einen Schrei auszustoßen. Der Narbige drückte ab. Der Schuss traf
sie mitten in der Brust, ließ sie zusammenzucken und dann auf ihren
rollbaren Drehsessel sinken. Die Wucht des Geschosses sorgte dafür,
dass sie mitsamt dem Drehsessel zurückrollte, bis sie gegen den
stählernen Karteischrank stieß.
Der Narbige ging in Richtung der Behandlungsräume. Er stieß
eine der Türen auf, ließ den Blick durch den Raum schweifen. In der
Mitte stand ein Behandlungsstuhl. Der Raum roch nach
Desinfektionsmitteln.
Der Narbige nahm sich den nächsten Raum vor.
Dr. Vincent Bretzke saß an einem Computerschirm. Vor einem
Leuchtfeld hingen Röntgenbilder.
Bretzke drehte sich herum.
Er war ein jugendlich wirkender Mittvierziger. Das Haar war
nach hinten gekämmt. Sein Teint sah nach Höhensonne aus. Trotzdem
wurde Bretzke in diesem Augenblick aschfahl.
Er hob die Hand.
»Nein!«, flüsterte er, als er die Waffe in der Hand des
Narbigen sah.
Dieser zögerte keine Sekunde. Blutrot leckte das Mündungsfeuer
aus dem Schalldämpfer heraus.
Bretzke stürzte sich im selben Moment nach vorn, wollte sich
auf seinen Mörder werfen. Es war der Mut der Verzweiflung, der ihn
trieb.
Der Schuss erwischte ihn nicht richtig. Nicht so wie der
Narbige das geplant hatte. Nur ein Durchschuss durch die Schulter.
Bretzkes weißer Kittel verfärbte sich rot. Das Loch, das das
gewaltige Kaliber der Automatik in den Körper des Getroffenen
hineinriss, war immens. Das Projektil trat an der anderen Seite
wieder hervor und krachte in den Computer hinein. Der Bildschirm
zersprang. Scherben wurden durch den gesamten Raum geschleudert.
Kleine, geschossartige Scherbensplitter. Der Narbige hob schützend
die Hand in Höhe der Nasenwurzel, kniff die Augen zusammen.
Bretzke hatte ihn erreicht, umfasste mit einer Kraft, die der
Narbige ihm gar nicht zugetraut hatte, den Waffenarm des Killers.
Ein Schuss löste sich, riss ein Loch in die Decke und ließ Putz
herunterrieseln.
Der Narbige ließ das Knie hochfahren, traf damit den Zahnarzt
im Unterleib. Bretzke stöhnte auf. Ein zweiter Tritt, mit dem
Vollspann ausgeführt, ließ Bretzke zu Boden gehen.
Bretzke rollte herum.
Der Narbige richtete die Automatik auf seinen Kopf.
Zweimal kurz hintereinander drückte er ab.
Bretzke zuckte zurück. Seine Augen erstarrten. Das große runde
Loch mitten in seiner Stirn ließ keinerlei Zweifel darüber, dass er
nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Eine Blutlache bildete sich auf dem Boden.
Der Narbige atmete tief durch, steckte die Waffe ein.
Vielleicht sollte ich in Zukunft mit kleinerem Kaliber
arbeiten, dachte er. Das macht weniger Dreck!
Er holte das Handy aus der Innentasche seiner Jacke, betätigte
eine Kurzwahltaste. Innerhalb weniger Augenblicke stand die
Verbindung.
»Ihr könnt zum Aufräumen raufkommen, Jungs«, knurrte der
Narbige kalt.
4
Roy betätigte die Sprechanlage eines Apartments in Barmbek.
Eine ziemlich luxuriöse Adresse. Chantal Kadatz‘ Geschäfte mussten
ganz gut gehen. Andererseits bediente sie wohl auch eine
Kundschaft, die sich nicht in irgendeiner Absteige abfertigen
konnte.
»Ja, bitte?«, fragte eine rauchige Stimme.
»Roy Müller, Kriminalpolizei!« stellte Roy sich vor. »Mein
Kollege Jörgensen und ich möchten Ihnen gerne ein paar Fragen
stellen.«
»Worum geht es?«
»Das möchten wir ungern hier auf dem Flur besprechen, wo
Kameras alles aufnehmen, Frau Kadatz. Können wir
hereinkommen?«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Wir können sie natürlich vorladen. Aber Sie würden uns und
Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen, wenn wir das so über
die Bühne bekommen.«
Es klickte in der Anlage. Chantal Kadatz schien zu
überlegen.
Sie schien ziemlich lange dazu zu brauchen. Ich wurde schon
ungeduldig. Dann öffnete sich endlich die Tür.
Chantal Kadatz trug nichts weiter als einen sehr knappen
Seidenkimono, als sie uns öffnete. Was immer Chantal auch in den
Momenten getan hatte, in denen sie uns hatte warten lassen - fürs
Anziehen konnte sie bei der knappen Garderobe kaum so lange
gebraucht haben. Sie verschränkte die Arme unter den Brüsten. Das
lange dunkle Haar fiel bis weit über die Schultern.
Wir hielten ihr unsere Ausweise hin.
»Okay, kommen Sie herein!«, meinte sie. »Aber ich habe nicht
viel Zeit ...«
»Da geht es Ihnen wie uns«, sagte ich.
Sie drehte sich herum. Wir betraten einen großen Wohnraum.
Flauschiger Teppichboden bedeckte den Boden, so dass man die
Schritte kaum hören konnte. Roy schloss die Tür.
Chantal Kadatz deutete auf eine Sitzecke.
»Setzen Sie sich, wenn Sie wollen. Etwas zu trinken kann ich
Ihnen leider im Moment nicht anbieten. Meine Champagner-Flaschen
sind abgezählt. Und wenn jemand wie Sie auftaucht, dann wohl sicher
nicht aus einem Anlass, den man feiern könnte.«
»Was glauben Sie denn, weswegen wir hier sind?«, fragte Roy,
dessen Blick ansonsten wie magisch angezogen an dem tiefen
Ausschnitt von Chantals Kimono hing.
Sie verzog das Gesicht, bildete mit den vollen Lippen einen
Schmollmund.
»Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung!«
Dann wurden ihre Augen schmal. Sie starrte Roy an.
»Hey, ich kenne Sie doch irgendwoher! Ist noch nicht lange
her, da habe ich ...«
»Ich war bei Jan Siewekes Wachmannschaft«, half Roy ihr auf
die Sprünge.
Ihr fiel der Kinnladen herunter. Ihr eher dunkler Teint wurde
jetzt blass. Sie schluckte, biss sich auf die Lippe.
»Jetzt sagen Sie aber bitte nicht, dass Sie Jan gar nicht
kennen«, meinte ich.
»Jedenfalls ist mir nun klar, dass er unter Bewachung der
Polizei stand!«
»Jan Sieweke war ein Drogenhändler. Wir waren ihm auf der
Spur. Als er sich mit seinem Großdealer traf, ist er explodiert«,
berichtete Roy knapp.
Sie hob die Augenbrauen.
»Er ist was?«, flüsterte sie.
»Ich meine das so, wie ich es sage«, erklärte Roy. »Er trug
offenbar Sprengstoff am Körper. Sein Großdealer, der Stoff und er
selbst sind mehr oder minder zerfetzt worden. Ein paar Gorillas
beider Seiten hat es auch erwischt.«
Chantal atmete tief durch. Ihre schweren Brüste hoben und
senkten sich dabei und vergrößerten damit den Ausschnitt ihres
Kimonos noch ein Stück. Sie ließ sich in einen der Sessel sinken,
strich sich mit einer fahrigen Geste eine Haarsträhne aus dem
Gesicht. Ich fragte mich, ob sie wirklich so schockiert war, oder
wir es nur mit einer guten Schauspielerin zu tun hatten. Im Moment
standen meine Wetten in diesem Punkt noch fifty-fifty.
»Ich hatte keine Ahnung«, flüsterte sie mit belegter Stimme.
»Und Sie sind sich sicher, dass Jan den Sprengstoff bei sich
trug?«
»Wir waren dabei«, gab Roy zu bedenken. »Die Aufnahmen, die
von dem geplanten Deal gemacht wurden, lassen nach Auskunft unserer
Sprengstoffspezialisten keinen anderen Schluss zu. In der Zeitlupe
kann man genau sehen, wo die Detonation ihren Ausgangspunkt
hat.«
Sie schüttelte den Kopf. Schließlich sagte sie: »Ich möchte
betonen, dass ich mit Jans Geschäften nie etwas zu tun
hatte.«
»Haben wir bislang auch nicht behauptet«, sagte ich und
betonte dabei das Wort bislang.
»Jan hatte Geld wie Heu, aber woher das kam, darum habe ich
mich nie gekümmert. Er war ...« Sie zögerte, ehe sie
weitersprach.
»Ein Kunde?«, vollendete ich. »Nichts weiter, das wollen Sie
uns jetzt erzählen, oder?«
»Wollen Sie mir daraus einen Strick drehen?«
»Womit Sie Ihr Geld verdienen, interessiert uns nicht.
Prostitution ist in Deutschland legal, sofern Sie Steuern und
Sozialabgaben zahlen - und ich bin nicht hier, um das zu
überprüfen. Uns interessieren die Hintergründe dieser Explosion,
die Jan und ein paar andere das Leben gekostet hat.«
»Und da soll ausgerechnet ich Ihnen weiterhelfen
können?«
Roy meldete sich zu Wort.
»Er war Ihnen verfallen. Das können Sie nicht abstreiten.
Selbst in der relativ kurzen Zeit, in der ich in Jan Siewekes
Organisation als V-Mann arbeitete, habe ich das mitbekommen. Mag er
nun für Ihre Dienste auch bezahlt haben, er sah darin offenbar
mehr. Und ich nehme an, dass er Ihnen Dinge erzählt hat, die er vor
seinen Leuten tunlichst verschwieg.«
»Was für Dinge meinen Sie?«
»Na, Persönliches. Hören Sie, allem Anschein nach hat dieser
Mann sich selbst in die Luft gesprengt - und wir wüssten gerne
warum.«
Chantal lehnte sich etwas zurück, schlug ihre endlos langen,
schlanken Beine übereinander. Der Kimono war ohnehin schon ziemlich
kurz. Jetzt rutschte er noch weiter nach oben. Fast konnte man
meinen, dass sie das mit Absicht machte, um ihre jeweiligen
Gesprächspartner abzulenken.
Dann blickte sie Roy an.
»Sie müssten doch wissen, dass Jan Sieweke ein Angsthase
war!«
»Nun ...«
»So einer macht doch nichts, wobei er selbst draufgehen kann.
Ich glaube das einfach nicht!«
»Eine depressive Ader hatte er nicht zufällig?«
»Hören Sie, ich weiß nicht, warum Sie in der Sache so
herumrühren, Herr Müller. Wenn Jan für die Detonation
verantwortlich war, dann haben Sie doch Ihren Täter. Alles andere
braucht Sie doch nicht weiter zu interessieren.«
»Da sind Sie im Irrtum!«
In diesem Moment klingelte es an der Tür.
»Sie entschuldigen mich«, sagte Chantal, erhob sich und ging
in Richtung Tür. Sie öffnete. Dabei blickte sie noch nicht einmal
durch den Spion. Sie schien zu wissen, wer auf der anderen Seite
war.
Ein breitschultriger Mann in einem schneeweißen Anzug trat
ein. Nur die Krawatte war aus dunklem, geriffelten Leder.
»Hast du irgendetwas gesagt, Baby?«
»Nein, Reinhold!«
Reinhold Wilk stand vor uns, der Mann der als Chantals
Zuhälter galt. Ich erkannte ihn von einigen Fotos aus unseren
Dateien wieder.
Wilk schob Chantal zur Seite und trat auf uns zu.
»Ohne Anwalt sagt Frau Kadatz überhaupt nichts mehr.«
»Sie wollen gar nicht wissen, worum es überhaupt geht?«,
fragte ich.
Der Mann in Weiß zögerte einen Augenblick. Seine Gesichtsfarbe
veränderte sich in ein ungesundes Dunkelrot. Ich hatte ihn offenbar
an einer empfindlichen Stelle erwischt. Für mich setzte sich ein
Bild zusammen: Chantal hatte Wilk alarmiert, während sie Roy und
mich vor der Tür eine Minute warten ließ. Ich war jetzt überzeugt
davon, dass beide schon vor unserem Auftauchen genau gewusst
hatten, worum es ging.
»Wer hat Sie über Jan Siewekes Tod informiert?«, fragte ich,
sah dabei zuerst Reinhold Wilk, dann Chantal Kadatz an.
Chantal kaute auf den Fingernägeln, sagte kein Wort.
»Wie gesagt, ohne Anwalt läuft hier gar nichts!«
»Gut«, sagte ich. »Den brauchen Sie vielleicht auch, sobald
unsere Kollegen von der Sitte hier auftauchen.«
»Sie können nichts beweisen!«, sagte Wilk. »Mag sein, dass
Frau Kadatz mit Jan Sieweke eine Beziehung hatte, aber ...«
»Roy, ruf die Kollegen, das Theater lassen wir uns nicht
bieten!«
Roy nahm das Handy.
Reinhold Wilk griff plötzlich unter sein Jackett.
Mir war die ausgebeulte Stelle schon die ganze Zeit über
aufgefallen. Mein Verdacht bestätigte sich. Er riss eine Beretta
hervor. Aber da ich diese Handlungsweise vorhergesehen hatte, war
ich schneller. Die SIG Sauer P 226 war in meiner Faust, noch ehe
Wilk seine Waffe richtig hochgerissen hatte!
»Weg damit!«, zischte ich.
Er ließ sie fallen. Roy trat vor, nahm die Waffe an
sich.
»Wetten, für das Ding gibt's keine ordnungsgemäße
Registrierung?«, meinte er. »Sie bekommen richtig Ärger, Herr Wilk
...«
Wilk schluckte.
»Wir können doch über alles reden,«, meinte er.
»Dann spielen Sie uns nichts vor und packen Sie aus!«
Schweißperlen sammelten sich auf Wilks Stirn.
»Es hat mich jemand angerufen«, meinte Chantal schließlich.
»Es war ein Mann. Er ...«
»Halt den Mund, Chantal!«, schrillte Reinhold Wilk.
»… er sagte, dass Jan tot sei und drohte, dass mir und
Reinhold was passieren würde, wenn ich gegenüber den Bullen nicht
den Mund hielt!«
»Haben Sie eine Ahnung, wer dahintersteckt?«, fragte
ich.
»Chantal, wir stehen diesen Mist durch, die haben nichts gegen
uns in der Hand, was wirklich zählt!«
»Reinhold, das hat doch keinen Sinn!« Chantal wandte sich
wieder an mich. »Natürlich hat der Kerl sich nicht vorgestellt,
aber Reinhold und ich wissen, wer ihn vermutlich geschickt
hat.«
»Ich bin gespannt!«
»Die kalabrische Antonioni-Familie, angeführt von Luigi
Antonioni junior.« Sie atmete tief durch, sah Reinhold Wilk dabei
an. »Reinhold, lass uns auspacken! Es hat doch keinen Sinn, jetzt
weiter zu schweigen.«
»Antonioni wird uns bei lebendigem Leib dafür rösten,
Chantal«, knurrte Reinhold Wilk düster. Er blickte auf und sah mich
mit verengten Augen an. Ein Muskel zuckte unruhig in seinem
Gesicht.
»Daran werden wir ihn schon hindern«, meinte ich.
»So? Da nehmen Sie sich wohl etwas zu viel vor!«
»Wie kommen Sie auf Antonioni?«, hakte ich nach. Der Name
sagte mit natürlich was. Die Antonioni-Familie hatte ihre Finger in
diversen Zweigen des organisierten Verbrechens. Und das über
mehrere Generationen hinweg. Sie gehörte zur ‘Ndrangheta, der
kalabrischen Mafia, die in Europa inzwischen seit den Neunzigern
die stärkste Mafia-Organisation war. Auch in Hamburg war die
‘Ndrangheta aktiv.
Reinhold Wilk fuhr sich mit der Hand über die Stirn, dann
richtete er seinen Finger wie den Lauf einer Waffe auf mich.
»Was ich Ihnen jetzt sage, werde ich in keinem Fall vor
Gericht wiederholen. Jan Sieweke arbeitete für Plonka. Ich nehme
an, das wissen Sie.«
»Allerdings.«
»Plonka hat Jan gewissermaßen bei den Antonionis abgeworben.
Ich glaube, Jan sah wohl keine Aufstiegschancen bei Luigi
Antonioni. Der schwört darauf, nur Verwandte ganz nach oben kommen
zu lassen.«
»Aber Antonioni nahm Jan den Wechsel trotzdem übel!«
»Und wie! Zumal Plonka im Moment sein Todfeind ist, das
pfeifen die Spatzen von den Dächern. Jedenfalls hat einer von
Antonionis Leuten mich gefragt, ob ich nicht ein Girl hätte, auf
das Jan abfahren würde.«
»Und so haben Sie Chantal auf ihn angesetzt.«
»Klar!«
»Ich nehme an, Sie haben Tonband- oder Videoaufzeichnungen
gemacht.«
Wilk schluckte.
Roy mischte sich ein: »Rücken Sie die Sachen freiwillig raus,
sonst müssen wir hier alles auf den Kopf stellen und wer weiß, was
sich noch an Straftatbeständen bei Ihnen herausstellt! Das ist der
beste Handel, den Sie machen können.«
»Die Bänder sind bei Antonioni.«
»Wer hat sie abgeholt?«
»Irgendein Typ fürs Grobe. Hat sowieso keinen Zweck, die Jungs
nach dem Namen zu fragen.«
»Und Sie wollen mir erzählen, dass Sie keine Kopien davon
angefertigt haben?«, fragte ich. »Gut, dann müssen wir alles
durchwühlen.«
Wilk war inzwischen ziemlich weichgekocht.
»Okay«, sagte er schließlich. »Sie kriegen unsere Kopien, aber
wenn Antonioni davon erfährt, sind wir tot!«
»Wir quatschen nicht«, sagte Roy.
»Erzählen Sie uns den Rest der Story!«, forderte ich an Wilk
gerichtet.
Wilk zuckte die Achseln.
»Da gibt's nichts mehr zu erzählen. Die Antonioni-Leute
wollten halt unbedingt gut über Jan informiert sein. Vielleicht
wollte er über ihn auch an Informationen herankommen, die Plonka
betrafen. Die Beiden haben sich ja einen regelrechten Krieg
geliefert, wie man so hört.«
Mein Handy schrillte in dieser Sekunde. Ich nahm den Apparat
vom Gürtel, meldete mich und hatte im nächsten Moment Herr Bock an
der Leitung.
»Uwe, Sie sind doch zur Zeit gerade in Barmbek.«
»Ja.«
»Ganz in der Nähe ist Dr. Vincent Bretzke in seiner Praxis
aufgefunden worden. Max Warter wies mich darauf hin, dass Bretzke
der Zahnarzt von Jan Sieweke war ... Kriminalhauptkommissar
Grossner von der Mordkommission ist mit seinen Leuten gerade dort.
Am besten, Sie schauen mal vorbei. Ich gebe Ihnen die Adresse durch
...«
5
»Antonioni übernimmt jetzt Plonkas Geschäfte.« Der Mann in der
braunen Lederjacke nippte an seinem Cappuccino. Er grinste, als er
das Erschrecken im Gesicht seines Gegenübers sah.
»Und Antonioni schickt dich, um mir das zu sagen,
Guido?«
»So ist es, Mario.«
Mario Gordini, der andere Mann, der an einem der hinteren
Tische von Salvatore's Coffee Shop in Mauerwegstraße seinen
Cappuccino trank verzog das Gesicht.
»Und wenn ich nun was dagegen hätte, Guido?«
Guido Santos klappte den Kragen seiner Lederjacke herunter.
»Hast du nicht, Mario. Nicht, wenn du weiter Geld verdienen
und am Leben bleiben willst. Entweder du arbeitest für Antonioni
oder du bist ganz draußen. Kannst es dir aussuchen!«
Mario Gordini zupfte sich nervös an seinem grauen Knebelbart.
Er mochte es nicht, wenn junge Männer, die halb so alt waren wie
er, ihm Befehle gaben. Für Luigi Antonioni jr., der erst Mitte
zwanzig war, galt das genauso wie für seinen Laufburschen Guido
Santos.
Kein Respekt mehr vor dem Alter!, dachte Gordini. Die guten
alten Zeiten waren eben vorbei.
»Luigi Antonioni nimmt dir übrigens nichts übel«, meinte Guido
Santos mit einem gönnerhaften Ton, den Gordini auf den Tod nicht
ausstehen konnte. »Ich meine, dass du mit Plonka gemeinsame Sache
gemacht hast. Er geht davon aus, dass du deinen Fehler
bereust.«
»Wie großzügig!«
»Ja, scheint so, als hätte Luigi jun. im Moment seine weiche
Welle.«
»Nachdem er sehr hart zugeschlagen hat! Teufel noch mal,
keiner hätte ihm zugetraut, mit Plonka einfach kurzen Prozess zu
machen!«
Guido Santos beugte sich etwas vor.
»Antonionis Gnade hat für dich noch 'nen kleinen Haken, aber
den wirst du verschmerzen können.«
»Und der wäre?«
»Deine Anteile werden halbiert. Aber dafür bleibst du am
Leben. Das ist doch fair, oder?«
Gordini trank seinen Cappuccino aus.
»Hätte ich mir ja denken können.«
In diesem Moment wurde die Außentür des Coffee Shops
aufgestoßen.
Zwei Männer stürzten herein. Sie trugen Sturmhauben, die nur
die Augen freiließen.
Guido Santos und Mario Gordini zuckten zusammen.
An einem der Nachbartische saßen Gordinis Leibwächter. Sie
rissen ihre Waffen heraus. Die Maskierten ließen ihnen keine
Chance. Mit Schalldämpferwaffen feuerten sie. Es klang wie das
Schlagen mit einer Zeitung. Die Körper der beiden Leibwächter
zuckten wie Marionetten.
Mario Gordini zog ebenfalls eine Waffe. Ein kurzläufiger Smith
& Wesson-Revolver.
Sein Schuss wurde zur Seite abgelenkt, als ihn eine Kugel in
den Arm traf. Eine zweite erwischte ihn mitten auf der Stirn. Durch
die Wucht des Geschosses wurde er nach hinten gerissen, hing dann
schlaff in seinem Stuhl.
Salvatore, der Besitzer des Coffee Shops, stand konsterniert
hinter dem Tresen. Er war wie zur Salzsäule erstarrt.
Einer der Maskierten richtete die Waffe auf ihn.
»Keinen Ton! Keine Bewegung!«
»… und kein Wort zu irgendjemand«, ergänzte der andere.
»Si, Signore.«
Guido Santos saß starr am Tisch. Er wandte leicht den Kopf.
Aus den Augenwinkeln heraus sah er einen dritten Maskierten, der
sich von hinten näherte. Er musste durch den Hintereingang
hereingekommen sein. Der Kerl trug eine MPi in der Hand.
Keine Chance!, dachte Guido.
Er trug nur ein Messer im Ärmel. Die Klinge herauszureißen war
Selbstmord. Dann erging es ihm wie Mario Gordini und seinen beiden
Leibwächtern. Vielleicht hatte er ja Glück, und die maskierten
Killer hatten es nur auf Gordini abgesehen.
Guido hob die Hände.
»Hey, Leute! Wenn wir irgendwelchen Ärger zusammen haben
sollten, und ich weiß nichts davon, dann können wir bestimmt
darüber reden.«
»Halt's Maul!«, knurrte einer der Maskierten.
Der Mann mit der MPi trat an ihn heran, holte ein Taschentuch
aus der Jackentasche hervor. Es roch nach Chloroform. Guido wurde
von Panik erfasst. Der Kerl drückte ihm das Chloroform unter die
Nase. Guido riss das Messer aus dem Ärmel, stach blitzschnell zu.
Der MPi-Mann sank ächzend zu Boden. Eine Blutlache bildete
sich.
»Du Schwein!«, knurrte einer der Maskierten, richtete die
Waffe auf Guido.
»Wir brauchen ihn noch«, erinnerte der andere.
Guido verlor inzwischen die Besinnung. Er taumelte zu
Boden.
Die beiden Maskierten packten ihn an den Armen, nahmen ihm das
Messer ab und schleiften ihn hinaus. Ein Lieferwagen wartete dort,
beklebt mit den Werbeschildern eines Pizza-Expressdienstes. Die
seitliche Schiebetür stand bereits offen. Der Motor lief.
Die beiden Maskierten schleiften Guidos schlaffen Körper mit
sich und warfen ihn grob ins Innere des Lieferwagens. Sie selbst
stiegen auch ein.
»Wo ist der MPi-Mann?«, fragte der Fahrer.
»Der kommt nicht mehr!«
Noch ehe die Schiebetür geschlossen war, brauste der
Lieferwagen davon.
6
Kriminalhauptkommissar Lukas Grossner von der Mordkommission
begrüßte uns, als wir in der Praxis von Dr. Vincent Bretzke
eintrafen. Das reinste Chaos herrschte hier. Die Aktenschränke
waren durchwühlt. Die Patientenkartei lag auf dem Boden verstreut.
Computergehäuse waren geöffnet und die Datenträger mechanisch
zerstört worden.
Der blutüberströmte Körper der Sprechstundenhilfe wurde gerade
in einen Zinksarg hineingelegt.
»Das waren Profis«, war Kriminalhauptkommissar Grossners
Überzeugung.
»Dr. Bretzke liegt in einem der Behandlungsräume.«
»Kann man einen genauen Zeitpunkt angeben, wann das hier
passiert ist?«, fragte ich.
»Der Gerichtsmediziner will sich nicht so genau festlegen.
Aber es kann nicht länger her sein als ein paar Stunden.«
»Also heute Morgen!«
»Ja.«
»Wie kommt es, dass Sie so schnell hier sind, Herr
Grossner?«
»Als der Mord geschah, war von den Sprechstundenhilfen nur
eine hier. Das heißt, der Mord geschah vor Praxisöffnung.«
»Wann ist das?«
»Bretzke hat nur Patienten nach Absprache. Aber vor neun wohl
nicht. Die zweite Sprechstundenhilfe traf erst später ein. Das war
ihr Glück. Sie sitzt drüben im Wartezimmer und ist ziemlich
schockiert. Frau Sandra Jonkers. Immerhin hatte sie noch Nerven
genug, uns herbeizurufen. Vielleicht wollen Sie ihr ja ein paar
Fragen stellen.«
»Ja, gleich«, nickte ich.
»Es gibt da übrigens noch etwas, dass Sie interessieren
dürfte.«
»So?«
»Der Gerichtsmediziner ist der Meinung, dass Dr. Bretzke
kokainsüchtig war. Seine Nasenscheidewand war so gut wie nicht mehr
vorhanden. Man muss zwar noch abwarten, was die Analysen ergeben,
aber dass er Schnee konsumiert hat, dürfte feststehen. Fragt sich
nur in welchen Mengen.«
Roy schüttelte den Kopf.
»Ein Arzt und drogensüchtig. Der müsste es doch besser
wissen!«
Grossner hob die Schultern.
»Bretzke hatte eine erlesene Kundschaft, sein Equipment war
vom Feinsten, die Praxis liegt in einer sündhaft teuren Gegend ...
Würde mich nicht wundern, wenn Bretzke ziemlich unter Druck stand
und eine Menge Schulden gemacht hatte, um das hier
aufzubauen.«
Grossner führte uns zu der Stelle, an der Bretzkes Leiche
gefunden worden war. Eine Kreidemarkierung zeigte an, wie er
gelegen hatte. Die Leiche selbst war schon auf dem Weg zur
Gerichtsmedizin. Die Karteischränke mit den Röntgenbildern waren
ebenso durchwühlt wie alles andere in der Praxis. Der Computer war
geöffnet worden, die Festplatte so zerschlagen, dass man nicht
hoffen konnte, darauf noch irgendetwas finden zu können.
Ein Kollege von der Spurensuche war gerade bei ein paar Spuren
zu sichern. Er trug einen hauchdünnen weißen Einweg-Overall und
Latex-Handschuhe. Eher beiläufig grüßte er uns.
»Hier hat jemand etwas gesucht, dass ihm zwei Tote wert war«,
meinte Grossner.
»Oder es sollten Beweise vernichtet werden«, erwiderte ich
spontan.
»Beweise - wofür?«, fragte Roy.
»Keine Ahnung.«
»Zählen wir zwei und zwei zusammen. Bretzke war süchtig,
Sieweke vermutlich nicht nur sein Patient, sondern auch sein Dealer
...«
»Und beide sind jetzt tot«, ergänzte ich. »Ich denke, unser
Chef hatte eine gute Nase, als er uns hierher schickte. Ich habe
zwar keinen Schimmer was für ein Zusammenhang da besteht, aber es
gibt einen. Da bin ich hundertprozentig sicher!«
Wenig später unterhielten wir uns noch mit Frau Sandra
Jonkers, die das Chaos entdeckt hatte.
Sie hatte eine gertenschlanke, sportliche Figur und trug einen
Pagenschnitt. Das dezente Make-up war tränenverschmiert. Wir
zeigten ihr unsere Ausweise, stellten uns kurz vor.
Roy sah sie einen Augenblick länger an als mich. Vielleicht
rätselte sie, ob sie ihn nicht doch schon mal gesehen hatte. Aber
sie fragte nicht nach. Das, was hier in der Praxis geschehen war,
nahm sie wohl innerlich zu sehr in Anspruch.
Roy half ihr auf die Sprünge.
»Wir kennen uns. Ich war schon mal mit Herrn Sieweke hier. Jan
Sieweke. Ein Patient von Dr. Bretzke.«
Sie schluckte.
»Ach, ja? Ich weiß nicht, was das jetzt soll. Dr. Bretzke und
Rita sind ermordet worden und ...« Sie schluchzte auf, barg ihr
Gesicht in den Händen dabei.
Wir warteten geduldig ab, bis sie sich wieder gefasst
hatte.
»Haben Sie je etwas von Dr. Bretzkes Kokain-Sucht bemerkt?«,
fragte ich ruhig.
Sie sah erschrocken auf. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Das halte ich für ausgeschlossen.«
»Der Gerichtsmediziner vertritt aber die Ansicht, dass Dr.
Bretzke Kokain konsumiert hat. Vielleicht, um den großen Stress zu
bewältigen, den der Aufbau einer solchen Praxis bedeutet. Seit wann
besteht die Praxis?«
»Seit drei Jahren.«
»Waren die Umsätze gut?«
»Ich habe mein Gehalt immer bekommen, wenn Sie das
meinen.«
»Sie erinnern sich an Jan Sieweke?«
»Wir haben viele Patienten.«
»Sie weichen aus.« Ich griff in die Innentasche meiner
Lederjacke und zeigte ihr ein Foto von Sieweke. »Sie werden sich
sicher erinnern. Herr Sieweke war ein extrem ängstlicher Patient,
der sich seinen Backenzahn nur in Vollnarkose behandeln lassen
wollte.«
»Ach der!«
»Er war Kokain-Dealer.«
»Aber hier war er nur wegen seiner Zähne.«
»Können Sie mir genau sagen, was bei Herr Sieweke gemacht
werden musste?«
»Sehen Sie doch in die Krankenakten!«
»Sie haben ja gesehen, dass die in einem ziemlich ungeordneten
Zustand sind. Es wird 'ne Weile dauern, bis wir uns da
durchgearbeitet haben.«
»Dann machen Sie Ihren Job und lassen mich in Ruhe!«
»Ich frage mich, warum Sie so abweisend sind, Frau Jonkers.
Ich kann Ihren Schmerz über das, was geschehen ist, verstehen. Aber
wir wollen doch nichts anderes, als den oder die Mörder zur
Rechenschaft ziehen, die für das hier verantwortlich sind.«
Sie hob die Augenbrauen, sah mich direkt an.
»Es tut mir leid, Herr Jörgensen, dass ich Ihnen nicht
weiterhelfen kann!«
7
Guido Santos hatte sein Gefühl für Zeit vollkommen verloren.
Als er erwachte, sah er zunächst nur grelles Licht. Es dauerte ein
wenig, bis er begriff, dass eine schwenkbarer Scheinwerfer ihn
direkt anstrahlte. Er wollte sich bewegen, spannte die Muskeln an,
aber dann stellte er fest, dass er mit handbreiten Riemen an das
Bett gefesselt war, in dem er lag. An den Hand- und Fußgelenken war
er fixiert.
Ihm war schwindelig, und der Kopf dröhnte. Alles drehte sich
vor seinen Augen. Aus dem Scheinwerfer wurde ein sich drehender
Strudel aus purem Licht. Für Augenblick hatte er das Gefühl, ins
Bodenlose zu fallen.
Wo bin ich?, durchzuckte es Guido.
Erinnerungen stiegen als Bruchstücke in ihm auf.
Ein Bild erschien.
Die Szenerie war ihm vertraut.
Salvatores Coffee Shop.
Mario Gordini fassungsloses Gesicht mit einem Einschussloch
mitten zwischen den Augen.
Die Vermummten ...
Schlaglichtern gleich huschten diese Eindrücke vor seinem
inneren Auge dahin, bildeten ein furchteinflößendes Chaos. Panik
stieg in ihm auf.
Er bäumte sich mit aller Kraft gegen die Fesseln auf, die ihn
hielten, wollte sich losreißen, obwohl sein Verstand ihm sagte,
dass sein Versuch sinnlos war.
Guido schrie.
Er schrie wie ein Wahnsinniger.
Es dauerte nur Augenblicke, da sah er ein Gesicht. Nur die
Augen waren von diesem Gesicht zu sehen. Große dunkle Augen. Und
die Brauen darüber waren sehr dicht. In der Mitte, an der
Nasenwurzel wuchsen sie zusammen. Der Rest des Gesichtes war durch
einen Mundschutz bedeckt, wie Ärzte ihn trugen.
Die dunklen Augen musterten ihn kalt. Eine sonore Stimme
murmelte ein paar Worte, die wie Latein klangen. Namen von
Präparaten oder Krankheiten. Dann spürte er den Einstich. Er
verkrampfte sich, schrie erneut.
Das Letzte, was Guido Santos sah, war der Blick dieser grausam
kalten Augen ...
8
Das Cadena-Gebäude in Hamburg-Mitte in der Brandt-Straße
gehörte dem gleichnamigen Versicherungskonzern. Mit seinen zwanzig
Stockwerken war es für Hamburger Verhältnisse verhältnismäßig
groß.
Unser Kollege Medina saß am Steuer des unauffälligen Wagen in
grau-metallic. Der Wagen stammte aus dem Bestand unserer
Fahrbereitschaft. Ollie lenkte ihn in die Einfahrt der Tiefgarage
des Cadena-Gebäudes hinein.
Stefan Czerwinski saß auf dem Beifahrersitz.
Ollie lenkte den Wagen auf Deck C.
Auf Platz Nr. 145 stand ein gelber Mitsubishi mit getönten
Scheiben.
»Das ist er«, meinte Ollie.
»Ich habe ja gesagt, dass man sich auf Lenny Bellin verlassen
kann«, sagte Stefan.
»Ich hoffe, dein Super-Informant hat uns diesmal auch etwas
mehr als nur heiße Luft anzubieten...«
Ollie parkte neben dem gelben Mitsubishi.
Stefan öffnete die Tür, stieg aus. Ollie folgte einen
Augenblick später. Gleichzeitig tat sich auch etwas in dem
Mitsubishi. Die Fahrertür wurde geöffnet. Ein grauhaariger
Mittfünfziger stieg aus, blickte sich nervös um.
»Hallo«, grinste er dann schief.
»Sie haben es ja diesmal ziemlich dringend gemacht, Bellin«,
meinte Stefan.
Lenny Bellin hatte einen Frisörsalon in Ottensen.
Wir nahmen an, dass Bellins Salon jahrelang als
Geldwaschanlage für den alten Antonioni fungiert. Seit sein Sohn
die Geschäfte übernommen hatte, war Bellins Stern gesunken. Vor
zwei Jahren war Bellins Schwiegersohn bei einem mysteriösen
Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Dafür machte Bellin Luigi
Antonioni junior. verantwortlich, auch wenn es keine
gerichtsverwertbaren Beweise gab. Aber Bellin übte auf seine Weise
Rache. Er versorgte die Kriminalpolizei mit Informationen. Und dazu
war er in einer denkbar guten Position, denn sein Frisörsalon war
ein beliebter Treffpunkt zur Abwicklung von Geschäften. Seit den
Zeiten von Antonioni senior vertraute man ihm.
»Hören Sie zu, Herr Czerwinski, Ihnen werden die Ohren
abfallen!«
»Ich bin gespannt. Sagen Sie bloß, jemand hat mit Sakalit-13
gehandelt?«
Bellin schüttelte den Kopf.
»Fehlanzeige.«
»Hätte ja sein können.«
»Aber die Sache mit Jan Sieweke und Anton Plonka hat einige
Leute ziemlich nervös gemacht. Luigi Antonioni jun. übernimmt jetzt
jedenfalls wieder Plonkas Geschäfte. Und es gibt einige Leute, die
sagen, dass Antonioni den größten Vorteil von Plonkas Ableben hat.
Und Jan Sieweke war ja gewissermaßen nur Plonkas Laufbursche. Der
zählt nicht. Du kannst fragen, wen du willst, die meisten sind
davon überzeugt, dass Antonioni hinter dem Tod der beiden
steckt.«
Stefan hob die Augenbrauen.
»Das hätte ich mir notfalls noch selbst zusammenreimen
können«, meinte er etwas enttäuscht. »Sieweke hat sich
wahrscheinlich selbst in die Luft gesprengt, um Plonka zu töten.
Können Sie sich dafür irgendeinen Grund denken?«
»Vielleicht hatte Antonioni ihn in der Hand.«
»Womit?«
»Keine Ahnung. Aber Antonioni hat so gut wie gegen jeden etwas
in der Hand.«
»Auch etwas, womit man jemanden zwingen könnte, sich selbst in
die Luft zu sprengen? Das ist absurd.«
»Hören Sie, dazu kann ich nichts weiter sagen. Aber ich kann
Ihnen Antonionis Motiv nennen, Plonka aus dem Weg zu räumen.«
»Plonka wollte die Macht. Antonioni hatte keine Lust sie
abzugeben. Das wissen wir, Herr Bellin«, mischte sich Ollie
ein.
Aber Bellin schüttelte den Kopf.
»Davon rede ich nicht. Ich meine etwas anderes. Plonka wollte
einen Riesendeal mit gefälschten Medikamenten gegen Milzbrand
machen. Billige Placebos, die er in den Handel bringen wollte. Von
den Originalprodukten waren sie angeblich nicht zu
unterscheiden.«
»Und, was ist daraus geworden?«
»Antonioni wollte ihm einen Strich durch die Rechnung machen.
Er hatte den Lieferanten herausbekommen und beabsichtigte, sich
direkt mit ihm zu einigen.«
Jetzt wurde es interessant.
»Wer ist der Lieferant?«, fragte Stefan Czerwinski.
»Bevor ich Ihnen darauf eine Antwort gebe, möchte ich, dass
für meine Tochter gesorgt ist. Was ich hier mache, ist verdammt
gefährlich, und seit Antonioni meinen Schwiegersohn umbrachte, ist
meine Tochter an einer schweren Depression erkrankt. Sie ist nicht
mehr in der Lage, für sich selbst zu sorgen.«
»Sie wollen mehr Geld?«, schloss Stefan.
»Ja.«
»An wieviel mehr dachten Sie denn?«
Bellin hob die Augenbrauen, kratzte sich am Kinn. Eine
rötliche Lichterscheinung lenkte Ollie für den Bruchteil einer
Sekunde ab. Er blickte zur Seite.
Der Strahl eines Laserpointers, durchzuckte es ihn.
Dieser Strahl war für einen winzigen Moment auf eine
Autoantenne aufgetroffen und dadurch sichtbar geworden. Irgendwo in
der Nähe saß einer mit einer Waffe, die über eine
Laserzielerfassung verfügte!
»Vorsicht!«, brüllte Ollie.
Er gab Bellin einen Stoß, duckte sich dabei.
Der erste Schuss zischte haarscharf an Bellins Rücken vorbei.
Die Kugel fraß sich durch das Blech des gelben Mitsubishi. Eine
zweite Kugel folgte nur einen Sekundenbruchteil später, ließ eine
Scheibe klirren. Dann wurde plötzlich aus mehreren Richtungen
gefeuert.
Maschinenpistolen knatterten los. Scheiben zersprangen.
Stefan hatte seine SIG in der Faust, sandte ein paar Schüsse
in Richtung der Angreifer. Bellin schrie auf. Eine Kugel hatte ihn
erwischt. Ollie beugte sich über ihn, zog ihn noch weiter zurück,
damit er sich nicht so in der Schusslinie befand. Aber was Bellin
anging, so kam wohl jede Hilfe zu spät. Seine Augen wurden starr.
Der Treffer hatte den Brustkorb durchschlagen. Blut rann ihm aus
dem Mund.
Zwischen den Wagen gingen Stefan und Ollie in Deckung.
Das MPi-Feuer war dermaßen stark, dass den beiden Kollegen
nichts anderes übrigblieb, als zusammengekauert in der Deckung zu
bleiben.
Ein Wagen brauste mit quietschenden Reifen durch die
Tiefgarage. Das Feuer verebbte.
Stefan tauchte hervor, sah einen Lieferwagen. Der Wagen trug
den Aufdruck einer Pizza-Express-Firma. Eine Schiebetür ging auf.
Mit MPis Bewaffnete in dunklen Sturmhauben, bei denen nur die Augen
frei blieben, tauchten aus ihrer Deckung hervor. Ihre Komplizen
gaben ihnen dabei Feuerschutz.
Stefan hatte gerade einen Schuss abgegeben, als er schon
wieder den Kopf einziehen musste.
Die Maskierten sprangen in den Lieferwagen. Er brauste los.
Man konnte hören, wie die Schiebetür geschlossen wurde.
Ollie schnellte hoch, legte die SIG zu einem gezielten Schuss
an. Er feuerte mehrfach hintereinander. Die Kugel prallten an der
Rückfront ab. Eine blieb in der Heckscheibe des Lieferwagens
stecken. Das Projektil war jetzt das Zentrum einer Art
Spinnennetz-Muster.
In einem halsbrecherischen Tempo raste der Wagen davon.
Stefan hatte bereits das Handy in der Hand. Ein Knopfdruck und
die Kurzwahlfunktion verband ihn mit unserem Präsidium. Er gab die
Wagennummer durch, auf die der Lieferwagen zugelassen war. Die
Fahndung musste sofort beginnen. Möglicherweise waren ja ein paar
Kollegen oder der hiesigen Polizeistation in der Nähe, die sich
einschalten konnten.
Ollie setzte unterdessen zu einem kleinen Spurt an, Er
feuerte, zielte dabei auf die Reifen.
Aus einem geöffneten Seitenfenster heraus wurde Ollie dann
unter Feuer genommen. Er musste sich ducken. Eine MPi knatterte.
Die Projektile kratzten am Metall der umstehenden Autos vorbei.
Hier und da wurden Löcher durch das Blech gestanzt.
Stefan war inzwischen in den Chevy gestiegen, hatte
zurückgesetzt. Die Reifen quietschten jedes Mal. Stefan ließ den
Chevy einen Satz nach vorn machen.
Ollie sprang zur Seite.
Stefan übernahm die Verfolgung. Er trat das Gaspedal voll
durch, um dem Lieferwagen auf den Fersen zu bleiben. Der Chevy
brauste die Gasse zwischen den parkenden Fahrzeugen entlang. Bei
der nächsten Biegung musste Stefan scharf bremsen. Das Heck brach
ein Stück aus, aber er konnte den Wagen unter Kontrolle
halten.
Der Lieferwagen befand sich bereits auf der Rampe, die ins
nächste höhere Parkdeck führte. Ein Fenster des Lieferwagens war
offen. Der kurze Lauf einer MPi ragte heraus.
Die Waffe knatterte los.
Stefan duckte sich, trat auf die Bremse. Die Frontscheibe des
Chevys zersprang. Ein Scherbenregen ging auf unseren Kollegen
nieder.
Als der Kugelhagel verebbte und Stefan sich wieder aufrichten
konnte, war der Pizza-Wagen die Rampe hochgefahren und
verschwunden. Stefan wischte sich die Scherben aus den
Haaren.
Vielleicht konnte er ja darauf vertrauen, dass Ollie
inzwischen auch den Sicherheitsdienst des Cadena-Gebäudes alarmiert
hatte. Wie schnell es den Security-Leuten allerdings gelang, die
Ausfahrt der Tiefgarage abzusperren, war fraglich.
Stefan trat das Gaspedal durch.
Die Reifen drehten durch. Der Chevy legte einen Blitzstart
hin. Stefan ließ den Wagen die Rampe hinaufrasen. Das Tempo war
halsbrecherisch. Der Fahrtwind blies Stefan von vorn ins Gesicht.
Er kniff die Augen zusammen. Als er die Rampe hinter sich hatte,
ging es scharf um die Kurve. Dann folgte noch eine Biegung, und die
Strecke bis zur Ausfahrt lag offen vor ihm.
Der Lieferwagen hatte die Ausfahrt schon fast erreicht.
Zwei uniformierte Security-Leute waren dort postiert. Sie
hatten ihre Pistolen in der Faust.
Aber der Lieferwagen beschleunigte noch.
Einer der Security-Männer feuerte einen Warnschuss ab, dann
zielte der andere auf die Reifen. Zum Schuss kam er jedoch nicht
mehr. Aus dem Lieferwagen heraus wurde mit MPis gefeuert. Die
beiden Security-Leute sanken dutzendfach getroffen zu Boden.
Der Lieferwagen hielt kurz an der elektronischen Schranke. Der
Fahrer steckte die Parkkarte in den Schlitz, die Schranke hob sich.
Gleichzeitig langte einer seiner Komplizen aus dem hinteren Fenster
und klebte etwas an die Konsole.
Der Lieferwagen brauste davon. Die Schranke senkte sich.
Stefan raste mit seinem Chevy heran.
Sekundenbruchteile blieben ihm, um zu entscheiden, ob er
bremsen oder einfach durch die Schranke hindurchrasen sollte.
Er bremste.
An der Konsole kam der Chevy zum Stehen.
Stefans Blick wanderte dorthin, wo einer der Killer etwas an
die Konsole geklebt hatte.
Es handelte sich um eine knetgummiartige Masse, von der ein
Klumpen vom Volumen eines Daumens an das Metall der Konsole
gedrückt worden war. In der Mitte befand sich ein Metallteil. Nicht
größer als ein Fingernagel.
Sprengstoff!, durchfuhr es Stefan.
Er öffnete die Tür des Chevy, rannte ein Stück zurück, blieb
dann in einer vermeintlich sicheren Entfernung stehen.
Das Metallteil in der Mitte musste der Zünder sein. Vermutlich
ein elektronischer Zünder. Aber kein Mensch konnte dem Ding
ansehen, was die Detonation auslösen würde.
Stefan griff zum Handy.
Die Ausfahrt musste schnellstens weiträumig abgesperrt und
Sprengstoffexperten herbeigerufen werden.
9
Roy und ich saßen gerade wieder im Sportwagen, nachdem wir die
Praxis von Dr. Bretzke verlassen hatten, da wurden wir über Funk
gerufen. Es war die Dienststelle. Alle verfügbaren Einheiten von
Kriminalpolizei und verfügbaren Polizisten, die sich in und um die
südwestliche Ecke von Hamburg-Mitte bewegten, wurden angewiesen,
einem Lieferwagen mit der Aufschrift PIZZA EXPRESS zu folgen. Die
Nummer wurde durchgegeben, außerdem der genaue Wagentyp. Es
handelte sich um einen Mercedes Transporter.
Allerdings handelte es sich wohl um eine Sonderanfertigung für
ganz spezielle Aufgaben, die mit Pizza-Express-Diensten nichts zu
tun hatten. Der Wagen war nämlich vermutlich gepanzert, so dass die
Insassen entsprechend schwer zu stoppen waren.
Mindestens vier schwer bewaffnete Personen waren die Insassen.
Wir erfuhren, dass sie in der Tiefgarage des Cadena-Gebäudes eine
Schießerei angezettelt hatten, als unsere Kollegen Stefan und Ollie
einen Informanten trafen. Mit Erleichterung nahmen wir allerdings
zur Kenntnis, dass den beiden nichts passiert war.
Mehrere Helikopter kreisten über der Gegend von Hamburg-Mitte,
um ständig die Position der Flüchtigen angeben zu können.
Roy setzte das Blaulicht auf den Sportwagen. Ich fädelte mich
in den Verkehr am Stadtpark ein und brauste los.
Nach einer Weile waren wir nur ein paar Straßenzüge von den
Gangstern im Pizza-Wagen entfernt, denn je weiter wir Richtung
Süden kamen, desto öfter hörten wir Polizeisirenen. Ohne die
Kollegen der Polizei wären wir bei dieser Jagd wohl vollkommen
aufgeschmissen gewesen. Schon deswegen, weil es nahezu unmöglich
gewesen wäre, rechtzeitig genügend Einheiten an den Ort des
Geschehens zu bekommen.
Jens Hacker, einer der Helikopter-Piloten der Kriminalpolizei,
meldete sich über Funk.
Der Lieferwagen jagte nun die Straße in westliche Richtung
entlang.
Wir erreichten gerade die Harburger Chaussee. Von dort aus
ging es auf die Hafenrandstraße. Die nächste Möglichkeit Richtung
Süden zu gelangen, um dem Lieferwagen den Weg abzuschneiden, war
die Industriestraße. Ich trat das Gaspedal voll durch. Reihenweise
fuhren die Autos an die Seite und ließen uns durch. Wir kamen
relativ schnell voran.
Dann bogen wir endlich in die Neuhöfer Straße ein.
An der Ecke Hafenrandstraße/ Neuhöfer Straße waren bereits
zwei Einsatzwagen der Polizei. Die Einsatzwagen waren quergestellt
worden, die Handvoll Polizisten dahinter in Stellung
gegangen.
Wir trafen gerade ein, als der Lieferwagen auf unsere Kollegen
zufuhr.
Der Fahrer dachte überhaupt nicht daran abzubremsen. Im
Gegenteil! Er beschleunigte. Eine MPi knatterte los. Dann gab es
einen Knall. Der gepanzerte Lieferwagen kollidierte mit den
Einsatzwagen. Irgendeiner der Polizisten schrie auf. Der
Lieferwagen drängte mit seiner Wucht die beiden quergestellten
Einsatzwagen auseinander. In der Frontscheibe war ein Einschuss zu
sehen. Aber das Panzerglas hatte die Kugel abgefangen.
Der Lieferwagen brach zwischen den beiden Einsatzwagen durch.
Seine Fahrt war durch den Aufprall erheblich abgebremst. Ich trat
auf die Bremse. Die Reifen des Sportwagens quietschten. Das Heck
brach nach rechts aus.
Roy öffnete die Tür, sprang mit der SIG im Anschlag heraus. Er
kniete nieder, feuerte zweimal kurz hintereinander. Er zielte auf
die Reifen. Der dritte Schuss erwischte schließlich den Reifen
hinten rechts.
Der Lieferwagen raste trotzdem weiter.
Der Fahrer war geschickt.
Er hielt den Transporter sogar einigermaßen in der Spur.
Die blanke Felge schrammte über den Asphalt, Funken
sprühten.
Weit konnte er so nicht kommen. Die Polizisten, die zur Seite
gesprungen waren, kümmerten sich entweder um ihre verletzten
Kameraden oder feuerten dem Lieferwagen noch ein paar Kugeln
hinterher. Allerdings prallten die vom gepanzerten Gehäuse ab. Der
Motor des Lieferwagens heulte auf. Das Fahren mit drei Reifen
schmeckte ihm nicht.
»Weit kommt der nicht!«, meinte ich.
Roy stieg wieder ein, klappte die Tür zu.
»Zwei Straßen weiter ist eine S-Bahnstation!«, stellte er
fest.
»Verdammt!«
»Wenn die Kerle da aussteigen ...«
Ich beschleunigte den Sportwagen.
Zwei unserer Kollegen der Polizei waren uns zuvorgekommen, in
einen der Einsatzwagen gestiegen und losgebraust. Die anderen
kümmerten sich um die Verletzten.
Möglicherweise gab es auch Tote.
Ich hoffte, dass es die Notfallambulanz schnell hierher
schaffte.
Wir brausten dem Einsatzwagen der Polizei hinterher.
Über uns kreiste ein Hubschrauber über dem Straßenzug.
»Die Wagen 234 und 231 kommen den Flüchtenden auf der
Mengestraße entgegen«, meldete Kollege Jens Hacker, unser Mann im
Heli, über Funk.
»Entgegen der Fahrtrichtung?«, murmelte ich.
»Muss in dem Fall wohl mal sein!«, antwortete Roy.
Wir hatten freie Sicht, als wir in die Richtung rasten.
Die angekündigten Kollegen mussten sich also noch östlich
davon befinden.
Das Tempo des Lieferwagens ließ nach.
Die Schiebetür wurde geöffnet. Einer der Kerle sprang heraus,
schleuderte etwas in Richtung des Streifenwagens.
Ein eiförmiger Gegenstand.
Eine Handgranate.
Sie krachte auf die Motorhaube des Einsatzwagens, dessen
Fahrer augenblicklich auf die Bremse trat.
Doch die beiden Polizisten hatten nicht den Hauch einer
Chance. Im nächsten Moment ertönte der Donnerschlag einer
gewaltigen Detonation. Eine Stichflamme schoss empor. Der Wagen
ging in Flammen auf. Sekunden später gab es eine zweite Explosion,
als der Inhalt des Tanks explodierte.
»Diese Schweine!«, zischte ich.
Ich bremste den Sportwagen. Wir sprangen heraus, mussten uns
dann bereits ducken, denn die Gangster aus dem Lieferwagen feuerten
in unsere Richtung. Der Lieferwagen hatte inzwischen gestoppt. Die
maskierten Insassen sprangen einer nach dem anderen heraus.
Sie schossen wild um sich und rannten dabei in Richtung der
S-Bahnstation. Die wenigen Passanten gingen in Deckung oder
verkrochen sich in Hausnischen.
Grimmig blickte Roy zu dem brennenden Einsatzwagen.
Für die Insassen kam jede Hilfe zu spät.
Wir machten uns an die Verfolgung der maskierten Killer.
Geduckt stürmten wir vorwärts, nahmen Deckung hinter parkenden
Fahrzeugen.
Die Feuersalven unserer Gegner waren nicht besonders gezielt.
Sie wollten einfach nur jeden Verfolger auf Distanz halten.
Die ersten von ihnen erreichten die S-Bahnstation.
Aus nördlicher Richtung brausten inzwischen zwei Einsatzwagen
der Polizei den Strauß-Weg entlang.
Einer der Maskierten eröffnete noch kurz das Feuer in ihre
Richtung. Dutzende von Passanten an der S-Bahnstation stoben
schreiend auseinander. Eine regelrechte Panik entstand. Wir rannten
zum Ort des Geschehens, näherten uns bis auf eine Distanz von gut
zwanzig Metern.
Aber weder Roy und ich, noch unsere Kollegen der Polizei
konnten in dieser Situation die Schusswaffen benutzen. Andernfalls
hätte es ein Blutbad unter unbeteiligten Passanten gegeben. Und das
war etwas, was unsere Gegner zwar billigend in Kauf nehmen mochten
- wir aber nicht.
Vier Maskierte waren es.
Und der letzte von ihnen mischte sich gerade unter die
verängstigten Menschen und rannte auf die haltende Bahn zu.
Wir trafen etwa gleichzeitig mit den Kollegen der Polizei dort
ein. Vier Uniformierte, wie wir mit der SIG Sauer P 226 in der
Faust, der Standardwaffe aller Hamburger Polizeieinheiten.
An Feuerkraft waren wir den Maskierten hoffnungslos
unterlegen.
Wir zuckten förmlich zusammen, als wir die MPi-Salve hörten.
Einem der Polizisten fiel regelrecht der Kinnladen herunter. An
seinem Uniformhemd stand sein Name und Rang. Polizeimeister Frank
Peterson.
»Das müssen Wahnsinnige sein«, meinte er.
Aber genau das Gegenteil war der Fall. Die wussten genau, was
sie taten.
Sie erzeugten Panik unter den Fahrgästen, die versuchten von
der Station wegzukommen. Hunderte drängten sich innerhalb von
Augenblicken von dort. Wir hatten keine Chance, uns durch sie
hindurchzudrängeln.
Peterson nahm sein Funkgerät und meldete sich bei der
Einsatzleitung. Die umliegenden S-Bahnstationen mussten jetzt mit
unseren Leuten besetzt werden, so dass wir den Maskierten den
gebührenden Empfang bereiten konnten.
»Sie werden Geiseln nehmen«, meinte Roy düster.
10
»Keine Bewegung!«
Die Maskierten fuchtelten mit MPis herum. Die Laserpointer der
Laserzielerfassung schickten strichdünne Strahlen durch die Gegend.
Rote Punkte tanzten an den Wänden des S-Bahn-Waggons entlang,
spiegelten sich in den Fenstern.
Die Passagiere wirkten wie erstarrt. Niemand wagte es, auch
nur heftig zu atmen.
Die Schiebetüren schlossen sich. Die Bahn setzte sich in
Bewegung.
Drei der Maskierten trugen Maschinenpistolen. Ein Vierter nur
eine Automatik mit Schalldämpfer, auf die aber ebenfalls ein
Zielerfassungsgerät mit Laserpointer aufgesetzt war.
»Die werden sich an zwei Fingern ausrechnen können, in wie
viele Richtungen man von der Stationsecke Wilhelmsburg fahren
kann«, knurrte einer der Mpi-Schützen.
»Abwarten«, meinte der Mann mit der Schalldämpfer-Waffe.
Er schien der Boss in diesem Quartett zu sein. Die S-Bahn
beschleunigte. Das Rattern der Schienen war zu hören. Dieses
Rattern mündete schließlich in einen sich regelmäßig wiederholenden
Rhythmus. Der unverwechselbare Beat der Hamburger S-Bahn. Ansonsten
war es totenstill im Raum.