A Dream Is All We Have - Ewa Aukett - E-Book
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A Dream Is All We Have E-Book

Ewa Aukett

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Beschreibung

Sie ist nicht die, die er wollte, aber die, die er brauchte … Der erfolgsverwöhnte Anwalt Raymond MacAllister ist ehrgeizig, zielstrebig und definitiv gewohnt zu bekommen, was er will. Sowohl privat als auch beruflich tut er alles, um an sein Ziel zu kommen. Als ihm die charismatische Bildhauerin Kimberley über den Weg läuft, ist sein Jagdinstinkt geweckt. Mit einer List will er dafür sorgen, dass sie gemeinsam Zeit in einer einsamen Blockhütte in Island verbringen müssen. Doch sein Plan läuft phänomenal schief, und es ist nicht Kimberley, die ihn in der Hütte erwartet. Die Frau, die ihm stattdessen in den nächsten Tagen den Kopf verdreht, ist ganz anders als seine bisherigen Eroberungen. Sie ist jemand, mit dem Ray nicht gerechnet hat ...   Der zweite Teil der "All we have"-Reihe von Bestseller-Autorin Ewa Aukett. Die Romane sind in sich abgeschlossen, aber durch wiederkehrende Figuren verbunden. Die Teile können trotzdem unabhängig voneinander gelesen werden.

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A DREAM IS ALL WE HAVE

All We Have – Band 2

LIEBESROMAN

EWA AUKETT

1

»Raymond MacAllister?«

Irritiert blieb er stehen und sah sich einer attraktiven Brünetten gegenüber. In Rays Kopf arbeitete es fieberhaft. Er wusste, er kannte diese Frau – aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, woher.

Eine ehemalige Affäre? Nein, unmöglich. Unmerklich schüttelte er den Kopf. Daran hätte er sich ganz sicher erinnert.

Attraktiv, wirklich attraktiv … Das Gesicht war ein ebenmäßiges Oval, die kastanienroten Locken flossen in sanften Wellen über ihre Schultern. Grüne Augen funkelten ihn amüsiert an, und ein bezauberndes Lächeln machte sich auf ihren vollen Lippen breit.

Wer war das?

Zu zerschlissenen Bluejeans trug sie eine bunte Bluse mit riesigem Blütenmuster, dunkle Sandalen und so etwas wie einen fadenscheinigen Teppich mit Fransen, in den jemand kurzerhand ein Loch geschnitten hatte, um ihn als eine Art Jacke zu verkaufen. Kurvige Figur, großgewachsen, ausgesprochen unkonventioneller Kleidungsstil … sicher keine Kollegin.

Sie fiel eindeutig in sein Beuteschema, aber sein Gehirn ließ ihn im Stich. Ein Teil von ihm befand sich noch bei Gericht, und wenn er ehrlich war, brodelte in ihm der Unmut über Richter Reeves Entscheidung.

Hinzu kam all der Stress der letzten Tage. Er sehnte sich seinen wohlverdienten Urlaub wirklich herbei. Endlich ein bisschen Ruhe – nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nur die Stille und Einsamkeit genießen.

»Du erinnerst dich nicht mehr, oder?« Die Fremde lachte leise und kam näher. Ein zarter Duft nach Flieder und Erdbeeren begleitete sie. Seine Nasenflügel blähten sich. Sie roch verführerisch, und wenn er ehrlich war, konnte er ein wenig Ablenkung gerade gut gebrauchen.

Sein Blick glitt über ihre Gestalt. Lange Beine, ausladende Hüften, üppiger Vorbau. Diese Art Ablenkung würde ihm sogar ausgesprochen gut gefallen.

Das Smartphone, das er in der Hand gehalten hatte, wanderte in die Innentasche seines Jacketts, und er legte den Kopf schief, während er ihr ein gewinnendes Lächeln schenkte.

»Entschuldige, mein Gedächtnis lässt mich gerade gewaltig im Stich. Hilfst du mir auf die Sprünge?«

Sie blieb vor ihm stehen und hielt ihm die Hand hin. »Kim … Kimberley Jordan. Ich bin eine frühere Studienkollegin von Kirsten. Wir sind uns auf ihrer Vernissage im letzten Herbst begegnet.«

Eine Studienkollegin seiner Schwägerin. Ja, er erinnerte sich dunkel, da war was gewesen. Seine Hand griff nach ihrer. Warme, weiche Haut, ein kräftiger Händedruck. Er mochte das. Interessiert betrachtete er sie.

Keine perfekt manikürten Hände. Stattdessen schöne, lange Finger, kurzgeschnittene, unlackierte Nägel. Jemand, der offenbar handwerklich mehr oder weniger geschickt war, denn einige kleine Kratzer zierten ihre sonst so makellose Haut.

Ray hob den Kopf und sah ihr in die Augen.

Kimberley Jordan.

Ja, er konnte sich erinnern. Eine heiße Brünette in einem langen dunkelblauen Paillettenkleid mit tiefem Ausschnitt. Ein sehr schöner Ausschnitt, der zwei gut geformte, perfekt gerundete Brüste gekonnt in Szene gesetzt und die Männer reihum dazu verleitet hatte, immer wieder hinter ihr herzusehen. Selbst sein Bruder Jeff, der sonst nur Augen für seine Frau hatte, war mehrfach an ihr hängen geblieben.

Sie war in Begleitung eines großen, breitschultrigen und sehr südländisch aussehenden Typen mit schwarzem Haar und Dreitagebart gewesen. Ein ausgesprochen attraktives Paar – und da sie eben nicht alleine dort gewesen war, war Rays Interesse an ihr rasch wieder verflogen.

Bis gerade jedenfalls.

»Ja, ich erinnere mich an dich«, bemerkte er gedehnt. »Du warst mit deinem Freund da. Tut mir leid, ich habe seinen Namen vergessen.«

Ihr Lächeln war wirklich entzückend und das Funkeln ihrer Augen ausgesprochen aufregend. Ray ignorierte das stumme Vibrieren seines Handys.

»Oh, Sergio, stimmt. Er ist ein guter Freund von mir und begleitet mich hin und wieder zu diversen Veranstaltungen.«

Das Smartphone in seinem Jackett summte weiterhin hartnäckig. »Wie praktisch«, bemerkte er zerstreut, hob entschuldigend die Hand und fischte das Handy heraus. »Entschuldigst du mich eine Sekunde?«

»Natürlich, ich will dich auch gar nicht weiter aufhalten, Raymond. Du hast sicherlich noch zu tun.«

Er starrte sekundenlang auf den Namen, der auf dem Display zu sehen war. Staatsanwalt Benson? Der Ärger kroch wie halb verdautes schales Bier in seiner Kehle nach oben. Er wollte mit diesem Scheißkerl jetzt nicht sprechen, sonst würde er in diesem Parkhaus vollkommen ausflippen.

Sein Tag war ohnehin schon für den Arsch!

Rigoros wies er den Anruf ab, schaltete das Handy stumm und musterte Kim eine Sekunde lang. Dann fällte er eine Entscheidung.

»Ray.«

Sie blinzelte irritiert. Sehr apart. »Bitte was?«

»Nenn mich Ray. Nur meine Großmutter sagt Raymond, und ich fühle mich dann jedes Mal, als wäre ich wieder zehn und sie hätte mich gerade beim Kekseklauen erwischt.«

Kim lachte leise. Ein schönes, angenehmes Lachen, das seine eigenen Mundwinkel zum Zucken brachte. »Dein Wunsch ist mir Befehl.«

Er betrachtete sie prüfend.

»Hast du Lust auf einen Kaffee?«, wollte er wissen. Ihre Augenbrauen hoben sich überrascht. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, ehe sie nickte.

»Ja, gern. Ich war ohnehin auf dem Weg in die City und habe noch ein wenig Zeit. Es gibt da ein hübsches kleines Café um die Ecke, in der Bond Street, die machen hervorragende Cupcakes.« Sie erwiderte seine eingehende Prüfung auf ähnlich unverschämte Weise. Ray unterdrückte ein Grinsen. »Wenn ich ehrlich sein darf, siehst du aus, als könntest du ein bisschen Zucker zum Koffein gebrauchen.«

Ein raues Lachen entrang sich seiner Kehle. »Das kannst du laut sagen.« Er deutete auf den Aktenkoffer in seiner Hand. »Lass mich den eben zum Auto bringen, dann machen wir uns sofort auf den Weg.«

»Aber immer.«

* * *

»Der Fall scheint dir persönlich am Herzen zu liegen.«

Es war eine Feststellung, keine Frage.

Ray zuckte mit den Achseln. Er hatte gar nicht davon erzählen wollen, was ihn so verärgert hatte, doch Kimberley hatte offenbar ein feines Gespür für die Stimmungen anderer Menschen.

Schon auf dem Weg zum Café hatte sie ihm die ersten Details entlockt: seinen Unmut über Richter Reeves, seine Wut auf den zuständigen Bezirksstaatsanwalt – dieses Arschloch Benson, das meinte, kurz vor seinem Ruhestand nochmal ein Opferlamm zur Schlachtbank schleifen zu müssen. In Rays Augen nur aus dem Grund, dass er es nicht geschafft hatte, mehr aus seinem Leben zu machen.

Erneut kochte der Ärger in ihm hoch.

Mit einem Seufzer reichte er Kim die Jacke, aus der er ihr geholfen hatte, und sah dabei zu, wie sie auf der Bank an dem kleinen Bistrotisch Platz nahm. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatte, bat sie ihn mit einer stummen Geste, sich zu ihr zu setzen.

Er kam dem nur zu gern nach.

Die letzten Tage war seine Stimmung ziemlich bescheiden und seine Gedanken mit Sorgen angefüllt gewesen. Die unerwartete Begegnung mit Kim sorgte für ein angenehmes Gefühl von Zerstreuung. Ein bisschen Ablenkung konnte nicht schaden.

»Das tut er«, entgegnete er auf ihren Einwurf. »Ich werde des Öfteren als Strafverteidiger verpflichtet. Oft eine undankbare Position, bei der man nicht selten schon von vornherein weiß, wie das Verfahren ausgehen wird. Aber in diesem Fall war ich mir von Anfang an über die Unschuld meines Mandanten im Klaren. Leider bin ich gleich zu Beginn auf taube Ohren und Ablehnung gestoßen. Es gibt schwammige Beweise und Indizien – Dinge, die meinen Mandanten auf den ersten Blick belasten, aber nicht nachhaltig sind –, dazu ein stundenlanges Verhör, bei dem ihm ein Geständnis in den Mund gelegt wurde.«

»Das hört man nicht zum ersten Mal.«

Ray seufzte, griff nach der Getränkekarte, die auf dem Tisch lag, und klappte sie auf, ohne wirklich etwas zu sehen. »Leider ja … und mein Mandant ist zwar physisch in der Lage, eine Straftat in diesem Ausmaß zu begehen, aber psychisch nicht. Er ist wie ein zu groß geratenes Kind mit dem Wissen eines Sechsjährigen. Ich fürchte, er hat bis heute nicht begriffen, was geschehen ist. Das Verfahren wurde ruhend gestellt, weil noch nicht eindeutig geklärt werden konnte, in welchem Zusammenhang er mit der Tat an sich steht, für die die Staatsanwaltschaft ihn verantwortlich macht.«

»Das klingt doch eigentlich gut«, bemerkte Kim neben ihm.

»Eigentlich wäre es das, aber er befindet sich in staatlicher Fürsorge. In einer Unterbringung, die nicht die notwendigen Mittel hat, um ihn adäquat psychologisch zu betreuen. Natürlich ist das zu seinem eigenen Besten. Die Staatsanwaltschaft arbeitet allerdings nach Kräften daran, das Verfahren wieder aufzunehmen … Sie wollen ein Urteil, um ihn in den normalen Vollzug zu stecken. Keine psychologische Betreuung, keine Sonderrechte, sondern ›den Mörder mit allen nötigen Mitteln zur Rechenschaft ziehen‹, wie man ständig betont.«

Er klappte die Karte zwischen seinen Fingern wieder zusammen und begann sie auf dem Tisch zu drehen wie einen Kreisel. Der zynische Ton in seiner eigenen Stimme fraß sich wie Säure in sein Herz.

Ray fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.

Dieser Fall ging ihm näher, als er sollte. Er hatte sich schon lange von seiner üblichen, coolen Anwaltsposition entfernt. Selbst der Betreuer seines Mandanten hatte ihn bereits gewarnt, dass er das alles zu persönlich nahm. Tief einatmend schob er die Karte ein Stück weit von sich.

»Er hat Trisomie 21, das Down-Syndrom. Er ist fröhlich und zugänglich. Ein warmherziger Kerl, jemand, der ständig lacht und das Leben liebt – und er hat leichte autistische Züge. Er ist ein neunzehnjähriger Junge, dessen Eltern auf grausame Weise zu Tode gekommen sind. Bis heute fragt er bei jedem meiner Besuche, wann er denn wieder nach Hause darf und warum seine Eltern ihn nicht besuchen kommen.«

Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen.

Es tat so gut, mit jemandem darüber zu reden, und sie schien ehrlich interessiert. Das war keine vorgeheuchelte Sensationsgier.

Verdammt, was tat er hier?

Er sprach normalerweise niemals außerhalb seiner Kanzlei mit fremden Menschen über seine Fälle. Er kannte Kim nur flüchtig, und dieses Verhalten war absolut untypisch für ihn. Ray schüttelte den Kopf und lehnte sich auf der gepolsterten Bank zurück.

»Entschuldige, ich weiß gar nicht, warum ich das erzähle … Ich will dich nicht mit meiner Arbeit langweilen.«

Kim legte ihm eine Hand auf den Arm. Er betrachtete nachdenklich ihre schönen, schlanken Finger. Sie trug nicht mal Schmuck.

»Das tust du nicht, Ray. Tut mir wirklich leid, dass der Fall in so eine Richtung läuft.« Sie schwieg einen winzigen Moment, ehe sie tief Luft holte und ihn losließ. »Gibt es denn keine Möglichkeit, der Staatsanwaltschaft zuvorzukommen und deinen Mandanten aus dieser Einrichtung herauszuholen? Sicher gibt es adäquatere Unterbringungen.«

»Ich kann das nicht alleine entscheiden. Ich muss mit ihm und seinem Betreuer reden. Wir müssen irgendwie versuchen, dem Jungen die Situation zu erklären, und sollte er einverstanden sein, bleibt uns keine andere Wahl, als offiziell Klage einzureichen.« Er fuhr sich abermals mit den Fingern durch das Haar. »Ich bezweifle allerdings, dass wir Erfolg haben werden, auch wenn er definitiv in einer psychologisch betreuten Wohneinrichtung besser untergebracht wäre. Staatsanwalt Benson wird alles daransetzen, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und wir tragen das Risiko, dass der Junge im Fall einer Verurteilung in den normalen Strafvollzug käme. Das wäre sein Ende. Ich mag mir nicht mal ausmalen, was jemandem mit einer solchen Einschränkung dort drinnen blühen würde.«

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Miene war nachdenklich.

»Scheint kein besonders angenehmer Zeitgenosse zu sein, dieser Staatsanwalt.«

Ray gab ein Schnauben von sich. »Meiner Meinung nach ist Benson ein verbitterter alter Mann, der seinen Hass auf die Welt und seine Unzufriedenheit über sein baldiges Ausscheiden aus dem Beruf dadurch zu kompensieren versucht, dass er anderen das Leben schwermacht.«

»Er hört auf?«

»Ja, Benson ist zwar erst Ende fünfzig und hat nicht das Alter zum Aufhören, aber … vor fünf Jahren hat er versucht, Richter zu werden. Die Voraussetzungen hat er alle erfüllt, jedoch wurde er von der jungen Anwältin, mit der er zusammengearbeitet hat, zweimal wegen sexueller Nötigung angezeigt. Sie hat sogar eine einstweilige Verfügung bewirkt. Eine Anklage wurde fallengelassen, ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Man hat sich letztlich außergerichtlich geeinigt, dennoch wurde ihm vom Gerichtshof nahegelegt, sich auf seine Aufgabe als Bezirksstaatsanwalt zu konzentrieren. Die Vorwürfe haben seinem Ansehen nachhaltig geschadet.«

»Immerhin entscheidet er künftig nicht über das Schicksal anderer.« Kims Augenbrauen zogen sich zusammen. »Trotzdem frage ich mich, warum er nach so einem Vorfall überhaupt noch vom Staat bezahlt wird.«

»Da bist du nicht die Einzige«, erwiderte Ray.

Sie schwiegen beide einen Moment und starrten vor sich hin, während um sie herum die Menschen lachten und sich unterhielten. Die High-Tech-Maschine des Baristas entließ lautstark eine Kaffeespezialität in die Tasse des nächsten Kunden. Irgendwo in der anderen Ecke des Cafés kicherten zwei Frauen um die Wette, während sie sich auf dem Smartphone ein mit Musik unterlegtes Video ansahen.

Erst die Ankunft der Kellnerin, die ihre Getränkebestellung aufnahm, durchbrach den Moment der trauten Ruhe. Ray konnte spüren, wie sein Zorn langsam verrauchte und einer merkwürdigen Mischung aus Ruhe und Zufriedenheit Platz machte.

»Kein Wunder, dass dich das alles beschäftigt«, bemerkte Kim und zeichnete mit dem Fingernagel ein Muster auf die Serviette, die vor ihr lag. »Im Moment geht wohl alles ein wenig drunter und drüber in deiner Familie.«

Er hob den Kopf und sah sie an. Ihre vollen Lippen pressten sich leicht zusammen, und sie bedachte ihn mit einem bedauernden Blick.

Ray holte tief Luft. Daher wehte also der Wind!

Enttäuschung machte sich in ihm breit. War sie nur mit ihm Kaffee trinken gegangen, um mehr über seine kranke Schwägerin zu erfahren?

»Du hast schon von Kirsten gehört«, bemerkte er.

Sie zog die Schultern nach oben und schaffte es, zerknirscht und gleichzeitig absolut bezaubernd auszusehen. Ray spürte, wie sein Körper unerwartet auf die schöne Frau neben ihm reagierte. Auch wenn er nicht so recht wusste, was er von ihr halten sollte, zog sie ihn doch an. Sein Blick huschte erneut über ihre Gestalt. Ein Kaffee war ja ganz nett, aber er hätte Ablenkung anderer Art gebrauchen können.

»Du weißt, dass London ein Dorf ist, wenn es um Gerüchte geht«, erwiderte sie mit entschuldigender Miene. »Ich war Anfang der Woche bei deinem Bruder zu Hause. Kirsten hatte mich gebeten, ein Gemälde abzuholen. Jeff war so … abwesend und zerstreut. Ich habe, ehrlich gesagt, nicht weiter nachgefragt und mir auch keine Gedanken gemacht, dass er mir statt Kirsten geöffnet hat, wo er doch sonst um diese Uhrzeit in der Firma ist.« Sie zuckte mit den Schultern und zerknitterte eine Ecke der Serviette. »Erst, als ich vorgestern eurer Großmutter über den Weg gelaufen bin, hat sie mir erzählt, dass Kirsten schwerkrank ist. Ich wollte gar nicht weiter nachfragen, aber sie hat offenbar jemanden zum Reden gebraucht.«

Rays Augenbrauen schoben sich ein Stück nach oben. Warum zur Hölle redete Bernadett mit wildfremden Leuten über Kirsten? Kim zog die Unterlippe zwischen die Zähne, und Ray kämpfte eine endlose Sekunde gegen den Drang an, mit dem Daumen darüberzustreichen.

»Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich bin normalerweise nicht der Mensch, der bei so was nachfragt, aber Kirsten und ich waren Studienkolleginnen. Wir sind zwar nur locker befreundet, doch es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mich das kaltlässt. Ich kann mir vermutlich nicht mal vorstellen, wie sehr diese Situation euch alle im Moment belastet.«

Natürlich hatte sie recht.

Es war eine Sorge, die sie alle teilten, aber Ray war auch gut darin, solche Dinge für eine Weile aus seinem Alltag zu verbannen. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er heute noch nicht groß an seine Schwägerin gedacht hatte.

Selbstverständlich war er sich darüber bewusst, dass die akute Leukämie, mit der Kirsten kämpfte, ihr Leben in Gefahr brachte. Sie befand sich im Krankenhaus und lag im Koma. Sie erhielt die beste medizinische Betreuung, die man in England bekommen konnte. Jeff und Kirstens Brüder waren täglich bei ihr, sie war nie wirklich allein.

Genau wie der Rest der Familie hatte Ray sich am Vortag Blut abnehmen lassen. Er hatte nicht eine Sekunde gezögert, testen zu lassen, ob er als Knochenmarkspender für Kirsten in Frage käme. Ihm lag viel an seiner Schwägerin.

Doch ein Teil von ihm wollte nicht darüber nachdenken – so wenig wie über Großmutter Bernadett, die mit einer eigentlich fremden Person einfach über Kirsten quatschte. Hatte sie nichts anderes zu tun?

Was sollte das alles? Er musste mit ihr reden, irgendetwas tun. Aber würde das etwas ändern? Verflucht, er fühlte sich so ohnmächtig und überflüssig, wenn er über all das nachdachte. Er konnte nichts machen, als abzuwarten … und er hasste es zu warten.

Er wollte sich nicht ins Krankenhaus setzen, die Hände in den Schoß legen und sich noch unnützer fühlen, als er es ohnehin schon tat. Also überließ er diesen Teil dem Rest der Familie und bemühte sich darum, sein Leben so normal wie möglich weiterzuführen.

Er musste funktionieren! Auch für Grace, Jeffs Tochter aus erster Ehe, die vor ein paar Tagen wutentbrannt bei ihm aufgeschlagen war, weil Kirsten das Gemälde ihrer Mutter zerstört hatte. Vermutlich jenes Gemälde, das Kim bei Jeff abgeholt hatte.

Nachdenklich betrachtete er die Frau zu seiner Rechten. »Ich dachte, du bist Bildhauerin …«

Ihre Augenbrauen hoben sich eine Winzigkeit. »Ja, das stimmt.«

»Wieso holst du dann ein Bild bei meinem Bruder ab?«

Sie lächelte, und ihm wurde warm. Wie sie wohl aussah, wenn ihre Wangen sich leicht röteten und sie dem Gipfel der Lust entgegendriftete?

Scheiße, Ray, reiß dich zusammen.

»Ich habe einen Freund, der wahre Wunder mit zerstörten Leinwänden vollbringt«, erklärte sie. »Ein wirklich herausragender Maler und Restaurator. Er wird den Schaden begutachten und schauen, ob er noch etwas retten kann.«

Das erklärte natürlich einiges.

»Da wird sich Grace aber freuen«, stellte er fest. Kim zuckte mit den Schultern und warf ihm einen verständnislosen Blick zu. »Meine Nichte. Sie war ziemlich angefressen, weil Kirsten das Porträt ihrer verstorbenen Mutter mit einem Messer attackiert hat.«

Kims schöne grüne Augen weiteten sich überrascht. »Oh.«

»Ja, oh, aber ich kann Kirsten verstehen. Mich hätte es schon viel früher angekotzt, wenn bei meiner Freundin ständig ein Bild von ihrem Ex herumstehen würde.«

Ihr leises Kichern verursachte ihm ein angenehmes Kribbeln im Unterleib. Als sie sich ein wenig zu ihm herüberbeugte und in einer freundschaftlichen Geste mit der Schulter gegen seine stieß, beschleunigte sich sein Puls. »Ich hoffe, deine Freundin verschont dich mit Huldigungen dieser Art.«

Bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich von ihr angezogen fühlte, stützte er sich auf den Ellenbogen ab und musterte Kim. Versuchte sie gerade herauszubekommen, ob er frei war? Wollte sie vielleicht doch mehr als einen Kaffee?

Er schenkte ihr ein anzügliches Schmunzeln.

»Glücklicherweise muss ich mich mit solchen Problemen nicht herumschlagen, genauso wenig wie mit den destruktiven Auswirkungen ungezügelter Eifersucht. Ich bin Single.«

Sie erwiderte sein Lächeln und zwinkerte ihm zu, ehe sie in ihrer Handtasche kramte, um ihr Smartphone hervorzuziehen.

»Recht hast du. Es hat deutlich mehr Vorteile, ungebunden und frei zu sein. Das schont auch das Mobiliar ungemein.«

»Das klingt, als hättest du damit Erfahrungen«, stellte er fest. Sie öffnete den Mund und schloss ihn im gleichen Augenblick wieder, als die Kellnerin mit ihren Getränken an den Tisch trat. Ein Kaffee für Ray, ein Latte Macchiato für Kim.

Als die Angestellte verschwunden war, zog Kim den Zuckerspender zu sich heran und bedeckte den Milchschaumberg in ihrem Glas mit einer kristallinen Decke. Dann begann sie gewissenhaft die Schichten unterzurühren.

»Ich bin überzeugter Single!«

Ray grinste frech, während er seinen Kaffee schwarz genoss.

Damit, auf Zeit zu spielen, kannte er sich auch aus.

»›Überzeugter Single‹ klingt irgendwie immer ein bisschen nach Verzweiflung und ›Ich bekomm nichts mehr ab‹«, frotzelte er.

Kims Lachen klang wunderschön. Sie nahm einen Schluck von ihrem Getränk. »Das ist offenbar ein gern vorgeschobenes Argument jener Menschen, die unfähig sind, sich selbst zu lieben, und stets Bestätigung durch andere suchen, indem sie sich von einer Beziehung in die nächste stürzen.«

Ray runzelte die Stirn.

Meinte sie ihn damit? Er hatte schon länger keine dauerhafte Beziehung mehr gehabt, und es gab durchaus Pausen zwischen seinen Liebschaften. Okay, er gab’s zu, sie waren meist ziemlich kurzlebig, aber er war wählerisch. Nicht jede Frau gefiel ihm, und es war auch noch nicht die Richtige dabei gewesen, die ihn langfristig hatte an sich binden können.

Er verliebte sich eben nicht Hals über Kopf.

Meistens jedenfalls nicht.

Offenbar ahnte sie, worüber er grübelte. Ihr breites Grinsen war mehr als auffällig, auch wenn die untere Hälfte ihres Gesichts hinter dem Latte-Macchiato-Glas verschwand.

Er hob die Schultern. »Was?«

Kim kicherte, löffelte den Milchschaum aus dem halbleeren Glas und beobachtete ihn mit deutlichem Spott. »Du denkst drüber nach, wann deine letzte Beziehung war und wie lang sie gedauert hat, oder?«

»Na ja, ein bisschen vielleicht. Wie steht’s mit dir? Wann warst du zuletzt liiert?«

Sie wickelte sich eine rotbraune Locke um den Finger, zog den Löffel aus ihrem Glas und leckte ihn ab. Rays latente Erregung verwandelte sich in eine beginnende Erektion. Wie ihre Zunge sich am Löffelstiel entlangbewegte, ließ Bilder in seinem Kopf entstehen, die alles andere als jugendfrei waren.

Kim zuckte mit den Schultern und legte den Löffel beiseite, ehe sie ihm ein weiteres Grinsen schenkte.

»Ist mindestens fünf Jahre her, aber ich steh dazu, dass es so ist. Mir geht es als Single deutlich besser als in irgendeiner meiner Beziehungen.«

Anerkennend nickte er.

»Wow! Das ist schon eine Hausnummer …« Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Dieses Gespräch bewegte sich in eine deutlich angenehmere Richtung als erwartet. »Auch wenn das jetzt indiskret ist, aber … Du lebst doch nicht als Nonne, oder? Du hast schon zwischendurch mal ein bisschen Spaß im Leben?«

Kim kicherte erneut und schüttelte den Kopf.

»Du bist wirklich süß«, stellte sie fest. »Aber du hast recht: Das ist indiskret. Wir kennen uns definitiv nicht gut genug, als dass ich dir diese Frage beantworten würde.«

Ray grinste. Seine Finger auf ihre Hand gelegt, zwinkerte er ihr zu. »Dann sollten wir an diesem Zustand unbedingt etwas ändern.«

Kim lachte laut los. Für eine Sekunde übertönte sie sogar die anderen Geräusche im Café. »Du bist wirklich eine Nummer für sich.« Sie warf einen Blick auf ihr Handy, löste ihre Finger aus seinen und tippte auf das Display. »Leider muss ich ablehnen, ich muss nämlich zu meinem Termin. So nett es mit dir auch ist, muss ich mich nun verabschieden.«

»Das ist ausgesprochen bedauerlich.«

Mit einem Lächeln beugte sie sich zu ihm herüber. Ihre Nase berührte fast die seine. Ihm wurde warm, sehr warm.

»Flirte nicht mit mir, Raymond MacAllister. Ich mag dich, aber ich bin nicht deine Kragenweite und ganz sicher nicht der Typ Frau, den du willst.«

»Das sagst du«, raunte er.

Sie zwinkerte ihm zu. »Weil ich es weiß.«

Als sie in ihrer Handtasche offenbar nach Geld kramen wollte, hob er eine Hand und schenkte ihr seinen charmantesten Blick. »Du bist eingeladen. Es war schön, mit dir zu plaudern, und ich würde das gerne wiederholen – ganz unverfänglich natürlich, nur als Freunde.«

Ihr warmes Lächeln ließ sein Herz einen Takt schneller schlagen.

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, gab sie zurück und wurde im nächsten Moment ernst. Abermals legte sie ihm eine Hand auf seinen Arm. »Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinem Fall, Ray. Halte mich auf dem Laufenden.«

»Dazu bräuchte ich deine Nummer«, schlug er vor.

Sie kramte in ihrer Handtasche und überreichte ihm eine Visitenkarte. Er musterte die Blüten, die sich um eine steinerne Hand rankten, und die verschnörkelte Schrift.

»Ich kann mich kaum erinnern, wann mir zuletzt jemand eine Visitenkarte gegeben hat«, bemerkte er. »Das ist ziemlich altmodisch.«

»Ich bin auch altmodisch!«

Ray grinste, zückte einen Kugelschreiber, zog Kims Hand zu sich und schrieb seine Handynummer auf ihre Haut.

»Das ist noch altmodischer«, stellte sie kichernd fest.

Er grinste noch breiter. »Ich weiß.«

Sie beugte sie zu ihm herüber, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und zwinkerte ihm zu, ehe sie aufstand. Er machte einen halbherzigen Versuch, sich ebenfalls zu erheben, doch Kim winkte ab. Ray ließ sich erleichtert auf die Bank zurücksinken. Er war nicht scharf darauf, sich mit einer offensichtlichen Beule in der Hose von ihr zu verabschieden.

»Bis bald, Ray.«

»Bis bald, Kim.«

Während sie hüftschwingend das Café durchquerte, lehnte sich Ray gegen die Rückenpolster der Bank und winkte der Kellnerin zu. Als Kim in die Sonne hinaustrat, bestellte er sich einen Cupcake und lächelte entschlossen vor sich hin.

Ihre Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen: ›Flirte nicht mit mir, Raymond MacAllister. Ich mag dich, aber ich bin nicht deine Kragenweite …‹

Nun … Er war nicht Anwalt geworden, weil er berühmt dafür war, schnell klein beizugeben.

Er war ein Kämpfer.

Er war ehrgeizig, zielstrebig und diszipliniert – zugegeben, manchmal auch ein wenig impulsiv und aufbrausend –, aber, was das Wichtigste war, er liebte Herausforderungen!

Auch wenn sie es vielleicht nicht wusste, aber Kim hatte ihm soeben eine Kampfansage erteilt, und er war mehr als bereit, sie anzunehmen.

* * *

»Mr Benson …«

»SAGEN SIE DIESEM LACKAFFEN, ER SOLL SICH SOFORT BEI MIR MELDEN!«

Es knackte vernehmlich in der Leitung, und Isabelle starrte eine Sekunde lang verblüfft den Hörer in ihrer Hand an.

»Er hat aufgelegt«, stellte Karen am Schreibtisch nebenan fest. Isabelle warf ihrer Kollegin einen säuerlichen Blick zu und nickte.

»Mann, das ist der unhöflichste Mensch, mit dem ich je zu tun hatte!«

Karen zog eine Grimasse. »Ja, das war er schon, als ich noch ganztags für Rays Mutter gearbeitet habe – und da war er noch lange nicht so vertrocknet und verbittert.«

Obwohl ihr nicht danach war, konnte Isabelle nicht anders, als über Karens Bemerkung leise zu lachen. Sie mochte die Tage, an denen ihre ältere Kollegin, die normalerweise von zu Hause arbeitete, mit ihr im Vorzimmer von Raymond MacAllisters Kanzlei saß. Karen besaß nicht nur einen angenehmen Humor, sie gab Isabelle auch ein Stück weit mehr Gelassenheit, um mit Situationen wie dieser umgehen zu können.

Bezirksstaatsanwalt Benson hatte vor fast zwei Stunden das erste Mal angerufen und herrisch nach Isabelles Boss verlangt. Selbstverständlich war Ray noch nicht wieder von seinem Gerichtstermin zurück gewesen, also hatte Isabelle Mr Benson darüber in Kenntnis gesetzt, dass ihr Chef sich melden würde, sobald er da sei.

Leider war Benson nicht gerade für seine Geduld bekannt.

Nach einer halben Stunde hatte er erneut angerufen. Isabelles Antwort war die gleiche wie beim ersten Mal gewesen: ›Mr MacAllister ist noch nicht wieder im Büro. Sobald er hier eingetroffen ist, werde ich ihn über Ihren Anruf informieren, und er wird Sie zurückrufen, Mr Benson.‹

Er war schnippisch geworden – das typische Verhalten eines Alphamännchens, das sich beschnitten fühlte. Anwälte hatten manchmal mehr was von zickigen Teenagern.

Der nächste Anruf war eine weitere halbe Stunde später erfolgt. Wieso MacAllister noch nicht zurück sei; so weit sei die Kanzlei doch gar nicht vom Gericht entfernt!

Eine weitere Viertelstunde danach war Anruf Nummer vier gekommen. Da hatte er bereits begonnen, am Telefon laut zu werden, und hatte ihr regelrechte Vorhaltungen gemacht. Als ob sie über jeden Schritt ihres Chefs informiert sein müsste!

Er hatte ihr mehr oder weniger unterstellt, sie würde ihn anlügen. Obwohl sie sich weiterhin um Höflichkeit bemüht hatte, war ihre Antwort daraufhin deutlich schärfer ausgefallen.

Anruf Nummer fünf war glücklicherweise in dem Moment eingegangen, als Isabelle am Kopierer gestanden hatte. Ihre Kollegin hatte ihn entgegengenommen, was Benson offenbar für einen Moment aus dem Konzept gebracht hatte.

Karen hatte ihm in ihrer stoischen Art erklärt: ›… und wenn Sie noch fünfzehnmal anrufen, Mr Benson, Mrs LaFayette hat es Ihnen bereits oft genug gesagt: Mr MacAllister ist noch nicht von seinem Termin zurückgekehrt. Wir überwachen seine Schritte auch nicht per GPS. Er meldet sich bei Ihnen, sobald er eintrifft. So lang werden Sie sich gedulden müssen.‹

Danach hatte sie aufgelegt, und bis zu Bensons nächstem Anruf war wieder deutlich mehr Zeit verstrichen. Isabelle sah zu der großen Uhr über der Bürotür hinüber.

Gleich halb elf. Bensons letzter Anruf lag etwa eine Minute zurück, und er hatte sie so angebrüllt, dass sie immer noch ein Pfeifen in den Ohren hatte. Sie würde zehn Kreuze machen, wenn die Anrufe dieses arroganten Scheißkerls endlich aufhörten und er sich im Ruhestand befand. Blieb nur zu hoffen, dass sein Nachfolger nicht genauso ein Arsch war.

Isabelle wandte sich ihrem Monitor zu und starrte blicklos auf die Buchstaben, die für einen Moment keinen Sinn zu ergeben schienen.

Sie machte sich selbst Sorgen, wo Ray blieb.

Das war nicht seine Art.

Der Termin bei Gericht war für acht Uhr angesetzt gewesen. Ray hatte mit einer halben, höchstens einer Stunde gerechnet, um dem Richter sein Anliegen zu unterbreiten und eine Verlegung von Jeremy Slaughter zu erwirken.

Nun war er aber schon fast drei Stunden fort. Es war nicht untypisch, dass ein Termin länger dauerte oder er im Anschluss daran einen Mandanten aufsuchte, normalerweise informierte er sie jedoch. Als seine Sekretärin hatte sie auch seine Termine stets im Blick und konnte ihm sagen, wann er in jedem Fall zurückerwartet wurde.

Isabelle hatte versucht ihn anzurufen, mehrfach – auch weil er um elf Uhr einen Termin hatte und seine Mandanten sicher bald eintreffen würden –, aber Ray war nicht an sein Handy gegangen.

Was, wenn ihm etwas zugestoßen war?

In ihrem Kopf formten sich seit einer Stunde schon die schrecklichsten Bilder: wie er blutüberströmt in einer Seitengasse lag, wie er in der Themse trieb, mit dem Gesicht nach unten und ohne Regung.

Okay, sie wusste, sie las zu viele Krimis, und ihre Fantasie spielte nur verrückt. Doch heutzutage gab es auch jede Menge Verrückter, die frei durch die Gegend liefen.

Wahrscheinlich hatte er irgendeinen Bekannten getroffen und darüber die Zeit vergessen. Aber gewöhnlich stellte er sein Handy nur bei Gericht auf lautlos und war sonst stets erreichbar. Es konnte immer etwas sein, wieso also nicht jetzt?

»Du grübelst, wo er ist, oder?«

Karens Stimme riss Isabelle aus ihren Überlegungen. Mit einem ergebenen Seufzer zuckte sie mit den Schultern und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

»Ich fange langsam an, mir Sorgen zu machen«, gab sie zu. »Es ist untypisch für ihn, sich nicht zu melden, wenn sich Änderungen in seinem Terminplan ergeben haben.« Sie deutete zur Uhr. »In einer halben Stunde kommen die Millers. Was machen wir, wenn er bis dahin immer noch nicht aufgetaucht ist?«

»Wir bieten ihnen Tee und Kekse an, dann schauen wir weiter.«

Lächelnd schüttelte Isabelle den Kopf. »Dich bringt wirklich nichts aus der Ruhe, oder?«

Karen schenkte ihr ein breites Grinsen. »Oh doch! Stell dir vor, der Tee würde uns ausgehen. Das wäre eine Katastrophe!«

Isabelle kicherte und seufzte erneut, ehe sie sich vorbeugte und nach dem Telefonhörer griff. »Ich versuche nochmal, ihn anzurufen!«

Ihre Kollegin nickte und ging mit ihrer leeren Tasse zu der kleinen Teeküche hinüber, die dem Wartebereich für die Mandanten gegenüberlag. Als sie zurückkehrte, legte Isabelle mit unbefriedigendem Ergebnis den Hörer wieder auf.

Nichts! Es klingelte nur unzählige Male, ehe eine elektronische Frauenstimme ihr mitteilte, dass der Teilnehmer zurzeit leider nicht erreichbar sei.

Wo zur Hölle war er?

»Vielleicht hat er auf dem Weg zur Kanzlei eine alte Flamme getroffen und wälzt sich gerade mit ihr in einem Hotelzimmer durch die Laken.«

Karens scherzhafte Bemerkung versetzte Isabelle einen unangenehmen Stich, und es gelang ihr nur schwer, ein scheinbar belustigtes Lächeln auf ihre plötzlich tauben Lippen zu zaubern. Möglicherweise war der Gedanke gar nicht so abwegig und würde erklären, warum sein Handy immer noch auf lautlos gestellt war.

In letzter Zeit war er häufiger in Begleitung einer jungen Blondine gewesen – sehr exotisch, mit außergewöhnlich hellem Haar und Augen in einem türkisfarbenen Blau, das Isabelle noch nie gesehen hatte.

Carolyne Irgendwas – Isabelle hatte den Namen vergessen –, angeblich die Verlobte eines Bekannten, mit dem Ray an den Vorbereitungen zu einer Überraschungsparty für seine Schwägerin gearbeitet hatte.

Isabelle versuchte die beunruhigenden Gedanken zu verdrängen.

Seit sie vor fünf Jahren angefangen hatte, als Sekretärin für Ray MacAllister zu arbeiten, hatte sie seine zahllosen Affären miterlebt. Sie hatte die Frauen in seinem Leben kommen und gehen sehen, hatte eine nicht zu erfassende Anzahl von Abschiedsbriefchen, Grußkarten und Blumen verschickt und manch hysterischen Anruf einer glücklosen, verlassenen Frau abfangen müssen.

Oft hatte sie sich dabei den schluchzenden Verflossenen näher gefühlt als jenem Mann, der diesen Zustand zu verantworten hatte. Sie hatte nichts sagen können, war auf Distanz geblieben. Immerhin war er ihr Boss; sie musste professionell bleiben und sich aus seinen privaten Angelegenheiten weitgehend heraushalten, sosehr sie das alles auch verabscheute.

Er hatte zahllose Herzen gebrochen, und Isabelle hatte vermutlich nur einen Bruchteil davon miterleben müssen. Sie wäre jedenfalls nicht verwundert gewesen, wenn es bereits irgendwo einen Ray-MacAllister-Ex-Freundinnen-Club gäbe, in dem seine einstigen Liebschaften sich zusammenrotteten, um ihm irgendwann den Garaus zu machen.

Wenn sie ehrlich war, hätte sie dafür sogar Verständnis aufgebracht. Immerhin wusste sie selbst nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn sich einem der Stachel der Eifersucht tief ins Herz bohrte.

So wie in diesem Moment.

»Hör auf, dir Sorgen um ihn zu machen, Isabelle. Vermutlich hat er wirklich nur jemanden getroffen und beim Plaudern die Zeit vergessen.« Karen nahm wieder an ihrem Schreibtisch Platz und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Glücklicherweise verstand sie Isabelles Schweigen falsch.

Die nickte nur still.

Sie hatte nicht einmal gegenüber ihrer besten Freundin zugegeben, wie es wirklich in ihr aussah. Am Tag, als er sie eingestellt hatte, hatte sie sich Hals über Kopf in diesen verdammten Kerl verliebt, und nichts, aber auch gar nichts, hatte in all der Zeit irgendetwas an ihren Gefühlen für ihn ändern können. Weder seine Affären noch seine regelmäßigen Wutausbrüche, wenn er mit Benson aneinandergeraten war.

Seit fünf Jahren war sie gefesselt an diesen vermaledeiten Mann, der ihr mit diesem sinnlichen Blick aus seinen braunen Augen den Kopf verdreht hatte.

Dabei war zwischen ihnen nie mehr als professionelle Distanz und höfliche Herzlichkeit gewesen. Er hatte sie nie angebaggert, sie nie angefasst oder irgendetwas getan, das sie dazu veranlasst hätte, sich Hoffnungen zu machen.

Er war einfach nur er selbst. Erfolgreicher Anwalt, selbstsicherer Lebemann und – wenn er wollte – ein charmanter blonder Lausbub mit schelmischem Blick.

Ihr Herz hatte sich an jenem Tag, als sie seine Kanzlei betreten hatte und zu diesem Vorstellungsgespräch gekommen war, unwiderruflich für ihn entschieden.

Zu ihrem eigenen Verdruss.

Sie wollte nicht aus der Ferne für einen Kerl schwärmen, der unerreichbar und unantastbar war. Er war ihr Boss und so einiges anderes, aber sicher nicht der passende Kandidat, um eine Zukunft nach ihren Wünschen zu planen. Mit ihm hatte man allenfalls die Garantie auf eine Affäre, aber es würde niemals einen Heiratsantrag, Kinder und gemeinsames Altwerden geben.

Isabelle hatte allerhand versucht, um ihrem Fall von schwerer Verliebtheit entgegenzuwirken. Sie war mit anderen Männern ausgegangen, auf Partys gewesen und hatte sich von ihrer besten Freundin mit so einigen Kandidaten zu Blind Dates überreden lassen – etwas, das sie nie wieder tun würde.

Zudem hatte es nichts genutzt.

Keiner hatte Ray aus ihrem Kopf oder ihrer Brust verbannen können, und es hatte auch niemanden gegeben, der sie wenigstens körperlich genug angezogen hätte, um ihrem Singledasein zumindest für kurze Zeit ein Ende zu bereiten.

Sie war längst abgekommen von ihren Träumereien vom Prinzen auf dem weißen Gaul, aber sie hatte sich – trotz vorhandener Angebote – auch nicht auf irgendwelche sexuellen Abenteuer einlassen wollen. Der Gedanke, sich nur zum Vergnügen mit einem dieser Männer in das nächste Hotelzimmer zu begeben, hatte sie angewidert.

Trotz Isabelles ständigem Dementi hatte ihre beste Freundin mehrfach den Verdacht geäußert, Isabelle sei in ihren Boss verliebt. Es war schon grässlich genug, sich mit diesen Gefühlen herumzuplagen; es offiziell zuzugeben, hätte alles noch schlimmer gemacht.

›Du solltest endlich jemandem eine Chance geben‹, hatte ihre Freundin gemeint. ›Du willst doch nicht ewig als Sekretärin von diesem Anwalt arbeiten. Du wirst noch wie Miss Moneypenny in James Bond!‹

Natürlich hatte sie recht! Isabelle wusste das.

Dennoch war es ihr unmöglich, dahingehend über ihren Schatten zu springen. Sie konnte sich nicht auf irgendeinen Typen einlassen, weil er gut aussah, für den sie aber rein gar nichts empfand.

Jeden Mann, mit dem sie ausging, verglich sie mit Ray. Und trotz all seiner Unzulänglichkeiten und Fehler, derer sie sich durchaus bewusst war, hatte niemand gegen ihn bestehen können.

Wahrscheinlich würde sie als alte, unglückliche Jungfer enden, während sich Ray irgendwann mit sechzig von einer vierzig Jahre jüngeren Frau einfangen und ausnehmen lassen würde wie eine Weihnachtsgans – ein Schicksal, das er mit ziemlicher Sicherheit verdient hätte.

Der Gedanke, dass sie dagegen allein und einsam alt werden würde, weil sie sich nicht von diesem Kerl hatte lösen können, war ziemlich frustrierend.

Isabelle unterdrückte den Drang, erneut nach dem Telefon zu greifen. Vielleicht sollte sie sich ein Haustier anschaffen. Irgendein Lebewesen, das sie mochte, wie sie war, und keine Ansprüche stellte. Eines, das nicht ohne ein Wort verschwand und um das sie sich keine Sorgen machen musste.

Die Bürotür öffnete sich mit Schwung, und gemeinsam mit dem Ehepaar Miller betrat Ray in diesem Augenblick die Kanzlei. Isabelle verkniff sich den erleichterten Ausruf.

Endlich!

»Nehmen Sie doch noch einen Moment Platz«, bat Ray die beiden und deutete auf die kleine Sofagruppe. »In ein paar Minuten bin ich ganz für Sie da.« Sich abwendend, kam er zu seinen zwei Angestellten herüber. »Setzen Sie bitte Teewasser auf, Karen. Isabelle, kommen Sie mit in mein Büro.«

Die Frauen nickten gleichzeitig und setzten sich in unterschiedliche Richtungen in Bewegung.

Isabelle schloss die Tür zu Rays Büro hinter sich und konnte nicht verhindern, dass sie ihren Boss heimlich einer ausgiebigen Musterung unterzog, während er mit seinem Aktenkoffer an seinen großen Mahagonischreibtisch trat und die Krawatte lockerte.

Er sah nicht aus, als hätte er gerade einen wilden Vormittag in einem Hotelzimmer verbracht. Er war nach wie vor adrett und ordentlich gekleidet. Aber was erwartete sie auch? Dass ihm das Hemd aus der Hose hing und ein Kondom am Schuh klebte?

Schluss jetzt, das geht dich gar nichts an!

Isabelle räusperte sich. »Mr Benson hat mehrfach angerufen, Mr MacAllister. Er hat dringend um Ihren Rückruf gebeten und war ziemlich … ungehalten.«

Ray ließ den Aktenkoffer auf den Tisch knallen. Isabelle zuckte zusammen. »Ich weiß, ich weiß! Er hat ständig versucht, mich auf meinem Handy zu erreichen, deshalb habe ich es stumm gestellt. Ich hatte nach dem Debakel bei Gericht noch kurzfristig einen anderen Termin und habe erst im Auto gesehen, dass Sie ebenfalls versucht haben, mich zu erreichen. Da ich aber schon auf dem Rückweg war, habe ich es mir geschenkt, erst noch anzurufen.«

Isabelle horchte auf. »Welches Debakel bei Gericht?«

Rays Miene verfinsterte sich. »Die Staatsanwaltschaft versucht, das Verfahren wieder aufleben zu lassen, und Richter Reeves hat meinen Antrag auf Jeremys Verlegung in eine andere Einrichtung abgelehnt. Wir werden klagen müssen. Doch vorher muss ich mit Jeremy und Donald sprechen.« Er seufzte. »Ich bezweifle allerdings, dass der Junge die Tragweite dieses Gesprächs verstehen wird.«

Mit einer Hand strich er sich durch das helle Haar. Der Unmut stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Vielleicht ist es besser, er bleibt, wo er ist.«

»Aber –«

»Wenn wir klagen, wird Benson auch den Mordprozess wiederaufleben lassen. Alles fängt von vorne an.« Ray schüttelte den Kopf. »Ich werde das ungute Gefühl nicht los, es könnte ihm irgendwie gelingen, die Jury auf seine Seite zu ziehen. Ich muss mir nochmal die Ermittlungsakten vornehmen. Ich bin nicht sicher, ob wir nicht irgendetwas übersehen haben. Wenn wir verlieren, wird die Staatsanwaltschaft dafür sorgen, dass Jeremy im normalen Vollzug landet. Wir wissen beide, was das für den Jungen bedeutet.«

Isabelle nickte.

Es gab viele Straftäter im Gefängnis, die sich trotz schwerer Vergehen ihre Menschlichkeit bewahrt hatten, aber Jeremy war ein leichtes Ziel. Jemand, der sich nicht zu wehren wusste. Jemand, der in einer solchen von Gewalt geprägten Umgebung keine Chance hatte.

Das perfekte Opfer.

Er würde zum Spielball werden und möglicherweise Dinge durchstehen müssen, über die Isabelle nicht einmal nachdenken wollte.