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Ewa Aukett

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Beschreibung

I am lonely. I am hungry. I am greedy. I am death. Laurens Schwester war das neueste Opfer eines grausamen Serienmörders. Während das FBI ratlos vor diesem Fall steht, sucht sie verzweifelt nach Halt und findet ihn in einer Selbsthilfegruppe, wo sie auf den geheimnisvollen Kyle trifft. Lauren spürt sofort eine tiefe Verbundenheit zu Kyle, eine Sicherheit, die sie lange nicht mehr empfunden hat. Schnell wird er zum einzigen Menschen, dem sie noch vertraut. Doch je weiter sie in die Ermittlungen eintaucht, desto gefährlicher wird es für sie. Inmitten der düsteren Atmosphäre von St. Louis verhärtet sich ihr Verdacht, dass der Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hat, nicht der ist, für den er sich ausgibt.  Jetzt zählt jede Sekunde, während Lauren erbittert dafür kämpft, die Wahrheit ans Licht zu zerren, um sich selbst vor einem schrecklichen Schicksal zu retten. Doch wird sie es schaffen, Kyles Geheimnisse zu enthüllen, bevor es zu spät ist? Oder wird sie das nächste Opfer in einem perfiden Spiel, dessen Regeln und Mitspieler sie gerade erst zu verstehen beginnt?   Erlebe einen nervenzerreißenden Thriller, der dein Herz schneller schlagen lässt und dich bis zur letzten Sekunde in seinen Bann zieht. Tauche ein in eine Geschichte voller Geheimnisse, Leidenschaft und unvorhersehbarer Wendungen. Bist du bereit, das Rätsel zu lösen? Oder wirst du selbst zur Spielfigur in diesem mörderischen Tanz aus Lügen und Täuschung?

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DARK EMBER

EWA AUKETT

2

Lauren

»Lauren?«

Blinzelnd hebe ich den Kopf und werfe einen irritierten Blick auf den Mann, der mir gegenübersteht: Thomas. Sein schwarzer Rollkragenpullover lässt ihn strenger aussehen, als das erste Telefonat gestern hätte vermuten lassen. Strenger als er in Wirklichkeit ist. Er lächelt mich an, verständnisvoll und aufmunternd. »Wenn du möchtest, können wir loslegen.«

Ich hole tief Luft. Meine Kehle ist eng, und ich spüre den Druck in meinem Bauch. Statt mich zu rühren, starre ich auf einen imaginären Punkt, irgendwo auf halber Höhe, wage es kaum, in die Gesichter zu sehen, die um mich herum sind. Es kostet mich große Überwindung, tatsächlich aufzustehen und die Stimme zu erheben. Ich bin normalerweise nicht schüchtern. Doch das hier ist eine Ausnahmesituation für mich.

»Hallo. Mein Name ist Lauren.«

»Hallo Lauren«, werde ich im Chor begrüßt.

Ich hebe das Kinn ein bisschen weiter und sehe ein paar freundliche Gesichter, die mir mitfühlend zunicken. Jeder Blick, der mich trifft, vermittelt mir die gleiche Botschaft: Hab keine Angst, wir haben das alle gemacht, wir sitzen hier im gleichen Boot. Ich muss mich nicht fürchten, nichts muss mir unangenehm sein. Meine Finger zittern leicht, als ich weiterrede: »Ich bin … verheiratet, habe zwei Kinder und arbeite in der städtischen Bibliothek von Philadelphia.« Sie klopfen auf ihre Stuhllehnen, um mir zu zeigen, dass sie gutheißen, wie ich mich schlage. »Meine Schwester … Sophie, sie wurde …« Mir bricht die Stimme weg. Ich räuspere mich, sammle mich sekundenlang und bin froh, dass sie mir die Zeit geben, ohne mich zu unterbrechen. »Sie wurde … vor etwas mehr als zwei Wochen gefunden.« Es folgt ein mehrstimmiges Hmhm, das mich fast erleichtert aufatmen lässt, und ich weiß nicht mal, wieso. »Sie war bisher das letzte Opfer, sagen sie.«

In das Nicken mischen sich Anteilnahme, Trauer und etwas, das ich nicht benennen will, nicht benennen kann, weil ich sonst wieder in Tränen ausbreche. Wir mögen alle im gleichen Boot sitzen, aber ich will trotzdem nicht vor diesen Leuten heulen. Sie sind mir einfach fremd. Ich öffne die Lippen, will noch irgendwas sagen, aber mein Kopf ist plötzlich leer, und ich klappe den Mund wieder zu wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich will nichts mehr, als mich in irgendein Loch zu verkriechen. Ein kleiner Teil von mir möchte nach meiner Tasche greifen und zur Tür rausstürmen. Weg von hier, weg von all diesen Menschen.

»Das war sehr gut«, stellt Thomas fest, der offenbar gemerkt hat, dass ich nicht in der Lage bin, weiterzureden. »Du kannst dich gern wieder setzen, Lauren.«

Ich nicke hastig und sacke erleichtert auf meinen Stuhl zurück.

»Habt ihr euch nahegestanden, du und Sophie?«

Oh nein! Ich dachte, es wäre vorbei. Mühsam versuche ich den Rest um mich herum auszublenden, konzentriere mich auf Thomas‘ Kinn. Bloß niemandem in die Augen sehen und irgendwelche Gefühle darin erkennen. Ich mache eine selbst für mich seltsame Geste, irgendwas zwischen einem halbherzigen Nicken und dem Hochziehen der Schultern.

»Ja, schon. Als Teenager hatten wir natürlich die üblichen Probleme unter Schwestern, aber je älter wir wurden, desto besser verstanden wir uns. Wir haben sogar eine Weile zusammengelebt – bis ich geheiratet habe.« Meine Unterlippe zittert, und ich versuche sie zu kontrollieren, indem ich darauf herumbeiße. »Sophie war ein großer Halt für mich. Nach dem Tod unserer Mutter … ohne sie – ich weiß nicht …« Mir bricht die Stimme weg.

»Schon gut, Lauren, schon gut.« Thomas hebt beruhigend eine Hand. »Wir verstehen alle deinen Schmerz.«

Ich nicke bedrückt, flüstere nur ein leises »Danke«.

Er nickt mir zu, lächelt sacht und löst ein warmes Gefühl in mir aus. Es ist schön, dass jemand Verständnis für mich aufbringt in dieser Situation … und unter diesen Umständen. Ob Thomas verheiratet ist? Oder eine Freundin hat? Gott! Was geht mir da durch den Kopf? Ich bin nicht hier, weil ich verzweifelt auf der Suche nach einem Kerl bin! Zum Glück wendet sich seine Aufmerksamkeit den anderen zu. Er hebt die Hände.

»Möchte jemand von euch sprechen?« Er deutet auf eine Person am anderen Ende des Stuhlkreises. »Was ist mit dir, Kyle? Du bist heute auch zum ersten Mal dabei.«

»Ja, sicher.« Ein Mann erhebt sich langsam. Zu ausgeblichenen Jeans trägt er ein enges, dunkelblaues T-Shirt, unter dem sich ein beeindruckend muskulöser Oberkörper abzeichnet. Im Gegensatz dazu wirkt die Brille mit dem Horngestell auf seiner Nase geradezu altmodisch. Explizit für jemanden, der schätzungsweise erst um die dreißig ist. Als hätte Clark Kent vergessen sein Superman-Outfit abzulegen.

»Hi, mein Name ist Kyle.« Ich mag den Klang seiner Stimme auf Anhieb.

»Hallo Kyle«, begrüßen ihn alle im Chor.

Als sich mein Blick auf sein Gesicht heftet, schaut er mich an. Mir wird warm. Einer seiner Mundwinkel zuckt für einen winzigen Moment einen kaum wahrnehmbaren Millimeter nach oben, und Unruhe macht sich in mir breit. Ich bin nicht sicher, wie ich das einordnen soll – vermutlich will er mir einfach nur sein Mitgefühl ausdrücken, und ich interpretiere zu viel hinein, aber irgendwie … fühle ich mich seltsam.

Kyle atmet hörbar ein. »Meine Tante war das vorletzte Opfer. Sie haben sie vor nicht ganz sieben Wochen gefunden.« Er schiebt die Brille auf der Nase nach oben, während er sich umschaut. »Mein Vater ist eigentlich immer zu diesen Treffen gekommen. Vor zwei Wochen hat er sich das Bein gebrochen und soll jetzt erst mal wieder gesund werden. Er hat mich gebeten ihn hier eine Weile zu vertreten, bis es ihm besser geht.«

Zustimmendes Gemurmel und leises Klopfen folgen. Ich klopfe zögernd mit.

»Du lebst mit ihm zusammen?«, will Thomas wissen.

Kyle schüttelt den Kopf. »Nein. Ich wohne normalerweise in Columbia. Ich bin hergekommen, um ihn und meinen Bruder ein wenig zu unterstützen.«

»Das ist nett von dir.« Thomas lächelt in die Runde. »Dein Dad hat erzählt, dein Bruder ist krank!?«

Mir entgeht nicht, dass Kyles Nasenflügel sich kurz aufblähen. »Doug ist nicht krank. Er ist eingeschränkt, was seine Kommunikationsfähigkeiten und die zwischenmenschlichen Interaktionen betrifft. Aber er arbeitet daran und führt ein weitgehend selbstständiges Leben mit der Hilfe unseres Vaters.«

»Oh, natürlich. Das ist großartig, wir brauchen mehr solcher Menschen.« Thomas nickt Kyle wohlwollend zu, und Superman ist anzusehen, dass er erleichtert ist, sich wieder setzen zu können. In den nächsten Minuten hält der Gruppenleiter mit sanfter, warmer Stimme eine Ansprache an uns alle.

Meine Aufmerksamkeit verirrt sich erneut in Kyles Richtung, und wieder treffen sich unsere Blicke. Er lächelt mich an, aufmunternd, als wollte er mir stumm kommunizieren, dass ihn das hier auch nervt, aber er genauso wenig eine Wahl hatte wie ich. Meine Mundwinkel heben sich sacht. Ehrlich gesagt bin ich freiwillig hergekommen, weil ich hoffte, hier Trost zu finden und nicht länger das Gefühl zu haben, allein zu sein, aber schon als ich vor einer Viertelstunde durch die Tür des Gemeindehauses getreten bin, hätte ich am liebsten wieder kehrtgemacht. Ich bin keine Einsiedlerin. Ich komme normalerweise gut mit anderen Menschen klar und habe wenig Probleme, auf sie zuzugehen, aber wir alle sind hier, weil wir Angehörige eines Mordopfers sind … Das ist keine Selbsthilfegruppe, die gemeinsam was gegen ihre Rückenschmerzen unternehmen will und sich zum kollektiven Turnen trifft. Ich bin auch bloß hier, weil Detective Santini vom Saint Louis Police Departement mir den Rat gegeben hat, mich vielleicht der Runde der Hinterbliebenen anzuschließen, um darin Kraft zu finden. Wenn ich jedoch ehrlich bin, finde ich nur Kyle wirklich sympathisch. Er gibt mir Grimassen schneidend zu verstehen, dass wir wohl weiter zuhören müssen, und ich nicke kaum wahrnehmbar.

Thomas spricht darüber, dass es okay ist, nicht nur die Trauer zu durchleben, sondern auch die Wut zuzulassen, die uns innewohnt. Wir alle haben eine Schwester, Mutter, Tante, Grandma oder sogar Tochter verloren. Wir alle sind ohnmächtig vor Enttäuschung, weil der Täter immer noch dort draußen frei herumläuft und die Polizei wie gelähmt zu sein scheint. Eine der anderen Frauen schluchzt plötzlich auf, als er uns bittet, uns an ihre Gesichter zu erinnern, an all die wunderbaren Momente, wenn wir an unsere gemeinsame Vergangenheit denken. Dieses Geräusch ist wie ein Messerstich, der mir durch den ganzen Leib fährt – und auch wenn ich mich mit jeder Faser dagegen wehre, es ihr gleichzutun, kann ich nicht völlig verhindern, dass mein Blick verschwimmt. Ich lasse das Kinn auf die Brust sinken und starre vor mich hin. Der Teil in mir, der meine tote Schwester vermisst und immer noch nicht richtig begreifen will, dass wir nie wieder telefonieren oder uns in die Arme schließen können, zieht hektisch die imaginäre Mauer um mich herum nach oben, hinter der ich mich seit einer Weile verschanze, sobald ich in eine emotional überfordernde Situation gerate. Ich weiß, wenn ich nachher allein bin, bricht alles aus mir heraus. Aber hier will ich diesen Gefühlen keinen Raum geben. Stattdessen beuge ich mich vor, stütze die Ellbogen auf den Knien ab und versuche ein neutrales Gesicht aufzusetzen.

Ich muss nicht in mich hineinhorchen, um zu wissen, dass ich traurig und unglücklich bin. Sophies Verlust ist so viel schlimmer, als ich es vor mir selbst zugeben will. Ich werde vermutlich für den Rest meines Lebens nicht diesen Augenblick vergessen, in dem ich sie anrufen wollte und stattdessen Detective Santini am Telefon hatte. Doch bei allem Kummer bin ich in erster Linie zornig. Zornig auf dieses Monster, das frei herumläuft und unschuldigen Frauen auflauert, um sie zu kidnappen, zu missbrauchen und sie anschließend nackt und mit kahlgeschorenem Kopf irgendwo abzuladen, als wollte er sie dem beschissenen Vollmond opfern. Ich will, dass sie diesen Wichser finden, irgendwer ihm eine Knarre an den Kopf hält und sein beschissenes krankes Hirn über dem Asphalt verteilt. ›Hass‹ ist ein viel zu kleines Wort für das, was ich empfinde. Ich will Rache!

Aufgewühlt schließe ich die Augen und atme tief ein und aus. Minuten ziehen an mir vorüber, ohne dass ich Thomas‘ Worten noch Gehör schenke, und werden zu einer gefühlten Ewigkeit. Ich kann gerade noch einen erleichterten Seufzer unterdrücken, als er verkündet, dass die Zeit vorbei ist und wir uns melden sollen, wenn wir Hilfe brauchen. Stühle werden gerückt und Hände geschüttelt. Ich schlüpfe in meine Jacke, verabschiede mich hastig und beeile mich nach draußen zu kommen. Ich brauche dringend frische Luft.

Vor der Tür des Gemeindehauses bleibe ich abrupt stehen. Es regnet in Strömen. Ich kann sehen, wie der Himmel in der Ferne aufleuchtet, weil ein Gewitter aufzieht.

Scheiße! Ich will jetzt nicht zurück zum Haus fahren.

Mein Blick irrt über die nassen Straßen voller Autos, die an mir vorbeihastenden Menschen, die sich mit einem letzten Winken verabschieden und zu ihren geparkten Wagen eilen, und schließlich hinüber zu dem hellerleuchteten Einkaufszentrum. ›Wie ein Licht in finsterer Nacht‹ … Wieso ich ausgerechnet jetzt Sophies spöttische Stimme höre, hinterfrage ich lieber nicht.

»Kein sehr einladendes Wetter«, erklingt Kyles dunkles Timbre neben mir. Ein wenig erschrocken wende ich mein Gesicht in seine Richtung. Er ist einen guten Kopf größer als ich und sieht mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf mich herab. Ich schüttle den Kopf, während er den Reißverschluss seiner Lederjacke hochzieht.

»Nein, ist es nicht.«

»Kann ich dich mitnehmen?«, will er wissen. Mein Blick fällt auf den Helm, der lässig über seinem rechten Arm hängt.

Ich runzle die Stirn. »Willst du bei dem Regen ernsthaft mit dem Motorrad fahren?«

»Nein, eigentlich wollte ich rüber ins Diner. Die anderen haben alle abgelehnt.« Er deutet in Richtung Einkaufszentrum. »Du hast nicht zufällig Lust auf einen Kaffee und ein bisschen Ablenkung?«

Es ist die Wahl zwischen dem gemeinsamen Getränk mit einem völligen Fremden und der Einsamkeit in Sophies leerem Haus – ich muss nicht lang nachdenken und ringe mir ein dünnes Lächeln ab. »Doch, hab ich.«

3

Lauren

Wir müssen rennen, denn natürlich habe ich meinen Schirm im Auto liegen lassen. Die Haare kleben nicht nur mir nass am Kopf, als wir in die hellerleuchtete Mall treten. Kyle zaubert ein frisches Stofftaschentuch aus seiner Jacke. Ich bin irritiert. So was habe ich zuletzt bei meinem Großvater gesehen, und der ist schon lange tot. Er reicht es mir, damit ich mir das Gesicht abtupfen und die Haare notdürftig trocknen kann.

»Ganz schön altmodisch«, stelle ich fest.

Sein Mundwinkel zuckt nach oben, und ich bemerke, dass er ein Grübchen hat. Das ist irgendwie … süß, obwohl ich ihn mit diesem Attribut sonst eher nicht beschreiben würde. Seine Schultern sehen immer noch aus, als würde er durch keine Tür passen.

»Deutlich nachhaltiger als Bäume für Papiertaschentücher zu fällen«, erwidert er mit einem Zwinkern.

Ich reiche ihm das durchweichte Stofftuch zurück und ziehe eine Braue nach oben. »Ich hätte dich nicht für einen Umweltaktivisten gehalten.«

»Das höre ich öfter«, bemerkt er, rubbelt sich das kurze dunkle Haar trocken und gibt mir mit stummer Geste zu verstehen, ihm zu folgen. Das Diner befindet sich auf der linken Seite des Einkaufszentrums und ist nur spärlich besucht. Wir bekommen einen Tisch in der Fensterreihe, die Richtung Parkplatz zeigt. Während wir über das Wetter und belanglose Dinge plaudern, nimmt der Kellner unsere Bestellung auf, bringt uns zwei Kaffee und lässt uns allein. Kyle zieht seine Lederjacke aus, und ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich seine beeindruckenden Muskeln anstarre. Sie sind nicht extrem definiert wie bei einem Bodybuilder, aber man sieht ihm doch an, dass er Krafttraining macht und sich fit hält … Im Gegensatz zu mir ist er wirklich gut in Form.

»Wie fühlst du dich?«, will Kyle wissen. Seine Miene ist ernst, fast ein wenig besorgt.

Es ist seltsam, dass er mir diese Frage stellt und ich sekundenlang das Bedürfnis habe, mich über mein gesamtes Leben bei ihm auszukotzen. Dabei will er nur nett sein, weil er vermutlich erkannt hat, dass mir das Gerede über Sophie vorhin ziemlich naheging. »Ganz okay, denke ich.«

»Es ist noch ziemlich frisch für dich«, bemerkt er, zieht einen Zahnstocher aus dem Spender am Tischrand und spielt damit herum. »Seine Schwester zu verlieren ist sicher ähnlich schlimm wie ein Elternteil zu verlieren.«

Mein Blick richtet sich auf meine Hände, und ich zucke sacht mit einer Schulter. »Ja, das ist durchaus vergleichbar.«

Ich kann hören, wie er scharf Luft holt. »Entschuldige, das war gedankenlos von mir. Du hast ja vorhin erzählt, dass ihr auch eure Mom schon verloren habt.«

»Das ist lang her, fast dreißig Jahre.«

»Dann warst du noch ein Kind?«

»Nicht ganz.« Ich zwinge mich ihm in die Augen zu sehen. »Was ist mit dir? Stand dir deine Tante nah?«

Seine Brauen biegen sich ein Stück nach oben, während er mit dem Holzstäbchen zwischen seinen Fingern herumspielt. »Wir haben in der gleichen Stadt gelebt, als ich noch ein kleiner Junge war. Trotzdem haben wir uns nur etwa einmal im Jahr gesehen. Weihnachten hat sie uns früher immer besucht, aber die restlichen Tage hat jeder sein eigenes Leben gelebt. Wir waren uns nicht so nah wie du und deine Schwester. Ihr Verlust hat uns nicht völlig aus der Bahn geworfen, aber zu wissen, dass sie einfach … nicht mehr da ist …«

Er stockt und starrt vor sich hin.

»Ich weiß, was du meinst«, werfe ich ein, ehe er weiterreden kann. »Ihr Tod ist so sinnlos – und unfair.«

Kyle nickt. »Ja, das trifft es ziemlich genau.«

»Ich wollte das vorhin nicht sagen, in der Gruppensitzung und mit den anderen um mich rum, auch wenn es uns vermutlich allen so geht.« Ich atme tief ein. »Aber ich bin echt wütend, weißt du? Ich will, dass sie diesen Scheißkerl drankriegen für das, was er getan hat.«

»Was das betrifft, empfinden wir vermutlich das Gleiche.«

Aufgewühlt starre ich in die Tasse zwischen meinen Fingern. »Ich will nicht nur, dass sie ihn einbuchten. Ehrlich gesagt hoffe ich, dass irgendwas Schlimmes passiert und er dabei draufgeht.«

Als ich das Kinn hebe, begegne ich dem intensivsten Blick, mit dem mich jemals jemand angeschaut hat – als würde er direkt in meine Seele starren. Dann nickt er langsam. »Verständlich.«

Die Sandwiches, die wir bestellt haben, werden gebracht, und der kurze unangenehme Moment, in dem ich schon befürchte, er steht gleich auf und geht, verfliegt.

»Was ist mit deinem Vater?«, versuche ich das Thema zu wechseln.

Kyle lächelt mich kurz an. »Er verflucht sein Gipsbein, aber da wird er leider durchmüssen.«

»Wie ist das passiert?«

»Na ja, Pa ist fast siebzig. Da reicht es schon, auf der letzten Treppenstufe ins Stolpern zu kommen und zu stürzen. Ich bin froh, dass ihm nicht noch mehr passiert ist.«

»Oh je.« Ich nicke verstehend. »Ich hoffe, er kommt schnell wieder auf die Beine.«

»Der alte Herr ist zäh.«

»Und dein Bruder? Du hast gemeint, er hätte ein … Handicap.«

»Ja, man nennt das HFA, hochfunktionalen Autismus, ähnlich wie Asperger.« Kyle greift sich eine Hälfte seines Sandwiches, beißt hinein und kaut darauf herum, ehe er den Bissen mit einem Schluck Kaffee herunterspült. »Die Experten sind sich nicht ganz einig, inwieweit sich das eine vom anderen unterscheidet.« Er mustert mich. »Ich mag es nicht, wenn man ihn als krank bezeichnet. Doug ist besonders, aber er ist nicht irgendwie gebrechlich, nur weil seine verbale Kommunikation sich später entwickelt hat. Er ist nett und herzlich, auf seine Art … und ich kenne niemanden, der andere so gern zum Lachen bringt wie er.«

Die Art und Weise, wie er über seinen Bruder spricht, berührt mich. Es ist offensichtlich, dass ihm seine Familie sehr wichtig ist. Ich schiebe den Teller mit meinem Sandwich zur Seite und nippe erneut an meinem Kaffee. »Das klingt doch nach einem großartigen Menschen.«

»Ist er, definitiv.«

Während er die Hälfte seines Sandwiches verputzt, starre ich gedankenverloren in meine Tasse. Ich wünschte, meine Familie wäre sich gedanklich nur halb so liebevoll verbunden, wie es bei Kyle offenbar der Fall ist. Stattdessen ist sie in den letzten paar Monaten immer weiter zerbrochen, und ich weiß, ich trage einen großen Teil der Schuld daran.

»Hast du keinen Hunger?«

Überrascht hebe ich den Blick. Er wischt sich den Mund mit einer Serviette ab – es ist offensichtlich, dass er seine Mahlzeit beendet hat.

»Bitte was?«

»Du solltest etwas essen.«

Mein Blick huscht zu dem Sandwich, und Scham wallt in mir auf. »Ja, sicher, gleich.«

»Es ist wirklich köstlich«, bemerkt Kyle. »Erzähl, was ist mit dir?«

»Mit mir?«

»Du hast vorhin gesagt, du bist verheiratet und hast zwei Kinder.« Er nickt mir zu. »Du trägst aber keinen Ring.«

Ich ziehe automatisch meine Hand vom Tisch und versenke sie in meinem Schoß. Meine Schultern sacken nach unten. »Ich … bin geschieden.«

»Oh, entschuldige.«

»Nein, schon gut.« Ich flüchte mich in ein kurzes Auflachen. »Ich sollte da eigentlich offener mit umgehen. Ich meine …« Ich rolle mit den Augen und ziehe eine Grimasse. »Ich bin ja nicht die einzige geschiedene Frau auf diesem Planeten.«

»Ist noch nicht lange her, oder?« Ich sehe ihn an. Sein Blick hat nichts Mitleidiges, wie es sonst so oft passiert. Er ist einfach nur neugierig.

Ich schüttle den Kopf. »Die Scheidung war vor gut einem Monat, aber … wir waren schon viel länger getrennt.«

»Vermisst du ihn?«

Diesmal ist das Auflachen vielleicht ein bisschen zu laut. Ich rufe mich selbst zur Ruhe. »Nein! Nein.« Als wollte ich mir das selbst nochmal klarmachen, schüttle ich erneut den Kopf. »Das mit uns ist vorbei.« Einatmend lehne ich mich zurück. »Ich bin nur genervt von diesem ganzen Theater, das noch hinterhergekommen ist, weißt du? Der Verkauf des gemeinsamen Hauses, die Aufteilung der angeschafften Wertgegenstände. Du verbringst so viele Jahre mit einem anderen Menschen, von dem du denkst, dass er das Gleiche für dich empfindet wie du für ihn, und dann wirst du einfach durch etwas Jüngeres ersetzt.« Ich ziehe die Schultern nach oben und blicke wieder in meine Tasse. »Aber vermutlich hat John recht, und ich bin bloß verbittert.«

»John ist …«

»Oh, mein Sohn. Er meinte, ich solle damit abschließen und einen Strich unter alles ziehen.«

Kyle runzelt die Stirn. »Lebt er bei deinem Ex?«

»Nein. John ist erwachsen.« Ich ziehe den Teller mit dem Essen zu mir und greife mir eine Hälfte des Sandwiches. Es sieht verlockend aus, aber den Anblick begleitet auch ein unangenehmes Gefühl von Scham … Der Puls hämmert mir durch den Hals. »Er führt sein eigenes Leben – und ich glaube, es nervt ihn einfach, dass ich nach über einem Jahr immer noch wütend auf seinen Vater bin.« Ich beiße hinein und lasse mich für einen Moment von dem Geschmack ablenken, den die Verbindung aus weichem Weißbrot, Salatcreme, frischem Gemüse und Aufschnitt in meinem Mund auslöst. Kyle hat recht, es ist köstlich.

»Du hast einen erwachsenen Sohn? Wie alt warst du, als du ihn bekommen hast?«

Verblüfft schaue ich Kyle an, der mich mustert, als wäre ich ein Alien.

»Ich war zwanzig«, entgegne ich gelassen. »Jetzt bin ich siebenundvierzig.«

Seine Brauen schnellen nach oben, und aus seinem nächsten Blick spricht nicht nur Verblüffung. »Wow! Ich hätte dich niemals älter als Mitte dreißig geschätzt.«

Ein Lächeln zuckt um meine Mundwinkel. »Danke. Das Kompliment kann ich gerade wirklich brauchen.«

»Ich stelle nur Fakten fest. Du bist, wenn ich das so sagen darf, ganz schön heiß.«

Ich spüre, wie meine Wangen warm werden, und senke den Kopf. Als heiß hat mich schon lange niemand mehr bezeichnet. Um genau zu sein, waren es zuletzt eher so Sprüche wie: ›Sei nicht so nachtragend.‹ – ›Du bist so engstirnig und altmodisch.‹ – ›Zeig doch mal Verständnis.‹ – ›Friss nicht wie ein Schwein.‹ – ›Schau, wie du aussiehst.‹ Mir vergeht der Appetit, ich lege das Sandwich zurück auf den Teller.

»Du bist also Bibliothekarin?«

»Ähm, nein, ich arbeite als Aushilfe in der städtischen Bücherei.« Mit einem leisen Seufzen greife ich nach der Kaffeetasse und nehme einen weiteren Schluck. »Ich habe vor einer Ewigkeit mal angefangen Medizin zu studieren, drei Semester. Ich habe mir eingebildet, ich könnte irgendwann die Welt retten.«

»Was ist dazwischengekommen?«

»Ich wurde schwanger. Wir haben geheiratet, unser Sohn wurde geboren.« Nachdenklich schüttle ich den Kopf. »Wir waren noch so jung. Roger … mein Ex, er hat sein Wirtschaftsstudium weitergeführt und ich meins abgebrochen. Wir haben ein Haus gekauft, und zwei Jahre später kam unsere Tochter zur Welt. Ich muss gestehen, ich hab’s genossen, Mutter zu sein.« Ich zucke mit den Schultern und versuche die tiefsitzende Enttäuschung zu verdrängen, die ich fast körperlich spüre. »Als Hausfrau war ich laut Rogers Aussage allerdings eine ziemliche Niete.«

»Ich bin sicher, er ist ein dummes Arschloch, das deine Arbeit für selbstverständlich hielt und dich nicht wertgeschätzt hat«, stellt er trocken fest. Obwohl mir nicht danach ist, lächeln wir uns an. Ich mag Kyle. Ich mag sein Grübchen und wie er den Kopf schief legt, während er mich aufmerksam betrachtet. Mich hat lange niemand mehr angeschaut, als würde ihn interessieren, was ich zu erzählen habe. Und nur deshalb rede ich weiter, weil ich das Gefühl habe, dass ich in seiner Anwesenheit nicht in irgendein stereotypes Rollenmuster verfallen muss.

»Ja, vielleicht hast du sogar recht. Als die Kinder groß genug waren, habe ich mir Halbtagsjobs gesucht, weil ich daheim sein wollte, wenn sie aus der Schule zurückkamen, aber nicht den ganzen Tag damit verbringen wollte, die Bude zu putzen. Ich dachte immer, ich fange wieder an zu studieren, wenn sie alt genug sind. Jetzt sind sie erwachsen, führen ihr eigenes Leben, und ich brauche dringend eine besser bezahlte Arbeit, damit ich mir eine eigene Wohnung leisten kann, sobald ich kein Dach mehr über dem Kopf habe.«

»Würdest du es nochmal tun?«

Verblüfft mustere ich ihn. »Du meinst heiraten und Kinder kriegen?«

»Ja.«

Ich öffne den Mund und will schon automatisch zustimmen, aber dann lasse ich seine Frage erst mal sacken. Ich weiß nicht, ob es am Altersunterschied zwischen uns liegt, dass er die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachtet als ich – oder daran, dass er einer der jüngeren Generationen angehört.

»Ich liebe meine Kinder«, entgegne ich leise. »Auch wenn John und ich im Moment nicht das beste Verhältnis zueinander haben, ist er mein Sohn. Für nichts auf der Welt würde ich die Jahre mit ihm oder seiner Schwester Pam vergessen wollen.«

»Davon spricht auch niemand.«

Ich nicke. »Ich weiß, wenn ich heute nochmal jung wäre und neu anfangen könnte … würde ich mein Medizinstudium weitermachen und Ärztin werden.«

Kyles Lächeln vertieft sich.

»Das Ende von etwas Altem ist auch immer der Anfang für etwas Neues«, bemerkt er. »Du musst das so sehen: Du kannst jetzt tun und lassen, was du willst. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig, trägst keine Verantwortung für irgendwen und bestimmst über dein eigenes Leben. Nimm das Geld, das du für den Hausverkauf bekommst, und wage etwas, das nur dir gehört. Vielleicht studierst du wieder oder reist durch die Welt.«

Irritiert lasse ich meine Tasse sinken und schaue ihn an. »Wie alt bist du?«

»Zweiunddreißig.«

»Du klingst wie diese Lifestyle-Coaches in ihren Vierzigern: ›Starten Sie nochmal richtig durch.‹«