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Ewa Aukett

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Beschreibung

Auf der Hochzeit seiner Schwester trifft Leon LaFayette wieder auf Kimberly Jordan. Dreizehn lange Jahre sind vergangen, seit Kimberly ihn verlassen und damit sein Herz gebrochen hat. 

 

Kimberly ist ebenso wunderschön wie eiskalt. Sie war Leons große Liebe – doch die Wut darüber, dass sie ihn im Stich gelassen hat, als er sie am meisten brauchte, ist noch nicht verpufft. Überraschend löst Kimberleys Erscheinen aber noch etwas ganz anderes in Leon aus: Den Wunsch, sie zu besitzen.

Gibt das Schicksal Leon und Kimberley eine zweite Chance, oder werden sie sich wieder aneinander verbrennen?  

 

Feuer trifft Eis in diesem vierten und letzten Roman der "All we have"-Reihe von Bestseller-Autorin Ewa Aukett. Die Romane sind in sich abgeschlossen, aber durch wiederkehrende Figuren verbunden.



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A KISS IS ALL WE HAVE

ALL WE HAVE 4

Ewa Aukett

1

Während die Sonne warm und einladend vom wolkenlosen Septemberhimmel herabschien, schlenderten die Gäste über den Rasen oder bewegten sich im Takt der Musik auf der Terrasse. Gelächter vereinte sich mit sanften Melodien. Der Duft der zahlreichen Rosen, die Rolfe LaFayettes liebevoll gehegte Beete schmückten, betörte die Sinne.

Nach tagelangen Regenfällen war das Wetter an diesem Samstag schlagartig besser geworden. Die Temperatur war auf angenehme dreiundzwanzig Grad angestiegen, als hätte der imaginäre Wettergott seine schlechte Laune über Bord geworfen und wollte doch nun die Hochzeit ihrer besten Freundin feiern.

Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte Kimberley am Rahmen der Terrassentür und beobachtete mit einem gewissen Unwohlsein das fröhliche Treiben.

Sie hasste Hochzeiten!

Die Eiswürfel in ihrem Orangensaft klirrten leise, als sie das Glas in ihren Fingern hin und her bewegte. Ihr Blick wanderte über die feiernde Gesellschaft hinweg und fand rasch das frisch getraute Paar.

Isabelle und Raymond MacAllister standen eng umschlungen inmitten der wogenden Menge, schauten einander verliebt in die Augen und schienen die Welt um sich herum völlig vergessen zu haben.

Kim lächelte verhalten in sich hinein.

Zugegeben, sie hatte ihre Bedenken in Bezug auf Ray gehabt. Er war ein Playboy gewesen – aber offenbar brauchte es bei manchen Männern tatsächlich nur die richtige Frau, um aus ihnen ehrenwerte Gentlemen zu machen. Das hoffte sie jedenfalls sehr.

Nach all den Irrungen und Wirrungen der letzten Monate und dem verrückten Plan, den Ray geschmiedet hatte, um die vermeintlich falsche Frau in seine Blockhütte zu entführen, hatte sich schließlich doch noch alles zum Guten gewendet.

Der Gedanke, dass sie selbst an Belles Stelle hätte stehen können, war so absurd, dass Kim immer noch eine Gänsehaut bekam.

Nachdenklich starrte sie in ihren Orangensaft.

Sie mochte Ray. Er war ein netterer Kerl, als sie ihm offiziell jemals zugestehen würde, dennoch war ihr Groll gegen ihn noch nicht gänzlich verebbt. Sie hatte ihm unmissverständlich damit gedroht, dass sie ihn mit einem Betonblock an den Füßen in der Themse versenken würde, wenn er es wagen würde, ihrer besten Freundin noch einmal das Herz zu brechen.

Im Augenblick sah Belle allerdings ausgesprochen glücklich aus.

Der kleine Bauch, der sich unter ihrem weißen Kleid abzeichnete, würde in den nächsten Monaten weiterwachsen. Aus ihrer besten Freundin würde eine echte Mama werden. Ein Umstand, der sich für Kim immer noch ziemlich befremdlich anfühlte.

Kopfschüttelnd nahm sie einen Schluck von ihrem Saft. Heiraten und Kinder waren nie ein Thema gewesen. Für sie selbst war dieser Gedanke nach wie vor weit weg. Irgendwie war diese Zukunft stets die der anderen.

Sie hob den Blick und sah zu ihrer besten Freundin.

Über Jahre hinweg hatte Belle Ray aus der Ferne angehimmelt und war für ihn lediglich seine Sekretärin gewesen. Als sie endlich doch zueinandergefunden hatten, war alles sehr schnell gegangen. Nun war sie verheiratet, im vierten Monat schwanger und würde in drei Wochen mit ihrem Mann nach London zurückkehren.

Kim unterdrückte einen Seufzer. Sie konnte nicht leugnen, dass ihre Grübeleien sie ein bisschen wehmütig machten. Niemandem gönnte sie das Glück so sehr wie Belle, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, um sie herum würden plötzlich alle ihre bessere Hälfte finden und sesshaft werden, während sie selbst allein zurückblieb und immer noch auf der Suche nach ihrem sicheren Hafen war.

Sie nahm einen weiteren Schluck.

Letztlich war das wieder einer dieser üblichen melancholischen Anflüge, die einen als Single jedes Mal einholten, wenn man auf einer Hochzeit war und wiederholt den Einzelplatz am Tisch der Braut zugeteilt bekam. Ziemlich sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen.

Trotzdem fühlte sie sich unwohl genug, um sich in den Salon der Villa zurückzuziehen und ihre Einsamkeit zu pflegen. Sie bedauerte, dass Sergio sie nicht hatte begleiten können. Nicht einmal Belles Bruder war allein erschienen.

Kim spürte, wie der nächste Schluck Orangensaft ihre Kehle viel zu langsam herunterrann. Der Gedanke an Leon war wie ein Eimer kaltes Wasser, und alle Erinnerungen, die sie so lang verdrängt hatte, waren bei seinem Anblick zurückgekehrt.

Als er sich mit seiner Freundin nur wenige Plätze von ihr entfernt in die erste Reihe neben die Brauteltern gesetzt hatte, war ihr plötzlich schwindelig geworden. Sie hatte sich dazu gezwungen, zu Belle und Ray zu starren und ihm keine Beachtung zu schenken.

Mehr als dreizehn Jahre waren vergangen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Dreizehn Jahre, in denen sie keinen Fuß in dieses Haus gesetzt hatte. Dreizehn Jahre, in denen sie jeden aufkommenden Gedanken an ihn verdrängt hatte.

Als sie am Morgen vor dem Anwesen in Les Andelys vorgefahren war, waren diese Jahre wie weggewischt gewesen.

Michelle und Rolfe hatten sie schon am oberen Absatz der Treppe erwartet. Es war ihr schwergefallen, nicht in Tränen auszubrechen, als die beiden sie in die Arme geschlossen hatten. Fast hatte es sich angefühlt, als würde sie nach Hause kommen. Michelle und Rolfe waren immer wie Eltern für sie gewesen … die einzigen Eltern, die sie noch in den Arm nehmen konnte. Etwas, das sie nie wieder mit ihren eigenen machen konnte.

Ihre Mutter war bereits vor mehr als dreizehn Jahren gestorben. Der Verlust war hart gewesen, und es war Kim nicht leichtgefallen, zu ihrem Vater und seiner neuen Frau zu ziehen. Sie hatte die Frau, die sie für das Scheitern der Ehe ihrer Eltern verantwortlich machte, nie wirklich akzeptiert.

Das war aber nur einer der Gründe, warum sie sich ein knappes Jahr später eine eigene Wohnung gesucht hatte. Zwischen ihrem Dad und ihr hatte es davor und danach viele bittere Worte gegeben. Fast fünf Jahre hatten sie gar nicht mehr miteinander geredet, nur zu den Geburts- und Feiertagen hatten sie sich Karten geschickt.

Im letzten Monat war er gestorben.

Während Belle auf diesem Island-Trip mit Ray gewesen war, hatte Kim die Nachricht erhalten, dass ihr Vater an COPD erkrankt war, einer unheilbaren Lungenkrankheit. Es war ein Schock gewesen. Er hatte schon lange damit gekämpft, aber nie etwas darüber gesagt. Sein Zustand hatte sich allerdings so rapide verschlechtert, dass er sich verabschieden wollte, solange er es noch konnte.

Als Belle nach ihrem Tête-à-Tête mit Ray wütend und enttäuscht nach Frankreich zurückgezogen war, hatte Kim ihr nichts davon erzählt, weil sie ihre Freundin nicht auch noch damit hatte belasten wollen.

Belle hatte genug mit ihrem eigenen Chaos zu tun gehabt, und dann war da noch die Wut gewesen, weil sie Kim für das Ende dieser Liaison mitverantwortlich machte. Es hatte irgendwie nie gepasst, und nachdem sie sich endlich mit Ray versöhnt hatte, hatten die beiden sich gleich in die Hochzeitsvorbereitungen gestürzt.

Kim hatte derweil viel Zeit in Wales verbracht, um die wenigen Wochen, die ihr mit ihrem Vater noch geblieben waren, mit ihm zu verbringen. Lediglich ihr bester Freund Sergio und ihre Agentin Amélie waren informiert. Beide hatten auf ihre Bitte hin Stillschweigen bewahrt. Sie wollte kein Mitleid und keine traurigen Mails, in denen man ihr viel Kraft wünschte und ihr sagte, es würde alles wieder gut werden.

Sowohl der Tod ihres Vaters als auch die Beisetzung waren in aller Stille verlaufen. Nicht einer seiner vielen Freunde von früher hatte sich sehen lassen, obwohl diese durchaus informiert gewesen waren. Eine bittere Erkenntnis.

In den Tagen nach seinem Verlust war viel geschehen, und die Ereignisse hatten sich in unangenehmer Hektik aneinandergereiht. Als sie in Wales gewesen war, um sich um die Formalitäten der Beerdigung zu kümmern und eher halbherzig zu versuchen, ihre ungeliebte Stiefmutter zu trösten, hatte Amélie sie darüber informiert, dass Leon in London gewesen war.

Er hatte sie offenbar gesucht. Das war ungewöhnlich. Ein spontaner Besuch nach so vielen Jahren?

Als sie nach London zurückgekehrt war, hatte sie durch die versäumte Zeit viele liegengelassene Aufträge aufarbeiten und aufholen müssen. Da Leon weder eine Nachricht noch seine Kontaktdaten hinterlassen hatte, hatte sie sich nicht weiter darum gekümmert. So merkwürdig sie sein Verhalten auch finden mochte, sie fühlte sich nicht veranlasst, ihm hinterherzulaufen.

Wenn sie eines über die Jahre erfolgreich gelernt hatte, dann war es, ihre Gedanken von unangenehmen Dingen abzulenken – und Leon war eines dieser unangenehmen Dinge. Also hatte sie die möglichen Grübeleien über ihn verdrängt und sich mit anderen Sachen beschäftigt.

Erst heute hatte sein Anblick neue Fragen in ihr aufgeworfen.

Wie war es ihm ergangen? Was hatte er gewollt? Wer war die schöne Brünette an seiner Seite?

Beim Essen war sein Toast auf das Brautpaar so unpersönlich und kurz gewesen, dass er von einem Fremden hätte kommen können. Belle war jedoch so voller Endorphine und Muttergefühle, dass es ihr vermutlich gar nicht aufgefallen war.

Kim schwenkte den Inhalt ihres Glases und beobachtete gedankenverloren die zur Hälfte geschmolzenen Eiswürfel. Sie kannte die Gerüchte und Geschichten, die die Presse von Zeit zu Zeit über Leon streute. Er hatte die renommierte Sicherheitsfirma seines Vaters übernommen, nachdem dieser sich zur Ruhe gesetzt hatte, und er war sehr erfolgreich. Nicht nur französische Landsleute mit üppigem Bankkonto nahmen seine Dienste gern in Anspruch. Aber die Klatschzeilen beschäftigten sich noch viel lieber mit seiner Bindungsunfähigkeit und damit, dass die Frauen ihm hinterherrannten, weil jede glaubte, sie könnte ihn retten. Er galt als eigensinnig und unhöflich, um es nett auszudrücken.

Sie wusste nicht, was es damit auf sich hatte, denn ansonsten gab es wenig von ihm zu lesen. Belle zu fragen, war keine Option. Seine Schwester interpretierte ohnehin zu viel in Kims Interesse und Gedanken hinein.

Natürlich war er immer noch ein attraktiver Mann. Sie hätte schon blind sein müssen, um das nicht zu erkennen. Aber die naive, mädchenhafte Verliebtheit, die sie vor langer Zeit für Leon gehegt hatte, gehörte einer Vergangenheit an, die weit hinter ihr lag.

Sie verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. Damals war ihre Welt noch in Ordnung gewesen.

Wieso war er überhaupt nach London gekommen? Sie schüttelte unmerklich den Kopf. In gewisser Weise war sie froh, dass sie sich verpasst hatten. Sie wollte kein persönliches Wiedersehen mit ihm und …

Jeder Gedanke in ihr erstarb. Jede Zelle ihres Körpers erbebte.

Gänsehaut machte sich auf ihren Armen breit. Seine Präsenz war so enorm, dass sie seine Anwesenheit im Zimmer spürte, bevor er überhaupt die Stimme hob. Kim schloss die Augen. Offenbar änderten sich manche Dinge auch nach Jahren nicht.

»Auch keine Lust mehr auf die affektierte Horde?«

Sie wandte sich um und sah ihn in der Mitte des Salons stehen. Er hielt eine Tasse in der Hand. Der Duft von Kaffee kitzelte ihre Nase.

Sein durchdringender Blick ließ sie nicht los, als er an der Tasse nippte. Er sah wirklich gut aus in seinem schwarzen Anzug und dem locker aufgeknüpften Hemd. Er war älter geworden, vereinzelt sah sie ein paar silbrige Fäden in seinem schwarzen Haar. Die Narbe war deutlich verblasst – und er hatte nichts von dieser raubtierhaften, dunklen Ausstrahlung verloren.

Sie mochte über ihn hinweg sein, aber es wäre eine Lüge, wenn sie behauptete, dass sie ihn nicht immer noch anziehend fand. Ihr Puls beschleunigte sich, ihre Haut wurde warm. Sie kannte dieses sanfte Kribbeln, das in ihrem Bauch war, nur zu gut.

Um Gelassenheit bemüht, zwang sie sich ruhig zu bleiben. »Hochzeiten sind nicht so mein Ding.« Sie nickte ihm höflich zu. »Hallo Leon.«

»Kimberley.« Er kam langsam näher. Selbst seine Bewegungen hatten etwas von einer Großkatze. Schließlich blieb er neben ihr stehen. Sie brauchte nicht einmal den Arm auszustrecken, um ihn anfassen zu können. Ihr Herzschlag legte noch einen Zahn zu. Sein Aftershave stieg ihr in die Nase und benebelte ihre Sinne. »Hochzeiten sind schon ein wenig fad, nicht wahr?«

Sie blinzelte irritiert. Was sollte die Frage?

Versuchte er sich jetzt im Small Talk? Früher hatte er keinen Wert darauf gelegt. Vermutlich hatten sie sich schon zu lange aus den Augen verloren, um unbeschwert ein Gesprächsthema zu finden. Kim hob die Schultern und beobachtete erneut die fröhliche Menge. Sie fühlte sich unwohl. »Das hat nichts mit fad zu tun. Ich bin einfach nicht der Mensch für solche Feierlichkeiten.«

»Nicht?«

In diesem einen Wort klang ein seltsamer Unterton mit. Sie zog eine Schulter hoch und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. »Es ist wirklich schön hier, und ich wünsche Belle und Ray alles Gute, aber ich bin grundsätzlich kein Fan von Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen.«

»Hm.«

Stille breitete sich zwischen ihnen aus, während Leon seinen Kaffee genoss und Kim einen weiteren Schluck von ihrem Orangensaft nahm. Plötzlich schmeckte das Zeug bitter.

Sie war angespannt und konnte nicht leugnen, dass Leons Anwesenheit sie mit einer gewissen Unruhe erfüllte. Sie hatten ein zufälliges Wiedersehen in den vergangenen Jahren vermieden, obgleich sie ihre gesamte Kindheit miteinander verbracht hatten. Ihr letztes Aufeinandertreffen lag Jahre zurück, und ihr Abschied hatte sich nicht gerade auf angenehme Weise in Kims Gedächtnis gebrannt.

»Belle hat dich gefragt, ob du Patentante werden willst?«

Seine Stimme hatte immer noch diesen warmen, dunklen Klang. Sie hinterließ ein Gefühl, als würde Samt über nackte Haut streichen und sie mit wohliger Wärme erfüllen.

Als Kind hatte sie es geliebt, in seinen Armen zu liegen und ihm zu lauschen, während er ihr Geschichten vorlas … oder wenn er sie an sich drückte, sie tröstete und ihre Tränen trocknete.

Sie senkte den Blick auf ihre Schuhe und verdrängte den Gedanken aus ihrem Kopf. Sie waren beide keine Kinder mehr. Diese Tage der Unbeschwertheit waren vorbei. Sie räusperte sich und konzentrierte sich auf seine Frage. »Das ist richtig.«

»Hast du dich schon entschieden?«

Wenn Belle ihm von ihrer Bitte erzählt hatte, dann sicherlich auch, dass Kims Antwort noch ausstand. »Nein. Ich habe mir Bedenkzeit erbeten.«

»Warum?«

Sie sah ihn nicht an, bemerkte aber aus dem Augenwinkel, dass er sich auf der anderen Seite gegen den Türrahmen lehnte und sie anstarrte. »Ich hab’s nicht so mit Kindern. Als Patentante hat man eine gewisse Verantwortung, und der sollte ich auch gerecht werden.«

Leon legte den Kopf schief. »Klingt vernünftig.«

Wieso hatte sie den Eindruck, dass er ihr genau diese Eigenschaft aus unerfindlichen Gründen absprach?

Sie fühlte sich zunehmend von ihm gemustert. Die Arme vor der Brust verschränkt, ahmte sie seine Haltung nach und erwiderte seinen provokanten Blick.

»Du hast doch sicher als gewissenhafter Bruder gleich Ja gesagt?«

»Natürlich.«

Der Hauch eines Lächelns huschte über seine Lippen. Er betrachtete sie von oben bis unten. Seine Augen blieben einen Moment zu lange an ihren Brüsten hängen.

Sie war schon öfter auf ähnliche Weise angestarrt worden, doch zu ihrem Verdruss war Leon der Einzige, der dabei etwas in ihr weckte, das sonst tief und fest schlief. Sie atmete ein und bemerkte, wie er sich mit der Zungenspitze über die Lippen leckte, ehe er einen weiteren Schluck Kaffee trank.

Kim spürte die Hitze, die in ihr hochstieg, und wandte sich wieder der Hochzeitsgesellschaft zu, ohne wirklich etwas zu sehen.

»Ich muss mich noch bei dir bedanken.«

Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Wofür?«

»Für den englischen Schwager.«

Kim sah ihn an und war nicht sicher, ob er das ernst oder ironisch meinte. »Ich denke, das haben die beiden ganz gut allein hinbekommen.«

»Aber ist es denn nicht wahr, dass Ray eigentlich dich erobern wollte? Isabelle ist doch eher versehentlich in seiner Blockhütte … und seinem Bett gelandet, obwohl du da eigentlich sein solltest.«

Sie legte den Kopf schief. Glaubte er, sie und Ray hätten etwas miteinander gehabt?

Er trank weiter seinen Kaffee und beobachtete scheinbar gelangweilt die Menschen im Garten seiner Eltern. Auf den ersten Blick wirkte er völlig gelassen und desinteressiert, dennoch spürte sie die unterschwellige Herausforderung, die in seiner Frage mitschwang.

»Nun, ich schätze, dass Belle dir von diesem dämlichen Plan erzählt hat, den Ray sich ausdachte.«

»Ja, natürlich … und wie verliebt er in dich war.«

Sie rollte mit den Augen. »Er war ganz sicher nicht in mich verliebt. Er hat sich vielleicht was eingeredet, aber das waren gewiss keine echten Gefühle.«

Der Blick seiner grauen Augen bohrte sich in ihren eigenen, als er sich ihr zuwandte. »Betrübt dich das?«

Kim stutzte. War das Leons Ernst?

»Was? Wieso sollte es das?«

»Nun, du scheinst diese Wirkung gern auf Männer auszuüben. Sie werben um dich, genießen deine Nähe und verlieben sich in dich … und dann servierst du sie ab.«

Stirnrunzelnd ließ sie die Arme sinken. »Das ist mir neu. Ich kann dir versichern, dass Ray und ich lediglich befreundet waren.«

Sein Blick glitt erneut auf diese unverschämte Weise über ihren Körper, als wäre sie nackt. Es ärgerte sie, dass ihre Brustwarzen hart wurden und sich gegen den Stoff ihres BHs drückten. Leon nippte an seinem Kaffee. Das war ihm sicher nicht entgangen. »So?«

Kim spürte, wie der Ärger sich in ihr festsetzte. Was sollte diese Bemerkung?

»Was hast du für ein Problem?«, wollte sie wissen.

»Du starrst mich an.«

Resigniert stellte sie ihr halbvolles Glas auf die Fensterbank. Es war offensichtlich, dass er auf Streit aus war – warum auch immer. Sie drehte sich zu ihm um. »Was erwartest du, wie ich auf deine seltsame Bemerkung reagiere? Lächeln, nicken und Danke sagen?« Kim schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist, dass du gleich so gereizt auf meine Anwesenheit reagierst. Aber wenn ich dich dermaßen nerve, verschwinde ich umgehend.«

»Vorher hätte ich noch ein paar Fragen an dich.« Sie fühlte sich abermals von seinem prüfenden Blick taxiert. »Bei meinem Besuch im letzten Monat konnte ich das leider nicht persönlich klären.«

»Meine Agentin hat mir davon berichtet, dass du da warst.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Ach, du weißt davon … Sind Freunde von früher heute nicht mehr von Interesse?«

»Was meinst du damit?«

»Sich in den vergangenen Wochen mal zu melden, ist dir nicht in den Sinn gekommen?«

Kims Augen wurden schmal, und sie machte einen Schritt auf ihn zu. Er mochte Gefallen finden an Andeutungen und Spitzfindigkeiten, sie war aber immer noch jemand, der das Herz auf der Zunge trug. »Was soll das, Leon? Ich sitze nicht ständig in London und warte darauf, dass mich irgendjemand besuchen kommt, den ich seit Jahren nicht gesehen habe. Ich habe einen Job und ein Privatleben.«

Sie wollte sich abwenden, doch als er den Mund öffnete, um vermutlich eine weitere Unverschämtheit loszuwerden, machte sie einen Schritt auf ihn zu und stach ihm fast den Zeigefinger ins Gesicht. »Erwartest du, dass sie mich anruft und ich sofort alles stehen und liegen lasse, um zurückzukehren? Als hätte ich all die Jahre nur darauf gewartet, dass der große Léonard de LaFayette wieder vor meiner Tür steht?«

Er straffte sich sichtlich, drängte sie zurück und stellte geräuschvoll die Kaffeetasse neben ihrem Glas ab. »Du hättest dich bei deiner Rückkehr zumindest melden können.«

Kim legte den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war wirklich nicht klein, aber er war nur Zentimeter von ihr entfernt und starrte auf sie herunter, als wäre sie ein Zwerg.

»Hätte ich das?« Sie schob das Kinn vor. »Vielleicht hättest du dann deine Visitenkarte dalassen sollen oder wenigstens eine Nachricht mit ›Meld dich, ich muss mit dir reden‹.« Sie hob beide Hände und zuckte mit den Achseln. »Da war nichts – keine Visitenkarte, keine Nachricht. Ich musste annehmen, dass du vielleicht zufällig in der Gegend warst und es eine spontane Entscheidung war. Oder dass du es im gleichen Moment schon wieder bereut hast, meine Agentin überhaupt aufgesucht zu haben, und deshalb keine Kontaktdaten hinterlassen hast. Was weiß denn ich? Welchen Grund hätte ich haben sollen, nachzufragen, Leon? Wir haben uns vor mehr als zehn Jahren zuletzt gesehen.«

»Dreizehn.« Sein Blick huschte über ihr Gesicht und blieb eine Sekunde länger als nötig an ihren Lippen hängen. »Ich habe unser letztes Treffen nicht vergessen.«

Ihr Puls galoppierte davon und ließ heiße Lava zurück, die sich durch ihre Adern wälzte. Sie hatte diesen zornigen Kuss damals auch nicht vergessen.

Kim schluckte hart. Verflucht, sie wollte sich nicht noch einmal in dieser Anziehung verfangen, die er auf sie ausübte. Sie floh sich in Sarkasmus. »Also, ich bin hier. Wenn du mir etwas zu sagen hast, was du mir letzten Monat in London mitteilen wolltest, dann wäre jetzt die Gelegenheit.«

Er kam erneut näher, und sie wich unwillkürlich vor ihm zurück. Drei Schritte hinter ihr war die Wand.

Leons Hände legten sich links und rechts von ihrem Kopf auf die Tapete. Er war so nah, dass sie nur die Arme zu heben brauchte, um ihn zu berühren. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, ihren Busen, hinab zu ihren Beinen und zurück.

Sie hasste es, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in diese wunderschönen Augen zu sehen. Sie hasste es, wie unglaublich gut er roch und wie sehr sie die Linien seiner Lippen vermisst hatte.

Ihre Nasenflügel bebten. Für eine Sekunde war sie sicher, gleich innerlich zu verglühen. Nichts außer einem Häufchen Asche würde von ihr übrigbleiben.

Gott! Wann war der Wunsch in ihr aufgekommen, er würde sie an sich ziehen, ihren Rock hochschieben und sie auf dem Piano vögeln?

Leon beugte sich zu ihr herab. Er würde sie küssen. Sein Atem streifte über ihr Gesicht. Sie konnte die Wärme seines Körpers, der immer näherkam, fühlen. Sie schloss die Augen.

Er hatte ihr so sehr gefehlt!

»Ich will, dass du die Freundschaft mit Belle beendest.«

Hitze verwandelte sich in Eis. Die Kälte ließ sie innerlich erstarren und schmerzte in ihrer Brust, als sie ihr Herz umschloss. Sie öffnete die Augen und sah sein Gesicht direkt vor sich. Seine grauen Augen hatten die Farbe von altem Eis, und da war kein Funken Humor in seinem Blick.

Sie konnte ihre eigene Stimme kaum hören. »Was?«

»Du hast mich schon richtig verstanden.«

Die Seifenblase, in der sie für Sekunden gefangen gewesen war, zerbarst. Sie richtete sich auf und drückte ihm eine Faust gegen die Brust. Er machte einen Schritt zurück. »Was hast du für ein Problem?«

»Du bist mein Problem. Du tust Belle nicht gut.«

Gegen ihren Willen musste sie nun doch lachen. »Ist das so?« Seine Augen wurden schmal. »Denkst du nicht, dass Belle alt genug ist, um selbst entscheiden zu können, mit wem sie befreundet sein will und mit wem nicht?«

Er kam ihr nach, als sie sich an ihm vorbeiquetschte und zurück zur Terrassentür ging. »Hatte sie je eine Wahl?«

Kim blieb stehen und drehte sich mit geballten Fäusten zu ihm um. In ihr war kalter Zorn. Wie konnte er so etwas sagen?

Als er einen weiteren Schritt auf sie zumachte, starrte sie ihm entgegen. Sie würde nicht noch einmal vor ihm zurückweichen. Ihre Stimme wurde schneidend. »Geht dich das irgendwas an?«

Leons Augen funkelten. »Sie ist meine Schwester. Alles, was sie betrifft, geht mich etwas an.«

Verdammter französischer Macho!

»Belle ist erwachsen. Sie kann ihre eigenen Entscheidungen treffen.«

»Was dich betrifft, ist sie leider blind. Sie sieht nicht, wie du wirklich bist.«

Kim blinzelte. Zum Teufel, wovon sprach er da? »Vielleicht erläuterst du mir das … wie ich wirklich bin?«

Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, und seine Nasenspitze berührte fast ihre eigene. Sein warmer Atem streifte ihre Lippen. »Ich kenne Frauen wie dich, Kimberley. Ihr zieht andere gern mit in den Abgrund, um euch an ihnen wieder nach oben zu arbeiten.«

Verärgert runzelte sie die Stirn. »Ist das so? Ich bin mir dessen nicht bewusst, mich je auf Kosten anderer bereichert zu haben.«

»Da habe ich anderes gehört.« Er musterte sie eine lange schweigende Sekunde, ehe er weitersprach: »Ich weiß von deinen kleinen Geheimnissen.«

Sie hatte nicht geahnt, wie viele Facetten innere Kälte haben konnte. So ähnlich musste sich Sterben anfühlen. Jeder Gedanke in ihr erlosch und machte stiller Dunkelheit Platz. Von jetzt auf gleich waren all die Momente der Vergangenheit zurück und fielen wie ein Fliegenschwarm über sie her. Kim kämpfte die Panik herunter, die in ihrer Kehle emporkroch.

Nie wieder. Sie hatte sich geschworen, dass es sie nie wieder kleinmachen würde. Sie würde das nicht zulassen. Ihre Hände krampften, als sie die Fäuste löste. Sie würde nie wieder ein Opfer sein – nicht einmal das ihrer eigenen Angst.

Das war unmöglich. Leon konnte nichts wissen. Es war unvorstellbar, dass die Vergangenheit sie einholte und ihr mit stoischer Ruhe ein Messer zwischen die Rippen rammte.

Ihre Kehle war eng, während sie Leon ansah und gleichzeitig durch ihn hindurchstarrte. »Was für Geheimnisse?«

»Deine schmutzige kleine Vergangenheit. Von der gefeierten Schönheit zum gefallenen Engel. Der Sturz ist tief, nicht wahr?« Da war ein seltsamer Ausdruck in seinen grauen Augen. Eine Mischung aus Wut und … Enttäuschung?

Kim schluckte. Mit der Wut konnte sie umgehen, mit seiner Enttäuschung nicht. Dennoch zwang sie sich, ihre Gefühle hinter die dicke Tür aus Holz zurückzudrängen, hinter der sie all die Jahre gehockt hatten. Sie hob das Kinn, darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie am ganzen Körper zitterte. »Meine Vergangenheit geht dich gar nichts an.«

»Da hast du wohl recht. Es interessiert mich auch nicht, was du getrieben hast oder immer noch treibst.« Er rückte näher. »Aber es geht mich etwas an, wenn jemand wie du den Umgang mit meiner Schwester pflegt.«

Seine Hand hob sich, und seine Finger legten sich um ihr Kinn. Ihre Haut brannte, wo er sie berührte. Er hatte sie schon einmal so angefasst, vor langer Zeit … und dann hatte er sie geküsst. Wütend, zornig und doch auf eine Weise, wie es nie jemand danach getan hatte. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie von sich gestoßen.

»Du kennst mich nicht«, flüsterte sie.

»Ich habe genug Frauen wie dich kennengelernt. Ihr nutzt euren Körper, um zu bekommen, was ihr wollt. Ihr stellt euch wie Heilige dar, aber seid doch letztlich nur Huren.«

Sie verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln und ignorierte den Druck seiner Finger. Es war nicht das erste Mal, dass ein Mann sie so nannte. »Der große LaFayette, so voller Selbstgefälligkeit. Du nimmst dir das Recht heraus, wahllos jede Frau zu vögeln, die dir gefällt, aber mich nennst du eine Hure. Wie nennt man Männer wie dich? Notgeile Böcke?«

»Weißt du, mir ist egal, für wie viele Kerle du tagtäglich die Beine breitmachst. Meinetwegen kannst du auch weiter einen Porno nach dem anderen drehen, aber halt dich von meiner Schwester fern.«

Sie schlug seine Hand beiseite und musterte ihn konsterniert. Er sprach offenbar von etwas ganz anderem als sie. »Wovon zur Hölle redest du?«

Sein Lächeln war falsch und herablassend. »Ich habe es gesehen!«

»Was gesehen?«

»Dich! In diesem Video.«

Sie spürte, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. »Was? Was redest du da?«

Er machte sichtlich genervt einen Schritt nach hinten. »Tu doch nicht so, als wüsstest du es nicht.«

»Klär mich auf«, forderte sie. »Du bist doch eh schon dabei, mich eines Besseren belehren zu wollen.«

Seine Hand zuckte nach vorne. Diesmal schlossen sich seine Finger um ihren Oberarm, und sie unterdrückte einen Schmerzenslaut. Das tat weh!

»Verarsch mich nicht, Kim. Ich habe dich gesehen in diesem Video, mit fünf oder sechs Kerlen, die …« Seine Stimme erstarb. Es klang fast, als würde es ihm die Kehle zuschnüren und als könnte er nicht weiterreden. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Sein Blick war verächtlich. »Du warst vermutlich noch etwas jünger. Vielleicht hast du das Geld gebraucht, vielleicht hat es dir auch einfach nur Spaß gemacht. Aber ich habe dich offenbar unterschätzt – ein einzelner Kerl hätte dir vermutlich nie gereicht. Keine Ahnung, wann du von deinem Weg abgekommen bist oder ob du schon immer so warst und nur so getan hast, als ob du die gleichen altmodischen Ansichten hättest wie ich.« Er ließ sie los. »Ich bin nur froh, dass wir dieses Kapitel übersprungen haben.«

Sie konnte fühlen, wie ihr Kinn zitterte. Was er da erzählte, konnte einfach nicht sein. Das war eine Lüge!

Waren die Videoprogramme heute so gut? Hatte man ihr Gesicht einfach irgendwo eingefügt? Sie schloss für eine Sekunde die Augen und hoffte, dass die Welt aufhören würde sich zu drehen. Ihre Stimme bebte, als sie es endlich schaffte zu sprechen. »Wer hat dir dieses Video gezeigt?«

Leon verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Er sah immer noch zornig aus. »Du kennst ihn. Er war mal dein Modelcoach, wie er sagte. Er hat stolz damit geprahlt, dass er dich groß rausgebracht hat, bis du genug von ihm hattest. Du warst offenbar in aller Munde … wortwörtlich, wie mir jetzt klargeworden ist.«

In ihren Ohren war ein Rauschen. Sie wollte es nicht glauben. Sie wollte nicht hören, was er da erzählte – und gleichzeitig war da dieser selbstzerstörerische Teil von ihr, der wollte, dass Leon es aussprach. »Sag seinen Namen.«

»John Howard.« Seine Miene drückte Abscheu aus, während er sie betrachtete. »Ihr scheint euch bei so einigem vergnügt zu haben.«

Kim nickte und fühlte sich gleichzeitig wie tot. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören, ihren Kopf zu bewegen. Ihr war kalt. Eisigkalt.

Sie fühlte sich elend und wollte nichts mehr, als in irgendein Loch zu kriechen, um dort zu sterben. Sie brachte noch mehr Abstand zwischen Leon und sich. Während sie sich durch den Salon der LaFayettes bewegte, empfand sie eine tiefe Verbitterung, als sie die vielen Fotos auf dem Flügel bemerkte. Auch sie war auf diesen Bildern. Lachend, glücklich, ein Teil dieser Familie. Damals … mit Isabelle, mit Michelle und Rolfe, mit Leon … damals, als die Welt noch gut gewesen war. Was für ein Hohn!

Sie hatte fast die Tür zur Halle erreicht, als sie sich zu ihm umdrehte. Er stand mitten im Raum und starrte ihr stirnrunzelnd hinterher.

Kim zwang sich zu einem Lachen. Es klang unecht und ein bisschen hysterisch, wie sie fand. »Weißt du was, Leon? Dafür, dass du dich öffentlich immer so über die mangelnde Toleranz der Gesellschaft echauffierst, bist du ziemlich gut eingedeckt mit Vorurteilen. Schade, dass du nicht in der Lage bist, dir ein objektives Bild zu verschaffen. In einem Punkt hast du übrigens recht: Ich bin gefallen, sehr tief – aber ich habe mich aus eigener Kraft wieder hochgekämpft. Ich habe es nicht nötig, andere für meine Zwecke zu missbrauchen.« Sie drehte sich um und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Belle kann selbst entscheiden, ob ich der richtige Umgang für sie bin oder nicht. DAS ist nicht deine Aufgabe.«

Sie ging, doch seine zornige Stimme verfolgte sie noch die Treppe zum Obergeschoss hinauf: »Dann mache ich es zu meiner Aufgabe, ma chérie!«

* * *

»Hast du einen Vollknall?«

Belle kam, den Rock ihres Brautkleides hochgerafft, in den Salon gestürmt und boxte Leon kräftig mit der Faust gegen den Arm. Er verzog das Gesicht und rieb sich über den schmerzenden Fleck. »Au, das tut weh!«

»Das soll es auch!« Ihr Blick war schlichtweg fassungslos. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Er ahnte, dass sie den Rest seines Gesprächs mit Kim offenbar mit angehört hatte.

Verdammt!

So war das nicht geplant gewesen. Eigentlich hatte er gar nichts geplant. Es war nur einfach alles aus dem Ruder gelaufen.

Ja, er war wütend auf Kim, aber er hatte ihr all diese Dinge gar nicht an den Kopf werfen wollen. Nur … sie hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er hatte sachlich bleiben wollen, aber in ihrer Nähe war es unmöglich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Diese grünen Augen hatten ihn jahrelang verfolgt, und als er sie angesehen hatte, waren so viele Erinnerungen zurückgekommen. Trotz des Grolls, den er ihr gegenüber hegte, war da auch noch etwas anderes.

Wieso musste diese Frau so unglaublich schön und sexy sein?

Als er den Salon betrat, hatte sie in ihrem leichten Sommerkleid in der Tür gestanden. Er hatte sich nichts mehr gewünscht, als hinter sie zu treten, ihr Kleid hochzuschieben und sie zu vögeln. Sie nackt in diesem verfluchten alten Video zu sehen, hatte das alles nicht besser gemacht.

Warum war dieser Reiz nach all den Jahren immer noch nicht erloschen? Er hätte längst immun sein müssen, stattdessen hatte er sich sogar von ihrem beschissenen Sarkasmus angezogen gefühlt, obwohl ihn das früher immer zur Weißglut getrieben hatte.

Sie war so verdammt stur.

Scheiße! Er hätte sie ficken sollen, statt mit ihr herumzudiskutieren.

»Wie kannst du diesen Scheißkerl auch nur erwähnen?«

Er runzelte irritiert die Stirn. Sprach sie von Howard? Kannte Belle diesen schmierigen Typen? Hatte Kim sie etwa … Gott, er würde es ihr niemals verzeihen, wenn sie seine Schwester mit in diese Kreise geschleppt hatte!

»Du kennst John Howard?«

»Ich weiß, was zwischen Kim und ihm war, das reicht mir.«

»Schön, dann sollte dir auch klar sein, warum ich Kimberley nicht als Patentante für dein Kind will.«

Der Mund seiner Schwester öffnete und schloss sich wieder – wie bei einem Goldfisch, den man in seinem Aquarium beobachtete. »Bitte was?«

»Mir ist das sehr ernst, Belle.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften, funkelte ihn mit ihren blauen Augen an und maß ihn mit eisigem Blick. »Ich sag dir jetzt mal was, mein Großer! Kim ist meine beste Freundin, meine Trauzeugin und Gast in diesem Haus. Was ist in dich gefahren, sie so anzugehen und dermaßen zu beleidigen?«

»Was heißt denn hier beleidigen?«

»Du willst ihr den Umgang mit mir verbieten!«, fuhr Belle auf. Sie war so laut, dass die ersten Gäste auf der Terrasse bereits die Köpfe drehten. »Ich glaube wirklich, dir geht es zu gut!«

Leon zwang sich zur Ruhe und versuchte seiner Schwester eine Hand auf die Schulter zu legen. »Kirschtörtchen, sie ist kein Umgang für dich – und erst recht nicht für meinen Neffen oder meine Nichte.«

Sie schlug seine Finger beiseite und musterte ihn mit unübersehbarem Zorn. »Was gibt dir das Recht, solche Entscheidungen über meinen Kopf hinweg zu treffen? Du kümmerst dich das ganze Jahr über nur um deinen eigenen Scheiß, und jetzt machst du plötzlich einen auf überfürsorglich.«

Das war nicht fair, Belle hatte bis vor Kurzem schließlich in England gelebt. Er hatte ihr diesen verdammten Kerl, den sie nun geheiratet hatte, doch zurückgebracht, oder? Leon verschränkte die Arme vor der Brust. »Du warst doch selbst wütend auf sie.«

»Ja, aber aus anderen Gründen. Ich wollte Ray zurück, und sie hätte ihn am liebsten öffentlich an die Towerbridge gehängt.«

Er musste zugeben, der Gedanke hatte durchaus etwas Reizvolles.

»Das ändert nichts an dem Menschen, der sie ist.«

Belle schloss die Augen, atmete tief durch und sah ihn erneut an. »Okay, ich versuche mich jetzt zu beruhigen, und du wirst mir erklären, was dich zum Experten über Kims Leben macht.«

Er kochte innerlich auf kleiner Flamme.

Wieso bekam er hier die schwarze Karte zugespielt? Er konnte den Spieß auch umdrehen. »Gut, dann sag mir doch, wie du es gutheißen kannst, dass sie irgendwelche Sexvideos dreht! Willst du, dass deine Kinder ihre Tante Kimberley später beim Vögeln auf dem PC bewundern können?«

»WAS?!« Ihre Stimme überschlug sich fast, und Belle wurde blass.

Er hielt ärgerlich ihrem fassungslosen Blick stand. Es war offensichtlich, dass sie davon nichts gewusst hatte – und er konnte nicht verhindern, dass sich in ihm ein sehr unangenehmes Gefühl aus Schuld breitmachte. Als hätte er Kim verraten.

Vielleicht hätte er das nicht erwähnen sollen. Aber Belle wollte ja nicht hören.

Seine Schwester wandte ihm den Rücken zu, schloss geräuschvoll die Terrassentür und lehnte sich einen Moment dagegen. Als sie sich zu ihm umdrehte, hatte ihr Gesicht eine ähnlich ungesunde graue Farbe wie das von Kim vorhin. »Erklär mir das bitte!«

Er schluckte. Die Arme vor der Brust verschränkt, ging er zu dem Flügel hinüber, auf dem die Familienfotos der letzten Jahre ihren Platz gefunden hatten. Er verstand bis heute nicht, warum seine Eltern sich weder von diesem verdammten Piano trennten, das niemand außer Kim je gespielt hatte, noch, warum all die Fotos weiterhin hier standen. Das war sentimentaler Scheiß!

»Leon. Was behauptest du da?«

Verärgert drehte er sich zu ihr um. »Ich behaupte gar nichts, das ist eine Tatsache. Es gibt ein Video von Kimberley, in dem sie Sex mit mehreren Männern hat. Ich …« Er schloss die Augen und versuchte den galligen Geschmack in seiner Kehle zu verdrängen. Die Erinnerung bereitete ihm immer noch Unbehagen. »Ich habe nur einen Ausschnitt gesehen, aber der hat mir gereicht.«

Belle schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich glaube das einfach nicht.«

Sie war sichtlich erschüttert.

Leon presste die Lippen aufeinander. Verleugnung war auch seine erste Reaktion gewesen. Er war zu angewidert gewesen, um sich dieses Video komplett anzusehen und sich einzureden, das wäre nicht Kim. Sie mochte jünger gewesen sein, aber sie war es unverkennbar.

Schulterzuckend legte er seiner Schwester eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, Belle. Kim ist vielleicht nicht die Heilige, für die du sie hältst.«

»Ich halte sie nicht für eine Heilige. Ich weiß, dass Kim ihre Fehler hat«, ihr Kopfschütteln wurde wütend, »aber DAS ist einfach nicht wahr. Kim hätte so was niemals gemacht. Dafür muss es eine Erklärung geben –«

»Du bist voreingenommen«, unterbrach er sie. »Das ist völlig normal, schließlich seid ihr befreundet.«

»Dass du eure Freundschaft aufgegeben hast, ist ja hinlänglich bekannt«, zischte sie zornig.

Leon verzog die Lippen. »Ich bin realistisch.«

»Nein, du bist ein Zyniker geworden, Leon.«

Belle wandte sich ab und ging zu der großen Doppeltür hinüber, die in die Empfangshalle führte. Leon folgte ihr.

»Weißt du, ich habe nichts dagegen, dass sie ihren Spaß hat. Sie kann mit ihrem Leben machen, was sie will. Meinetwegen kann sie mit hundert Männern ins Bett steigen, aber ich bin dagegen, dass sie als Patentante deines Kindes ein Teil unserer Familie wird.«

Seine Schwester blieb stehen und sah ihn an. »Das ist nicht deine Entscheidung, Leon. Kim ist meine beste Freundin – und das bleibt sie auch, ob es dir gefällt oder nicht.«

»Ich halte das für einen Fehler.«

»Ich weiß, aber du hast auch Ray für einen Fehler gehalten. Trotzdem hast du ihn hergebracht. Du hast in Kauf genommen, dass er mich um Verzeihung bittet und ich ihn heiraten werde, obwohl du wütend auf ihn warst. Du hast es akzeptiert, weil du mir vertraut hast und weil du wusstest, dass ich ihn liebe.« Sie drehte sich zu ihm um. »Warum fällt dir das in Bezug auf Kimberley so schwer? Du hast sie bereits gekannt, als sie noch ein Baby war. Du warst wie ein Bruder, viel mehr als ein Bruder. Du solltest wissen, dass sie so nicht ist.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe, Belle. Menschen ändern sich.«

Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Du hast überhaupt keine Ahnung, wie sehr Kim kämpfen musste. Du stehst da voller Selbstgefälligkeit und urteilst über sie, weil dieser Scheißtyp dir irgendwelchen Mist erzählt und ein verkacktes Video gezeigt hat, das mit ein bisschen Programmierkenntnissen zu manipulieren ist. All die Jahre, die du sie kanntest, sind mit einem Fingerschnippen weg, und du strafst sie mit Verachtung für Dinge, bei denen du nicht einmal weißt, warum sie geschehen sind.«

Leon schwieg überrumpelt. War er wirklich voreilig gewesen?

Verflucht, dieses Video war eindeutig, und die wenigen Bilder in seinem Kopf waren wie eine quälende Endlosschleife. Er hatte sich nie vorstellen können, dass Kim so sein würde. Er hatte es sich auch nicht vorstellen wollen … Sie war tabu gewesen.

Missmutig betrachtete er seine Schwester. Das war ihr Hochzeitstag. Das war der beschissenste Moment, um diese Diskussion überhaupt zu entfachen. Er musste sich entschuldigen – wenigstens bei ihr. »Belle …«

»Nein, Leon! Kein ›Belle‹. Ich weiß, dass Kim eine schlimme Zeit hinter sich hat, und dieser John Howard war maßgeblich daran beteiligt.«

»Entschuldige, aber er war es doch, der sie erst ins Modelbusiness brachte. Ihm hat sie ihren beruflichen Erfolg zu verdanken.«

Belle atmete tief ein und legte eine Hand auf ihren Bauch. »Kim hat recht, weißt du? Du hast mir so oft gesagt, wie sehr du es hasst, dass die Leute dir voreingenommen begegnen, sobald sie dich sehen. Wenn du in ihren Gesichtern siehst, wie sich ihre Stimmung ändert, wie sie dich behandeln, als seist du nicht normal, wie sie dir mit Mitleid oder Ekel begegnen. Und nun?« Sie musterte ihn böse. »Nun machst du genau das mit Kim. Du verurteilst sie, ohne ihre Seite der Geschichte zu kennen … Ich habe mehr von dir erwartet.«

Er musterte sie stirnrunzelnd. »Du weißt, was da gelaufen ist, oder?«

»Ich weiß genug, um dir zu versichern, dass sie nicht ist, wofür du sie offenbar hältst.«

In ihm war Trotz. Vielleicht war er nicht fair, aber er wusste, was er gesehen hatte, und es nagte an ihm. »Gut, dann erklär du mir doch, was es so anders macht!«

Belle schüttelte den Kopf und trat in die Eingangshalle. »Nein. Das ist Kims Vergangenheit. Es steht mir nicht zu, darüber zu sprechen. Es ist ihre Entscheidung, wem sie ihr Vertrauen schenkt.«

»Wo willst du hin?«

»Zu meiner besten Freundin. Ich muss mich entschuldigen, weil mein Bruder ein verdammter Vollidiot ist und seine Manieren irgendwo in der Gascogne liegen gelassen hat.«

2

Der Oktober hatte grau und neblig angefangen, und daran hatte sich auch bis zur Monatshälfte nichts geändert.

Kim schaltete die Scheibenwischer eine Stufe höher. Seit sie die Fähre in Calais verlassen hatte, regnete es unablässig. Mehr als zwei Stunden dunkles, trübsinniges Wetter, bei dem man lieber gemütlich mit einem Kakao auf dem Sofa saß. Sie würde zehn Kreuze machen, wenn sie Les Andelys erreicht und ihren Auftrag erledigt hatte.

Nachdem sie gestern die Statue gemeinsam mit Sergio in den Laderaum des Transporters gestellt und festgezurrt hatte, war sie mitten in der Nacht aufgebrochen, um die Fähre um kurz vor halb vier zu erwischen. Die Überfahrt hatte etwa anderthalb Stunden gedauert. Nun war sie ihrem Ziel schon deutlich näher als heute Morgen.

Wenn sie die Skulptur abgeliefert hatte, würde sie sich ein schmackhaftes Mittagessen gönnen und ein hübsches Wellnesshotel in der Nähe suchen, um sich ein Zimmer zu mieten. Für den Rest des Tages wollte sie sich nur noch in einen Pool stürzen und danach die Decke über den Kopf ziehen und schlafen, damit sie morgen wieder ausgeruht heimfahren konnte.

Sie drehte die Lautstärke am Radio hoch, als die Weather Girls It’s Raining Men sangen, und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Im Grunde lief es doch ganz gut. Sie war ohne größere Staus durchgekommen und würde das Anwesen der LaFayettes in weniger als einer halben Stunde erreichen.

Das Einzige, was störte, war dieses unangenehme Gefühl im Magen. Ihr Besuch vor einem Monat war ihr noch deutlich in Erinnerung, und der Abschied hatte sich ähnlich bitter angefühlt wie vor dreizehn Jahren. Zum zweiten Mal waren Leon und sie im Salon aneinandergeraten und hatten sich im Streit getrennt. Er hatte sie nur nicht geküsst wie beim letzten Mal, allerdings hatte sie das Gefühl gehabt, es hätte nicht viel gefehlt.

Über die Schulter warf sie einen Blick auf die in Schaumstoff und Papier verpackte Statue, die mittig im Laderaum stand und mit Spanngurten so festgezurrt war, dass sie sich keinen Fußbreit bewegte.

Bereits im April hatte sie eine Anfrage von Michelle und Rolfe erhalten, ob sie ihnen eine Skulptur anfertigen würde – ein außergewöhnlicher Wunsch, den sie äußerten. Kim hatte einen groben Entwurf gezeichnet und den beiden zukommen lassen. Sie waren begeistert gewesen.

Ihr eigentlicher Plan, die Statue bereits im September zu Belles Hochzeit mitzubringen, war jedoch daran gescheitert, dass durch den Tod ihres Vaters so viel liegen geblieben und sie mit ihren ursprünglich anvisierten Terminen ins Hintertreffen geraten war.

Also hatte sie ihnen die Lieferung für Oktober versprochen und war froh, nun ihr gegebenes Wort auch einhalten zu können.

Mit ein bisschen Glück würde sie Leon gar nicht erst begegnen. Sie hoffte, dass er irgendwo im Südwesten von Frankreich sein blödes Château weiter renovierte und sie ihre Ruhe vor ihm hatte.

Es war kurz vor acht, als sie die Villa der LaFayettes erreichte. Für einen Moment war da wieder dieses Gefühl des Heimkehrens, das sie schon letzten Monat beim Anblick des großen weißen Gebäudes überkommen hatte. Vielleicht sollte sie zumindest den Kontakt zu Michelle und Rolfe wieder suchen. Die beiden hatten mit der Animosität, die Leon und sie miteinander verband, schließlich nicht das Geringste zu tun.

Als sie den Wagen vor der breiten Freitreppe parkte, sah sie, wie sich die Haustür öffnete und Michelle im Morgenmantel ins Freie trat. Kim entstieg dem Transporter, ging um den Wagen herum und winkte ihr zu. Überraschung spiegelte sich in Michelles Gesicht wider, als sie die Stufen herunterkam.

»Kimberley! Was machst du hier um diese Zeit?« Sie trafen sich auf halber Strecke und umarmten einander.

Kim lächelte sie an. »Ich habe doch versprochen, ich bringe euch die Skulptur.«

»Mon Dieu, aber du hättest sie doch auch per Lieferdienst schicken können, ma chérie.«

»Ich weiß, doch ich wollte mich persönlich bei euch entschuldigen, weil ich Belles Hochzeit so abrupt verlassen musste, und außerdem habe ich meinen eigentlichen Termin im September schon nicht eingehalten. Da war es das Mindeste, sie nun selbst zu euch zu bringen.«

»Aber das ist doch völlig in Ordnung, meine Liebe. Wir wissen, dass du nicht gegangen wärst, wenn du nicht deine Gründe gehabt hättest. Was die Statue betrifft, ist sie ja noch rechtzeitig angekommen, nur … Nein, das klären wir gleich.« Michelle deutete zum Haus. »Wo du schon da bist, wirst du doch mit uns frühstücken, oder?«

»Darauf habe ich gehofft. Ich habe einen Bärenhunger.«

»Das höre ich gern.«

Kim schloss den Wagen ab und folgte Michelle in die Villa.

Plaudernd deckten sie gemeinsam den Tisch. Der Duft frisch gebackener Madeleines zog durch das Haus und bewegte auch Michelles Mann Rolfe dazu, sich zu ihnen zu gesellen.

Belles Stiefvater humpelte und stützte sich auf einer Krücke ab. Er durchquerte die Küche, um Kim zu begrüßen.

»Was ist mit dir passiert?«, wollte sie wissen und küsste ihn links und rechts auf die Wange.

Rolfe schlug sich auf das linke Bein. »Neue Hüfte. Wurde Zeit, dass ich mein Ersatzteillager aufstocke.«

»Autsch. Ich hoffe, du hast keine Schmerzen.«

»Mir geht’s gut. Ich muss mich nur einlaufen und darf die alten Knochen noch nicht so belasten, wie ich möchte … und ich hasse es, zur Untätigkeit verdammt zu sein.«

»Finger weg vom Cognac«, murmelte Michelle, als sie an ihm vorbeilief.

»Versprochen.« Er grinste schief und sah Kim wieder an. »Was führt dich zu uns, abgesehen vom köstlichen Duft von Michelles Madeleines?«

»Ich bringe euch die Skulptur, die ihr bestellt habt und die ich letzten Monat schon liefern wollte.«

»Oh!« Der erste Ausdruck von Freude in seinem Gesicht wich unerwarteter Zerknirschung, als er zu seiner Frau hinübersah. »Merde! Ich kann sie nicht hinbringen.«

Kim blinzelte irritiert. »Wo hinbringen?«

»Die Statue soll ins Château Montréjaux du Rousseau. Sie ist als Überraschung für Leon gedacht, weißt du. Er arbeitet so hart an der Instandsetzung seines Erbes und gönnt sich seit Wochen keine Pause.«

Fuck!

Kim verzog das Gesicht. »Die Skulptur ist für Leon?«

»Oui. Du weißt bestimmt, er hat in knapp einer Woche Geburtstag.« Wenn sie ehrlich war, verdrängte sie dieses Datum jedes Jahr aufs Neue, so schwer es ihr auch fiel. Rolfe zuckte mit den Achseln. »Ich wollte sie ihm selbst bringen, aber«, er deutete auf sein Bein, »in dem Zustand ist das unmöglich.«

Natürlich, mit der neuen Hüfte war er weder in der Lage, die Statue zu transportieren, noch konnte er die weite Strecke mit dem Auto fahren.

»Ich muss schauen, welcher Lieferdienst das übernehmen kann«, murmelte er.

Kim haderte mit sich. Sie wollte Leon nicht wiedersehen. Sie wollte nicht die lange Fahrt in die Gascogne auf sich nehmen und ihm die Skulptur bringen. Aber sie konnte ihr Kunstwerk auch nicht einfach bei Michelle und Rolfe abladen und wieder gehen. Sie schuldete den beiden etwas. »Okay, ich kann sie ihm bringen.«

»Würdest du das wirklich auf dich nehmen?« Rolfes Blick war so hoffnungsvoll, dass sie es nicht über sich brachte, ihr Angebot zurückzuziehen.

»Natürlich. Das ist doch gar kein Problem – und der Tag ist noch jung.«

»Oh, ma chérie. Du nimmst mir damit eine große Last ab.« Sie fühlte sich in seine bärenhafte Umarmung gezogen und nickte still.

»Vorher wird aber gefrühstückt«, bestimmte Michelle. »Ab an den Tisch mit euch.«

* * *

Sieben Stunden!

Warum war sie nicht auf die Idee gekommen, diese verdammte Skulptur per Spedition liefern zu lassen? Das hätte so vieles leichter gemacht und ihr sowohl die lange Fahrt als auch dieses Wiedersehen erspart.

Glücklicherweise hatte sie bei Michelle und Rolfe wirklich gut gefrühstückt – dafür war der Mittagslunch eher karg ausgefallen. Mittlerweile hing ihr der Magen irgendwo zwischen Gaspedal und Bremse.

Kim gähnte und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Ihr Blick glitt zum Navi. Nur noch wenige Minuten, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Selten hatte sie sich so wenig darauf gefreut, eines ihrer Kunstwerke auszuliefern, wie heute. Obwohl ihr bei dem Gedanken das Herz blutete, würde sie die Skulptur einfach nur abladen und wieder verschwinden. Je rascher sie Leon hinter sich ließ und ihn aus ihrem Leben verbannte, desto besser.

»In dreihundert Metern links abbiegen. Dann haben Sie Ihr Ziel erreicht.«

Sie sah sich um. Hier draußen war nichts, nur eine elend lange Straße, die von hohen Bäumen gesäumt wurde. Wenn sich der Wald mal lichtete, erkannte sie karge Ackerflächen und in der Ferne eine Gebirgskette, die den Horizont säumte.

Die Gascogne war wunderschön mit ihren beeindruckenden Bergen und den sanften Tälern, aber im Augenblick hatte sie das Gefühl, sich durch Kanada oder Norwegen zu bewegen.

Fast hätte sie die Abzweigung übersehen. Im letzten Moment setzte sie den Blinker und lenkte den Wagen scharf nach links in eine Seitenstraße. Vor ihr lichtete sich plötzlich der Wald und machte Wiesen voller wilder Blumen Platz. Das war definitiv keine öffentliche Straße mehr. Eine Hecke verwehrte ihr die Sicht, aber sie konnte erkennen, dass sich dahinter eine hohe Mauer mit eisernen Spitzen darauf befand.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

»Wie schön«, murmelte Kim und warf dem Navi einen genervten Blick zu.