:
Frankreich-Krimi
von Alfred Bekker
Ausgerechnet eine Katze mit einer Kamera beobachtet einen
Toten unter einem Auto. Die Ermittler Marquanteur und Leroc sollen
den Fall aufklären. Aber es ist keine Leiche zu finden, stattdessen
gibt es eine Schießerei unter kriminellen Banden. Welche Rolle
spielt der tüchtige aber zwielichtige Anwalt Raspaille? Das
organisierte Verbrechen kennt keine Pause.
Folgende Krimis sind in dieser Serie erschienen:
Der Killer von Marseille
Commissaire Marquanteur und die Nächte von Marseille
Commissaire Marquanteur und der Mordzeuge von Marseille
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Ich trieb mich am Hafen von Marseille herum. In der knappen
Freizeit, die ich zur Verfügung habe, mache ich das manchmal.
Doudou, ein Freund von mir, hat dort eine Segelyacht. Es war ein
wunderschöner Tag. Wie aus dem Bilderbuch. Der Himmel über dem
Mittelmeer war strahlend blau. Das Meer glitzerte auf eine ganz
eigentümliche Art und Weise.
Es gibt keinen schöneren Anblick.
Man möchte einfach nur stehen bleiben und schauen.
Aber wehe, man blickt zurück. Zur anderen Seite. Zur Stadt.
Die ist ein Hort des Verbrechens. Niemand weiß das besser als ich.
Schließlich bin ich beruflich damit beschäftigt, das Verbrechen
etwas einzugrenzen.
Zu besiegen, das wäre zu optimistisch.
Nein, eingrenzen.
Das ist das einzige, was möglich ist.
Mehr geht nicht.
»Salut, Doudou!«,sagte ich, als ich weitergeschlendert war,
und seine Yacht erreichte.
Doudou fingerte an irgendeinem Stück Tau herum, das auf der
Yacht herumhing. Mochte der Teufel wissen, wozu das Tau-Ende
eigentlich gut war. Vielleicht kriegte Doudou einen Knoten nicht
mehr auf.
War gut möglich.
Aber Doudou war einer, der niemals aufgab.
Wenn er erstmal angefangen hatte, an so einem Knoten
herumzumachen, dann hörte er erst damit auf, wenn der Knoten gelöst
war
»Salut, Pierre!«, rief Doudou zurück. »Musst du heute gar
nicht arbeiten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Heute nicht«, sagte ich.
»Sag bloß, das Verbrechen macht heute Pause!"
»Schön wär’s!«
»Willst du mitfahren?«
»Heute nicht, Doudou.«
»Warum nicht?«
»Heute fahre ich zu meinen Eltern.«
»Verstehe.«
Ich hatte ihnen von meinen Eltern erzählt. Die leben in einem
kleinen Dorf in der Provence, vielleicht fünfzig Kilometer von
Marseille entfernt. Da gehen die Uhren anders. Man könnte auch
sagen, sie gehen gar nicht und die Zeit ist stehen geblieben. Wie
in einer Zeitkapsel. Das alte Aquädukt der Römer, das es da gibt,
trägt zu diesem Eindruck bei. In diesem Dorf ist die Zeit stehen
geblieben und Fuchs und Hase sagen sich gute Nacht.
*
»Sag mal, fand deine Mutter eigentlich François Noire gut?«,
fragte ich. »Diesen Schmuse-Chansonier aus den Siebzigern mit
seiner sanften Stimme und den Schlaghosen, der von den Frauen
dauernd mit Rosen beworfen wurde.«
»Besser als mit Unterwäsche, wie das heute so üblich
ist!«
»Mal ganz im Ernst! Heißt du deswegen so?«
Mein Kollege François Leroc sah mich stirnrunzelnd an.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte François.
»Könnte vom Alter her doch hinkommen. Und ich wette, da sind
tausende von Kindern von ihren Müttern nach François Noire benannt
worden.«
»Also in meiner Klasse war ich der einzige François«,
behauptete mein Kollege. »Aber nicht der einzige Leroc.«
Mein Name ist Commissaire Pierre Marquanteur.
Mein Kollege François Leroc und ich sind in einer in Marseille
angesiedelten Spezialabteilung namens FoPoCri (Force spéciale de la
police criminelle), die speziell gegen das organisierte Verbrechen
operiert und auch in Fällen von länderübergreifender,
überregionaler Bedeutung hinzugezogen wird.
Uns stand ein Einsatz in Cassis bevor.
Und da musste jedes Detail genau geplant werden.
Die Planung stand jetzt.
François blickte auf seine Uhr am Handgelenk.
»Lass uns für heute Feierabend machen, Pierre.«
»Okay.«
»Wir sollten wirklich alle ausgeschlafen sein, wenn die Sache
in Cassis losgeht.«
Er hatte recht.
Und was im Augenblick getan werden konnte, hatten wir
getan.
Ich atmete tief durch. »Dann bis morgen, François!«
Bevor François den Raum verließ, drehte er sich nochmal um und
fragte: »Hör mal, Pierre – du bist aber nicht zufällig nach Pierre
Richard benannt worden, oder?«
*
Später, als ich schon zu Hause war …
»Mir ist heute eine schwarze Katze über den Weg gelaufen«,
sagte mein Nachbar. »Ich denk mir, das bedeutet nichts
Gutes.«
Ich stand auf dem Balkon meiner Marseiller Wohnung, hatte eine
Kaffeetasse in der Hand und sah auf das Gewimmel der Stadt
herab.
Ein freier Tag. Kommt bei einem Commissaire nicht so häufig
vor. Aber der Überstundenberg musste irgendwie abgebaut werden.
Mein Nachbar war Taxifahrer.
Ein Marseiller Taxifahrer mit richtig schön südfranzösischem
Akzent. Er sagte B‘jour und zog häufig Wörter und Sätze
zusammen.
Und war Muslim.
Sein Vater war Algerier, seine Mutter Marokkanerin, und er
sprach genauso, wie eben jemand spricht, der sein ganzes Leben in
Marseille verbracht hat.
»Sind Sie abergläubisch?«, fragte ich und nahm einen Schluck
Kaffee.
»Wieso?«
»Wegen der schwarzen Katze.«
»Meinen Sie das jetzt ernst?«
»Meine ich.«
»Ich bin nicht abergläubisch. Aber gläubig. Das ist ein
Unterschied.«
»Sie glauben an Allah.«
»Ja.«
»Und an schwarze Katzen, die Unglück bringen.«
»Nicht ganz so stark, aber: ja.«
»Ist das denn mit dem Islam vereinbar?«
»Keine Ahnung. Um das zu beurteilen, da müsste ich mal einen
Imam fragen.«
»Ah ja.«
»Ist das denn bei Christen vereinbar?«
»Nun …«
»Das wissen Sie auch auch nicht so genau, was?«
»Ich denke, es ist nicht vereinbar. Deswegen heißt es ja auch
Aberglauben.«
»Sie sind doch Commissaire, oder?«
»Ja, Commissaire«, sagte ich.
»Das wundert mich. Ich dachte immer, die hätten Abitur und
studiert.«
»Ja, aber nicht Religionswissenschaft.«
»Aber sowas weiß man dann doch. Ich bin ja nur ein doofer
Taxifahrer, aber Sie, Monsieur Marquanteur … Marquanteur! Das steht
an Ihrer Tür.«
»Sagen Sie Pierre zu mir. Wir sind ja jetzt Nachbarn.«
»Ich bin Reza.«
»Angenehm.«
»Ich habe mich dreimal um die Wohnung beworben. Man wollte
mich nicht. Wahrscheinlich, weil ich Muslim bin und jeder gleich an
einen Terroristen denkt.«
»Menschen mit Vorurteilen gibt es überall«, sagte ich.
»Die Wohnung wurde immer wieder angeboten, und ich bin ja
hartnäckig. Ich komm aus Pointe-Rouge. Ich lass mich nicht
unterkriegen, verstehen Sie?«
»Verstehe ich.«
»Offenbar hat die Wohnung niemand gewollt. Die sind sie
einfach nicht losgeworden.«
»Tja …«
»Und so habe ich sie dann doch bekommen.«
»Glückwunsch.«
»Aber jetzt mal unter uns, Monsieur Commissaire …«
»Pierre!«
»Also, Pierre! Unter uns! Was stimmt mit dieser Wohnung nicht?
Warum wollte die niemand? Ist doch in Ordnung. Preis in Ordnung,
Heizung funktioniert, Kabelfernsehen funktioniert …«
»Könnte mit dem Vormieter zusammenhängen«, sagte ich.
»Aha …«
»Der wurde erschossen.«
»Oh.«
»Und jetzt hatte die Verwaltung Schwierigkeiten, Mieter zu
finden. Das habe ich jedenfalls gehört. Wenn die Leute davon gehört
haben, haben sie wieder abgesagt.«
»Warum?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Aberglauben.«
»Wie mit der schwarzen Katze?«
»Genau.«
2
Zwei Tage später sah ich die schwarze Katze auch. Sie war auf
meinen Balkon geklettert und dann auf die Fensterbank. Von dort sah
sie ins Innere meiner Wohnung.
Sie hatte keine Scheu, gähnte, zeigte ihre Zähne und schien
mich mit ihren gelben Augen zu mustern.
Nein, dachte ich. Ich bin nicht abergläubisch.
3
Ein anderer Ort, eine andere Katze …
Die schwarze Katze näherte sich mit geschmeidigen Bewegungen
dem rechten Hinterrad der Limousine. Ihre Schritte waren vollkommen
lautlos. Sie verharrte regungslos und spitzte die Ohren.
Das breite, weiße Halsband bildete einen starken Kontrast zu
dem pechschwarzen, seidigen Fell. An der linken Seite befand sich
eine Verdickung – ein streichholzschachtelgroßer, quaderförmiger
Gegenstand.
Es handelte sich um eine digitale Mini-Kamera.
Das kleine, nur wenige Millimeter herausragende Objektiv
zeigte in die Blickrichtung des Tieres. Alle dreißig Sekunden
machte diese Kamera ein Bild aus der Katzenperspektive, sodass man
später nachvollziehen konnte, wo es herumgestreunt war.
Vorsichtig schlich die Katze unter den Wagen. Ihre Pfoten
hinterließen Spuren, nachdem sie durch die dunkelrote
Flüssigkeitslache gegangen war.
Dann erreichte sie einen lang hingestreckten menschlichen
Körper. Blut war aus einer Wunde an der Schläfe geronnen. Ein
Augenpaar starrte die Katze starr an. Sie blickte lang genug
zurück, sodass der Selbstauslöser der Kamera gemäß seines
30-Sekunden-Rhythmus aktiv wurde und ihre Sicht der Szene auf einen
Daten-Chip bannte.
4
Leon Theophane war Commissaire im Dienst der Kriminalpolizei
in Cassis. Zwanzig Jahre Mordkommission hatte er hinter sich und
dabei alles mit angesehen, was es da an Schrecklichem zu ertragen
gab.
Aber der Fall, mit dem Theophane an diesem Dienstag
konfrontiert wurde, begann so skurril, dass er erst an einen Scherz
der Kollegen glaubte.
Er lehnte sich zurück und strich sich nachdenklich über das
glatte, dunkle Haar, dessen Ansatz sich bereits in bedenklicher
Weise nach oben verlagert hatte.
Sein Blick war auf die Frau gerichtet, die vor ihm in dem
stickigen Büro Platz genommen hatte, das Leon Theophane seit seiner
verspäteten Beförderung für sich allein hatte.
Sie war blond. Das gelockte Haar hing ihr als wilde,
ungebärdige Mähne über die Schultern herab. Ihr Kleid war sehr
enganliegend und verbarg so gut wie nichts von dem, was darunter
war. Ein paar Steine und Ringe machten sofort klar, dass sie nicht
in Armut lebte – genauso wie die Designer-Handtasche.
»Ihre Katze hat also einen Mord gesehen«, sagte Theophane
gedehnt. Einer der uniformierten Kollegen hatte die Frau zuerst
befragt. Erst danach war sie an die Mordkommission weitergereicht
worden und musste nun alles noch einmal von vorn berichten.
»Nein, sie hat keinen Mord gesehen, sondern einen Mann, der
ermordet wurde. Eine Leiche mit einem Schussloch im Kopf«,
korrigierte die Frau etwas genervt.
Theophane blickte auf den Personalbogen, den sein Kollege
angelegt hatte. Sie hieß Sandrine Chatelle, war 26 Jahre alt, gab
an, als Tänzerin in einem Club in Pointe-Rouge zu arbeiten. Sie
wohnte in Cassis. Theophane hielt sie für eine Prostituierte.
Sie beugte sich vor. Ihr Dekolleté kam dabei so gut zur
Geltung, dass Theophane einen Moment lang abgelenkt war. Zwischen
ihren Augen bildete sich eine tiefe Furche. »Hören Sie, man hat mir
gesagt, Sie wären bei der Mordkommission …«
»Das bin ich auch! Zwanzig Jahre Mordaufklärung!«
»Ich würde es schätzen, wenn mich hier endlich mal jemand
ernst nehmen würde! Ich habe ein Verbrechen zu melden – und wenn
ich auch nicht selbst die Zeugin bin, so ist meine Katze doch
mindestens genauso glaubwürdig.«
»Wo ist Ihre Katze?«, fragte Theophane.
»Zu Hause«, erwiderte sie mit schneidendem Unterton. »Sie mag
nämlich Männer mit aufdringlichem Parfüm nicht. Dann fängt Sie
immer an zu kratzen, und ich wollte das Risiko vermeiden, deswegen
Schwierigkeiten zu bekommen.«
Theophane seufzte. »Also noch mal ganz von vorn.«
Sandrine Chatelle verdrehte die Augen. »Ich weiß nicht, ob Sie
wissen, was eine Katzenkamera ist.«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Das ist eine Minikamera, die man seiner Katze am Halsband
befestigt. Ein automatischer Auslöser sorgt dafür, dass alle
zwanzig oder dreißig Sekunden ein Bild aus der Perspektive der
Katze geknipst wird. Man kann auf diese Weise nachträglich ansehen,
wo sie gewesen ist, unter welchen Wagen sie nach Mäusen gejagt hat,
in welche Keller sie eingestiegen ist und welche anderen Katzen sie
getroffen hat.«
Theophane schüttelte den Kopf. »Das muss der totale
Überwachungsstaat sein, in dem schon nicht einmal mehr Katzen den
Kater ihrer Wahl treffen können, ohne dass die Besitzer das
mitbekommen!«
»Sie können sich ruhig darüber lustig machen, Commissaire
Theophane. Aber mir ist es sehr ernst. Meine Katze hat nämlich bei
einem ihrer Streifzüge einen Toten entdeckt, dem jemand eine Kugel
verpasst hatte. Jedenfalls sah das für mich als Laie so aus. Aber
Sie können sich gerne selbst davon überzeugen!«
Sie griff in ihre Handtasche nach ihrer Geldbörse. Aus dem
Münzfach holte sie dann einen 1 GB Chip hervor. »Ich hoffe, Sie
haben hier einen Computer, der modern genug ist, um diese Dinger
lesen zu können. Da sind alle Bilder dieses besagten Ausflugs
drauf. Es ist sogar jedes Mal die Zeit angegeben, wann die Kamera
ausgelöst wurde.«
Theophanes Gesicht wurde jetzt ernster. Er nahm den Chip und
begann seinen Rechner hochzufahren. Als das geschehen war, steckte
er den Chip in den Schlitz des integrierten Kartenlesers.
Wenig später erschienen die ersten Bilder auf dem Schirm. Man
konnte sich tatsächlich sehr gut vorstellen, wie der Weg der Katze
aus ihrer Perspektive ausgesehen hatte. Sie ging über eine Straße.
Man konnte Reifen und Radklappen aus der Bodenperspektive
bewundern, einen Hundehaufen in Großaufnahme, der einen Rinnstein
verstopfte, mehr oder weniger gut geputzte Schuhe von Männern und
Frauen, einen Hund, der grimmig die Zähne fletschte und an seinem
Halsband riss, und dann noch jede Menge Aufnahmen, die offenbar
unter parkenden Fahrzeugen gemacht worden waren.
»Was machen Sie normalerweise mit diesen Aufnahmen?«, fragte
Theophane, während er weiterklickte und dabei den abenteuerlichen
Weg einer Katze mehr oder weniger lustlos mitverfolgte.
Sandrine Chatelle hob das Kinn etwas an. »Es gibt Leute, die
stellen diese Bilder ins Internet. Aber das finde ich krank
…«
»Sie machen nur einen privaten Diaabend daraus?«
»Da ich Sie nicht einmal dazu einladen würde, wenn Sie der
letzte Mann auf Erden wären, kann Ihnen das getrost egal sein!«,
versetzte sie schneidend und so schroff, dass Theophane sich zu ihr
umdrehte.
»Uh, Sie haben ja Haare auf den Zähnen!«, grinste er.
»Sehen Sie besser in die andere Richtung. Das nächste Bild
müsste es nämlich sein!«
Theophanes Gesicht veränderte sich, als er das nächste Bild
ansah. Er veränderte den Zoom, sodass es etwas größer zu sehen war.
Dann verengten sich seine Augen.
Zu sehen war ein Mann, der ausgestreckt dalag – offenbar unter
einem parkenden Wagen. Aus einer Wunde an der Schläfe war sehr viel
Blut gesickert. Auf dem Boden konnte man eine dunkelrote Lache
sehen, durch die das Tier vermutlich durchgetapst war. Theophane
sah sich auch noch das nächste Bild an. Die Szenerie schien für die
Katze interessant genug gewesen zu sein, um etwas länger an dieser
Stelle auszuharren. Insgesamt gab es vier Bilder, die den Toten aus
leicht veränderten Perspektiven zeigte. Auf einem war das Gesicht
besonders gut zu erkennen.
»Sie scheinen da tatsächlich auf etwas gestoßen zu sein«,
sagte Theophane.
»Das sage ich doch die ganze Zeit.«
»Ich ziehe mir die Bilder von Ihrem Chip herunter. Dann können
Sie den Datenträger wieder mitnehmen, falls Sie Ihre Katze …«
»Meinen Sie, die lasse ich in nächster Zeit noch mal raus?«,
schnitt ihm Sandrine Chatelle das Wort ab. »Was werden Sie jetzt
tun?«
»Wir werden in einem gewissen Umkreis um Ihre Wohnung nach
Parkplätzen suchen, die als Tatort in Frage kommen. Und natürlich
werden sich unsere Spezialisten die Sache ansehen. Falls der Mann
auf dem Bild ein Straftäter war oder aus irgendeinem Grund in
unseren Archiven gespeichert ist, dann stehen unsere Chancen gar
nicht so schlecht, dass wir ihn mit einem Bilderkennungsprogramm
identifizieren können.«
»Und falls nicht?«
»Dann ist das noch lange kein Grund aufzugeben. Wir bekommen
heraus, wer das ist. Versprochen. Sind Sie in den nächsten Tagen zu
Hause?«
»Ich bin Tänzerin in einem Club und arbeite am Abend. Tagsüber
treffen Sie mich fast immer in meiner Wohnung an. Die Adresse hat
Ihr Kollege aufgenommen.«
Theophane nickte. »Wir melden uns bei Ihnen. Ganz
bestimmt.«
5
Es war dunkel. Die Straßenbeleuchtung war in den Spar-Modus
geschaltet. Zwischen ein Uhr nachts und vier Uhr in der Früh
brannte nur jede zweite Leuchte. Eine nebelige Nacht in einem
Gewerbegebiet am Rand von Cassis.
Wir trugen Kevlar-Westen und waren über Headsets funktechnisch
miteinander verbunden. Die Dienstwaffe lag schussbereit in meiner
Hand. Zwanzig Beamte der Kriminalpolizei waren an diesem Einsatz
auf dem Gelände der Speditionsfirma Broderich & Debenoir SARL
in Cassis beteiligt. Franc Soberiere, ein Informant aus der Szene
des illegalen Kunsthandels hatte uns Ort, Zeitpunkt und Beteiligte
eines Riesendeals mit illegal eingeführten Asiatika gegeben. Es
ging um Kunstgegenstände aus dem Khmer-Reich in Kambodscha, dessen
legendäre Hauptstadt Angkor vor tausend Jahren neben Bagdad und
Kairo eine der wichtigsten Metropolen der Welt gewesen war. Die
Umsätze der Kunst-Mafia konnten inzwischen locker mit denen anderer
Zweige des organisierten Verbrechens mithalten und nahmen zwischen
dem illegalen Handel mit Drogen, Waffen, Müll, Menschen und
Falschgeld einen der vorderen Plätze ein.
Die Gewinne konnten sich sehen lassen, und das Risiko erwischt
zu werden, war viel geringer als beispielsweise im Drogenhandel,
was vor allem damit zu tun hatte, dass es an Kunst-Spezialisten
fehlte.
Jetzt warteten wir zusammen mit unseren Kollegen darauf, dass
dieser Deal des Jahres, den Franc Soberiere uns verraten hatte,
auch tatsächlich über die Bühne ging und wir unsere Falle
zuschnappen lassen konnten.
Wir versprachen uns sehr viel davon, denn einige der
Beteiligten gehörten zu den derzeit aktivsten Mitspielern in diesem
illegalen Match. Wir hofften, dass wir durch ihre Festnahme endlich
auch einige der Hintermänner dingfest machen konnten. Leute, die
die Kunst-Mafia durch ihr Geld und ihre Aufträge überhaupt am Leben
hielten, auch wenn sie selbst peinlich genau darauf achteten, sich
nicht in die Schusslinie der Justiz zu begeben.
»Langsam könnte dieser Respin aber auftauchen«, raunte mir
mein Kollege François Leroc zu. Wir hatten uns an der Ecke einer
Lagerhalle verschanzt. Der gesamte Bereich war von unseren Kollegen
umstellt.
Hugo Respin war einer der Kunst-Mafiosi, von denen wir
hofften, dass er uns hier in die Falle ging. Eine Spezialität von
ihm waren Asiatika aller Art. Er hatte exzellente geschäftliche
Kontakte, vor allem nach Südostasien und China, und verdiente im
Jahr dreistellige Millionenbeträge durch den Zwischenhandel mit
illegal ausgeführten Kunstgegenständen aus diesen Ländern. Insider
nannten ihn einfach »die Drehscheibe« – und das beschrieb wohl auch
seine Position in diesem Business.
Wenn es uns gelang, Respin aus dem Verkehr zu ziehen, wäre das
ein entscheidender Schlag.
Eine Limousine fuhr jetzt auf den Hof der Speditionsfirma.
Gleich gefolgt von einem Möbelwagen und einem Van.
Aus dem Van sprangen sechs Mann in dunklen Anzügen. Sie waren
mit automatischen Waffen ausgerüstet. Zwei trugen sogar MPs vom
israelischen Typ Uzi.
Diese Leibwächter–Truppe verteilte sich und sah sich kurz um.
Einer der Kerle gab dann ein Handzeichen an die Insassen der
Limousine. Die Türen wurden geöffnet. Ein Mann im weißen Anzug
stieg aus. Das war Jamal »Blanc Veste Kalif« Rahmani, eine große
Nummer in der Kunstmafia. Er fiel durch sein exzentrisches Gehabe
auf und trug grundsätzlich nur weiße Anzüge. Sein Anfangsvermögen
hatte er im Drogenhandel gemacht, war aber früh genug ausgestiegen,
bevor man ihm rechtlich etwas anhaben konnte – und vor allem, bevor
die Konkurrenz ihn aus dem Weg gedrängt hatte. Im Laufe der Jahre
hatte er eine mächtige Organisation aufgebaut, die auch vor Mord
nicht zurückschreckte, wenn jemand ihre Kreise störte.
Zwei weitere Männer stiegen aus der Limousine. Beide relativ
unauffällig. Einer war ein Leibwächter. Er hieß Gerard Latour, war
ein eher schmächtiger Mann mit dunkelblondem Haar, der auf den
ersten Blick wie ein Bankangestellter wirkte. Latour war Jamal
»Blanc Veste Kalif« Rahmanis Mann fürs Grobe, und sein Name wurde
mit mindestens fünf Morden in Verbindung gebracht, ohne dass es
auch nur in einem Fall überhaupt zur Anklage gekommen war, obwohl
sich die Kollegen der Staatsanwaltschaft wirklich alle Mühe gegeben
hatten. Aber die Beweise reichten einfach nicht aus, und außerdem
waren immer wieder wichtige Zeugen im letzten Moment abgesprungen.
Bei den Morden, die mit Latour in Verbindung gebracht wurden,
handelte es sich um Taten, die wir als Säuberungsaktionen innerhalb
der Organisation interpretierten, die »Blanc Veste Kalif« aufgebaut
hatte.
Der andere Mann, der mit dem Bandenchef aus dem Wagen
gestiegen war, wirkte genauso unscheinbar. Er war klein, etwas
übergewichtig und hatte eine hohe Stirn. Sein Name war Damién
Patterson, Franco-Brite und Sohn eines britischen Offiziers, der in
einer NATO-Garnison der Royal Army gedient hatte. Patterson war
Rahmanis Kunstexperte, Spezialist für Süd- und Südostasien.
Insbesondere was die Kunst der Khmer anging, hatte er sich einiges
an wissenschaftlichen Meriten erworben. Aber in den Diensten eines
Mannes wie Jamal »Blanc Veste Kalif« Rahmani konnte Patterson sein
Fachwissen natürlich sehr viel besser zu Geld machen, als wenn er
sich irgendwo als Leiter eines wissenschaftlichen Instituts an
einer Universität anstellen ließ.
Rahmani sah auf die Uhr. Er wirkte nervös und ungeduldig. Zwei
seiner Männer öffneten den Möbelwagen.
»Die Ladefläche scheint leer zu sein«, meldete sich unser
Kollege Josephe Kronbourg über Headset. Er war so positioniert,
dass er einen besseren Blick in den Möbelwagen hatte.
In diesem Moment klingelte ein Handy bei Rahmani.
Der Mann im weißen Anzug griff zum Apparat und führte ihn ans
Ohr. Unsere Kollegen hatten Richtmikrophone auf den Ort des Deals
ausgerichtet, sodass wir jedes Wort mithören konnten.
»Wir warten schon eine Weile! Wenn Sie in fünf Minuten nicht
hier sind, sind wir weg und das war‘s dann.«
Jamal »Blanc Veste Kalif« Rahmani klappte das Handy ein und
steckte es wieder weg. Es handelte sich um ein
Prepaid-Mobiltelefon, über das er offenbar solch sensible
Geschäftskontakte abwickelte. Wir waren leider nicht in der Lage
gewesen, es im Vorfeld abzuhören.
Der Kollege Jean-Michel Archambault, der Einsatzleiter,
meldete über Funk die Ankunft einer weiteren Limousine und eines
Lastwagens nur wenige Minuten entfernt. Archambaults Einsatzkräfte
waren dafür zuständig, im Notfall Straßensperren zu errichten und
das Gebiet weiträumig abzuriegeln. Selbst wenn uns bei dieser
Aktion jemand durch die Lappen ging, würde er nicht weit kommen.
Die zweite Limousine erreichte das Firmengelände, gefolgt von
einem Mercedes Lastwagen. Ein 7,5-Tonner mit Plane. Dort befand
sich vermutlich die Ware, die dann in den Möbelwagen umgeladen
werden musste.
Drei Männer stiegen aus der Limousine. Zwei trugen MPs, der
dritte schien der Anführer zu sein. Ein breitschultriger, fast
kahlköpfiger Mann im Anzug und dunklem Schnauzbart. Wir erkannten
ihn von den Fahndungsfotos. Er hieß Mehmet Daryas und war Hugo
Respins rechte Hand.
»Soberiere hat gesagt, dass Respin persönlich den Deal über
die Bühne bringt«, raunte François mir zu.
»Aber von Respin sehe ich weit und breit nichts, François«,
stellte ich fest.
»Fragt sich, wie die andere Seite das aufnimmt!«
Rahmani schien etwas irritiert zu sein. »Wo ist euer Chef?«,
fragte der »Blanc Veste Kalif«. »Ich verhandele nicht mit der
Nummer zwei!«
»Dann entgeht Ihnen eine sehr lukrative Ladung zu einem Preis,
den Sie sonst nie bekommen würden. Ich bin sogar befugt, noch etwas
nach unten zu gehen«, sagte Mehmet Daryas.
»Was Sie nicht sagen.«
»So ist es eben!«
»Ach, nee!«
»Ihr Gelehrter soll sich die Sachen erst einmal ansehen – und
wenn er dann vor Staunen seinen Mund endlich wieder schließen kann,
werden wir uns sicher einig!«
Mehmet Daryas machte ein Zeichen. Zwei Männer stiegen aus dem
Lastwagen. Sie begannen damit, ihn hinten zu öffnen.
Damién Patterson blickte fragend zu Rahmani. Als der Mann im
weißen Anzug ihm zunickte, ging er zur Rückfront des Lastwagens,
ließ sich auf die Ladefläche helfen und begann damit, den Inhalt
der Kisten zu überprüfen, die sich dort befanden. Die
Scheinwerferkegel von Taschenlampen kreisten durch die
Gegend.
Einige Augenblicke lang sagte niemand ein Wort.
»Ich nehme an, Sie haben das Geld bar dabei, wie abgemacht«,
sagte Mehmet Daryas.
Jamal Rahmani schnipste mit den Fingern. Gerard Latour ging
daraufhin zum Kofferraum von Rahmanis Limousine und holte ein
Diplomatenköfferchen heraus.
»Darf ich mal sehen?«, fragte Daryas. Unter dem Jackett des
Kahlkopfs zeichnete sich eine großkalibrige Waffe im
Schulterholster ab. Seine Begleiter wirkten nervös. Zahlenmäßig
waren sie in der Unterzahl.
Jamal Rahmani sagte an Gerard Latour gewandt: »Gib dem Mann
ein Bündel Scheine.«
»Okay.«
»Den Rest kriegt er, wenn unser Schlaukopf grünes Licht
gibt!«
»Okay.«
»Sag nicht immer okay.«
»Okay.«
Latour öffnete den Koffer, sodass Daryas kurz hineinsehen
konnte. Dann nahm er ein Bündel Scheine heraus und warf es Daryas
zu. Dieser fing es sicher mit der Linken. Daryas sah sich die
Scheine an. Er hielt sie ins Licht eines Autoscheinwerfers. Es
schien alles in Ordnung zu sein.
Damién Patterson kehrte ein paar Minuten später zurück.
Auf Seiten unserer Einsatzkräfte waren natürlich jetzt die
Nerven bis auf das Äußerste gespannt.
Der Deal musste über die Bühne gegangen und dokumentiert
worden sein, damit das ganze juristisch entsprechend ausgewertet
werden konnte. Wenn Geld und Ware eindeutig den Besitzer gewechselt
hatten, waren wir auf der sicheren Seite. Erst wenn dass geschehen
war, durften wir zuschlagen.
Jetzt musste es sich entscheiden.
»Alles klar, Monsieur Rahmani«, wandte sich Damién Patterson
an seinen Boss. »Die Ware macht einen exzellenten Eindruck. Ich
kann natürlich in der Kürze der Zeit keine Expertise machen, aber
es scheint alles in Ordnung zu sein.«
Der Mann im weißen Anzug verzog das Gesicht.
»Ich weiß nicht … Mir wäre es lieber, wenn Respin persönlich
anwesend wäre. So war es auch abgemacht.«
»Wir gehen mit dem Preis herunter«, lenkte Daryas ein.
»Ach, ja?«
»Also, was ist?«
»Tja …«
»Ey, was ist das denn für eine Ansage!«
»Ich denke immer lieber eine Minute länger nach.«
»Manche Gelegenheit ist dann verpasst.«
»Und manch einer ist dann froh darüber, noch am Leben zu sein
und nicht im Knast zu sitzen.«
»Was soll der Scheiß jetzt?«
Rahmani hob die Schultern. »Wie gesagt, so ein Deal ist
Vertrauenssache. Bei Respin wusste ich, dass er nicht versucht,
mich zu bescheißen. Und eigentlich mache ich keine Geschäfte mit
Leuten, denen ich nicht hundertprozentig vertraue.«
Mehmet Daryas wirkte nervös.
Er kaute auf der Unterlippe herum.
Kein gutes Zeichen.
Er sagte: »Zwanzig Prozent Nachlass. Das müsste Ihre Bedenken
doch zerstreuen.«
Rahmani hob die Augenbrauen.
Er schien einen Fleck an seinem weißen Anzug entdeckt zu
haben. Der »Kalif« wischte mit der Hand darüber.
Dann sagte er: »Und wenn ich bei einer genaueren Untersuchung
feststelle, dass Sie mir Müll angeboten haben?«
»Wir wollen weiter mit Ihnen Geschäfte machen, Monsieur
Rahmani. Das würden wir daher nicht versuchen!«
Rahmani verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Sie sollten
nicht einmal daran denken, Daryas! Sonst sind Sie nämlich ein toter
Mann.«
»Entscheiden Sie sich jetzt. Es ist nicht so, dass Sie der
einzige Interessent für die Ware sind.«
Rahmani überlegte. Dann beriet er sich kurz mit seinem
Kunstexperten Patterson – und zwar so leise, dass wir nichts davon
mitbekamen.
Schließlich stimmte der »Kalif« im weißen Anzug zu. Der
Kaufpreis wurde um zwanzig Prozent gemindert. Gerard Latour nahm
ein paar Bündel mit Geldscheinen aus dem Koffer heraus, danach
übergab er ihn Daryas. Dieser reichte ihn zum Nachzählen an einen
seiner beiden Leute.
In diesem Moment gab unser Kollege Stéphane Caron, das Zeichen
zum Zugriff.
6
Eine Megafonstimme ertönte. »Hier spricht die Force spéciale
de la police criminelle! Sie sind verhaftet! Legen Sie die Waffen
auf den Boden und heben Sie die Hände. Das Gelände ist
umstellt.«
Das Gesicht von Mehmet Daryas veränderte sich. Er riss eine
Automatik unter dem Jackett hervor. Seine beiden Leibwächter
griffen zu den MPs. Die Waffen knatterten los. Blutrot leckte das
Mündungsfeuer aus den kurzläufigen Waffen.
Jamal »Blanc Veste Kalif« Rahmani zuckte unter einem halben
Dutzend Kugeln. Getroffen brach er zusammen. Damién Patterson warf
sich zu Boden und blieb bewegungslos liegen. Gerard Latour und
Rahmanis andere Leibwächter feuerten wild um sich. Sowohl auf uns
als auch auf Mehmet Daryas und seine Männer. Die Frontscheibe des
Lastwagens mit den Khmer-Kunstgegenständen ging zu Bruch. Der
Fahrer und der Beifahrer versuchten sich in Sicherheit zu
bringen.
Mehmet Daryas erreichte um sich schießend seine Limousine. Der
Fahrer hatte bereits ein Stück zurückgesetzt. Daryas riss die Tür
auf und hechtete hinein, während der Wagen mit quietschenden Reifen
davon fuhr.
Doch er kam nicht bis zur Straße.
Ein Citroen aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft
schnellte auf die Ausfahrt zu und blieb nach einer Vollbremsung
stehen.
Daryas‘ Limousine war der Weg versperrt. Zwei Männer sprangen
mit der Waffe im Anschlag aus dem Ford. Es waren unser Kollege
Josephe Kronbourg und sein Dienstpartner Léo Morell.
Léo feuerte der Limousine in den vorderen rechten Reifen. Der
Wagen blieb stehen.
Gerard Latour rannte in unsere Richtung.
Offenbar hoffte er auf der dunkleren Rückseite, der zu der
Speditionsfirma gehörenden Lagerhalle, abtauchen zu können. Dort
schloss sich ein Parkplatz an, auf dem mehrere LKWs standen. Und
der Zaun, der das Firmengelände von den Nachbargrundstücken
abgrenzen sollte, wies ein paar Lücken auf, an denen der
Maschendraht schon einmal aufgeschnitten worden war.
Gerard Latour spurtete los, als wir aus unserer Deckung
kamen.
»Keine Bewegung! Police!«, rief ich.
Er stand wie erstarrt da. Wir kamen hinter der Ecke der
Lagerhalle hervor.
Latour feuerte sofort. Ohne zu zögern. François bekam die
volle Ladung ab. Die Wucht des Schusses ließ ihn rückwärts zu Boden
gehen. Ich feuerte nur den Bruchteil einer Sekunde später. Meine
Kugel traf Latour in die Brust. Das Projektil riss seine Kleidung
auf. Darunter kam grauer Kevlar zum Vorschein.
Er taumelte zurück, schnappte nach Luft und prallte mit dem
Rücken gegen das Wellblechtor der Lagerhalle. Dort rutschte er zu
Boden.
Die kugelsichere Weste, die er offenbar trug, hatte zwar
verhindert, dass das Geschoss in seinen Körper eindrang, dessen
Wucht aber damit nur auf eine größere Fläche verteilt. Die Wirkung
war mit einem kräftigen Tritt vergleichbar. Blaue Flecken und
möglicherweise sogar ein paar gebrochene Rippen konnten die Folge
sein – je nachdem, wo man getroffen wurde.
Latours Rechte krallte sich immer noch um die Waffe. Er riss
die Pistole erneut hoch.
»Weg damit!«, rief ich.
Latour zögerte einen Augenblick zu lang.
Er atmete schwer. Der Aufprall des Projektils musste ihm
schwer zu schaffen machen.
»Der nächste geht in den Kopf!«, kündigte ich an. »Also weg
mit der Waffe!«
Einen Augenblick lang hing alles in der Schwebe. Latours
Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Endlich sah er ein, dass er
keine Chance mehr hatte. Bevor er richtig auf mich zielen und
abdrücken konnte, hätte ihn mein Schuss getötet. Und die
Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn nicht verfehlte, schätzte er
offenbar hoch genug ein, um die Waffe sinken zu lassen. Ich ging
auf ihn zu und nahm die Waffe an mich, die er auf den Boden hatte
sinken lassen.
»François?«, rief ich.
»Es geht schon!«, ächzte mein Partner. Latours Kugel hatte ihn
ebenfalls in die Kevlar-Weste getroffen, die wir bei solchen
Einsätzen tragen müssen. In diesem Fall hatte dieses Kleidungsstück
ihm zweifellos das Leben gerettet.
Unser Kollege Boubou Ndonga war inzwischen auch aus der
Deckung gekommen. Er half François auf, während ich Gerard Latour
die Handschellen anlegte.
»Sie haben das Recht zu schweigen. Falls Sie von diesem Recht
keinen Gebrauch machen, kann und wird alles vor Gericht gegen Sie
verwendet werden, was Sie von nun an sagen …«
»Sparen Sie sich Ihre Sprüche!«, knurrte Latour. »Ich kenne
mich aus!«
»Das glaube ich gerne! Aber diesmal wird Sie Ihr Anwalt wohl
kaum heraushauen!«, war ich überzeugt. Schließlich war alles auf
Video dokumentiert.
7
Überall klickten jetzt die Handschellen. Die Gefangenen wurden
– sofern sie unverletzt waren, in verschiedene Einsatzwagen
gebracht, um sie zum Präsidium abzutransportieren. Der
Rettungsdienst traf schon nach wenigen Minuten ein, um die
Verletzten zu versorgen.
Für Jamal »Blanc Veste Kalif« Rahmani kam jedoch jede Hilfe zu
spät. Ein halbes Dutzend Schüsse von Mehmet Daryas waren ihm in den
Oberkörper gefahren und hatten seinen schneeweißen Anzug zerfetzt.
Allerdings hatte er darunter eine Kevlar-Weste getragen, sodass er
daran nicht gestorben war.
Getötet hatten ihn ein Treffer in den Kopf und eine Kugel, die
ihm in den Hals gefahren und in der Wirbelsäule stecken geblieben
war.
Die Ballistiker würden eine Menge zu tun haben, um genau
rekonstruieren, wer in welcher Reihenfolge welchen Schuss abgegeben
hatte.
8
Zwei Stunden später saßen wir Gerard Latour in einem der
Verhörräume in unserem Präsidium gegenüber.
»Sie gehen mir vielleicht auf die Eier!«, sagte Gerard Latour.
»Sie beide!«
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, sagte ich.
»Scheiße …«
»Ich denke, es ist auch in Ihrem Interesse, wenn dieses
Gespräch einen vernünftigen Verlauf nimmt, Monsieur Latour.«
»Ach. Wirklich?«
»Wirklich.«
»Wie kommt es dann, dass ich davon nicht so richtig überzeugt
bin?«
»Vielleicht liegt das daran, dass Ihnen Ihre Lage nicht so
richtig klar ist.«
»Ja, klar!«
»Aber ich vermute, dass sich das im Verlauf unseres Gesprächs
noch ändern wird.«
»Die Hoffnung stirbt zuletzt, was?«
Latour war ärztlich behandelt worden.
Meine Kugel hatte dafür gesorgt, dass er jetzt ein ziemlich
großes Hämatom am Oberkörper hatte. Aber es war nichts gebrochen.
So lange er weder einen Hustenanfall bekam oder lachte, ging es ihm
einigermaßen gut.
François ging es ganz ähnlich, auch wenn er etwas besser dran
war, was vielleicht mit der Qualität der verwendeten Weste zu tun
hatte. Die Westen, die wir bei unseren Einsätzen verwenden, trägt
man normalerweise über der Kleidung. Das heißt, sie sind dicker und
enthalten mehr Lagen der hochwertigen Kunststofffasern, die das
Geheimnis dieser Schutzwesten sind. Latour hingegen hatte eine sehr
dünne Weste getragen, damit sie unter der Kleidung nicht gleich
auffiel.
Parallel zu unserem Verhör von Latour nahm sich unser Kollege
Stéphane Caron zusammen mit dem Verhörspezialisten Serriere den
Urheber der Schießerei in einem anderen Raum vor: Mehmet Daryas,
die Nummer zwei in Respins Organisation.
»Sie sollten mit uns kooperieren, Monsieur Latour«, sagte ich.
»Die Videoaufzeichnungen belegen, dass Mehmet Daryas auf Jamal
Blanc Veste Kalif Rahmani gefeuert hat. Ob auch der tödliche Schuss
von ihm oder einem seiner Komplizen kam, wird erst die ballistische
Untersuchung zweifelsfrei nachweisen, aber eigentlich habe ich nach
Ansicht der Video-Aufzeichnungen wenig Zweifel daran.«
»Dieser Hurensohn!«, knurrte Latour vor sich hin.
»Wen meinen Sie jetzt?«, mischte sich François ein. »Daryas?
Oder Rahmani!«
»Vermutlich alle beide«, meinte François.
»Ich sage nichts«, sagte Latour. »Erst will ich meinen Anwalt
sprechen!«
»Ihr Anwalt ist auf dem Weg hierher«, erklärte ich ihm. »Aber
ich dachte, ich mache Ihnen trotzdem vorher schon mal Ihre Lage
klar: Daryas hat mit der Schießerei angefangen, und er wird sich
wohl wegen Mordes verantworten müssen. Alles was danach geschah,
einschließlich Ihres tätlichen Angriffs auf zwei Polizeibeamte, ist
rechtlich unterschiedlich interpretierbar. Schließlich hätte
wahrscheinlich niemand geschossen, wenn Daryas nicht zur Waffe
gegriffen hätte!«
»Was wollen Sie jetzt? Mir ein Angebot machen?«, fauchte
Latour.
»Sie kommen vielleicht mit einem blauen Auge davon«, sagte
ich.
Und François ergänzte: »Aber das läuft nur, wenn Sie jetzt
gleich mit uns kooperieren.«
»Ich warte auf ein Angebot des Staatsanwalts«, sagte
Latour.
François sagte: »So läuft das nicht, Monsieur Latour.«
»Ach, nein?«
»Sie haben anscheinend zu viele amerikanische Gangsterfilme
gesehen«, sagte François. »Sie werden kein Angebot bekommen,
sondern nur eine mehr oder weniger lange Haftstrafe.«
Latour sagte: »Ich warte einfach mal ab …«
Ich sagte: »Dann warten Sie vielleicht zu lang, denn es könnte
sein, dass bis dahin Ihre Aussage gar nichts mehr wert ist, weil
wir die Informationen inzwischen auf anderem Weg erlangt
haben.«
»Na, wenn Sie gar nicht auf mich angewiesen sind …«
»… dann sollten wir uns vielleicht auch nicht länger mit ihm
aufhalten«, meinte ich. »Es wird uns sicher auch jemand anders
verraten, weshalb Hugo Respin diesen größten Deal seiner Karriere
als illegaler Kunsthändler verpasst hat!«
Das war nämlich die entscheidende Frage für uns. Unser
Informant Franc Soberiere hatte uns versichert, dass Respin den
Deal selbst machen würde. Geschäfte dieser Größenordnung basierten
auf persönlichem Vertrauen der Beteiligten. Und an Jamal »Blanc
Veste Kalif« Rahmanis Reaktion war auch deutlich zu sehen gewesen,
wie irritiert er darüber gewesen war, nicht Respin persönlich
anzutreffen.
Latour schwieg. Er lehnte sich zurück.
»Wieso kommen Sie darauf, dass ich darüber etwas wüsste?
Fragen Sie besser Daryas‘ Leibwächter – sofern sie noch antworten
können!«
Die Leibwächter von Mehmet Daryas wurden derzeit in der
Gefängnisklinik von Marseille behandelt. Sie hatten beide schwere
Schussverletzungen davongetragen, und es würde wohl noch ein paar
Tage dauern, bis sie vernehmungsfähig waren.
Aber es hatte einen guten Grund, dass wir uns in dieser Sache
Latour vornahmen.
»Unser Labor nimmt sich gerade Ihr Prepaid-Handy vor, Monsieur
Latour. Die Kollegen sind noch lange nicht fertig damit, aber Sie
haben anderthalb Stunden vor dem Deal ein Gespräch mit Mehmet
Daryas geführt! Die Nummer passt jedenfalls zu dem Prepaid-Handy,
das wir bei Monsieur Daryas sichergestellt haben.«
Latour war blass geworden.
Weiß wie die Wand.
Er begriff offenbar, was das bedeutete.
Aber das hieß noch lange nicht, dass er seinen Widerstand
schon aufgab.
François sagte: »Ist doch merkwürdig, dass der Leibwächter des
Blanc Veste Kalif beim Stellvertreter eines Handelspartners anruft,
der dann wenig später seinen Herrn und Meister bei einem
Riesen-Deal vertritt!«
»Warum finden Sie das merkwürdig?«, fragte Latour.
»Möglicherweise habe ich ja in Monsieur Rahmanis Auftrag dort
angerufen, um mich zu erkundigen, ob alles glatt gehen wird.«
»Wie praktisch, dass wir Monsieur Rahmani nicht mehr fragen
können«, erwiderte ich kühl.
»Ach, wirklich!«
»So was fällt uns auf.«
»Sie sind anscheinend ein Wunderbulle!«
»Wo Sie recht haben, haben Sie Recht, Monsieur Latour.«
Sein Kopf veränderte abermals die Farbe.
Diesmal von blass-bleich in dunkelrot.
Er wurde zornig.
Und das hörte man seinem Tonfall auch deutlich an.
Na, wenn schon, dachte ich. Vielleicht war das ein gutes
Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass die Sache endlich einen Schritt
voran kam. Zornigen Widerspruch zu erzeugen kann dabei ein sehr
effektives Mittel sein.
Latour sagte: »Es war aber genau so, wie ich sage! Ich habe
Daryas angerufen und gefragt, ob alles glatt geht.«
»Und? Was hat er gesagt?«
»Er hat es bestätigt.«
»Ah, ja.«
»Ja, wirklich!«
»Hat Daryas irgendetwas davon gesagt, dass Respin nicht
persönlich erscheinen wird?«
»Nein, natürlich nicht. Wenn er das gesagt hätte, wären wir
gar nicht gekommen. Die Sache ist eigentlich auch noch etwas
anders.«
»Wie?«
»Das Prepaid-Handy, das ich anrufen habe, gehörte Respin.«
»Nicht Daryas?«
»Nein. Nicht Daryas. Ich habe mehrfach mit Respin über diese
Nummer gesprochen und den Deal abgemacht …«
Ich runzelte die Stirn. »Sie? Respin hat sich damit zufrieden
gegeben, mit dem Leibwächter zu sprechen anstatt mit dem
Boss?«
»Blanc Veste Kalif hatte eine panische Angst davor, abgehört
zu werden.«
»Was bei einem Prepaid-Handy sehr unwahrscheinlich ist.«
»Aber nicht unmöglich!«
»Das stimmt.«
»Eben!«
»Sprechen Sie weiter!«
»Er wollte einfach nicht, dass seine Stimme irgendwann mal
aufgezeichnet und identifiziert wird, deswegen habe ich diese
Gespräche für ihn geführt.«
»Okay.«
»Respin wusste das – und vielleicht hätte er sich auch bei
niemand anderem darauf eingelassen.«
»Habe ich verstanden.«
»Aber es war sehr wichtig für Respin, mit Blanc Veste Kalif
ins Geschäft zu kommen.«
Ich lehnte mich zurück, wechselte einen kurzen Blick mit
François und fragte Latour dann: »Und Sie haben sich nicht
gewundert, dass Sie nur Daryas am Apparat hatten?«
»Er hat es mir plausibel erklärt.«
»Wie?«, hakte ich nach.
»Im Hintergrund war eine Frau zu hören, und Daryas hat
erzählt, dass Respin gerade mit ihr herummachen würde und deswegen
nicht zu sprechen sei.«
»Anderthalb Stunden vor einem Deal, der für ihn angeblich so
wichtig war?«, fragte jetzt François.
»Ja, ich weiß …«
»Was erzählen Sie uns da eigentlich für eine
Geschichte?«
»Es ist die Wahrheit.«
François fragte: »So was sollen wir glauben?«
Latour zuckte mit den Schultern.
»Was hätte ich davon, Sie anzulügen? Sie haben mir meine
Situation ja klar eindringlich klar gemacht. Und mein Boss lebt
nicht mehr.« Er atmete tief durch. »Ihre Leute haben ihn ja
erschossen.«
»Mehmet Daryas hat Ihren Boss erschossen!«, korrigierte ich
ihn.
»Ist das etwa nicht einer Ihrer Spitzel? Genau wie Respin, der
sich wohl schon abgeseilt hatte. Als er nicht bei dem Deal
auftauchte, war mir klar, dass das Ganze eine Falle war. Hat sich
dann ja auch so herausgestellt.«
»Und was denken Sie, warum hat Daryas sofort geschossen?«,
fragte François.
Latour zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, er wollte
nichts riskieren. Seine Leute waren in der Unterzahl …«
In diesem Moment flog die Tür des Verhörzimmers zur Seite. Ein
groß gewachsener Mann im grauen Dreiteiler trat ein. Seine Haare
passten farblich dazu. »Bertold Raspaille von Raspaille &
Partner. Der Zirkus hier ist zu Ende. Ich bin Monsieur Latours
Anwalt.«
Er trug eine abgewetzte Aktentasche, die überhaupt nicht zu
dem piekfeinen Rest seines Outfits passte. Offenbar hatte sie
irgendeine ideelle Bedeutung für ihn. Vielleicht hatte er sie
schon, als er seinen ersten Prozess gewann.
Vielleicht hatte sie ihm auch Glück im Examen gebracht.
Oder es war ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau und jetzt
musste er das abgewetzte Lederding tragen, so lange er noch nicht
verwitwet oder geschieden war.
Raspaille wandte sich an mich. »Lassen Sie mich bitte mit
meinem Mandanten allein.«
Ich sagte gelassen: »Kein Problem. Er hat bereits eine Aussage
gemacht.«
Raspaille hob die Augenbrauen und machte eine ausholende,
raumgreifende Geste, die seine Wichtigkeit unterstreichen sollte,
was unfreiwillig komisch wirkte.
Geckenhaft und aufgeblasen.
»Eine Aussage, die wir anfechten werden!«, kündigte er
an.
»Warum? Sie könnte sich positiv für ihn auswirken!«
»Das können weder Sie noch er wirklich beurteilen. Und jetzt
lassen Sie uns allein, oder Sie fangen sich eine
Dienstaufsichtsbeschwerde ein, weil Sie einem Verhafteten seine
verfassungsmäßigen Rechte vorenthalten.«
Raspaille wollte offenbar gleich klarstellen, wer hier der
Platzhirsch war. Wir gingen auf den Flur.
»Dieser Kerl hat den Charme einer Dampfwalze«, sagte
François.
Ich zuckte mit den Schultern »Das muss sein Erfolgsgeheimnis
sein. Dieser Raspaille hat Latour doch schon mehrere Male
herausgepaukt.«
»Aber diesmal nicht.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»François, wahrlich, ich sage dir: Diesmal nicht!«
»Na, das würde ich ja gerne glauben, Pierre!«
»Kannst du ruhig.«
9
Es dauerte nur fünf Minuten, bis Raspaille in den Flur trat.
»Mein Mandant wird kein Wort mehr sagen«, erklärte er. »Wer von
Ihnen beiden ist Commissaire Marquanteur?«
»Das bin ich.«
»Sie haben meinen Mandanten mit einem potenziell tödlichen
Schuss in die Brust niedergestreckt. Dass er eine Kevlar-Weste
unter der Kleidung trug, konnten Sie ja nicht ahnen!«
»Er hat auf meinen Partner geschossen!«
»Werden Sie nicht darauf trainiert, auf Arme oder Beine zu
schießen?«
»In diesem Fall ging es um einen lebensbedrohlichen Angriff
auf einen Ermittler«, erklärte ich. »Ich hatte keine andere Wahl,
als so zu schießen, dass eine mannstoppende Wirkung erzielt
wird!«
»Ist das bei Ihnen die spezielle Ausdrucksweise für besondere
Rücksichtslosigkeit und Polizeibrutalität?«
»Nein. Das ist die besondere Ausdrucksweise für eine
eindeutige Notwehrsituation, die mein Vorgehen rechtfertigt.«
Ein dünnes Lächeln spielte um seine blutleeren Lippen.
»Ich teile Ihre Sicht der Dinge nicht, Commissaire
Marquanteur. Und die Öffentlichkeit wird es auch kaum gutheißen,
wenn schießwütige Polizisten selbst zu einem Sicherheitsrisiko
werden.«
»Sie verdrehen die Tatsachen, Monsieur Raspaille!«
Er lächelte kalt. »Bin wirklich ich der derjenige, der hier
etwas verdreht?«
»Die ganze Szene ist auf Video dokumentiert. Ich habe mir
nichts vorzuwerfen!«
»Wir werden sehen, ob die Gerichte das genauso sehen,
Commissaire Marquanteur«, sagte Raspaille.
Damit zog er ab. Ich sah ihm ziemlich perplex nach. Mit vielem
hatte ich gerechnet – aber nicht damit.
»Der kommt damit nicht durch!«, war François überzeugt.
»Ich hoffe, du hast Recht! Aber jemand, der in der
Vergangenheit dafür gesorgt hat, dass Gerard Latour keinen einzigen
Tag im Knast verbringen musste, dem traue ich alles zu!«
»Pierre, der will sich nur wichtig machen und dich
einschüchtern.«
»Mag sein.«
»Das ist alles.«
Ich atmete tief durch. »Na, hoffentlich!«
10
Latour hielt sich von nun an an die Anweisungen seines
Anwalts. Er redete kein einziges Wort mehr mit uns. Aber die
entscheidende Information hatten wir bereits.
Eine halbe Stunde später sprachen wir mit unserem Kollegen
Commissaire Serriere, der mit Mehmet Daryas gesprochen hatte.
»Ein harter Brocken!«, meinte Serriere. »Er hat wohl gedacht,
dass Rahmani mit der Polizei zusammenarbeitet und deswegen sofort
auf ihn geschossen. Er war mit seinen Leuten in der Minderzahl
…«
»Und deswegen musste er gleich losballern?«, fragte ich
zweifelnd. »Ich glaube, wir müssen noch mal genauer darauf
eingehen, wer hier wem eine Falle stellte.«
»Was willst du damit sagen, Pierre?«, fragte Serriere.
»Vielleicht hatte Respin einen guten Grund, um nicht dort zu
erscheinen, wo der Deal über die Bühne ging. Und es leuchtet mir
nach wie vor ebenso wenig ein, wieso Mehmet Daryas gleich
geschossen hat!«
»Er sagt, er sei in Panik gewesen«, berichtete Serriere. »Er
habe gedacht, dass er schießen muss! Schließlich sei die andere
Seite zahlenmäßig überlegen gewesen!«
»Überzeugt mich nicht«, sagte François.
Malcolm verschränkte die Arme vor der Brust. »Mich auch nicht
– und vor einem Schwurgericht wird er mit dieser Tour wohl kaum
Glück haben.«
»Hat er irgendetwas dazu gesagt, weshalb Respin nicht am Ort
des Deals erschienen ist?«
»Nein.«
Eigentlich hätten wir Serriere gerne bei der nächsten Runde
des Verhörs begleitetet. Aber stattdessen wurden wir ins
Besprechungszimmer unseres Chefs gerufen.
Irgendetwas Dramatisches hatte sich getan.
11
Commissaire général de police Jean-Claude Marteau, unser Chef,
nippte an seinem Kaffeebecher und machte ein sehr ernstes Gesicht.
Er nickte uns kurz zu, als wir den Eingang seines Büros betraten.
Wir setzten uns. Offenbar wartete er noch auf ein paar Kollegen.
Stéphane und Boubou waren bereits dort. Wenig später tauchten noch
Josephe und Léo sowie Maxime Valois, ein Innendienstmitarbeiter aus
der Fahndungsabteilung auf. Zu guter Letzt erschien noch
Commissaire Serriere. Was ihn noch aufgehalten hatte, wusste ich
nicht.
»Ich reiße Sie ungern aus Ihrer Arbeit heraus, aber es gibt
etwas, worüber Sie umgehend Kenntnis haben sollten«, eröffnete
Jean-Claude Marteau. Er wandte sich an Maxime Valois. »Sie haben
das Wort, Maxime.«
»Danke, Monsieur Marteau.«
Maxime aktivierte den Beamer seines Laptops.
Ein paar Aufnahmen aus einer sehr eigenartigen, bodennahen
Perspektive folgten. »Der letzte Schrei hier in Marseille ist es
derzeit, die eigene Katze mit einer Mini-Kamera auszurüsten, die in
regelmäßigen Abständen Bilder knipst. Auf diese Weise kann der
Katzenbesitzer dann nachträglich mitverfolgen, wo sich sein
Stubentiger so herumgetrieben hat«, berichtete Maxime. »So etwas
nennt man eine Katzenkamera. Es gibt im Internet inzwischen
zahlreiche Seiten, auf denen Katzenkamera User ihre Katzenbilder
präsentieren.«
»Schön und gut, aber was hat das mit einem geplatzten Deal mit
Khmer-Kunst zu tun?«, fragte der Kollege Serriere.
»Der Zusammenhang ist hier!«, erklärte Maxime und drückte
dabei auf die Fernbedienung seines Beamers. Das Bild, das nun zu
sehen war, zeigte einen Mann, der offenbar tot war. An der Schläfe
gab es eine Wunde, die wie eine Schussverletzung aussah, und eine
Blutlache ergoss sich auf den Boden.
Maxime zoomte das Bild näher ran, sodass nun das Gesicht
besser zu sehen war. »Das hier ist Hugo Respin«, erklärte unser
Kollege aus dem Innendienst der Fahndungsabteilung. »Jedenfalls
sagt das unser Bilderkennungsprogramm. Insgesamt zwölf
telemetrische Punkte stimmen mit den Aufnahmen, die wir von Respin
haben, überein. Damit gilt er als identifiziert.«
Ein weiteres Bild aus leicht veränderter Perspektive folgte.
Offenbar lag der Tote unter einem parkenden Fahrzeug.
»Woher stammen diese Aufnahmen?«, fragte François.
»Eben von einer solchen Katzenkamera. Die Katze hatte offenbar
ein Faible für Parkplätze und die Jagd im Schatten von Autos. Man
beachte die Angabe von Datum und Uhrzeit im oberen linken Eck.
Dadurch ist nachvollziehbar, wann die Aufnahmen entstanden sind,
nämlich gestern Mittag. Wir können von Glück sagen, dass sich die
Besitzerin der betreffenden Katze die Aufnahmen gleich angesehen
hat und dies nicht erst nach Wochen geschah. Die Frau heißt
Sandrine Chatelle und wohnt in Cassis. Sie hat sich umgehend an die
dortige Polizei gewandt, die den Toten mit Hilfe des
Bilderkennungssystems identifizierte. Sobald das abgeschlossen war,
hatte wohl niemand mehr Zweifel daran, dass das ein Fall für uns
ist. Hugo Respin ist schließlich kein unbeschriebenes Blatt.«
»Dann wird uns Mehmet Daryas noch ein paar Fragen zu
beantworten haben«, stellte ich fest. Die anderen wandten den Blick
in meine Richtung.
»Wovon sprechen Sie, Pierre?«, fragte Commissaire général de
police Marteau.
»Gerard Latour hat anderthalb Stunden vor Ablauf des Deals mit
Daryas telefoniert. Er sagt, dass sein Boss eine Art Telefonphobie
hatte, weil er befürchtete, abgehört zu werden. An Respins Apparat
meldete sich Daryas und behauptete, dass Respin gerade mit einer
hübschen Lady beschäftigt und nicht zu sprechen sei, aber man sich
darauf verlassen könne, dass alles glatt ginge.«
»Anderthalb Stunden vor dem Deal?«, echote Commissaire général
de police Marteau. »Zu diesem Zeitpunkt war Respin offensichtlich
schon tot!«
»Genau«, nickte ich.
»Leider wissen wir noch immer nicht, wo diese Aufnahme gemacht
wurde«, sagte Maxime Valois. »Die Polizei von Cassis sucht nach wie
vor alle Parkplätze und Fahrzeuge ab, die als zumindest zeitweilige
Ruhestätte von Monsieur Respin in Frage kämen. Das sind natürlich
in erster Linie alle Parkgelegenheiten in einem gewissen Umkreis um
Sandrine Chatelles Wohnung.«
»Ich hoffe, dass sie bald Erfolg damit haben«, meinte der
Commissaire général de police.
12
Wir begleiteten den Kollegen Serriere zur weiteren Befragung
von Mehmet Daryas. Wir konfrontierten ihn mit den Bildern von
Respin. »Zu einem Zeitpunkt, da Ihr Boss längst tot war und Sie
wussten, dass er nicht zum Deal erscheinen konnte, haben Sie
gegenüber Latour das Gegenteil behauptet«, stellte ich fest.
Zuvor hatte der Kollege Serriere ihm schon eindringlich seine
rechtliche Situation klargemacht. Schließlich hatte Mehmet Daryas
die Schießerei begonnen. Wenn er nicht zur Waffe gegriffen hätte,
wäre vielleicht überhaupt kein weiterer Schuss gefallen. Mit hoher
Wahrscheinlichkeit hatte er darüber hinaus Rahmani auf dem
Gewissen. Die Videoaufzeichnungen zeigten das so eindeutig, dass
man nicht erst die ballistischen Untersuchungen abwarten musste, um
dies als gegebene Tatsache anzusehen.
Auf einen Anwalt hatte Daryas bisher verzichtet.
Allerdings wäre es uns in diesem Fall durchaus lieber gewesen,
wenn er einen Rechtsbeistand gehabt hätte, dem er vielleicht eher
den Ernst seiner Lage geglaubt und der ihn zur Kooperation hätte
überreden können.
»Jetzt zieht sich die Schlinge zu, Monsieur Daryas«, stellte
der Kollege Serriere fest. »Irgendwann – und zwar in Kürze – wird
die Polizei von Cassis diesen Wagen und die Leiche finden. Und
falls Sie etwas damit zu tun haben, Monsieur Daryas, dann werden
sich dort auch Spuren von Ihnen finden! So gut ist niemand, dass er
das vollkommen vermeiden kann! Dazu sind die technischen
Möglichkeiten, die wir heute haben, auch viel zu weit
fortgeschritten! Selbst kleinste Partikel, Hautreste, DNA-Material
oder Faserspuren reichen heute schon für eine Analyse aus! Also,
wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sollten Sie das wirklich jetzt
tun! Ein Anwalt würde Ihnen da auch nichts anderes raten!«
»Was wollen Sie denn von mir? Mir vielleicht den Mord an
Respin anhängen?«, fuhr Daryas nun auf. »Warum sollte ich denn so
etwas tun? Das ist doch alles Blödsinn, was Sie mir da
vorhalten.«
»Vielleicht haben Sie es nicht mehr ausgehalten, die Nummer
zwei in Respins Organisation zu sein«, sagte ich. »Vielleicht
wollten Sie an seine Stelle treten und haben ihn kurz vor dem
großen Deal aus dem Weg geräumt, um von nun an die Geschäfte selbst
übernehmen zu können.«
»Das ist nicht wahr!«, zeterte er.
»Dann klären Sie uns doch darüber auf, was wahr ist!«,
erwiderte ich. »Sie haben nichts mehr zu verlieren! Sie haben Jamal
Blanc Veste Kalif Rahmani auf dem Gewissen – und auch noch Ihren
eigenen Boss!«
»Ich will jetzt doch einen Anwalt!«, erklärte er.
Das war sein gutes Recht. Und er würde einen Rechtsbeistand
angesichts seiner Lage auch zweifellos nötig haben.
13
Wir fuhren nach Cassis. Sandrine Chatelle wohnte in einem
luxuriösen Altbau. Die Kollegen der Polizei von Cassis hatten sie
überprüft. Es gab eine Vorstrafe wegen Drogenkonsums, aber da war
sie noch minderjährig gewesen. Außerdem eine anonyme Anzeige wegen
Prostitution innerhalb des Sperrbezirks, die aber im Sande
verlaufen war und nicht zu einem Verfahren geführt hatte. Den
Kollegen in Cassis hatte sie angegeben, in einem Club als Tänzerin
zu arbeiten.
Als wir an ihrer Tür klingelten, öffnete uns eine gut
aussehende Blondine in einem atemberaubend engen und zweifellos
sehr teuren Kleid.
François und ich zeigten ihr unsere Ausweise und ich stellte
uns kurz vor.
»Commissaire Pierre Marquanteur, FoPoCri – und dies ist mein
Kollege Commissaire François Leroc. Ich hoffe, wir kommen nicht
gerade ungelegen«, sagte ich, weil sie so aussah, als wolle sie
ausgehen.
Sie blickte auf die Uhr und schüttelte den Kopf. »Nein, ich
bin erst in einer Stunde verabredet.« Sie bat uns herein und bot
uns in dem großzügig ausgestatteten Wohnzimmer einen Platz an. An
den Wänden hingen sehr modern wirkende Gemälde.
»Setzen Sie sich. Und wenn ich Ihnen etwas zu Trinken anbieten
darf …«
»Wir sind im Dienst«, wehrte François ab.
Sie sah uns prüfend an und zuckte dann mit den schmalen
Schultern.
»Wie Sie meinen!«
Eine schwarze Katze fiel mir auf, die uns aufmerksam zu
beobachten schien. Vollkommen lautlos bewegte sie sich über den
Teppichboden.
Sandrine Chatelle bückte sich, um sie auf den Arm zu nehmen.
Aber die Katze hatte offenbar andere Pläne. Sie fauchte und sprang
davon. Sandrine richtete sich wieder auf und setzte sich dann zu
uns. »So ist das eben«, meinte sie. »Wenn man ein Kuscheltier
sucht, sollte man sich einen Hund anschaffen – und keinen Kater.
Die haben ihre eigenen Vorstellungen, und dass sie einem aufs Wort
gehorchen oder dergleichen, funktioniert schon mal gar nicht.«
»Wie heißt das Tier denn?«, fragte François.
»Mephisto. Ein edles Rassetier. Wenn ich ihn rauslasse, dann
schnalle ich ihm jetzt immer seine Katzenkamera um. Ich bin erst
vor Kurzem darauf gestoßen, dass man auf diese Weise verfolgen kann
was ein Tier da draußen so treibt …« Eine dunkle Röte überzog nun
ihr feingeschnittenes Gesicht. Sie schluckte. »Wenn ich gewusst
hätte …« Ihre Stimmte erstickte, sie schüttelte den Kopf und wich
meinem Blick aus.
»Möglicherweise wird Ihr Kater Mephisto dazu beitragen, ein
Verbrechen aufzuklären«, sagte ich und musterte sie dabei. Ihr
Verhalten wirkte reichlich theatralisch, aber das schien ihre Art
zu sein.
Sie erwiderte jetzt plötzlich meinen Blick und fragte: »Diese
Dorfpolizisten vom Revier in Cassis haben mich zuerst überhaupt
nicht ernst genommen! Ich wurde behandelt wie eine Hysterikerin,
die man am besten in eine geschlossene Abteilung einweist!«
»Sie müssen zugeben, dass der Fall schon etwas ungewöhnlich
ist«, gab ich zurück.
»Wie kommt es, dass sich plötzlich das FoPoCri für den Fall
interessiert?«
»Weil der Tote im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen das
organisierte Verbrechen steht«, sagte ich. »Er heißt Hugo Respin.«
Ich holte einen Ausdruck hervor, der aus dem uns zugänglichen
Archivbestand stammte und legte ihn vor ihr auf den niedrigen
Wohnzimmertisch aus Glas.
»Haben Sie diesen Mann vielleicht schon einmal gesehen?«,
fragte François.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wie kommen Sie darauf, dass
ich ihn kennen sollte?«
»Da der Aktionsradius Ihrer Katze ja begrenzt ist, könnte es
ja sein, dass Monsieur Respin öfter hier in der Gegend war und Sie
ihm mal begegnet sind.«
»Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf. Mir fiel auf, dass
sie sich das Bild kaum angesehen hatte. »Was werfen Sie ihm denn
vor?«
»Illegalen Kunsthandel«, sagte ich. »Er war darauf
spezialisiert, Kunstschätze aus Asien illegal ins Land einzuführen
und weiter zu verkaufen.«
Sie hob die Augenbrauen. »Damit lässt sich Geld machen?«
»Die Gewinnspannen sind derzeit höher als bei Drogen«,
erklärte ich. »Aber gleichgültig, was Hugo Respin auch auf dem
Kerbholz gehabt haben mag – für uns ist er jetzt in erster Linie
ein Mordopfer, und wir werden versuchen, alles in unserer Macht
stehende zu tun, um den oder die Täter zu ermitteln.«
Sie verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. »Seien Sie
ehrlich: Es geht Ihnen doch mehr darum, seine Komplizen und
Hintermänner zu fangen, als darum, wer diesen Gangster umgebracht
hat!«
Ich sah sie etwas verwundert an. »Woher wollen Sie das wissen?
Schlechte Erfahrungen mit der Polizei?«
»Die Drogensache von damals hängt mir wohl ewig an …«
»Nein. Das ist lange her, und Ihre Aussage ist nicht weniger
glaubwürdig, nur weil Sie mal Probleme mit der Polizei hatten!«
»Wissen Sie was: Damals war es genauso: Die Polizisten waren
nur auf eins aus: Den Dealer, von dem ich den Stoff hatte! Alles
andere hat die überhaupt nicht interessiert!«
»Sie sollten das nicht verallgemeinern, Madame Chatelle«,
sagte ich. »In welchem Club arbeiten Sie übrigens?«
»Hat das irgendetwas mit dem Fall zu tun? Tut der Club, in dem
ich tanze, irgendetwas zur Sache, wenn es um die Schnappschüsse
meiner Katze geht?«
Ihre Empfindlichkeit überraschte mich.
»Wir wollen uns nur ein Gesamtbild machen«, sagte François.
»Es ist nicht unsere Absicht, gegen Sie zu ermitteln oder Ihnen
irgendwelche Schwierigkeiten machen.«
Sie atmete tief durch. »Es ist der Lagon bleu Club, hier in
Cassis. Sie können dort gerne jeden über mich ausfragen, wenn Sie
es für nötig halten.«
»Den Kollegen haben Sie gesagt, Sie würden in einem Club auf
Pointe-Rouge arbeiten.«
»Damit die mich hier in Ruhe lassen. Und wenn Sie weiter die
Absicht haben, mich alles doppelt zu fragen, dann gehen Sie doch am
besten gleich zu Ihrem Kollegen Commissaire Theophane von der
Mordkommission von Cassis. Dem habe ich nämlich ausführlich Rede
und Antwort gestanden!«
»Hat Ihre Katze irgendwelche speziellen Angewohnheiten?«,
brachte ich das Gespräch jetzt auf ein anderes Thema. Ich bemerkte
ihre Unruhe und begriff nach einem kurzen Moment auch, wodurch sie
ausgelöst wurde. Mephisto beschäftigte sich auf wenig zartfühlende
Weise mit einem bestickten Seidenkissen. Die ausgefahrenen Krallen
ritzten den Stoff auf. Sandrine Chatelle scheuchte Mephisto wütend
davon. Mit einem Fauchen verzog sich der Kater hinter einen
Sessel.
Sandrine Chatelle lächelte gezwungen. »Mephisto ist eben
ziemlich verwöhnt!«, meinte sie. »Ich fürchte, dem wird niemand
mehr seinen eigenen Kopf wegerziehen.«
»Ich fürchte, da haben Sie Recht«, sagte ich.
»Sie haben auch eine Katze?«
»Nein.«
»Aber Sie wissen trotzdem Bescheid.«
»Ja.«
»Mephisto ist genau wie ich.«
»Inwiefern?«
»Ich bin auch schwer erziehbar.«
»Aha.«
»Mephisto hat übrigens ein ausgesprochenes Faible für parkende
Fahrzeuge. Er kriecht immer wieder darunter. Der Inhalt des Chips,
den ich Ihrem Kollegen von der Mordkommission überließ, war voll
von Bildern, die zeigten, wie er unter irgendwelche Fahrzeuge kroch
und dort nach was weiß ich wonach suchte …«
»Nun denn, jedem das seine, Madame Chatelle.«
»Sie sagen es, Commissaire Marquanteur.«
»Man könnte auch sagen: jedem Tierchen sein Pläsierchen«,
ergänzte François.
Sandrine Chatelle wandte sich daraufhin François zu. »Ich mag
Männer mit besonders ausgeprägtem Charme.«
»Tja …«
»Sind leider selten.«
14
»Die Lady wohnt ziemlich luxuriös für eine einfache
Club-Tänzerin, würde ich sagen«, meinte ich, nachdem wir Sandrine
Chatelles Wohnung verlassen hatten und wieder in den Dienstwagen
gestiegen waren. Eine Spezialanfertigung, die darüber hinaus
natürlich mit allen kommunikationstechnischen Finessen ausgestattet
war, die in ein ziviles Dienstfahrzeug der FoPoCri gehörten – zum
Beispiel einen integrierten Bordrechner mit Online-Verbindung und
hochauflösenden TFT-Bildschirm.
»Vielleicht hat Madame Chatelle einen reichen Gönner, der sie
aushält«, glaubte François. »Und ehrlich gesagt, glaube ich auch
nicht, dass sie ihr Geld nur mit Tanzen verdient.«
»Immer noch Prostitution?«
»Das oder Drogen.«
»Oder beides.«
»Hast du ihre rote Nase gesehen, Pierre? Sie hat sich alle
Mühe gegeben, das wegzupudern, und vielleicht hat sie auch wirklich
nur einen Schnupfen, weil es im Lagon bleu Club zu zugig ist und
sie beim Tanzen nichts an hat. Aber ehrlich gesagt, denke ich an
etwas anderes.«
»Du glaubst, sie schnupft Kokain?«
»Ja.«
»Aber wir ermitteln nicht gegen sie, sondern sie ist unsere
wichtigste Zeugin!«
»Richtig, Pierre.«
»Naja, wenn wir sie nochmal befragen sollten, werde ich dir
den Vortritt lassen.«
»Wieso?«
»Na, das hast du doch gerade gehört.«
»Ach, Quatsch!«
»Dein Charme scheint genau auf ihrer Wellenlänge zu
liegen.«
»Sehr witzig.«
»Ich wusste gar nicht, dass an dir so ein Frauenversteher
verloren gegangen ist, François.«
»Und an dir so ein Labersack, Pierre.«
»Was soll das denn heißen?«
»Dass wir zusehen sollten, in diesem Fall endlich einen
Schritt weiter zu kommen.«
»Warum so gereizt, François?«
»Nur so.«
15
Als nächstes suchten wir Commissaire Theophane von der
Mordkommission der Cassis-Polizei auf. Wir trafen ihn in seinem
Büro an, wo er vor dem Bildschirm seines Computers saß und sich
digitalisierte Tatortfotos ansah. Ein Anblick, der nichts für zarte
Gemüter war, denn vom Gesicht des Opfers war so gut wie nichts mehr
erkennbar.
»Pierre Marquanteur, Kriminalpolizei – dies ist mein Kollege
François Leroc«, stellte ich uns vor und zeigte ihm meinen Ausweis.
»Sie sind Commissaire Theophane?«
»Ja, bin ich. Sie kommen wahrscheinlich wegen des Mordes an
Hugo Respin!«
»Ja. Wir haben uns bereits ausführlich mit Sandrine Chatelle
unterhalten.«
Theophane grinste und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Eine hysterische Ziege ist das. Die hat mich den letzten Nerv
gekostet. Ich hatte es gleich im Gefühl, dass sie was mit Drogen
und Prostitution zu tun hat – oder zumindest hatte – und siehe da,
beim Daten-Abruf gab es gleich einen Treffer.«
»Uns geht es eigentlich mehr um den Toten auf den Bildern der
Katzenkamera«, stellte François fest.
»Auf einem der vorhergehenden Bilder ist in Großaufnahme eine
Radkappe zu sehen. Wir wissen daher, dass es sich bei dem Fahrzeug,
unter dem der Tote gelegen hat, um einen Mercedes gehandelt hat.
Ich nehme an, Sie haben sich die Bilderserie ebenfalls zu Gemüte
geführt.«
»Haben wir«, sagte ich. »Zumindest die relevanten Bilder.
Unsere Leute sind nach wie vor auf der Suche.«
»Auf einer der Aufnahmen, die nicht relevant zu sein scheinen,
ist aus der Ferne ein Autokennzeichen eines Ford Maverick zu
sehen«, stellte Theophane fest. Er drückte ein paar Tasten an
seiner Computertastatur. Die grässlichen Tatort-Fotos verschwanden.
Theophane murmelte irgendetwas von einer Leiche, die am Morgen in
einem städtischen Park gefunden worden war, und von der noch
niemand wusste, um wen es sich handelte.
Dann wählte er den Ordner mit den Bildern an, die er sich von
Sandrine Chatelles Katzenkamera Chip herunter kopiert hatte.
Wir sahen zunächst noch einmal die Bilder, die uns auch Maxime
Valois vorgeführt hatte. Theophane machte uns dann jedoch auf ein
Bild aufmerksam, das der Uhrzeit- und Datumsangabe im oberen linken
Eck nach einen Tag vor den Aufnahmen von Respin entstanden
war.
Mephisto war offenbar nicht nur auf einem Parkplatz unterwegs
gewesen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bildern, auf denen nur
Rinnsteine, Gullydeckel, Radkappen und Treppenabsätze mit Haustüren
zu sehen waren, hatte man hier freie Sicht auf die Vorderfront
eines Ford Maverick.
»Wir haben das Bild etwas bearbeitet«, sagte Theophane. Er
zoomte das Nummernschild heran. Die Nummer war jetzt gut zu
erkennen. »Der Halter heißt Charles-Henri Montpartisse, ist
sechsundsiebzig Jahre alt, pensionierter Schulleiter und war bis
gestern auf Besuchsreise bei seinem Sohn, der an der USC in
Kalifornien studiert.«
»Sie sind gut informiert«, sagte ich.
»Glücklicherweise gibt es redselige Nachbarn«, gab Theophane
zurück. »Wenn Sie wollen, können wir zu ihm fahren.«
»Okay«, meinte François.
16
Ob Charles-Henri Montpartisse uns weiterhelfen konnte, war
natürlich nicht gesagt. Aber immerhin war Mephisto in der Nähe
seines Wagens gewesen, und vielleicht lernten wir auf diese Weise
wenigstens einen Lieblingsplatz des Katers kennen. Ob das dann auch
der Ort war, an dem es sich lohnte, nach Spuren des toten Hugo
Respin zu suchen, musste sich erst noch herausstellen.
Commissaire Leon Theophane fuhr zusammen mit einer jungen
Kollegin namens Rebecca Duvalier in einem Dienst-BMW der Polizei
voraus, wir folgten mit dem Dienstwagen.
Die Adresse von Charles-Henri Montpartisse lag nur ein paar
Blocks von dem Haus entfernt, in dem Sandrine Chatelle lebte. Aber
das hatten wir auch nicht anders erwartet.
»Ich verstehe nicht, wieso die Kollegen aus Cassis den
Parkplatz, auf dem der Tote von der Katzenkamera fotografiert
wurde, nicht längst gefunden haben«, übte François deutliche Kritik
an den Kollegen. »Das kann doch nicht so schwer sein!«
»Die haben lange nicht so viele Spezialisten zur Verfügung wie
wir«, nahm ich Leon Theophane und seine Leute in Schutz. »Du weißt,
dass der Erkennungsdienst der Cassis-Polizei nicht einmal
ausreicht, um alle Fälle zu bearbeiten, die hier anfallen, und sie
immer wieder auf Unterstützung durch die Erkennungsdienstliche
Abteilung des FoPoCri in Marseille angewiesen sind.«
»Dann sollten wir vielleicht besser auf die Amtshilfe der
Kollegen aus Cassis verzichten und die Sache unseren Kollegen im
Präsidium übergeben«, knurrte François.