Lautlos ließ sich FBI-Ermittler Lewis Marshall an der
Holzleiter hinabgleiten. Die mondlose Nacht war sein Verbündeter.
Außerdem - niemand würde vermuten, daß sich ein Beamter der
Bundespolizei FBI in dieser so unscheinbaren Scheune umschauen
würde.
Jedenfalls dachte er das.
Mit Hilfe von Steigeisen war Marshall von außen an der
Holzwand der Scheune hinaufgeklettert, dann war er durch eine
kleine Luke eingedrungen. Der Special Agent hielt eine winzige
Taschenlampe mit abgeblendetem Lichtkegel in der Faust. Für das,
was er vorhatte, spendete sie genügend Helligkeit.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren.
Was war das gewesen? Ein Tier vielleicht? Oder der stürmische
Wind, der draußen durch die Baumwipfel am Waldränd brauste. Oder…?
Lewis Marshall verharrte, die Hand auf dem Griff seiner
Dienstwaffe…
Fünf Minuten lang rührte er sich nicht, hatte aber die kleine
Stablampe vorsichtshalber ausgeschaltet. Nichts. Erleichtert
knipste er die Taschenlampe wieder an.
Wie ein riesiges Ungeheuer aus einem Science-Fiction-Film
ragte ein roter Mähdrescher vor ihm auf. Kein ungewöhnlicher
Anblick auf einer Farm.
Doch der G-man suchte nicht nach harmlosen
landwirtschaftlichen Geräten. Hinter der monströsen Maschine waren
einige Heuballen gestapelt. Marshall hatte einen vagen Verdacht. Er
wuchtete einige der Heuballen zur Seite.
Leise pfiff er durch die Zähne. Sein Instinkt hatte ihn nicht
getrogen.
Unter dem Heu waren Kisten verborgen gewesen.
Der Agent schob die Klinge seines Messers unter den Deckel
einer der Kisten, öffnete den Deckel mühsam, der festgenagelt
war.
Drinnen lagen Waffen, sorgsam in Ölpapier eingewickelt.
Ich hatte recht, dachte der G-man. Die Kollegen müssen sofort
anrücken. ›Questionmark‹ ist kein anderer als…
Lewis Marshall konnte den Gedanken nicht mehr zu Ende
bringen.
Denn in diesem Moment wurde er von einem großkalibrigen
Geschoß in den Rücken getroffen.
Er war sofort tot…
***
An diesem Morgen hatte ich wieder mal die Nase voll von New
York. Okay, der Big Apple ist meine Stadt, doch schon oft habe ich
die riesige Betonwüste am Hudson River verflucht. Nicht nur wegen
der Verbrechen, die hier tagtäglich geschehen, obwohl New York
angeblich inzwischen die sicherste Großstadt der USA sein soll,
woran man allerdings als FBI-Beamter manchmal zweifeln möchte. Als
G-man des FBI Field Office New York tue ich mein Bestes, um gegen
Terror, Gewalt und Unrecht anzugehen.
Aber das war es an diesem Morgen nicht, was meine Laune in den
Keller getrieben hatte. Mir stinkt oft die Gleichgültigkeit, mit
der meine Mitbürger einander behandeln. Ich weiß natürlich, daß
diese ›Coolness‹ häufig nur Selbstschutz ist. Aber sie nervt mich
trotzdem, und manchmal glaube ich, daran verzweifeln zu
müssen.
Während ich im Aufzug in die Tiefgarage meines Wohnblocks an
der oberen Westside hinunterfuhr, dachte ich wehmütig an meine
Kindheit und Jugend in Harpers Village zurück. Dem Dorf in
Connecticut, in dem ich aufgewachsen bin. Als ich meinen roten
Sportwagen bestieg, glaubte ich fast, den Duft von frisch gemähtem
Heu zu riechen. Und nicht den Gestank von Abgasen, der sich in der
Tiefgarage festgesetzt hatte.
Ich fuhr den roten Flitzer nach oben, fädelte ihn in den
fließenden Verkehr ein. War es nur Einbildung, oder waren die
anderen Autofahrer an diesem Morgen wirklich ebenfalls mieser
gelaunt als sonst während der New Yorker Rushhour?
Wie immer erwartete mich Milo an unserer gewohnten Ecke.
»Hallo, Partner!« grüßte mich mein Freund und Kollege.
Ich erwiderte seinen Gruß ziemlich einsilbig. Als ich den
Blinker setzte und von der Bordsteinkante abfahren wollte, schnitt
mich ein grüner Pontiac, dessen Fahrer wild gestikulierte und mir
den Stinkefinger zeigte.
Ich hieb mit dem Handballen auf die Hupe.
»Blöder Idiot!« fluchte ich. »Werd doch glücklich mit der
Zehntelsekunde, die du jetzt gewonnen hast!«
Milo hob die Augenbrauen. »Was ist dir denn für eine Laus über
die Leber gelaufen, Jesse?«
Ich schielte in den Rückspiegel und gab Gas. »Ach, mir geht
unsere Stadt auf den Zeiger! Immer diese Hektik, diese Hetze! Die
Menschen sind unfreundlich, benutzen die Ellenbogen, haben kein
einziges freundliches Wort füreinander. Auf dem Land ist das ganz
anders…«
»Ach so!« Milo lachte auf. »Das kann ich als Großstadtpflanze
natürlich nicht beurteilen. Ich vergesse ja immer wieder, daß Mr.
Jeremias Trevellian zwischen Kuhfladen und Gänseblümchen
aufgewachsen ist. Was für ein Jammer, daß der FBI nicht auch ein
Field Office in Harpers Village betreibt. Den Laden könntest du
dann ganz allein schmeißen. Und würdest dich zu Tode langweilen,
weil da nie ein Verbrechen passiert.«
»Hast ja recht.« Ich mußte grinsen.
Mein Freund und Dienstpartner hatte mich mit seiner Flachserei
aus meiner trüben Stimmung gerissen. »Aber in einem Punkt irrst du
dich. Es gibt sehr wohl Kriminalität in Harpers Village. Da war zum
Beispiel der legendäre Postraub…«
»Ein Raub überfall auf das Post Office?« fragte Milo
interessiert.
»Nicht ganz. Es war mehr der Einbruch in den Briefkasten der
U.S. Mail auf der Main Street. Fünfundsiebzig Briefe und neun
Postkarten wurden gestohlen.«
Mein Partner grinste. »Jetzt verstehe ich deine Sehnsucht nach
dem Landleben. Manchmal wünschte ich mir auch, wir würden solche
Fälle bearbeiten mügsen. Und uns nicht mit dem organisierten
Verbrechen und durchgedrehten Serienmördern rumschlagen
müssen…«
Inzwischen hatten wir die Federal Plaza in Manhattan erreicht,
wo sich das Field Office des FBI befindet. Ich lenkte den
Sportwagen in die Tiefgarage.
Wir konnten beide zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, daß wir
schon bald in einem abgeschiedenen Dorf landen würden.
Um dort dem Tod ins Auge zu blicken…
***
Fast zärtlich strich die riesige Pranke des Mannes über die
Waffe. Vor wenigen Stunden hatte er einen Special Agent des FBI
kaltblütig und feige von hinten ermordet.
So sah er selbst die Sache natürlich nicht. Für ihn war das
Auslöschen dieses Menschenlebens nicht mehr gewesen als das
Verscheuchen einer lästigen Stechmücke. Für den Mann zählten nur
seine geliebten Waffen. Und jeder, der ihn von ihnen fernhalten
wollte, war des Todes.
›Gun Crazy‹ - Waffenvernarrt lautete der Titel eines Films,
den er vor vielen Jahren gesehen hatte. Eine Abenteuerstory mit
Jonathan Dali und Peggy Cummins als verrücktem Kunstschützenpaar,
das durch seine Waffenleidenschaft zu Verbrechern wird.
Er wußte, daß er selbst inzwischen auch gun grazy war. Und es
wurde immer schlimmer. Aber das störte ihn nicht, im Gegenteil, er
genoß es.
Er hob eine der Waffen aus der Kiste , hielt nun einen 2 2 3er
Maschinenkarabiner LR 300 in den Händen. Ein Schmuckstück seiner
Sammlung, das ursprünglich für die amerikanische Elitetruppe Delta
Force bestimmt gewesen war, dann aber unter mysteriösen Umständen
abhanden kam. Er hatte die LR 300 auf dem Schwarzmark erstanden.
Die anderen Modelle hatte er weiterverkauft, aber diese Waffe hatte
er behalten.
Es handelte sich um eine Weiterentwicklung des Colt M4
Carbine. Ausgestattet mit Trijicon-Leuchtvisier, seitlichem
Klappschaft wie bei der israelischen Galil. Die LR 300 wog leer 3,2
Kilo.
Er verließ die Scheune und visierte die Zielscheibe an, die er
links neben der Scheune auf gestellt hatte.
Er zog den Stecher durch, und die automatische Waffe ratterte
los, spuckte mit 650 Schuß pro Minute Tod und Verderben.
Erbeherrschte die LR 300 mit traumhafter Sicherheit.
Zufrieden stellte er das Feuer ein.
In diesem Moment vibrierte das Handy in der Tasche seiner
Jägerweste. Er zog das Mobiltelefon hervor und meldete sich.
»Ja, hier Questionmark…«
***
Auf meinem Schreibtisch fand ich eine Notiz: Milo und ich
sollten uns sofort nach unserem Eintreffen beim Chef melden. Also
begaben wir uns zu Jonathan D. McKees Büro. Ich kann nicht
behaupten, daß wir die Akten und Vernehmungsprotokolle unserer
letzten Fälle ungern erst mal liegenließen.
»Guten Morgen, Jesse. Guten Morgen, Milo«, begrüßte uns Mandy,
die attraktive dunkelhaarige Sekretärin des Special Agent in
Charge.
Mein Freund und Partner schnupperte. »Was rieche ich da?
Herrlichen frischen Kaffe?«
Mandy lachte. »Ja, ich wußte ja, daß ihr gleich kommen würdet,
und habe deshalb auch sofort neuen Kaffee aufgesetzt. Ich weiß
doch, was Ihr beide morgens als erstes braucht.«
»Was wären wir ohne unsere Droge«, scherzte ich.
Jeden von uns drückte Mandy einen Becher ihres köstlichen
Gebräus in die Hand, dann aber betraten Milo und ich eiligst das
Büro unseres Chefs, denn die Notiz auf meinem Schreibtisch zeigte
an, daß eine dringliche Angelegenheit auf uns wartete.
Mr. McKee blickte auf, als wir sein Büro betraten, nachdem ich
höflich angeklopft hatte. Seine Miene wirkte ernster als sonst. Es
mußte etwas passiert sein, das ihn auch persönlich berührte. Er
erhob sich. Ebenso sein Gast, mit dem er in der Besprechungsecke
seines Büros gesessen hatte.
»Sehr gut, daß Sie da sind«, begrüßte uns der Chef des New
Yorker FBI. »Den Kollegen Harold Nelson kennen Sie ja.«
Wir nickten und gaben nacheinander dem untersetzten Mann mit
dem kleinen Clark-Gable-Schnurrbart die Hand. Er war der Leiter des
FBI Field Office von Albany, das noch zum Staat New York gehört.
Sein Rang entsprach dem von Mr. McKee. Jedes Field Office wird von
einem Special Agent in Charge (SAC) geleitet.
»Sagt Ihnen der Begriff ›Questionmark‹ etwas?« fragte uns der
Mann aus Albany.
»Questionmark - das Fragezeichen! So nennt sich ein
unbekannter Waffenfanatiker« , erwiderte ich grimmig. »Eine Art
Spitz- oder Geheimname, der vor einiger Zeit durch die New Yorker
Presse ging. ›Questionmark‹ wurde verantwortlich gemacht für den
illegalen Import von Scharfschützengewehren.«
»Direkt aus dem Bosnien-Krieg«, ergänzte Milo gallig. »Mit
eingeritzten Originalkerben für jedes Opfer dieser feigen
serbischen Heckenschützen.«
»Richtig, der Name beziehungsweise die Bezeichnung
›Questionmark‹ fiel im Zusammenhang mit dieser üblen Geschichte«,
sagte Mr. McKee. »Clive Caravaggio und Blackfeather haben damals
die Ermittlungen geführt, aber sie haben nicht in Erfahrung bringen
können, wer sich hinter der Bezeichnung ›Questionmark‹ verbirgt.
Dieser große Unbekannte bleibt ein Fragezeichen, wie es der Name
schon zum Ausdruck bringt.«
»So ist es leider«, knurrte Harold Nelson grimmig. Man sah ihm
an, daß i hn dieser Fall bewegte, aber ich fragte mich, warum. Doch
die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Questionmark hat
sein Operationsgebiet in unserem Bezirk, im Staat New York,
Gentlemen. Und vor wenigen Tagen ist ihm einer meiner Männer zum
Opfer gefallen.«
Jetzt verstand ich. Es ist immer besonders hart, wenn es einen
G-man erwischt. Nicht, weil wir die besseren Menschen wären. Das
nicht, doch ein Verbrecher, der einen Bundespolizisten ermordet,
worauf zwangsläufig die Todesstrafe steht, beweist damit, daß er
völlig hemmungslos agiert, keinerlei Rücksichten nimmt, weder auf
sich noch auf andere.
»Hat der Kollege eine konkrete Spur verfolgt?« wollte ich
wissen, nachdem wir den Schock verdaut hatten.
Harold Nelson nickte. »Special Agent Lewis Marshall war
undercover tätig. In einem Dorf mit dem idyllischen Namen Rosepond.
Wir haben Grundzu der Annahme, daß Questionmark dort sein
Hauptquartier hat.«
»Warum?«
»Es ist uns gelungen, eine Nachricht seiner Organisation zu
entschlüsseln, Agent Tucker. Dort war die Rede von einem
Brüdertreffen in Rosepond. Einige Wochen später kam noch eine
zweite Botschaft durch, die wir abfangen konnten. Wieder war von
Rosepond die Rede. Und von einer großen Lieferung, die verteilt
werden sollte. Danach herrschte Funkstille. Wir vermuten, daß die
Bande Verdacht geschöpft und ihren Code geändert haben.«
»Was wissen wir bisher über diese Organisation?«
»Sehr wenig, Agent Trevellian. Es ist ein überregionaler
Zusammenschluß von Waffenfanatikern, die zudem mit illegalen Waffen
handeln. Und was das schlimmste ist: Diese Kerle veranstalten
Schießübungen auf Menschen! Menschen, nach denen keiner fragt.
Obdachlose, illegale Einwanderer und so weiter.«
»Diese Teufel!« knirschte Milo und ballte die Hände zu
Fäusten.
»Agent Marshall muß ganz nahe am Ziel gewesen sein«, fuhr der
SAC aus Albany fort. »Er hatte einen Job als Aushilfe im Drugstore
von Rosepond angenommen. Bei seinem letzten Zwischenbericht machte
er einen ziemlich aufgeregten Eindruck. Redete von Beweisen gegen
›Questionmark‹, die er schon bald in Händen haben würde.
Vierundzwanzig Stunden später war er tot.«
Ich nickte grimmig. »Wir werden alles tun, um Ihnen zu helfen,
Sir. Obwohl ich noch nicht ganz verstanden habe, worin unsere
Aufgabe besteht.«
Der Special Agent in Charge aus Albany zog ein Foto aus seiner
Jackettasche und reichte es mir.
Milo starrte zuerst auf das Foto, dann sah er mich an. »Jesse,
wann hast du dir denn die Haare blond gefärbt? Das steht dir ja
ausnehmend gut.«
»Ich färbe mir die Haare nicht blond. Dann würde ich ja
aussehen wie du. Und wer will das schon«, gab ich zurück, aber ich
betrachtete weiterhin das Bild des Mannes, das Harold Nelson mir
gegeben hatte. Abgesehen von der Haarfarbe sah mir der Blonde
tatsächlich zum Verwechseln ähnlich.
»Wer ist das?« fragte ich den schnurrbärtigen Kollegen.
»Dieser Mann heißt William Carter. Er ist ungefähr so alt wie
Sie, Jesse. Mitte Dreißig. Und wie Sie sehen, ist er Ihnen wie aus
dem Gesicht geschnitten. Das ist auch der Grund, warum ich heute
hier bin.«
»Ich glaube, ich verstehe«, murmelte ich. »Wer genau ist
dieser William Carter, Sir?«
»Lassen Sie mich etwas weiter ausholen, Agent Trevellian,
bevor ich Ihnen eine Antwort auf diese Frage gebe. Wir haben
überlegt, warum unser Kollege Lewis Marshall sterben mußte. Und ich
glaube, der entscheidende Grund dafür war, daß es unglaublich
schwer für einen Agenten ist, in einem so kleinen Dorf wie Rosepond
undercover zu arbeiten. Denn ein Fremder bleibt ein Fremder, auch
wenn er sich nicht als G-man zu erkennen gibt. Und in so einer
kleinen Ortschaft mißtraut man nun mal jedem Fremden.«
»Sie wollen damit sagen…?«
»So ist es, Agent Trevellian - William Carter ist ein
Einheimischer«, bestätigte der SAC aus Albany. »Er hat den größten
Teil seines Lebens in Rosepond verbracht. Wenn Sie an seiner Stelle
in dieses verdammte Waffenfanatiker-Nest zurückkehren, wird kaum
einer Ihnen mit Mißtrauen begegnen, denn als William Carter gehören
Sie einfach dazu.«
»Und was ist mit dem echten William Carter?« wollte Milo
wissen. »Er hat Dreck am Stecken, richtig? Deshalb ist er dem FBI
auch bekannt, stimmt’s?«
Harold Nelson schüttelte den Kopf. »Nein, nicht direkt. Carter
ist mal Zeuge bei einem Kokain-Deal gewesen und hat gegen die
Dealer ausgesagt. Wir mußten ihn damals durchleuchten, um seine
Glaubwürdigkeit zu checken. Damit der Anwalt der I )ealer-Bande ihn
nicht vor Gericht auseinandemimmt. Aber unser William Carter ist
eine ehrliche Haut. Und das beste: Erwirduns garantiert nicht in
die Quere kommen. Er arbeitet nämlich in der Erdölbranche. Auf
einer Bohrplattform vor der Küste von Kolumbien.«
»Der echte William Carter ist bereits informiert«, ergänzte
Mr. McKee. »Es freut ihn, daß er dem FBI helfen kann. Es besteht
keine Gefahr, daß er Sie auffliegen läßt, Jesse. Sie werden also in
Ihr ›Heimatdorf‹ Rosepond zurückkehren. In Ihrer Begleitung ein
gewisser Milo Tucker, den Sie bei der Arbeit auf der Ölplattform
kennengelernt haben.«
Milo und ich waren einverstanden.
»Wir werden mit dem größten Vergnügen diesen sauberen Mr.
›Questionmark‹ und seine Gang auffliegen lassen«, knurrte
ich.
***
Das Signal der Amtrak-Lokomotive dröhnte so laut, daß die
Aluminiumverkleidung des Güterwaggons zu vibrieren schien. Beano
Norwood störte der Lärm nicht. Er hatte gelernt, selbst beim
größten Krach ungestört weiterzuschlafen. Diese Fähigkeit gehörte
zu den wichtigsten Künsten eines Schienentramps.
Und als ein solcher war der Mittfünfziger mit den
Gesichtszügen eines Siebzigjährigen schon fast ein Jahrzehnt
unterwegs. Er kannte alle Eisenbahnstrecken der USA in- und
auswendig. Von Küste zu Küste war er bereits gereist. Immer ohne
Fahrschein. Denn in den zugigen Frachtwaggons ließ sich kein
Ticketkontrolleur blicken. Dafür um so öfter die ruppigen Burschen
von der Amtrak-Security, die mit ihren Gummiknüppeln die
Habenichtse vertrieben. Aber das war eine ermüdende und
frustrierende Arbeit. Für jeden Tramp, den die Wachen verjagten,
sprangen auf der unbeobachteten Seite des Schienenstrangs zehn neue
auf den Zug. Irgendwann gaben die Security Guards dann jedesmal
entnervt auf. Man mußte bloß aufpassen, daß man nicht in die
Reichweite ihrer Schlaginstrumente kam. Aber auch damit kannte sich
Beano Norwood aus.
Das Morgengrauen und sein leerer Magen hatten den Tramp aus
dem Schlaf gerissen, nicht das schrille Signal der Lok. Er hob
seinen struppigen Kopf und blickte durch die offenstehende
Schiebetür des leeren Güterwaggons nach draußen. Wälder, vermutlich
die Catskill Mountains. Und am Horizont die Lichter eines
Dorfes.
Beano Norwood sagte sich, daß er ein Frühstück vertragen
könnte. Günstigerweise fuhr der Güterzug gerade fast
Schrittempo.
»Adios, Muchachos!« rief der altgediente Herumtreiber seinen
mexikanischen Mitreisenden zu. Ihr Risiko bei den illegalen Trips
war noch viel größer als seins. Wenn die Cops sie auf griffen,
würde man sie schneller in ihre Heimat abschieben, als sie
›Tortilla‹ sagen konnten.
Eine solche Gefahr bestand bei Beano Norwood nicht. Er war ein
waschechter Amerikaner, und er hatte in Vietnam sogar seinen Arsch
fürs Vaterland hingehalten. Nur hatte man ihm das schlecht gedankt.
Nach der Rückkehr in die Staaten war ein bürgerliches Leben für ihn
nicht mehr möglich gewesen. Wie für so viele seiner Kameraden auch,
dafür hatten sie zuviel gesehen und miterlebt.
Der Tramp sprang mit routinierten Bewegungen von dem fahrenden
Zug und ließ sich die Böschung hinabrollen. Es war noch kalt.
Bodennebel wallte. Das störte Beano Norwood nicht. Da hatte er
schon ganz andere Temperaturen erlebt. Bei seinen Touren durch die
kanadischen Provinzen Manitoba und Alberta… Ihm fror schon beim
bloßen Gedanken an diese Zeit, und er spürte dabei ein unangenehmes
Kribbeln in den Zehen. Aber seltsamerweise in jenen Zehen, die er
nicht mehr hatte, denn ein paar waren ihm in dem nördlichen
Nachbarland'der USA abgefroren Eine Weile stapfte der Mann ohne
Heimat dem Schienenstrang entlang. Dann gelangte er auf einen
Feldweg. Durch die dicht stehenden Bäume eines Waldes sah er wieder
die Lichter des Dorfes schimmern. Sie schienen ihm nun schon viel
näher.
Beano Norwood pfiff eine Melodie vor sich hin. Ein
Country-Song. ›King of the road.‹ So kam er sich auch oft vor, wie
der König der Landstraße. Er bereute es nicht, daß er nach seiner
Zeit in Nam nicht mehr ins Arbeitsleben zurückgekehrt war. Was
brauchte er denn schon, um glücklich zu sein? Nicht mehr als ’nen
Platz zum Pennen und eine Büchse Bohnen. Daher auch sein Spitzname
Beano.
Keuchend kämpfte sich der Tramp einen leicht ansteigenden
Hügel empor, dann durchquerte er den Wald, hinter dem das Dorf
liegen mußte. Die Vögel waren schon aufgewacht und hatten mit ihrem
Morgenkonzert begonnen.
Doch ihr Gezwitscher verstummte, als es plötzlich grell
krachte!
Ein Hochgeschwindigkeitsgeschoß schlug unmittelbar neben
Norwood in den Stamm eines Baumes!
Schlagartig waren die alten Reflexe wieder da, die dem
Vietnam-Veteran damals in dem fernen asiatischen Land am Leben
gehalten hatten. Er sprang zu Boden, rollte sich geschickt ab und
verschwand einen Herzschlag später im Unterholz.
Und dann hörte er sie kommen. Das Rascheln und Knacken von
Zweigen. Halblaut gebellte Befehle. .
Aber diesmal war es nicht ›Charly‹, der verhaßte Vietcong, der
ihm ans Leben wollte. Diesmal waren es seine eigenen amerikanischen
Landsleute, denen offenbar seine Nase nicht paßte. Und die sich
deshalb entschlossen hatten, sie mit einer Kugel zu
zertrümmern!
Beano Norwood arbeitete sich vor. Er kannte das Spiel. Wenn
sie ihn erst eingekreist hatten, war er verloren. Und diesmal hatte
er keinen Funker in der Nähe, der Helikopterunterstützung anfordern
konnte, um die kleinen gelben Teufel in den schwarzen Pyjamas zum
Teufel zu jagen. Nein, diesmal war er ganz auf sich gestellt.
Und - verdammt! -niemand würde sich darum scheren, wenn wieder
mal ein Herumtreiber den Löffel abgab, da gab sich der Tramp keinen
Illusionen hin.
Eine weitere Kugel jagte in seiner Nähe durch die Zweige.
Norwood kannte sich aus. Seine unsichtbaren Feinde mußten über
Nachtsichtgeräte verfügen. Denn noch war es zu diesig und dämmerig,
um wirklich gutes Schußlicht zu haben.
Der Landstreicher sprang auf und hetzte los. Seine einzige
Hoffnung war das Dorf. Er mußte es erreichen, bevor ihn diese
verdammten Hinterwäldler eingekreist hatten! Diese dreckigen
Mörder! Er gönnte ihnen den Triumph nicht, ihn krepieren zu
sehen!
Norwood erreichte gerade noch rechtzeitig einen Baumstamm, als
eine Garbe aus einer automatischen Waffe heranjagte. Sie fräste in
das Holz des Stammes. Der Gejagte hielt sich nicht lange auf, glitt
zu Boden und bewegte sich auf Ellenbogen und Knien weiter.
Er kannte den Sound dieser MPi. Es war das AK-47-Sturmgewehr
aus der russischen Kalaschnikow-Produktion. Eine Waffe, mit der man
schon auf der ganzen Welt auf amerikanische Soldaten geschossen
hatte.
Und jetzt sogar in den Catskill Mountains! dachte der Tramp
mit bitterer Ironie, während er sich weiter auf die Lichter des so
idyllisch daliegenden Ortes zu bewegte. Und sich nichts sehnlicher
wünschte, als jetzt seine alte Schnellfeuerknarre bei sich zu
haben. Um sich hier nicht wehrlos abschlachten lassen zu
müssen.
Verdammt - dafür hatte er diesen Scheiß-Krieg damals
schließlich nicht überlebt!
Wieder flogen ihm die Kugel um die Ohren. Diesmal schossen sie
aus mehreren Rohren. Sein geübtes Gehör unterschied den Sound von
mindestens drei verschiedenen Knarren Gewehre und MPis, die sich
auf ihn eingeschossen hatten.
Norwood sprang nun auf, lief geduckt, änderte dann
überraschend die Richtung. Diese Arschlöcher würden es noch
bereuen, sich mit ihm angelegt zu haben. Er wußte zwar noch nicht
genau, wie er’s diesen Hunden besorgen sollte, aber sie würden
erfahren, daß man sich besser nicht mit ihm anlegte. Sie
würden…
»Aaaah!«
Ein Schmerzensschrei gellte über seine aufgesprungenen Lippen,
als eines der Geschosse in sein linkes Ellenbogengelenk
schlug.
Der Schmerz ließ ihn erkennen, daß er nicht unverwundbar war,
und plötzlich flammte helle Panik in ihm auf.
Weg hier! rief eine innere Stimme. Raus aus diesem
Todeswald!
Und dann sah er die ersten Häuser des Ortes, und dieser
Anblick mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Laut brüllend
stolperte er auf die Straße.
»Hilfe! Mörder! Zu Hilfe!«
Sein Gebrüll war laut genug, um ein ganzes Regiment U.S.
Marines nach dem Freitagabend-Besäufnis aus dem Schlaf zu reißen.
Sein ehemaliger Drill Instructor hätte ihn um diese
Kasernenhof-Stimme beneidet.
Doch nichts regte sich in diesem üblen Kaff. Niemand schien
ihn zu hören - oder hören zu wollen!
»Aaaaah!«
Als eine weitere Kugel in seinen Oberschenkel einschlug,
drohten ihm die Sinne zu schwinden. Er torkelte wie ein Betrunkener
über die Main Street und schrie jetzt wie am Spieß. Um diese
Tageszeit war noch kein Fahrzeug unterwegs. Die Ampel an der
einzigen Kreuzung des Ortes blinkte nur gelb.
Da! Das Sheriff's Office! Trotz seiner schweren Verletzungen
hatte Beano Norwood noch nicht auf gegeben. Der Sheriff mußte ihm
helfen! Er mußte einfach!
»Sheriff!« brüllte der Tramp mit einer heiseren, fast
unmenschlich klingenden Stimme. »Sheriff-Hilfe! Hilfe,
verdammt!«
In diesem Moment schlug eine weitere Kugel genau zwischen die
Schulterblätter in seinen Rücken. Beano Norwood spuckte Blut.
Dann fiel sein toter Körper auf die staubige Straße…
Die drei feigen Mörder näherten sich dem Toten, ihre noch
rauchenden Waffen in Händen.
»Ein Meisterschuß, Questionmark!« sagte einer der gemeinen
Killer zu ihrem Anführer, und der Angesprochene nickte
geschmeichelt.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Sheriff's Office,
und der Ordnungshüter von Rosepond trat nach draußen, während er
seinen Revolvergurt schloß. Er warf erst einen Blick auf den toten
Obdachlosen mitten auf der Main Street, dann sah er die Männer an,
die den armen Kerl auf dem Gewissen hatten.
Er grinste und drohte ihnen scherzhaft mit dem
Zeigefinger…
***
Milo und ich stiegen an der Port Authority Bus Station in New
York in einen Greyhound-Bus mit dem Ziel Albany. Der einmal am Tag
verkehrende Bus stellte die einzige Verbindung Roseponds zur
Außenwelt dar.
Der Greyhound war halb leer, obwohl diese Überland-Riesen das
meistgebrauchte Verkehrsmittel der Amerikaner mit schmalem
Geldbeutel sind. Wir hatten überlegt, ob wir nicht lieber einen
Wagen aus dem FBI-Fuhrpark nehmen sollten. Aber dann hatten wir uns
aus Gründen der Tarnung für den Bus entschieden. Kein
Ex-Bohrinsel-Arbeiter würde sich in New York einen Wagen kaufen,
wenn er seinen Heimatort in der tiefsten Provinz ansteuert. Erstens
sind Autos auf dem Dorf viel billiger, und zweitens hält sich unter
Hinterwäldlern das hartnäckige Gerücht, in New York City beim
Gebrauchtwagenkauf über den Tisch gezogen zu werden. Ein Gerücht,
das - zugegeben - wie so viele andere einen wahren Kern hat.
Milo und ich glichen uns an diesem Morgen ziemlich stark. Für
meine Tarnung als William Carter hatte ich mir natürlich von
unserem Maskenbildner Windermeere die Haare blond färben lassen.
Und beide trugen wir selbstverständlich nicht dezente dunkle
Anzügen, wie man es von FBI-Agenten erwartet, sondern Jeans,
Karohemden und abgewetzte Lederjacken. Milo hatte seine Kluft noch
mit einer Baseballkappe der New York Yankees komplettiert. Und
jeder von uns hatte einen Seesack in das Gepäckfach des Greyhounds
gewuchtet.
»Good bye, geliebtes New York!« seufzte mein Freund und
Partner theatralisch, als wir in unseren Polstern zurückgelehnt
saßen und sich der Bus Richtung Upstate New York in Bewegung
setzte.
»Nun übertreib mal nicht«, brummte ich. »Schließlich verlassen
wir noch nicht mal den Boden unseres Heimatstaates!«
»Du weißt eben nicht, wie das ist, Jeremias«, behauptete Milo.
»Ich als Großstadtkind mitten zwischen Kuhfladen und Milchkannen!
Du wirst mich an der Hand nehmen müssen. Ich habe mich auf dem Land
noch nie zurechtgefunden.«
»Dann müssen wir den Fall schnell lösen«, raunte ich ihm zu.
»Damit du endlich wieder deine geliebten gelben Taxis und miefenden
U-Bahnschächte genießen kannst.«
»Dafür wäre ich dankbar«, gab der naturblonde G-man
übertrieben ernsthaft zurück. »Wenn ich allein an die vielen
Maulwurfshügel denke, über die man stolpern kann…« Er grinste.
»Aber für dich als Landjungen ist die Tarnung als William Carter
natürlich perfekt.«
Er spielte auf meine Herkunft aus Harpers Village,
Connecticut, an.
»Wollen wir’s hoffen«, erwiderte ich. »Gestern habe ich noch
auf Staatskosten ein langes Ferngespräch mit dem echten Carter
geführt. Er hat mir von den wichtigsten Persönlichkeiten in
Rosepond erzählt. Und mit wem er früher so rumgehangen hat.«
»Hat unser fleißiger Ölprinz eigentlich noch Familie?«
erkundigte sich Milo.
Ich schüttelte den Kopf. »Seine Eltern sind vor Jahren bei
einem Autounfall getötet worden. Es gibt noch eine Großtante, aber
die ist fast blind und ziemlich taub. Also wohl keine Gefahr für
unsere Tarnung.«
»Auch das wollen wir mal hoffen«, erwiderte mein Partner und
warf einen schicksalsergebenen Blick auf das Schild, das die
Stadtgrenze von New York City anzeigte. »Denn du weißt selbst, daß
wir in Rosepond ganz auf uns allein gestellt sein werden.«
Allerdings, das wußte ich. Und'ich kannte auch das Risiko, das
wir mit unserer Unternehmung eingingen.
Wir waren sozusagen auf dem Weg undercover in die Hölle…
***
›Questionmark‹ - das Fragezeichen -hatte seine Leute voll im
Griff. Ein knapper Befehl hatte gereicht, und der tote Tramp war
beseitigt worden. Irgendwo im Wald wurde er verscharrt. Kein Hahn
würde jemals nach ihm krähen.
In der unmenschlichen Logik des feigen Mörders waren Leute wie
Beano Norwood nur lebende Ziele. Über deren Schicksal mußte man
sich keine Gedanken machen. In dieser Beziehung hatte der
Waffenfanatiker keine Probleme, seine schwarze Seele kannte da
keine Reue oder Gewissensbisse.
Nur dieser G-man bereitete ihm Kopfzerbrechen. ›Questionmark‹
hatte schon länger befürchtet, daß der FBI hinter ihm her war. Und
wie viele andere nicht gesetzestreue Amerikaner hatte
›Questionmark‹ einen höllischen Respekt vor der Bundespolizei, die
als die wohl beste Polizeitruppe der Welt gilt.
Ausgerechnet jetzt! dachte der Anführer des Waffenclans, als
er seine neuesten Informationen, die er über Internet erhielt,
studierte. Er hatte sich erfolgreich um tragbare Raketengeschosse
bemüht, wie sie von den muslimischen- Widerstandskämpfern in
Afghanistan gegen die russischen Invasoren eingesetzt worden waren
Und zwar mit verheerenden Wirkungen für die
Sowjet-Hubschrauber.
In wenigen Tagen würde ihm die illegale Fracht geliefert
werden. Wenn dann der FBI hier in Rosepond herumschnüffelte…
Mißgelaunt schlürfte ›Questionmark‹ seinen Kaffee.
Es klopfte an die Tür.
»Come in!«
Ein Mann in einer Khakiuniform schob seinen massigen Körper in
das Büro.
Sheriff Larry Branagan.
Seines Zeichens oberster Gesetzeshüter von Rosepond. Und dem
waffenvernarrten Mörder genauso hörig und ergeben wie fast alle
anderen hier im Ort.
›Questionmark‹ blickte auf. »Gibt es Neuigkeiten von den
G-men?«
Der Sheriff grinste schmierig. »Die Schlipsträger aus
Washington halten sich bedeckt. Ich habe auf offiziellen Kanälen
noch nicht mal eine Nachricht darüber erhalten, daß es einen von
ihnen beim Schnüffeln hier erwischt haben.«
›Questionmark‹ lehnte sich in seinem Bürosessel zurück. »Ob
die was ahnen?«
Der Mann im Uniformhemd und mit dem Doppelkinn zuckte mit den
fetten Schultern. »Diese Typen sind immer große Geheimniskrämer.
Glauben Sie mir, ich kenne diese Brüder. Aber wir haben trotzdem
immer noch gute Karten.« Er warf sich in seine Brust. Obwohl man
besser hätte sagen können: In seinen Bauch. »Schließlich bin ich
hier in Rosepond das Gesetz! Und an mir kommt so leicht keiner
vorbei. Dieser G-man, dieser Lewis Marshall, war mir vom ersten Tag
an verdächtig. Deshalb habe ich Sie ja auch sofort gewarnt. Ich
habe in meinem linken großen Zeh gespürt, daß der Typ ein getarnter
Fed war!«
Und er blickte an sich herab, als ob er seine Füße unter der
gewaltigen Bauchwölbung tatsächlich noch würde sehen können.
»Du mußt jedenfalls die Augen offenhalten«, sagte
›Questionmark‹ und warf dem Sheriff einen warnenden Blick zu. »Ich
bezahle dich nicht aus purer Nächstenliebe so erstklassig. Wenn
irgendeine verdächtige Figur hier auf taucht, dann muß sie
kaltgestellt werden. Und zwar ohne, daß ein Verdacht auf uns fällt.
Kapiert?«
»Klar, Boß!« Ein selbstzufriedenes Grinsen erschien auf dem
Mondgesicht des Ordnungshüters. »Aber dann müssen Sie selbst auch
ein wenig bei Ihren Schießübungen aufpassen.«
›Questionmarks‹ Kopf lief rot an. Er liebte es nicht, wenn ihn
jemand kritisierte. Ganz egal, wer es war.
Deshalb beeilte sich der Sheriff, unterwürfig hinzuzufügen:
»Ich meine, solange Sie sich solche Penner wie den heute früh als
Zielscheibe suchen, ist alles okey-dokey. Denen weint keiner eine
Träne nach…«
***
Es war schon heller Nachmittag, als unser Greyhound langsam
über die Main Street von Rosepond rollte. Die mächtigen
Druckluftbremsen zischten, und der Bus kam an der kleinen
Haltestelle zum Stehen.
Der Busfahrer stieg aus, um uns den Gepäckraum zu öffnen. Wie
sich zeigte, waren Milo und ich die einzigen Passagiere, die hier
aussteigen wollten.
»Rosepond, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen«, murmelte
der Mann von der Greyhound-Gesellschaft. »Wenn Sie Ruhe suchen -
die werden Sie hier finden.«
Da irrte er sich total, wie sich schon sehr bald zeigen
sollte.
»Ich weiß, Mann«, erwiderte ich. Dabei bemühte ich mich, meine
Rolle als William Carter überzeugend zu spielen. »Rosepond ist
meine Heimat. Ich bin hier geboren und auf gewachsen.«
»Jesses, ist das wahr? Dann nichts für ungut, Mister!«
Und damit machte der Bus-Driver, daß er wieder auf seinen Sitz
kam. Die Tür schloß sich, und außer einer Staubwolke blieb nichts
zurück von dem langgestreckten Geschoß aus blitzendem
Aluminium.
Milo gähnte und streckte sich. Wir beide waren ziemlich
schlapp vom langen Sitzen in dem schaukelnden Bus. Nichts für
action-gewohnte G-men. Mein Freund blickte die Main Street hinauf
und hinunter.
Rosepond unterschied sich in nichts von Zehntausenden anderer
Dorf-Idyllen in den USA. Es gab einen Drugstore, einen riesigen
Supermarkt und eine weiß gestrichene Kirche. Gegenüber von dem
Gotteshaus befand sich ein winziger Park mit einer steinernen
Skulptur eines Bürgerkriegsgenerals, wahlweise Sherman oder Grant,
hier im Norden natürlich der berühmte Nordstaatler General Grant.
Ein Stück weiter wies eine Neonreklame auf ein Diner hin. Der
Treffpunkt der Dorfjugend. Samstagabends hingen sie hier rum und
tranken verbotenerweise Bier. Und das alles unter den Augen des
Sheriffs, der praktischerweise sein Office gleich nebenan
hatte.
Ich kannte mich aus. Schließlich bin ich ja selbst in einem
Dorf aufgewachsen.
»Und was machen wir jetzt, William?« fragte Milo. Wir hatten
vereinbart, daß er mich nur noch ›William‹ nennen würde, sobald wir
in Rosepond angekommen waren.
»Na, was schon?« erwiderte ich. »Wir suchen uns Arbeit, Milo!
Die gebratenen Tauben werden uns hier nicht in den Mund
fliegen!«
Wir nahmen unsere Seesäcke auf und machten uns breitbeinig auf
den Weg Richtung Norden. Wie zwei Cowboys.Ich hatte mich in New
York so ausgiebig wie möglich über die Geographie des Dorfes schlau
gemacht. Daher wußte ich, daß sich ein Stück weiter das Mayor's
Office befand, das Bürgermeisteramt, wo neben vielen anderen
offiziellen Services auch freie Jobs angeboten wurden. Eine
spezielle Arbeitsvermittlung gab es in einem solchen kleinen Ort
nicht.
»Und als nächstes halten wir nach einer Bude Ausschau«,
kündigte ich an. »An der County Road Richtung Clarkwell gibt es
einen Trailer Park, wo wir…«
Weiter kam ich nicht. Denn in diesem Moment schoß ein
muskulöser Arm durch die offene Tür von ›Chuckie's Bar‹, an der wir
gerade Vorbeigehen wollten, und eine riesige Faust traf mich mit
voller Wucht am Kopf.
***
»Sieht nach Regen aus«, meinte Chuckie und tauchte ein
Bierglas ins Abwaschwasser. Dabei reckte sich der kleine Gastronom
und stellte sich auf seine Zehenspitzen. Als ob er dadurch den
schweren Himmel über der kleinen Stadt besser sehen könnte. Die
Aussicht durch die offene Tür seiner Bar bot ohnehin seit zwanzig
Jahren denselben Ausblick. Den Teil der Main Street zwischen dem
Greyhound-Haltepunkt und der Schule.
Herb Bronkowitz rutschte mit seinem schweren Körper auf dem
Barhocker hin und her. Er machte sich noch nicht mal die Mühe, zu
antworten. Das sechste Budweiser dieses Tages war gerade dabei, ihm
angenehm den Schädel zu vernebeln. Langsam fiel der Streß von ihm
ab, den er in den vergangenen drei Wochen auf gestaut hatte, als
der Polier bei der Fertigstellung eines Rohbaus in Chattanooga
seine Maurer durch die Baustelle hatte prügeln müssen, um den
Termin einzuhalten. So manches Mal war dem temperamentvollen
Vorarbeiter die Hand oder vielmehr die Faust ausgerutscht. Aber
irgendwie hatte er seine Boys immer wieder zur Räson bringen
können. Und der Auftrag war termingerecht abgeschlossen
worden.
»Mein bester Mann!« hatte der Architekt über Herb Bronkowitz
gesagt. Und bei diesen Worten war der untersetzte Sohn polnischer
Einwanderer innerlich um mindestens drei Inches gewachsen.
Und nun saß er in seinem Heimatdorf an seiner Lieblingstheke
und feierte den Erfolg auf seine Art. Indem er sich vollaufen ließ.
Er hatte noch eine ganze Woche Zeit, bis ihn sein nächster Job nach
New York City führen würde.
Chuckie, der Besitzer der Bar, gab sich keine große Mühe, das
Gespräch in Gang zu halten. Wie die meisten seiner Mitbürger kannte
er Herb Bronkowitz seit früher Kindheit. Deshalb wußte er, daß der
kraftstrotzende Polier alles andere als ein genialer Entertainer
war. Überhaupt ein Zeitgenosse, dem man besser nicht auf die Nerven
ging. Denn wenn Bronkowitz einmal richtig ausrastete, dann flogen
die Fetzen.
Der Barkeeper summte den neuesten Country-Song von Dolly
Parton mit. Die lokale Radiostation brachte ausschließlich
Western-Musik. Weil das die einzige Musik war, die die Einwohner
von Rosepond wirklich mochten.
Wie eine Geisterstadt lag das Dorf vor den Fenstern der fast
leeren Bar. Nichts rührte sich.
Aber dann passierte doch etwas. Der Greyhound Bus aus New York
City rauschte fahrplangemäß an ›Chuckie's Bar‹ vorbei. Der kleine
Barkeeper kletterte auf die untere Verstrebung seines Hockers. Er
wollte sehen, ob jemand ausstieg. Viel mehr Abwechslung hatte er
nicht zu erwarten, bis um sechs Uhr nachmittags im Sägewerk die
Feierabendsirene dröhnte und die durstigen Arbeiter von den
Maschinen an seine Theke wechselten wie jeden Abend.
Tatsächlich stiegen zwei Männer hier in Rosepond aus dem
Bus.
»Sieh mal!« Erneut versucht der Kleine, die Aufmerksamkeit
seines gelangweilten Gastes zu erregen. »Ist das nicht William
Carter, der da gerade mit dem Bus geklettert ist?«
Sofort bereute der Wirt seine Worte. Denn ihm fiel die alte
Eifersuchtsgeschichte zwischen Herb Bronkowitz und William Carter
wieder ein. Wie oft hatten sich die beiden Männer deswegen
gegenseitig die Visage poliert.
Oft genug jedenfalls in seiner Bar. Zwar waren sie hinterher
brüderlich für den Schaden aufgekommen, aber er, Chuckie, hatte
trotzdem den Ärger gehabt mit der kaputten Einrichtung und den
Lieferschwierigkeiten seines Gastronomie-Großhändlers für die
zerschlagene Zapfanlage.
Am liebsten hätte sich Chuckie die Zunge abgebissen. Doch
dafür war es nun zu spät.
In den kleinen tückischen Augen des Poliers blitzte es
aggressiv auf. Er wandte seinen mächtigen Schädel wie ein
Raubsaurier auf der Kinoleinwand. Wie die meisten Amerikaner hatte
Chuckie natürlich ›Jurassic Park‹ von Steven Spielberg gesehen.
Lange genug gelaufen war der Streifen ja im einzigen Kino von
Rosepond. Und so unberechenbar wie die Urzeit-Bestien kam ihm sein
Gast in diesem Moment vor. Wie ein Tyrannosaurus Rex auf
Raubzug.
»William Carter«, wiederholte Herb Bronkowitz mit fast schon
träumerischer Brutalität. »Er ist also zurückgekehrt. Dieser Arsch
weiß wirklich nicht, was gut für ihn ist.«
Der Barkeeper schluckte trocken. Ihm persönlich war es
herzlich egal, wenn sich Carter und Bronkowitz gegenseitig die
Schädel einschlugen. Nur möglichst nicht in seiner Bar. Er
überlegte fieberhaft, wie er dieses Unheil ab wenden konnte, ohne
daß sein Gast sofort bemerkte, daß es ihm nur um die Einrichtung
ging.
»Gib mir noch ’n Bier!« kommandierte Bronkowitz.
Eilfertig kam Chuckie der Aufforderung nach und fischte eine
eisgekühlte Flasche aus dem Kühlschrank.
»Viel-vielleicht solltest du ihn jetzt gleich begrüßen, Herb«,
stammelte der Barkeeper. »Damit er sofort schnallt, daß er hier
nicht willkommen ist.« Ihm selbst war William Carter genauso recht
wie jeder andere Gast auch. Aber das sagte er dem cholerischen
Polier natürlich nicht.
Bronkowitz grinste, wobei er zwei fast vollständige Reihen mit
gelben Hauern sehen ließ. »Gute Idee, Chuckie-Boy!«
Mit diesen Worten packte er die Bierflasche und stürzte ihren
Inhalt mit einem Zug hinunter. Danach umfaßte er mit seiner großen
Pranke ihren Hals, zerschlug die Flasche an der Theke. Der Kleine
kniff die Augen zusammen, als ihm die Scherben um die Ohren
flogen.
Die abgebrochene Flasche ragte aus der Faust des Poliers wie
ein Dreizack des Todes. Triumphierend hielt er sie dem Barkeeper
unter die Nase.
»Hier siehst du einen guten Grund, warum dieser Hurensohn
Carter samt seinem Kumpel gleich wieder in den nächsten Greyhound
steigen wird!«
Chuckie schluckte trocken. Ihm stand der Angstschweiß auf der
Stirn.
Sein Gast glitt vom Hocker und stapfte zur offenstehenden
Tür.
Inzwischen waren William Carter und der unbekannte andere
blonde Mann schon fast auf der Höhe der Bar angelangt.
Zähneknirschend glotzte Bronkowitz auf den zackigen
Flaschenhals in seiner linken Hand. Doch irgend etwas schien ihn
davon abzuhalten, die gemeine Waffe sofort einzusetzen.
Er stellte sich neben dem Türstock in Positur. Unsichtbar für
die beiden Männer, die soeben an ›Chuckie's Bar‹ Vorbeigehen
wollten.
Als der vermeintliche William Carter auf Armeslänge
herangekommen war, drosch der Polier zu.
***
Der Fausthieb traf mich völlig unerwartet. Riß mich von den
Beinen. Für einen Moment tanzten feurigrote Gluträder vor meinen
Augen. Der Schlag hätte einen ausgewachsenen Stier umhauen können.
Aber zum Glück habe ich durch meinen Job als G-man genug
›Training‹, wenn es darum geht, Faustschläge zu verdauen. Wie oft
hatte man mich schon in düsteren Seitengassen oder schummrigen
Hinterhöfen zusammengeschlagen? Da lernt man mit der Zeit, einiges
einzustecken. Das muß man, oder man geht unter.
Aber zunächst segelte ich der Länge nach auf die Fahrbahn der
Main Street. Zum Glück kam gerade kein Auto vorbei.
Nun war auch der Mann aus der Bar getreten, zu dem die Faust
gehörte, die mein Gesicht so liebevoll geküßt hatte. Sofort wollte
sich mein Freund auf den Schläger stürzen.
»Laß das, Milo!« rief ich, während tausend kleine Zwerge mit
ihren Hämmerchen die Zerstörungsarbeit in meinem Hinterkopf
aüfnahmen. »Das ist eine Sache zwischen Herb und mir!«
Denn als ich meinen unbekannten Gegner mit der abgebrochenen
Flasche in der Hand anrollen sah, wurde mir klar, daß dieser Typ
niemand anderes als Herb Bronkowitz sein mußte. Der Erzfeind von
William Carter.
›Vor dem müssen Sie sich in acht nehmen, Trevellian !‹ hatte
mich mein Doppelgänger gewarnt. ›Bronkowitz ist der übelste
Schlägertyp von ganz Rosepond. Ich habe schon im Kindergarten Zoff
mit ihm gehabt. Später auf der McKee School ging es dann weiter. Es
kommt mir so vor, als hätte ich mich mein halbes Leben lang mit
Bronkowitz geprügelt .‹
›Na schön‹, hatte ich gebrummt, ›und wer hat gewonnen?‹
›Mal der eine, mal der andere.‹
»Seit wann kämpfst du denn fair, Carter?« höhnte nun das
Kraftpaket, während es auf mich zustapfte. »Du hast doch sonst
immer mindestens sechs Kumpels dabei.«
»Zählen war ja noch nie deine Stärke!« behauptete ich, während
ich auf die Beine kam und meine Fäuste hochriß. »Seit wann brauche
ich Freunde, um einen Waschlappen wie Herb Bronkowitz zu
besiegen?«
In seinen Augen funkelte es. Er schien nun keine Hemmungen
mehr zu haben, seine abgebrochene Flasche einzusetzen. Das war auch
richtig so. Ich hatte ihn aus der Reserve locken wollen, um die
Sache schnell hinter mich zu bringen und ein für allemal aus der
Welt zu schaffen. Wir waren nicht nach Rosepond gekommen, um uns in
Kneipenschlägereien aufzureiben. Es ging darum, den Mörder eines
Kollegen zu überführen. Und einen Waffenschmugglerring zu
zerschlagen.
Carters Erzfeind grölte wie ein Wikinger im Blutrausch und
stürmte mit erhobener Flasche auf mich zu. Ich duckte mich unter
seinem Angriff weg und schlug als Konter ein paar knallharte
Leberhaken. Die scharfkantigen Scherben schlitzten nur die gesunde
Landluft von Rosepond.
Ich bemerkte, daß Milo sprungbereit war, um mir beizustehen.
Mit einem Handzeichen hielt ich ihn zurück. Er grinste und
verstand, daß ich allein mit diesem Mann fertig werden
wollte.
Zunächst machte es mir mein Gegner nicht leicht. Immer wieder
mußte ich den scharfen Kanten des Flaschenhalses ausweichen.
Dadurch kam ich nicht richtig an ihn heran.
Bis er für einen Moment seine Deckung vernachlässigte. Ich
nutzte die Gelegenheit. Und schoß einen gewaltigen Fußtritt in
seinen Magen ab.
Inzwischen hatten wir Publikum für unsere Kampf darbietung.
Einen kleinen Mann. Sein schwarzer Querbinder und die halbwegs
weiße Schürze wiesen ihn als Barkeeper aus. Und drei schon ziemlich
wacklige Oldtimer, die nebeneinander auf einer Bank hockten wie
neugierige Geier.
Meine Faust krachte in den Rippenbogen von Bronkowitz. Im
nächsten Moment mußte ich mich wieder zurückziehen, um seiner Waffe
kein Ziel zu bieten. Ich riß mein Knie hoch, blockte damit einen
gemeinen Fußtritt von ihm ab.
»Verfluchter Bastard!« brüllte mein Gegner.
Nun übernahm ich die Offensive. Mit den Unterarmen schaffte
ich es, seine Schläge mit dem abgebrochenen Flaschenhals
abzublocken. Während mein linker Arm ganz der Verteidigung diente,
krachte meine rechte Faust aber auch immer wieder auf sein Kinn und
auf seinen Solarplexus.
Das ging ganz gut, bis mich ein unerwarteter Kopfstoß des
Poliers aus dem Konzept brachte. Ich biß mir auf die Lippe und
spürte, wie sich mein Mund mit Blut füllte. Ich taumelte einen
Schritt zurück, knickte mit dem Fuß um und stürzte wieder auf die
Fahrbahn.
Auf heulend vor Begeisterung wollte Bronkowitz die
Flaschenscherben wieder auf mich niedersausen lassen.
Doch bevor Milo oder jemand anders eingreifen konnte, tauchte
plötzlich eine rundliche Gestalt in Uniform auf. Und schlug mit
einem Gummiknüppel dem Polier den abgebrochenen Flaschenhals aus
der Hand.
»Laß den Quatsch, Herb!« brummte der Hinzugekommene. Es mußte
sich um Sheriff Larry Branagan handeln. Er entsprach genau der
Beschreibung, die mir William Carter am Telefon gegeben hatte. Nach
der Einschätzung meines Doppelgängers mußte der Gesetzeshüter
schwer in Ordnung sein. In diesem Moment tat er jedenfalls genau
das Richtige.
Er drückte den vor Wut rasenden Polier mit seinem Gummiknüppel
von mir weg.
»Wie oft habt ihr beide euch schon gerauft, William und Herb?«
fragte der Sheriff tadelnd wie ein leicht genervter Vater. »Gebt
euch jetzt die Hand, oder ihr findet euch beide im Jail
wieder.«
Ich rappelte mich auf und streckte meinem Gegner die Rechte
hin.
Er zögerte - und schlug schließlich doch ein. Obwohl er
aussah, als ob er mir lieber eine Zigarette in der Handfläche
ausgedrückt hätte. Unverständliches vor sich hingrummelnd, zog er
sich wieder ins Lokal zurück, gefolgt von dem kleinen
Barkeeper.
»Na also!« Der Sheriff lachte und wischte sich mit einem roten
Taschentuch über seine schweißbedeckte Stirnglatze. »War es dir zu
naß auf der Bohrplattform, Will?«
»Erraten, Sheriff. Außerdem zu einsam. Harte Arbeit, gute
Dollars. Das war schon okay. Aber ich wollte versuchen, ob ich
nicht hier in der Heimat wieder Fuß fassen kann.«
»Solange du Herb Bronkowitz aus dem Weg gehst, soll es mir
recht sein«, meinte der Gesetzeshüter. Dann wies er mit dem Daumen
auf Milo. »Ein Freund von dir, Willie-Boy?«
Ich nickte und forderte meinen Kollegen mit einer Kopfbewegung
auf, näherzutreten. »Sheriff Branagan, ich möchte Ihnen Milo Tucker
vorstellen. Ein Kumpel, mit dem ich ein Jahr lang auf ’ner
Ölbohrinsel geschuftet hab’. Ein waschechter New Yorker, der sich
jetzt auch nach dem ruhigen Leben bei uns sehnt«
»Na dann - willkommen in Rosepond !« rief der dickliche
Uniformierte und schüttelte Milo die Hand. »Arbeit gibt es hier
mehr als genug. Und wir hier in Rosepond haben nichts gegen Fremde.
Solange sie keinen Ärger machen.«
Wir überhörten die Drohung nicht, die in seinem letzten Satz
mitschwang. Aber als Landkind kannte ich das traditionelle
Mißtrauen gegen Zugezogene. Immerhin wurde Milo durch mich, einen
vermeintlichen Sohn von Rosepond, hier eingeführt. Das war sein
großer Vorteil.
»Dann wünsche ich euch viel Erfolg bei der Job-Suche, Boys!«
sagte der Sheriff und zwinkerte mir zu. »Ich wette, daß Jill
begeistert sein wird, daß du nun wieder da bist. Da hat die Zeit
des liebeskranken Wartens endlich ein Ende.«
***
Die Town Hall von Rosepond war klein, aber fein. Das rote
Backsteingebäude mit den beiden weißgestrichenen Holzsäulen links
und rechts vom Eingangsportal wirkte so idyllisch wie einem
Walt-Disney-Film entsprungen. Auch die fröhlich im Wind flatternde
amerikanische Flagge fehlte nicht.
Milo und ich standen vor einem schwarzen Brett, das bedeckt
war mit kleinen quadratischen Zetteln. Die Arbeitsvermittlung des
Dorfes.
»Das Sägewerk sucht eine Aushilfe als Krankheitsvertretung«,
sagte ich und schrieb mir die Telefonnummer des Bosses in mein
Notizbuch. »Da werde ich mal mein Glück versuchen.«
»Krankheitsvertretung?« echote mein Kollege. »Paß nur auf, daß
dir unter der Kreissäge nicht irgendwelche wichtigen Körperteile
abhanden kommen, Jerem-… äh… William.«
»Geschenkt, Milo. Ist für dich Faulpelz auch was dabei?«
»Sicher. Der Supermarkt auf der Main Street braucht einen
cleveren Allround-Mann. Für alle anfallenden Tätigkeiten. Klingt
doch maßgeschneidert wie für mich, oder? Außerdem kann man in
solchen Läden öfter mal eine gute Information aufschnappen
und…«
Ich knuffte ihm warnend in die Seite, weil in diesem
Augenblick die Schwingtür zum linken Seitenflügel des Gebäudes
geöffnet wurde, und mein Freund verstummte, aber nicht, weil er
meine Warnung begriff, sondern weil ihm schlichtweg die Luft
wegblieb - so wie mir selber übrigens auch.
Der Grund für unsere plötzliche Atemnot schritt uns auf hohen
Absätzen entgegen. Ein Girl, wie man es nicht in einem dörflichen
Bürgermeisteramt vermuten würde, sondern eher auf den Titelbildern
von Hochglanzillustrierten oder auf den Laufstegen berühmter
Modeschöpfer.
Ihr langes feuerrotes Haar wallte fast bis über ihren
knackigen Po, und ihr knapper Rock ließ viel - sehr viel - von
ihren unendlich langen Beinen sehen. Die Glut ihrer grünen Augen
konnte Eiswürfel tauen wie in einem Backofen, da war ich mir
sicher.
»Kneif mich, William«, flüsterte Milo heiser. »Ich muß
träumen. Die frische Landluft ist mir zu Kopf gestiegen.«
Bevor ich meinem Freund den Gefallen tun konnte, hatte uns die
Traumfrau entdeckt, und mit einem bezaubernden Lächeln auf den
vollen Lippen strebte sie auf uns zu.
Ich zwang mich, meinen Mund endlich zu schließen.
»Hallo, William«, begrüßte sie mich. Offenbar sah ich meinem
Ebenbild wirklich zum Verwechseln ähnlich. Das konnte für meine
Tarnung nur gut sein. Leider hatte ich keine Ahnung, wer diese
rothaarige Schönheit war. Über ihre Existenz hatte sich der Mann
auf der fernen Bohrplattform ausgeschwiegen.
»Hallo…«, erwiderte ich mit einem unsicheren Lächeln. Wenn sie
nun merkte, daß ich sie nicht kannte… Offenbar arbeitete sie hier
im Mayor's Office, deshalb fügte ich noch schnell hinzu: »Fleißig
wie immer, Baby?«
Die Traumfrau baute sich vor mir auf und kniff mir mit zwei
Fingern in die Wange.
»Na klar, Will. Deine alte McKee-School-Freundin Vivian Mosby
ist die beste Sekretärin, die unser Mayor je hatte.«
Ich grinste erleichtert. Der Mayor - also der Bürgermeister -
von Rosepond hieß Warren L. Emery. Nun war ich wieder im Bilde. Ich
drehte mich halb zu Milo.
»Vivian - ich möchte dir einen guten Freund vorstellen, den
ich bei der Jagd nach dem Schwarzen Gold kennengelernt habe. Das
ist Milo Tucker aus New York. Derbeste Bohrer… äh… Ölbohrer, den
ich je kennengelernt habe.«
Mein Partner lächelte wehmütig. »Und der kaputteste. Die Docs
haben mich wegen einer Allergie für immer von der Bohrinsel
verbannt. Deshalb bin ich meinem Kumpel Jer-… äh… William hierher
aufs Land gefolgt. Für einen Neuanfang.«
Die rothaarige Vivian gab sich besonders charmant. »Hier in
den Catskill Mountains haben wir so manches zu bieten, was man
sonst nirgends antreffen kann.«
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Milo und lächelte sie
an.
Die Sekretärin verstand ihn genau und wirkte sehr
geschmeichelt.
In diesem Moment öffnete sich eine weitere Tür, diesmal eine
schwere Eichentür am anderen Ende des Flurs. Ein kräftiger Mann in
den Fünfzigern erschien in der Türöffnung. Er trug einen
dunkelgrauen Nadelstreifenanzug.
»Vivian!« rief er mit mildem Tadel in der Stimme. »Ich warte
auf meine Unterschriftenmappe!«
»Sehen Sie doch, wer hier ist, Mayor Emery!«
Ich wandte mich dem Mann zu. Das war also der Bürgermeister
des kleinen Ortes. Der echte William Carter hatte ihn mir als einen
aufrechten und vertrauenswürdigen Mann beschrieben. Hauptberuflich
war Warren L. Emery der Besitzer des Sägewerks. Also kein
abgehobener Berufspolitiker, sondern jemand, der die Verbindung zur
Realität noch nicht verloren hatte.
»William!« Auch er schien äußerst erfreut zu sein, mich zu
sehen, ivfein Doppelgänger mußte sehr beliebt in Rosepond sein.
Außer bei Bronkowitz, der mir gleich zur Begrüßung ein Muster ins
Gesicht hatte schneiden wollen. Aber man kann ja nicht die ganze
Menschheit zum Freund haben.
»Mayor Emery!« Ich schüttelte seine kräftige Hand, die er mir
entgegenhielt. »Es ist gut, wieder daheim zu sein, Sir.«
Ich stellte ihm auch Milo vor.
Bildete ich es mir nur ein, oder blitzte wirklich Mißtrauen in
den Augen des Bürgermeisters auf, während er Milo die Hand
gab?
»Ich hoffe, daß Sie sich schnell bei uns einleben, Mr.
Tucker«, sagte der Mayor, aber es klang ein wenig wie: ›Geh zum
Teufel, Fremder !‹
»Ich bin ein ruhiger Typ, Sir«, versicherte mein Partner.
»Außerdem bin ich mir für keine Arbeit zu schade.«
»Wollen wir es hoffen«, knurrte der Stadtvater. Doch dann
verabschiedete er sich von uns mit seinem besten
Politikerlächeln.
»Der scheint wohl keine Fremden zu mögen«, murrte Milo, als
wir ein paar Minuten später wieder allein draußen vor der Town Hall
standen.
»So ist das eben auf dem Land, Alter«, sagte ich und stopfte
die Hände in die Taschen. »Die Leute brauchen etwas länger, bis sie
mit dir warm geworden sind. Aber dänn hast du auch Freunde fürs
Leben gefunden.«
»So lange wollte ich eigentlich nicht bleiben«, erwiderte
Milo. »Obwohl mir diese Vivian gefällt.«
»Da bist du nicht der einzige, Kumpel.«
»Du?« prustete Milo heraus. Dann sah er sich mißtrauisch um,
ob uns auch ja niemand belauschte. »Du darfst dir solche Gefühle
nicht leisten. Denk daran, was der Sheriff gesagt hat: Eine gewisse
Jill sehnt sich bereits seit Jahren nach William Carter.
Wahrscheinlich so eine fette, häßliche Landeule, die dich gern mal
wieder an ihren üppigen Busen drücken möchte, Willie-Boy. Na, da
wünsch’ ich dir viel Vergnügen. Ich bin aber sicher, daß du, um
deine Tarnung aufrechtzuerhalten, wie immer dein Bestes geben wirst
und…«
Er wich gerade noch rechtzeitig aus, bevor meine Stiefelspitze
seinen Allerwertesten treffen konnte.
***
Herb Bronkowitz streifte durch die Wälder. Das tat er immer,
wenn er die Schnauze voll hatte von der Welt. So wie jetzt. Die
Schlägerei mit dem verhaßten William Carter hatte ihn aus der Bahn
geworfen. Er dachte nur noch daran, wie er den Rivalen wieder
loswerden konnte. Sein Herz war vergiftet von Haß.
Die Bewegung tat seinem kräftigen Körper gut. Langsam verflog
die Wirkung des Biers, und sein Kopf wurde wieder klar. Der Polier
stieg einen Hügel hinauf, zwischen dichten Tannen fand er seinen
Weg, sprang über einen schmalen Bach und kletterte dann über einige
Granitblöcke. Die Landschaft hier sah aus, als hätten Riesen mit
großen Felsblöcken Bowling gespielt.
Allmählich hatte sich Bronkowitz müde gelaufen. Er wollte sich
nur einen Moment hinsetzen und eine Zigarette rauchen. Doch noch
bevor er den Glimmstengel anzünden konnte, war er
eingeschlafen…
Als er wieder eiwachte, hörte er zwei Stimmen.
Der Polier wurde schlagartig bleich wie ein Toter.
Erversuchte, absolut kein Geräusch zu verursachen und möglichst
unsichtbar zu bleiben. Und das hatte seinen Grund.
Direkt über ihm saßen zwei Männer auf einem umgefallenen
Baumstamm. Der schlafende Bronkowitz war in eine Mulde unter dem
Baum gerutscht. Das üppig wuchernde Unterholz schützte ihn
einigermaßen vor den Blicken der anderen. Aber wenn einer der
beiden auf die Idee kam, hinter sich zu schauen… Dem starken
Vorarbeiter rieselte ein eiskalter Schauer über den Rücken, während
er dem Gespräch zuhörte.
»Eine echte Sniper-Knarre aus Sarajewo. Mit dreiundzwanzig
Kerben. Die muß ich einfach haben, Questionmark!«
Bronkowitz erstarrte. Er hatte die Stimme erkannt. Sie gehörte
Sheriff Larry Branagan. Dem Mann, der ihn noch vor wenigen Stunden
so scheinheilig wegen der Schlägerei mit diesem verdammten William
Carter zurechtgewiesen hatte. Und nun saß er hier mitten im Wald
auf seinem dicken Hintern und redete mit ›Questionmark‹!
Natürlich wußte der Polier, daß es einen Verbrecher mit diesem
Tarnnamen gab. Schließlich las er Zeitung und hörte morgens auch
die Nachrichten im Radio. Außerdem war es ein offenes Geheimnis im
Staat New York, wo man illegale Waffen in beliebigen Mengen kaufen
konnte. Bei den Leuten von ›Questionmark‹. Dem Mann, der jetzt das
Wort ergriff.
»Du kannst die Sniper-Knarre geschenkt haben, Sheriff. Aber
wir müssen uns um diesen Milo Tucker kümmern.«
»Den Kumpel von William Carter? Meinen Sie, daß der nicht okay
ist?«
»Wir können uns kein Risiko erlauben. Diesen G-man Marshall
habe ich gerade noch rechtzeitig in die ewigen Jagdgründe befördern
können, aber wer weiß, ob uns die Bundespolizei nicht schon wieder
ein neues faules Ei ins Nest legen will!«
»Aber William kennt diesen Milo Tucker doch schon so lange!«
warf der Sheriff ein.
»William Carter ist hier geboren und auf gewachsen, okay. Aber
deshalb ist er noch lange nicht unbestechlich. Verstehst du? Wir
können niemandem trauen, auch William Carter nicht. Du mußt
rausfinden, ob er und dieser Dekker hier rumschnüffeln wollen. Und
wenn ja…«
»Wenn ja?« echote der korrupte Gesetzeshüter.
»Dann haben wir zwei neue Zielscheiben für unsere
Schießübungen!«
Daraufhin brachen die beiden Männer in teuflisches Gelächter
aus.
Dieses Gelächter aber wurde nach einer halben Minute übertönt
vom Sound zweier automatischer Waffen, mit denen sie das Feuer auf
einen Baumstumpf, der ein paar Yards entfernt war, eröffneten.
Bronkowitz in seinem Versteck direkt hinter ihnen flogen die heißen
Patronenhülsen um die Ohren. Aber er rührte sich nicht und gab
keinen Ton von sich.
Die Angst hielt ihn voll im Griff.
Denn er wußte nun, wer ›Questionmark‹ in Wirklichkeit
war!
***
»Sie haben den Job, Mr. Tucker!«
Der Supermarkt-Boß Frank Miller klopfte seinem neuen
Mitarbeiter auf die Schulter und verschwand dann in einer Kammer,
um für Milo einen weißen Kittel zu holen. Der G-man schlüpfte in
seine neue Arbeitskleidung. Der Größe nach zu urteilen, hatte wohl
zuvor Arnold Schwarzenegger den Kittel getragen. Oder Frankensteins
Monster.
Milos erste Aufgabe bestand darin, eine riesige Palette mit
Würstchendosen in einer Ecke der Verkaufsfläche zu stapeln und mit
Preisschildern zu versehen. Genau das, was er brauchte. Dabei
konnte er unauffällig die Gespräche der einkaufenden Roseponder
Hausfrauen belauschen. Und vielleicht seine Schlüsse aus dem
Gehörten ziehen.
Kunstvoll baute der G-man aus den gut zweihundert Dosen eine
Pyramide. Jede von ihnen verpaßte er noch ein Preisschildchen,
bevor sie ihren Platz in dem Turmbau einnahm. Hinter seinem Rücken
zog eine nicht enden wollende Armada an Einkaufswagen vorbei. Hier
kannte man sich. Und wie Milo es gehofft hatte, nutzten die Kunden
den täglichen Einkauf für ihre Schwätzchen.
Zu seiner Enttäuschung ging es meist aber nur um alltägliche
Dinge. Die Leistungen der Kinder in der Schule, die
trockenheitsbedingten Gartenprobleme, das neueste
Ehebruch-Gerücht.
Doch dann sagte eine alte Lady mit lila Haaren und
Lockenwicklern etwas, was Milo auf horchen ließ.
»Gestern ist es wieder passiert…«, wisperte sie einer anderen
Frau zu.
Der blonde G-man beugte sich über seine Würstchendosen. Zum
Glück verfügte er über ein erstklassiges Gehör. Daher machte es
nichts aus, daß er ein Stück von den beiden Hausfrauen entfernt
stand.
Die andere Frau nickte stumm. Sie trug eine rosafarbene
Kittelschürze. »Ich weiß, Mrs. Holm. Ich habe sogar einen Blick
durch die Jalousien geworfen. Aber ich konnte es nicht ertragen.
Der arme Mann.« Sie machte eine Pause und setzte dann hinzu: »Sowas
rächt sich.«
Lila Lockenwickler sah sich um. Aber es war niemand in der
Nähe. Außer Milo, der aber schnell genug hinter seinen
Würstchendosen in Deckung gegangen war. »Diese feigen Hunde!«
zischte sie. »Sich an einem Wehrlosen vergreifen, das können sie.
Aber was soll man tun? Wenn noch nicht mal der Sheriff…«
Sie verstummte schlagartig, als eine junge Frau mit
Kinderwagen den Gang entlang kam. Es dauerte jedoch nicht lange,
dann bog die junge Frau in den Gang mit den Babywindeln ein und war
verschwunden.
»Die Frau des Deputys…« Milo war sich nicht absolut sicher, ob
dies wirklich die Worte waren, die rosa Kittelschürze gewispert
hatte, aber es hatte so geklungen. »Der Deputy hat dann später das
Blut beseitigt. Schrecklich, sage ich Ihnen…«
Im Kopf des G-man schrillten alle Alarmglocken. Es ging hier
offenbar um eine Gewalttat. Ein Verbrechen, in das der Sheriff und
der Deputy verwickelt waren. Sein dienstlicher Instinkt sagte Milo,
daß die Tat mit dem Mord an G-man Lewis Marshall Zusammenhängen
könnte.
Aber zunächst waren ihm die Hände gebunden. Er mußte seinen
Job machen, um seine Tarnung möglichst lange
aufrechtzuerhalten.
An seinem ersten Tag jedoch ließ ihn Mr. Miller nur wenige
Stunden arbeiten. Der Supermarkt-Boß hatte mitgekriegt, daß sich
Milo noch kein Zimmer gesucht hatte. Er gab ihm den Rest des Tages
frei, um dies zu erledigen.
»Danke, Sir.« Milo lächelte ihn höflich an.
»Wir sehen uns morgen früh um neun wieder, Mr. Tucker.«
Milo schlenderte über den Parkplatz des Supermarkts - als
plötzlich ein Pickup-Truck mit mörderischer Geschwindigkeit auf ihn
zudonnerte!
Nur seinen guten Reflexen verdankte es der G-man zu, daß er im
letzten Moment zur Seite springen konnte.
In dem Wagen saßen drei pickelige Lümmel. Sie wieherten los.
Sie schienen es für einen tollen Witz zu halten, daß sie den
blonden Mann beinahe überfahren hatten. Sie stiegen aus und
schritten grienend auf Milo zu.
»Paßt nächstens besser auf!« brummte Milo. »Das hätte ins Auge
gehen können.«
»Vielleicht sollte es das ja!« erwiderte einer der Burschen,
ein Typ mit einem riesigen hüpfenden Adamsapfel. »Wir mögen es
nicht, wenn uns Fremde hier die Arbeit wegnehmen.«
Milo platzte der Kragen. »Arbeit wegnehmen?« wiederholte er.
»Das hier ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Kleiner.
Schon mal gehört? Und ich habe den Job gekriegt, weil ich bis drei
zählen kann. Eine -zwei - drei Würstchendosen! Ist das meine
Schuld, wenn keiner von euch so qualifiziert ist?«
Die Kerle schienen sogar zu dämlich zu sein, um die Ironie in
Milos Worten zu begreifen. Aber Worte spielten jetzt sowieso keine
Rolle mehr. Sie wollten den Mann aus New York City auf mischen, und
das war Milo auch sofort klar.
Der Teenager mit dem Riesen-Adamsapfel wuchtete seine große
Farmarbeiter-Faust auf Milos Kinnspitze zu. Doch der G-man blockte
mit dem linken Arm ab und donnerte gleichzeitig die rechte Faust
ins Gesicht seines Gegners.
Die beiden anderen Boys setzten sich in Bewegung. Sie hatten
geschnallt, daß ihr Anführer in Schwierigkeiten war. Einer angelte
sich einen Baseballschläger von der Ladefläche des Pickup.
Der G-man befaßte sich inzwischen mit dem anderen. Der Typ im
blauen Overall hatte sich von hinten an Milo herangemacht und ihn
in den Schwitzkasten genommen, doch Milo stieß ihm den Ellenbogen
in die Magengrube, dann schleuderte er den Burschen mit einem
Judo-Wurf über sich hinweg. Der Kerl flog schreiend durch die Luft
und landete hart auf seinem Allerwertesten.
»Macht ihn alle!« kreischte Adamsapfel und rappelte sich vom
Boden auf. Der Bursche mit dem Baseballschläger ließ seine schwere
Waffe durch die Luft zischen.
Milo duckte sich weg, und das keulenartige Schlaginstrument
sauste auf die Kühlerhaube des Pickup nieder. Adamsapfel schrie so
gequält auf, als ob der Holzprügel auf seiner Schädeldecke gelandet
wäre.
Milo hatte nicht vor, dem Kerl mit dem Baseballschläger noch
eine zweite Chance zu geben. Er griff nach dem Baseballschläger,
bevor sein Gegner ihn wieder zum Schlag heben konnte, und zog mit
einem gewaltigen Ruck daran.
Während der Teenager auf ihn zuflog, senkte Milo seinen Kopf,
und das Kinn des Gegners rammte krachend dagegen. Milos Schädel war
einiges gewohnt, das Kinn des pickligen Burschen nicht. Er kippte
aus den Latschen, als wäre er gegen das Empire State Building
gerannt.
Nun startete Adamsapfel zu einem neuen Angriff. Er ging
diesmal schlauer vor. Jedenfalls dachte er das. Da er gut einen
Kopf größer war als Milo, verließ er sich ganz auf die Länge seiner
Arme. Wie ein Boxer kam er auf den G-man zu. Der linke Arm sorgte
für die Deckung, mit der rechten Faust schoß er eine ganze Reihe
von Schwingern und Geraden gegen Milo ab.
Milo duckte sich, breitete die Arme aus und riß dann wie ein
Ringer seinen Gegner einfach von den Beinen. Ächzend landete
Adamsapfel auf dem harten Asphalt, Milo stieß ihn herum, dann
drehte er ihm die Arme auf den Rücken.
Automatisch tastete Milo nach seinem Gürtel, um die
Handschellen zu zücken, da fiel ihm ein, daß er ja undercover in
Rosepond war. Also beschränkte er sich darauf, Adamsapfel kräftig
in den Hintern zu treten.
Die drei Schlägertypen machten sich unter düsteren Drohungen
davon. Milo verschwendete keinen Gedanken mehr an sie. Er kannte
die Sorte. Maulhelden, die den Schwanz einkniffen, sobald sie auf
ernsthaften Widerstand stießen.
Milo klopfte den Staub von seiner Kleidung und hob den Seesack
auf, den er hatte fallenlassen müssen. Mit langsamen Schritten
schlenderte er bald darauf die Main Street entlang. Vom
Greyhound-Bus aus hatte er an der Hauptstraße ein Schild gesehen,
auf dem gestanden hatte: ›Zimmer zu vermieten! ‹ Jedenfalls glaubte
er sich daran zu erinnern.
Auf das Gedächtnis des New Yorkers war Verlaß. Ein Stück
hinter der einzigen Ampel von Rosepond stand ein großes, wenn auch
einstöckiges Holzhaus. Mit seinem leicht abgeblätterten rosa
Anstrich erinnerte es Milo an ein riesiges Stück Torte. Mitten im
verwilderten Vorgarten lockte ein verblichenes Schild
Pensionsgäste. Es sah nicht so aus, als ob oft welche vorbeikommen
würden.
Was soll’s? dachte sich Milo und stieß die knarrende
Gartenpforte auf.
Da raste ein Schatten auf ihn zu und warf Milo Tucker mit
gewaltiger Kraft zu Boden…
***
Rick Carnegie - so hieß der Vorarbeiter des Sägewerks. Er
besiegelte meine Anstellung mit Handschlag. Wie häufig auf dem Land
in den USA üblich, wurde kein Arbeitsvertrag aufgesetzt.
»Arbeitsbeginn ist morgens um sieben, Carter«, sagte der
Vorarbeiter zu mir. »Du weißt ja, viele von den Jungs haben noch
nebenbei ihre Farm zu bewirtschaften und arbeiten deshalb nur
vormittags oder nachmittags.«
»Kein Problem, Boß«, erwiderte ich. »Können'Sie mir vielleicht
auch eine Bleibe empfehlen?«
Carnegie kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Deine Großtante
ist ja leider im Pflegeheim. Das Haus ist vermietet. Aber das weißt
du ja sicher. Versuch’s doch mal in dem Trailer Park am
Ortseingang.«
Ich nickte. Viele Amerikaner mit schmaler Lohntüte wohnen das
ganze Jahr über in gemieteten oder eigenen Wohnmobilen, jederzeit
bereit, wieder loszuziehen, wenn sie ein neuer Job in die Ferne
lockt.
»Also dann - bis morgen, Carter! Und nicht verpennen!«
Ich grinste und zog ab. Bisher waren alle Einwohner von
Rosepond furchtbar nett gewesen. Es fiel schwer zu glauben, daß
dieses idyllische Dorf die Operationsbasis von ›Questionmark‹ sein
sollte, dem geheimnisvollen Boß rücksichtsloser Waffendealer. Und
doch mußte es so ein. Jemand hatte unseren Kollegen Lewis Marshall
feige ermordet. Und dieser jemand - so hatte ich mir geschworen -
würde sich dafür vor einem Gericht verantworten müssen. Dafür
würden Milo und ich sorgen.
Der Verwalter des Trailer Parks war ein alter Schwarzer mit
weißem Vollbart. Er hieß Isaac. Man hätte ihn für einen der drei
Weisen aus dem Morgenland halten können. Leider war er mehr als
schweigsam. Er trottete vor mir her wie eine Auster auf zwei
Beinen. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen; ob er den wahren
William Carter kannte oder nicht. Jedenfalls zeigte er keine
Wiedersehensfreude.
Isaac führte mich zu einem leicht angerosteten Winnebago Chief
tain, einem der beliebtesten US-Wohnmobil-Modelle. Dieser sah
allerdings so aus, als hätte er von den Weiten unseres Landes noch
nicht mehr gesehen als diesen grünen Stellplatz am Rand von.
Rosepond. Und zwar, seit er vor vierzig Jahren von fleißigen Händen
zusammengeschraubt worden war.
Der alte Mann präsentierte mir die Blechkiste auf Rädern auch
von innen. Es roch stark nach Desinfektionsmittel, aber alles
machte einen sauberen Eindruck, von ein paar dezenten Spinnweben in
den Ecken einmal abgesehen.
Isaac sah mich mit einem Blick an, der wohl sagen sollte;
›Wollen Sie jetzt die Karre, oder nicht?‹
»Wieviel?« fragte ich knapp. Ich versuchte, mich seiner
mundfaule Art anzupassen.
»Fünfzig Bucks die Woche«, murmelte der Verwalter mit einem
breiten Arkansas-Akzent.
Ich klaubte wortlos eine Fünfzig-Dollar-Note aus meiner Jeans
und drückte sie ihm in seine ausgestreckte schwielige Hand.
Isaac grinste und tippte mit dem Zeigefinger an die Krempe
eines nicht vorhandenen Hutes. Sein Abschiedsgruß. Die Blechtür
fiel hinter ihm zu. Und ich war allein in meinem ›Luxusapartment
auf Rädern‹.
Ich gähnte und begann damit, meinen Seesack auszupacken. Zum
Glück hatte ich wenigstens ein Glas mit Instantkaffee dabei, denn
Kühlschrank und Vorratsbox des Winnebago waren leer. Ich ließ
Wasser in den tropfenden Kessel laufen und zündete die Gasflamme
des Herds an.
Plötzlich gefror ich mitten in der Bewegung.
Etwas schabte an der Außenwand des Wohnmobils!