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Seit mehr als einem Jahr schwärmt Tyra aus der Ferne für den Bruder ihres frisch angetrauten Schwagers. Dummerweise hat ihr erstes Zusammentreffen bei Lyle keinen besonders positiven Eindruck hinterlassen. Doch Tyra wäre nicht sie selbst, wenn sie ihre Hoffnungen einfach begraben würde.
Um dem Mann ihrer Träume endlich nahe zu kommen, ist sie sogar bereit ihre verwirrenden Gefühle zu ignorieren und sich auf ein wenig romantisches Arrangement einzulassen. Bleibt letztlich nur die Frage, ob er ihr das Herz bricht oder sie seine harte Schale …
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Gelangweilt stand Lyle an den mit Tannenzweigen und -zapfen geschmückten Pfeiler gelehnt und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Halb eins.
Nachdem das glückliche Brautpaar sich schon vor drei Stunden verabschiedet und in die Hochzeitsnacht begeben hatte, waren die vormals förmlichen Feierlichkeiten einer ausgelassenen Party gewichen. Nur langsam ließen sich die geladenen Gäste dazu bewegen ein Ende zu finden.
Erst das Ausbleiben der Musik, der Aufbruch der Live-Band und die einsetzenden Aufräumarbeiten des Cateringservice hatten dafür gesorgt, dass die anwesenden Mütter und Väter ihre müden Sprösslinge einzusammeln begannen, um diese nach Hause zu bringen.
Ein Abschluss dieses Abends schien endlich in greifbarer Nähe und Lyle sehnte sich danach, die Krawatte um seinen Hals loszuwerden und die Füße hochlegen zu können. Selbst die letzten Alkoholleichen, die in irgendwelchen Ecken herumlagen, wurden hochgehievt und zum nächsten wartenden Taxi oder dem Auto eines Freundes geschleppt, um sie heimzufahren.
Lyle seufzte leise und richtete sich auf.
Wieso er sich in einem Anfall geistiger Umnachtung bereit erklärt hatte ein Auge auf alles zu haben und sich darum zu kümmern, dass die letzten Gäste ihren Weg nach Hause fanden, war ihm im Nachhinein schleierhaft. Er wünschte sich nicht zum ersten Mal, seinem Bruder dieses Versprechen nie gegeben zu haben, … wobei das so nicht ganz richtig war, eigentlich hatte der ursprüngliche Zeremonienmeister ihm diese Aufgabe aufs Auge gedrückt und war selbst vor mehr als einer Stunde verschwunden.
Lyle gähnte verhalten. Seit beinahe einem halben Tag steckte er in diesem Trubel fest. Nicht, dass er einer netten Party abgeneigt war, aber Hochzeiten hatten so einen ganz eigenen, schalen Nachgeschmack. Außerdem dröhnte sein Schädel, seine Ohren waren so gut wie taub und der Gestank von Rauch und zu vielen verschiedenen Parfüms bildete eine unangenehme Mischung, die sich im Stoff seines teuren Anzugs festgesetzt hatte.
Feierlichkeiten dieser Art waren noch nie sein Ding gewesen. Dümmliche Reden voller Herzschmerz und Gejammere, Buffets, die nach dem ersten Ansturm ausschauten, als wäre eine Horde Heuschrecken darüber hinweggeflogen, und romantische Musik in Dauerschleife, die jeden Nerv folterte.
Hochzeiten waren schlichtweg unangenehm und er konnte nicht verstehen, warum man eine Ehe mit solchem Prunk und Protz begehen musste, wenn man all das Geld in sinnvollere Dinge hätte investieren können.
Aber auch darin lag der Unterschied zwischen seinem Bruder und ihm. Während der zwei Jahre jüngere Nick das Leben bei jeder Gelegenheit zu feiern und die Gegenwart bis ins Letzte auszukosten schien, war Lyle eben der große Bruder, der mittlerweile lieber einen ruhigen Abend daheim bei einem guten Glas Wein ausklingen ließ und sein Geld in Aktienfonds und eine gesicherte Zukunft investierte, statt fünfhundert Dollar für eine Flasche Champagner zu verprassen.
Wie die Beziehung zwischen Nick und Judith über die letzten zwei Jahre in einer Ehe hatte gipfeln können, war Lyle noch immer unbegreiflich. Judith, die so ruhig und besonnen war, schien überhaupt nicht zu Nicks unberechenbarem Temperament zu passen.
Sein Glas in der Hand schwenkend, senkte Lyle den Kopf und betrachtete die letzten Reste der Eiswürfel, die sich in seinem Gin Tonic auflösten.
Wenn er ehrlich war, musste er sich allerdings eingestehen, dass er Nick und Judith bei aller Kritik auch ein wenig beneidete. Wenn er abends heimkam, empfing ihn niemand in seinem großen Haus.
Er hatte sich einen Namen und Karriere gemacht. Mit fünfunddreißig war er ein erfolgreicher Notar mit eigener Kanzlei und exquisitem Mandantenstamm. Er liebte seinen Beruf, mochten manche ihn auch für vertrocknet und antiquiert halten. Er konnte mit Fug und Recht behaupten ein guter Jurist zu sein und ein Gespür für Menschen zu haben. Doch seine Arbeit befriedigte ihn nicht mehr in dem Maße, wie sie es früher getan hatte.
Oft genug, wenn er sich auf den Heimweg machte, überkam ihn ein flaues Gefühl, als zöge es ihn in eine Welt, die ihn unglücklich stimmte.
Er begann Überlegungen anzustellen, die ihm nie zuvor in den Sinn gekommen waren. Ob es anders wäre, von einer Frau erwartet zu werden, neben der man jeden Morgen aufwachte? Ob eine feste Beziehung tatsächlich etwas änderte?
Er hatte keine Ahnung von dieser Art Partnerschaften. Er hatte schon seit Jahren nicht das Bedürfnis gehabt, sich auf Dauer zu binden und mit jemandem länger als nötig zusammen sein zu wollen.
Stattdessen genoss er die Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit von zeitlich begrenzten Affären. So wie mit Sylvia, die sich bewusst auf eine rein sexuelle Beziehung zu ihm eingelassen hatte. Eine attraktive Frau, die keinerlei Ansprüche an ihn erhob und mit der er definitiv nicht bis ans Ende seiner Tage leben wollte, weil sie schlichtweg in ihrer ganzen Art zu anstrengend war.
Sie harmonierten körperlich gut miteinander und es war im Grunde für beide nur eine Ablenkung vom alltäglichen Stress. Sie waren sich gleich zu Beginn ihrer Affäre darüber einig geworden, dass das nichts von Dauer sein würde.
Lyle war kein Mann für die Ehe und selbst eine langfristige Beziehung war ihm ein Gräuel. Umso absurder war es, diesen Gedanken überhaupt Raum zu geben und sich Fragen zu stellen, die er nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte.
Er war kein Mann, der sich dauerhaft an eine Frau band, und Kinder waren in seinem Denken so weit weg wie der Mount Everest.
Stirnrunzelnd hob er das Kinn und ließ seinen Blick über die letzten Gäste schweifen.
Bekam er plötzlich Torschlusspanik? War das die prophezeite Midlifecrisis, von der sein Kumpel Tomas neulich gefaselt hatte?
Er schüttelte kaum merklich den Kopf und verzog die Lippen zu einem humorlosen Lächeln. Nein, er war immer noch der Gleiche, nichts und niemand würde ihn von seinem Status als überzeugter Junggeselle abbringen. Wenn er sich nach familiärer Gesellschaft sehnte, konnte er normalerweise den Weg zu seinem Elternhaus einschlagen, statt in sein eigenes zu fahren.
Vielleicht begründete sich seine Melancholie einfach darin, dass Weihnachten und der Jahreswechsel sehr … einsam gewesen waren. Seine Eltern hatten einen Kurzurlaub in San Francisco gemacht, den Judith und Nick ihnen zu Dads siebzigstem Geburtstag geschenkt hatten.
Nick war mit Judith bei ihrer Familie gewesen, Lyles Kumpels waren zum größten Teil alle verheiratet und der einzige andere Junggeselle, Tomas, weilte wie jedes Jahr auf Hawaii, weil er die Feiertage nicht ausstehen konnte. Lyle hatte Weihnachten zum ersten Mal komplett allein verbracht. Ein seltsames Gefühl.
Das alles ließ ihn sein Leben und seine Beziehung mit Sylvia überdenken – und er musste sich eingestehen, dass er sich, so wie es war, nicht mehr wohlfühlte. Natürlich war diese Frau immer noch umwerfend schön und absolut verführerisch. Sylvia war über alle Maßen attraktiv, der Sex mit ihr befriedigend und die Gespräche erquickend – und trotzdem war er erleichtert, dass sie sich seit Mitte Dezember in Europa aufhielt und erst in drei Tagen zurückerwartet wurde.
Die Tatsache, dass sie kurz vor ihrer Abreise einen Teil ihrer Garderobe bei ihm deponiert hatte, hatte vermutlich den stillen Alarm in ihm ausgelöst. Es war Zeit, sich voneinander zu verabschieden und diese Liaison zu beenden.
Als er den Blick hob, sah er, wie die letzten Gäste den Saal verließen und sich nach draußen begaben. Mit einem Gefühl der Erleichterung stellte er das halbvolle Glas auf dem kleinen Tisch neben sich ab und rückte die Krawatte zurecht. Er musste sich überzeugen, dass wirklich alle verschwanden und niemand irgendwo vergessen wurde.
Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er zum Ausgang. Als er schließlich in die milde Januarnacht hinaustrat, atmete er tief die frische Luft ein.
Was für eine Wohltat – und gleichzeitig besorgte ihn die Tatsache, dass gute fünfzig Grad Fahrenheit sogar für das gemütliche Twin Falls eine ungewöhnlich frühlingshafte Temperatur zu dieser Zeit waren.
Das letzte Jahr war auffallend warm gewesen. Einem heißen, trockenen Sommer, waren Ernteausfälle und Wasserknappheit gefolgt, was viele großflächige Waldbrände im ganzen Land nach sich gezogen hatte. Besonders schlimm hatte es Kalifornien getroffen, wo die kleine Stadt Paradise fast vollständig zerstört worden war.
Wer einigermaßen klar im Kopf war, war sich darüber bewusst, dass dies in direktem Zusammenhang mit dem Klimawandel stand, – aber leider zweifelte er in diesem Land mittlerweile am Verstand so mancher Menschen.
Lyle schüttelte den Kopf und drängte den stillen Ärger zurück, der wie so oft in ihm aufflammte. Die aktuelle Politik und seine persönliche Meinung über das infantile Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten waren das Letzte, worüber er sich um diese Zeit Gedanken machen wollte.
Der erkaltete Geruch von Zigaretten und verschüttetem Alkohol stieg ihm in die Nase. Lyle schnaubte angewidert und betrachtete flüchtig sein Jackett. Dieser Abend war wirklich nicht seiner gewesen.
Obwohl in den Räumlichkeiten ein Rauchverbot existierte, hatten sich einige von Nicks grandiosen Ex-Studienkollegen und Kumpels wieder einmal nicht an die Regeln gehalten und sich im hinteren Bereich des Saales ihre Zigaretten und sogar ein paar Joints angezündet.
Natürlich war Lyle der Spielverderber gewesen, als er sie mit ihrem ganzen Kraut nach draußen geschickt hatte. Sprüche wie „Früher warst du nicht so ein Spießer!“ waren da noch das Harmloseste gewesen, was er zu hören bekommen hatte. Einer von ihnen hatte ihm sogar die Reste seines Drinks über den Ärmel geschüttet – wirklich erwachsen. Ein weiterer Beweis für ihre grenzwertige und sich zurückentwickelnde Intelligenz.
Erleichtert sah er nun dabei zu, wie die letzten Idioten aus Nicks Freundeskreis sich albern kichernd zu einem Taxi begaben und davonfuhren.
Endlich!
Er zog sein Handy aus der Hosentasche und öffnete die Textnachrichten. Er würde einen abschließenden Rundgang starten und dem Verwalter wie vereinbart eine SMS schicken, damit dieser sich um alles Weitere kümmern konnte.
Mit dem Smartphone in der Hand war er gerade durch die zweiflügelige Tür wieder ins Gebäude getreten, als ihn Stimmen aufhielten, die irgendwo links von ihm laut wurden.
Er kehrte zurück nach draußen und lauschte in das Halbdunkel. Das klang nach zwei Frauen. Irritiert folgte er dem gedämpften Lärm und wäre fast die drei Stufen hinabgestolpert, die zu der kleinen Straße führten, an der die Festhalle lag.
Am Ende der weitläufigen Terrasse, zur Hälfte von einem riesigen vertrockneten Strauch verdeckt, stand ein Taxi. Daneben befanden sich Judiths jüngere Schwestern, Emily und Tyra, heftig streitend. Auf die Entfernung verstand er nur Wortfetzen, aber der wütende Ton von beiden machte klar, dass ihre hitzige Diskussion gerade ihren Höhepunkt erreichte.
Lyle rollte mit den Augen und straffte die Schultern.
Familie war doch was Schönes, … er wünschte nur, er wäre nicht derjenige, der nun dazu verdammt war, schlichtend einzugreifen. Verflucht, wieso waren sie nicht schon vor drei Stunden mit ihren Eltern abgeschwirrt?
Als er sich in Bewegung setzte, um sich den beiden keifenden Weibern zu nähern, vernahm er nur noch ein zorniges „Leck mich!“ von Emily. Sie schubste die jüngere Schwester beiseite, ließ sich in das Taxi gleiten und gleich darauf rasten die Rückleuchten des Wagens in die Dunkelheit.
Lyle konnte fühlen, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten.
Während Tyra, schimpfend wie ein Rohrspatz, auf der anderen Seite der Terrasse die Treppe zur Festhalle wieder hinauflief und im Inneren des Gebäudes verschwand, blieb er wie vom Donner gerührt stehen und starrte dem Taxi hinterher.
Das durfte nicht wahr sein!
Emily haute einfach ab und er hatte diese rothaarige, kleine Hexe am Hals?
Großartig!
Ärger machte sich in heißen Wellen in ihm breit. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Nicht nur, dass er sich die halbe Nacht wegen dieser dämlichen Hochzeit hatte um die Ohren schlagen dürfen, nun war er auch noch der Babysitter für dieses verwöhnte Gör.
Er schloss die Augen.
Tyra Ashton stand für all das, was er mittlerweile so verabscheute: Daddys Liebling, unfähig auf eigenen Beinen zu stehen, weil ihr jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde, und nicht in der Lage, Respekt zu empfinden.
Er strich sich mit einer Hand über das Kinn und schüttelte den Kopf. Zugegeben, ihr erstes Aufeinandertreffen hatte sich in sein Gehirn gebrannt und Lyle ärgerte sich immer noch über seine eigene, unerwartete Reaktion. Für ihre Unverschämtheit hätte er ihr den Arsch verhauen sollen, oder irgendwas anderes tun …
Jedenfalls war er ihr seither möglichst aus dem Weg gegangen und hatte es vermieden, der Schwester seiner künftigen Schwägerin in die Quere zu kommen. Die seltenen Momente, in denen es bei diesen ach so tollen Familienfeiern nicht zu verhindern gewesen war, waren stets von großer Anspannung begleitet gewesen, weil die Wut auf sich selbst immer noch in ihm rumorte.
Sich mit beiden Händen gleichzeitig durch das Haar fahrend, wandte er sich dem Gebäudekomplex wieder zu. Egal, wie sehr es ihn auch ankotzte, er hatte die Verantwortung und musste dafür sorgen, dass diese Tussi den Weg nach Hause antrat.
Mit einem stillen Fluch auf den Lippen eilte er die drei Stufen hinauf und zurück in den Eingangsbereich der Festhalle.
***
Sie spürte seine Anwesenheit, ehe er überhaupt das Wort an sie richtete.
„Bist du in Ordnung, Tyra?“
Sie hasste und liebte es, wenn er ihren Namen aussprach. Seine Stimme war wie dunkler Samt, der den Ohren schmeichelte und einem im selben Moment die Hitze in die Wangen trieb. Die kleinen Haare auf ihren Armen richteten sich auf und das sachte Prickeln in ihrem Nacken verursachte ihr wohlige Schauer.
Trotzdem wünschte sie ihn gleichzeitig ans andere Ende der Welt. Was tat dieser Typ immer noch hier? Sie hatte schon vor Stunden damit gerechnet, dass er einfach verschwinden würde. Er passte nicht hierher, war ein Spießer ohnegleichen und verdarb einfach jedem den Spaß.
Die Schultern gestrafft, drückte sie den Rücken durch und wandte sich ihm halb zu. Unter langen Wimpern schaute sie ihn an und maß ihn, wie sie hoffte, mit abschätzendem Blick.
„Ja.“
Sie sah, wie der Unmut sich in seinem Gesicht ausbreitete und seine Augen schmaler wurden. Er musterte sie auf seine eigene unverschämte Weise und sie bemerkte, wie seine Augen einen Moment länger am Ausschnitt dieses grässlichen Brautjungfernkleides verweilten, um den Ansatz ihrer Brüste zu betrachten.
Gott, dieser Blick war so heiß – diese Mischung aus Genervtheit, Wut und etwas, das die wohligen Schauer in ihr in pulsierende Hitze verwandelte, das sich in ihrem Unterleib sammelte.
Verflucht! Wieso hatte dieser Kerl nach über einem Jahr immer noch diese Wirkung auf sie? Wieso sah er mit seinen kantigen Gesichtszügen, dem Zehn-Tage-Bart, seinem zerzausten schwarzen Haar und diesen grauen Augen so verdammt sexy aus, obwohl er eigentlich mit seiner distinguierten, versnobten Art überhaupt nicht ihr Typ war?
Er räusperte sich und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick sich für einen winzigen Moment zu seinem Schritt verirrte.
„Soll ich dir ein Taxi rufen?“ Er klang harsch und unfreundlich.
Was sollte das?
Tyra presste verärgert die Lippen aufeinander. Was war heute los, dass jeder sie an diesem Abend anranzte … erst Emily, nun Lyle?
Das Kinn vorgeschoben und mit dem arrogantesten Blick, den sie aufbringen konnte, schüttelte sie den Kopf. „Nein.“ Sie atmete tief ein und empfand eine schon befremdliche Genugtuung, dass er ihr dabei auf den Busen starrte. „Es geht mir gut, ich brauche nur einen Drink.“
Kaum hatte sie die unseligen Worte ausgesprochen, spürte sie, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Normalerweise war sie schlagfertig, meistens auch taktvoll – obwohl Lyle vermutlich anderes behaupten würde, denn jedes Mal, wenn sie sich über den Weg liefen, war die Anspannung zwischen ihnen fast greifbar.
Er sorgte stets aufs Neue dafür, dass Tyra sich dumm und linkisch fühlte, selbst wenn er gar nichts sagte.
Die Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen mit ihm drängte sich mit voller Wucht in ihr Bewusstsein.
Judith hatte sie im Caesars aufgegabelt. Nach einem wirklich fiesen Streit mit Emily hatte Tyra sich zum ersten Mal betrunken – so richtig betrunken. Sie hatte in einer Ecke des Caesars an ihrem Tisch gehockt und vor sich hingestarrt.
Eine der Kellnerinnen, eine Studienkollegin von Judith, hatte Tyra erkannt und schließlich ihre Schwester informiert. Die war verständlicherweise nicht besonders glücklich gewesen über diesen nächtlichen Anruf. Dennoch hatte sie Tyra abgeholt und mit zu Nicks Wohnung genommen, die näher lag und wo keine wütenden Eltern bohrende Fragen stellten, warum ihre Jüngste sturzbetrunken und entgegen der Vereinbarung mit Emily mutterseelenallein in einem Nachtclub saß.
Also war Tyra auf dem buntkarierten Sofa gelandet, hatte sich in eine geblümte Decke eingewickelt und versucht zu schlafen.
Mit einem Ohr hatte sie mitbekommen, dass Nick nach Hause gekommen war. In der Küche war er vermutlich von Judith über die Umstände von Tyras Anwesenheit in Kenntnis gesetzt worden und danach war nur noch ihr leises Gemurmel zu hören gewesen.
Tyra hingegen war aus ihrem Delirium hochgeschreckt, hatte gemerkt, dass sie dringend pinkeln musste, und sich auf die Suche nach dem Badezimmer gemacht. Dass das Wasser in der Dusche rauschte, hatte sie gar nicht registriert. Stattdessen war sie zur Toilette gewankt, hatte sich den Rock hoch- und den Slip ausgezogen und den Dingen ihren Lauf gelassen. Sie war noch immer völlig benommen gewesen vom Alkohol.
Trotzdem wäre alles gutgegangen, wenn nicht in dem Moment, da sie von der Toilette aufgestanden war, ein nackter, nasser Kerl aus der Dusche getreten wäre.
Sie hatte dagestanden und ihn angegafft, während er ihr einen Blick zugeworfen hatte, der irgendwo zwischen Überraschung und Gier gelegen hatte.
Irgendwas war zwischen ihnen passiert in diesem Moment, sie waren beide wie versteinert gewesen, bis Tyra irgendwann aus ihrer Lethargie erwacht war und getan hatte, was sie immer tat, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte: provoziert.
Sie war sich durchaus der Tatsache bewusst gewesen, dass ihr Rock immer noch um ihre Taille hing und sie sich ihm zur Hälfte unbekleidet präsentierte. Wäre der Kerl vor ihr irgendein hässlicher Gnom gewesen, wäre sie kreischend geflüchtet -, aber das war er nicht.
Er war ein großer, gutaussehender Typ. Einer, der nicht nur ein hübsches Gesicht hatte, sondern auch toll gebaut war – explizit, was seine hervorstechenden, männlichen Attribute betraf. Also hatte sie ihn genüsslich von oben bis unten betrachtet und ihn angegrinst, während sie auf ihn zugegangen war.
„Schöner Penis“, hatte sie geraunt. „Darf ich mal anfassen?“ Sie hatte nicht nur den Blick gesehen, mit dem er sie anstarrte, ihr war auch nicht entgangen, welche Wirkung ihre Worte auf ihn hatten.
Er hatte nichts gesagt. Er hatte sie nur angestarrt, aber in seinen Augen hatte sie es leuchten sehen. Dieses Leuchten hatte dafür gesorgt, dass sie nicht albern kichernd den Rückzug angetreten hatte, sondern direkt vor ihm stehen geblieben war und ihre Hand sich wie von selbst um den prachtvollen Schwanz geschlossen hatte, der sich ihr entgegenreckte.
Jeder guten Erziehung zum Trotz und wider allem, was sie sonst ausmachte, hatte sie ihre Bedenken und jede Scham über Bord geworfen. Sie hatte das Gefühl seiner pulsierenden Hitze und der weichen Haut genossen. Ihre Finger hatten ihn gestreichelt und massiert, sie hatte sein leises Stöhnen gehört und mehr gewollt als ihn nur anzufassen. Sie war drauf und dran gewesen, in die Hocke zu gehen, um etwas zu tun, was sie noch nie getan hatte. Hätte sie im Flur nicht Judith rufen hören, wäre in diesem Moment alles passiert.
Mit einem Seufzen hatte sie von ihm abgelassen, war zur Toilette zurückgegangen und hatte ihren Slip vom Boden aufgeklaubt. Sie hatte sich absichtlich nach vorn gebeugt und ihm einen pikanten Einblick auf ihre feuchte Weiblichkeit gewährt. Er hatte wissen sollen, dass seine Erektion auch sie nicht kaltließ.
Dann war sie mit bedauerndem Lächeln zur Badezimmertür gegangen, hatte sich den Rock gerichtet und ihn alleingelassen.
Zum Glück hatten Judith und Nick nichts von alldem mitbekommen. Erst am nächsten Tag beim Frühstück hatte sie erfahren, dass es Nicks älterer Bruder gewesen war, dem sie begegnet sein musste. Die beiden hatten für einen Mitternachtsmarathon trainiert und Lyle war im Park gestürzt. Offenbar hatte er sich kurz den Dreck abduschen wollen, ehe er sich auf den einstündigen Weg nach Hause gemacht hatte. Irritiert waren sie wohl nur wegen seines überstürzten Aufbruchs gewesen.
Sie wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken - und dennoch ließ sie dieses Gefühl nicht los, das Lyle in ihr wachgerufen hatte. Ob betrunken oder nicht, sie hatte sich nie zuvor so intensiv zu einem Mann hingezogen gefühlt. In all der Zeit danach und bei den wenigen Treffen, bei denen sie ihn endlich wiedergesehen hatte, war er ihr gegenüber stets abweisend und kalt gewesen, – als hätte sie sich dieses erotische Zwischenspiel nur eingebildet.
Sie wusste, sie hätte dafür dankbar sein sollen, aber stattdessen frustrierte es sie.
Als sie den Blick hob, stand Lyle immer noch mit diesem seltsamen Gesichtsausdruck und der kleinen Zornesfalte zwischen den Augenbrauen vor ihr. Es war unübersehbar, dass er sie loswerden wollte.
Tyra biss die Zähne aufeinander, machte es sich demonstrativ auf einem der Barhocker bequem und wollte dem Barkeeper ein Zeichen geben, ihr einen Drink zu mixen. Doch der Typ hatte längst sein Zeug zusammengepackt und schleppte gerade mit den anderen Leuten vom Catering das restliche Equipment zum Hinterausgang, wo die Lieferwagen warteten.
Na wunderbar. Wieso hatte sie sich eigentlich nicht vorhin betrunken, als sie noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte?
Weil du nie wieder so eine peinliche Szene wie vor einem Jahr heraufbeschwören wolltest, beantwortete sie sich die Frage in Gedanken.
„Die Kaffeemaschine funktioniert noch“, bemerkte Lyle schroff. Er trat hinter die Bar und bedachte sie mit einem Blick, als wäre sie ein zehnjähriges, bockiges Kind. Sie fühlte sich nicht zum ersten Mal von ihm gemaßregelt und verschränkte ärgerlich die Arme vor der Brust.
Mit ihrer Größe von einem Meter sechzig schien jeder sie für unmündig zu halten. Begriff denn niemand, dass sie erwachsen war? Ausgerechnet Lyle, dessen Bild sie in so vielen Nächten bis in ihre Träume verfolgte, behandelte sie, als wäre sie immer noch fünfzehn.
Sie zwang sich zur Ruhe und schenkte ihm ein herablassendes Lächeln. „Ich trinke keinen Kaffee.“
Seine Augen wurden schmal und seine Stimme bekam einen boshaften Klang. „Dann lieber ein Glas Milch?“
Tyra spürte, wie die Welle aus Wut und Enttäuschung in ihr emporkochte. Emily hatte sie vorhin schon zur Weißglut getrieben. Sie brauchte jetzt nicht noch die schnippischen Sprüche dieses überheblichen Juristen, der meinte, er wäre etwas Besseres.
Er wollte sie herausfordern? Das Spielchen konnte sie ausbauen. Sich auf dem Barhocker aufrichtend, lehnte sie sich halb über die Theke und stemmte sich mit verschränkten Armen auf der polierten Arbeitsplatte ab. Ihr war wohl bewusst, welche Ansichten sie Lyle damit auf ihren Ausschnitt gewährte und wie ihr Busen aus dem Kleid fast herausquoll. Seine Augen blieben unweigerlich genau dort hängen.
Unverschämt ließ sie ihren Blick über Lyles Gestalt gleiten und musterte für einen weiteren Moment ausgiebig seinen Schritt. Sie strich sich langsam mit der Zungenspitze über die vollen Lippen, hob das Kinn und sah Lyle herausfordernd ins Gesicht. „Ich steh mehr auf Milchschaum, den kann man toll ablecken.“
Sie konnte sehen, wie sein Adamsapfel einmal hektisch hüpfte, als er schluckte. Seine Miene war jetzt eindeutig zornig … ja, und irgendwie … angewidert?
Tyra biss sich insgeheim auf die Unterlippe. Provokation war eine Kunst, die nicht jeder beherrschte, – und heute war sie offenbar übers Ziel hinausgeschossen.
„Ich rufe dir ein Taxi“, murrte Lyle, ohne auf ihre plumpe Bemerkung überhaupt einzugehen. „Du solltest nach Hause fahren.“
Sie fiel zurück auf den Barhocker, ließ die Schultern sinken und starrte auf ihre Finger, die sich um die Kante der Theke krallten. „Ich kann nicht.“
Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Was soll das heißen?“
„Es ist wegen Emily.“
Für einen Moment blieb es still, dann spürte sie, dass er näherkam. Sie wagte es nicht, ihm erneut in die Augen zu sehen. Sie hatte sich eindeutig zu weit aus dem Fenster gelehnt und war nun vor ihrer eigenen Beherztheit erschrocken. Warum zur Hölle trieb er sie so dermaßen in die Ecke, dass sie jedes Mal überreagierte?
„Das bedeutet was genau?“
Tyra zuckte mit den Schultern. „Emily ist zu ihrem Typ gefahren. Der, den sie eigentlich nicht mehr sehen soll … Ich hatte ihr versprochen, dass ich ihr Alibi bin.“
„Habt ihr euch deshalb gestritten?“
„Ja, nein, das … das hatte andere Gründe.“
„Hm.“ Schweigend wandte er sich ab und machte sich hinter der Theke an irgendwas zu schaffen. „Wie dem auch sei, das ist nicht mein Problem. Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben.“
„Wieso nicht?“, wollte sie wissen.
„Das ist kein Hotel hier“, entgegnete er kühl. „Außerdem will ich nach Hause und nicht den Babysitter mimen. Du solltest dir eine andere Bleibe für die Nacht suchen.“
Babysitter? Das wurde ja immer besser. Sie hob den Kopf und bemerkte, dass der hintere Bereich der Halle im Dunkeln lag. Schön, er hatte also die Lichter ausgeschaltet und wollte sie rauswerfen.
„Jetzt erklärt sich wenigstens, warum du überhaupt so lang geblieben bist“, stellte sie fest. Als sie seinen überheblichen Blick auffing, kehrte ihre Auflehnung gegen seine Bevormundung erneut zurück. „Der Mensch, der sich am wenigsten amüsiert und mit seiner schlechten Laune fast allen den Spaß verdorben hat, mimt heute Abend den Hausmeister.“
Lyle versteifte sich sichtlich. „Ich habe niemandem den Spaß verdorben.“
„Oh, ich denke, das sehen die Kumpels deines Bruders etwas anders, nachdem du sie rausgeworfen hast.“
„Sie haben geraucht und es ist nicht ohne Grund verboten. Es waren auch Kinder anwesend.“
„Die Halle ist riesig und die drei haben sich am Notausgang herumgetrieben.“
„Es geht um das Prinzip.“
Tyra rollte mit den Augen. „Ja, Lyle, wir wissen alle, wie spießig und engstirnig du bist.“
Er betätigte einen weiteren Knopf hinter der Theke und die halbe Halle wurde dunkel. Der Blick, den er ihr zuwarf, war eisig. „Nicht jedem von uns ist daran gelegen, sich Wochenende für Wochenende in irgendeinem Nachtclub zu besaufen und am nächsten Morgen nicht mehr zu wissen, in wessen Bett man gerade aufgewacht ist.“
Ihre Augenbrauen hoben sich überrascht.
Glaubte er das von ihr? Interessant zu erfahren, was der Bruder ihres Schwagers tatsächlich so über sie dachte. Sie schwankte zwischen hysterischem Gelächter und dem Wunsch, sich irgendwo verkriechen zu wollen, um eine Runde zu heulen, … aber Selbstmitleid lag ihr nicht wirklich. Eigentlich war sie mehr der Typ Frau, der einem in die Finger biss und an den Haaren zog, wenn man auf sie einzuschlagen versuchte.
„Du bist so ein verklemmter Heuchler, Lyle Murdock. Gibt es eigentlich irgendwas in deinem Leben, worüber du dich freust, oder liegt dein ganzer Lebensinhalt darin, anderen jede Art von Spaß zu missgönnen?“
Sie konnte sehen, wie seine Kiefermuskeln sich spannten, als er die Zähne zusammenbiss. „Du weißt nichts von mir“, knurrte er und kam um die Theke herum. Als er sie auf dem Barhocker erreichte, schlossen seine Finger sich alles andere als sanft um ihren Oberarm. Er zerrte sie vom Stuhl herunter Richtung Ausgang.
„Au, das tut weh“, fauchte sie.
„Das soll es auch“, schnappte er zurück.
Zornig versuchte sie sich seinem eisernen Griff zu entwinden, aber er ließ nicht einmal eine Winzigkeit locker.
Zugegeben, so viel Kraft hatte sie ihm nicht zugetraut und irgendwie war dieses Gerangel auch aufregend, dennoch wollte sie sich nicht einfach von ihm vor die Tür setzen lassen.
Als sie den Korridor zur Hälfte durchquert hatten, trat sie ihm mit Schwung gegen sein Bein und erwischte seine Kniekehle. Er knickte auf der linken Seite ein, strauchelte und ließ Tyra los.
Ihre erste Erleichterung verwandelte sich in einen Anflug von Panik, als sie die mörderische Wut in seinem Gesicht registrierte. Die Tatsache, dass Lyle Murdock sie nicht nur verabscheute, sondern regelrecht zu hassen schien, versetzte ihr einen unerwartet tiefen Stich. Sie wollte nur noch weg von ihm.
Tyra wandte sich auf dem Absatz um und rannte los.
Hinter ihr erklang Lyles Stimme: „Bleib stehen!“
Den Teufel würde sie tun. Er hatte ihr gar nichts zu sagen. Sie würde durch den Hinterausgang verschwinden und sich notfalls im Lieferwagen des Cateringservice verstecken.
So schnell ihre Füße sie trugen, rannte sie den Korridor hinab und schlitterte auf den letzten fünf Metern über den rutschigen Boden. Unsanft knallte sie gegen die Tür, über der ein Schild mit „Emergency Exit“ prangte.
Sie zog an dem Griff und stutzte. Wieso war hier abgeschlossen? Wenn das ein Notausgang war, musste sie hier doch ins Freie gelangen. Sie zerrte abermals an dem Griff, doch die Tür rührte sich nicht.
„Es ist abgeschlossen, Tyra.“
Hektisch warf sie einen Blick über die Schulter und sah Lyle den Gang entlangkommen. Er war unverkennbar wütend und er hatte durchaus seinen Grund dazu. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine andere Tür, gleich unter der Treppe, die ins Obergeschoss führte.
Als sie darauf zustürzte, brüllte Lyle ihren Namen: „Tyra. Nein!“
Zornig riss sie die Tür auf und huschte in die Dunkelheit dahinter. War sie sein Hund, oder was? Ehe sie die Tür schließen konnte, zog Lyle von der anderen Seite in die umgekehrte Richtung. Tyra schrie vor Wut laut auf, aber sie hatte Lyles Kraft nichts entgegenzusetzen.
Seine große Gestalt tauchte im Türrahmen auf und versperrte ihr den Weg. Schwer atmend betrachtete sie seine Umrisse. Hier drin war es stockfinster und sie sah nichts, außer dem Schatten, der vor ihr aufragte.
„Deine Eltern haben dir als Kind nie den Hintern verhauen, oder?“
Irritiert runzelte sie die Stirn. „Natürlich nicht.“ Verdammt, wenn sie doch wenigstens sein Gesicht sehen könnte.
„Gut, dann wird es Zeit, dass das jemand anders tut.“ Er beugte sich vor, zog an etwas und über ihnen flammte im nächsten Moment eine nackte Glühbirne an der Decke auf.
Blinzelnd angesichts der plötzlichen Helligkeit stellte Tyra fest, dass sie mitten in einer fensterlosen Besenkammer stand. Putzmittel und Reinigungsequipment wechselten sich ab mit einem Stapel uralter Stühle und einer Handvoll unbeschrifteter Kartons.