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Eine Kleinstadt voller Geheimnisse—Eine Ermittlerin, die sich ihren Dämonen stellt
Dreißig Jahre ist es her, dass Atlee Pines eineiige Zwillingsschwester Mercy entführt wurde und für immer verschwand. Atlee ist eine einzelgängerische FBI-Agentin geworden, aber das Trauma der Vergangenheit hat sie nie losgelassen. Sie macht sich daher auf in ihr Heimatstädtchen im provinziellen Georgia, um das Verbrechen von damals aufzuklären. Doch kurz nach ihrer Ankunft wird eine bestialisch ermordete Frau aufgefunden – mit einem Brautschleier über dem Gesicht. Wenig später taucht eine zweite Leiche auf, Atlee wird immer tiefer in den mysteriösen Fall gezogen. Und dann zeigt sich, dass es eine Verbindung zu Mercys Verschwinden geben könnte ...
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Seitenzahl: 603
Das Buch
Nie wird Atlee Pine die Nacht vergessen, in der sie von einem Unbekannten niedergeschlagen und ihre Zwillingsschwester Mercy aus dem Kinderzimmer entführt wurde. Als die jahrzehntelang angestaute Wut eines Tages unkontrolliert aus Atlee herausbricht, trifft sie eine Entscheidung: Um ihre Karriere beim FBI nicht zu zerstören, taucht sie für einige Zeit ab und stellt sich in ihrem Heimatort im tiefsten Georgia den Schatten der Vergangenheit. Zusammen mit ihrer unerschrockenen Assistentin Carol Blum gelingt es Atlee, allmählich Licht ins Dunkel zu bringen. Doch ihre Rückkehr nach Andersonville setzt eine Kette verhängnisvoller Ereignisse in Gang: Erst wird eine junge Frau umgebracht und ihre Leiche auf mysteriöse Weise zur Schau gestellt. Dann geschieht ein zweiter brutaler Mord. Was verbindet diese Fälle und Mercys Entführung? Und wem kann Atlee in dieser Kleinstadt voller Geheimnisse vertrauen? Als sie die Puzzleteile zusammensetzt, ist nichts mehr wie es einmal war … und auch Atlees Leben ist plötzlich in Gefahr.
Der Autor
David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit über 130 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. »Abgetaucht« ist nach »Ausgezählt« der zweite Roman in seiner neuen Bestsellerserie um die Ermittlerin Atlee Pine.
DAVID BALDACCI
ABGETAUCHT
THRILLER
Ins Deutsche übertragenvon Norbert Jakober
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel A Minute to Midnight bei Grand Central Publishing / Hachette Book Group Inc., New York.
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Copyright © 2019 by Columbus Rose, Ltd.
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Wolfgang Neuhaus
Herstellung: Helga Schörnig
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-26766-7V003
www.heyne.de
Zur Erinnerung an Bob Schule
Einen besseren Freund kann es nicht geben.
Du wirst uns fehlen und nie vergessen sein.
1
Es war ein Trip ins Tal des Todes.
Auch wenn das »Tal« in diesem Fall in Colorado lag und sich ADX Florence nannte – das einzige Hochsicherheitsgefängnis im US-Bundesstrafvollzug, das den »Supermax«-Standard erfüllte, die höchste Sicherheitsstufe. Von einem »Tal des Todes« zu sprechen war gar nicht so weit hergeholt. Hier roch es tatsächlich nach Tod, schon wegen der Verbrechen, die die Häftlinge begangen hatten.
FBI-Agentin Atlee Pine hatte ihren Oldtimer, einen 1967er Ford Mustang Cabrio im original Frost-Türkis-Farbton, mit Vollgas über die Highways gejagt. Zwei Jahre lang hatte sie dem einstigen Besitzer geholfen, den Wagen zu restaurieren. Der Mann war selbst FBI-Agent gewesen und so etwas wie Pines Mentor, nachdem sie ihre Ausbildung in Quantico absolviert hatte. Mittlerweile verstorben, hatte er ihr das Cabrio vermacht. Es war für Pine undenkbar, sich jemals davon zu trennen.
Nach ihrer rasanten Fahrt saß sie nun auf dem Gefängnisparkplatz hinter dem Lenkrad und versuchte sich zu sammeln. Es verlangte einigen Mut, das schlimmste Ungeheuer zu besuchen, das diese Mauern beherbergten, in denen nicht wenige Bestien in Menschengestalt einsaßen – Psychos, die Tausende hilfloser Opfer abgeschlachtet hatten, ohne einen Funken Reue zu zeigen.
Pine gab sich einen Ruck und stieg aus. Abgesehen von ihrer weißen Bluse war sie ganz in Schwarz gekleidet. Ihre FBI-Dienstmarke hatte sie sich ans Revers ihrer Jacke geheftet. Sie brauchte zehn Minuten, um die Sicherheitskontrollen zu passieren, wo sie ihre beiden Waffen abgeben musste: eine Glock 23 und eine Beretta Nano, die sie als Zweitwaffe in einem Fußholster trug. Zwar kam Pine sich ohne die Waffen nackt vor, doch das ADX Florence hatte seine eigenen Regeln. Und dass Besucher keine Waffen tragen durften, war aus verständlichen Gründen eine der wichtigsten.
Pine setzte sich auf den Hocker in einer Nische des Besucherraums und schlang ihre langen Beine um die Metallstützen des Sitzmöbels. Vor ihr befand sich eine dicke Trennscheibe aus Sicherheitsglas. Auf der anderen Seite würde jeden Moment das Monster erscheinen, das der Grund ihres Besuchs war.
Wenige Minuten später führten sechs stämmige Wärter den mit Fußketten gefesselten Daniel James Tor herein, befestigten die Ketten an einem Stahlring, der im Fußboden eingelassen war, und verschwanden wieder. Zurück blieben die Vertreterin des Gesetzes und der Gesetzesbrecher, nur durch die Panzerglasscheibe voneinander getrennt.
Tor war eine furchteinflößende Erscheinung, über eins neunzig groß und hundertdreißig Kilo schwer, davon größtenteils Muskelmasse. Obwohl er bereits auf die sechzig zuging, wirkte er fit genug, um in der Football-Profiliga mitmischen zu können. Pine wusste, dass der Körper des Mannes von oben bis unten mit Tattoos bedeckt war. Einige hatte er sich von den Menschen machen lassen, die er kurz darauf getötet hatte. Er musste sich seiner Macht sehr sicher gewesen sein, wenn er seinem Opfer eine Nadel in die Hand gegeben hatte – eine provisorische Waffe, die sie hätten benutzen können, um ihrem Albtraum ein Ende zu machen. Keines seiner Opfer hatte es auch nur versucht.
Tor war physisch und psychisch ein Ungeheuer. Ein narzisstisch veranlagter Soziopath, wie sämtliche Experten übereinstimmend urteilten. Er verkörperte die wohl tödlichste Kombination, die die Natur einem menschlichen Wesen mitgeben konnte: brutale Kraft und völlige Gewissenlosigkeit. Dieser Mann tötete nicht aus irgendeinem tief sitzenden Hass auf die Menschheit heraus; ihn trieb allein das unbezähmbare Verlangen, die Macht über Leben und Tod zu spüren und seine Opfer schlussendlich zu vernichten – was er mindestens dreißigmal getan hatte. Aber das waren lediglich die Morde, die Tor gestanden hatte. Pine und andere gingen davon aus, dass die Zahl seiner Opfer in Wahrheit doppelt, vielleicht sogar dreimal so hoch war.
Tors massiger Schädel war vollkommen haarlos und so glatt rasiert wie sein Gesicht. Mit seinen kalten, leeren Augen fixierte er Pine wie eine Schlange ihre Beute, bevor sie zuschlug. Es war der lauernde Blick eines Raubtiers, dessen einziger Gedanke auf das Töten gerichtet war. Das Tückische dabei war, dass Tor über das Talent verfügte, in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen, um seine Opfer ins Verderben zu locken. Er konnte vollkommen überzeugend wie ein normaler Mensch auftreten – bis sein wahres Ich zum Vorschein kam.
»Sie schon wieder«, sagte er herablassend.
»Aller guten Dinge sind drei«, gab Pine zurück, so ruhig sie konnte.
»So langsam öden Sie mich an. Hoffentlich haben Sie diesmal was Interessantes zu sagen.«
»Beim letzten Mal habe ich Ihnen ein Foto meiner Schwester Mercy gezeigt.«
»Und ich habe Ihnen gesagt, ich brauche mehr Informationen.«
Pine wusste, dass ihr Besuch diesem Mann eine willkommene Gelegenheit bot, Macht auszuüben, auch wenn er so tat, als wäre er ihrer überdrüssig. Doch die Aufmerksamkeit, die sie Daniel James Tor schenkte, war eine Selbstbestätigung für ihn und bestärkte ihn in der Überzeugung, dass seine Existenz einem ganz besonderen Zweck diente.
Pine versuchte, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. »Das verstehe ich, aber ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
»Glauben Sie vielleicht. Ich hatte Ihnen geraten, Ihre Hausaufgaben zu machen, bevor Sie wieder zu mir kommen. Und? Haben Sie? Oder werden Sie mich schon wieder enttäuschen?«
Pine wusste, dass sie sich auf schmalem Grat bewegte. Sie musste sein Interesse wachhalten, ohne sich völlig von ihm vereinnahmen zu lassen, denn das hätte ihn wirklich gelangweilt. »Vielleicht können Sie ein paar Gedanken beisteuern, die mir weiterhelfen.«
Er sah sie mürrisch an. »Sie sagen, Ihre Zwillingsschwester war sechs, als sie entführt wurde.«
»Das stimmt.«
»Mitten in der Nacht aus ihrem Zimmer in Andersonville, Georgia?«
»Ja.«
»Und Sie haben neben ihr geschlafen?«
»Ja.«
»Und Sie glauben, ich sei es gewesen? Sie glauben, ich hätte Sie bewusstlos geschlagen? Weil ich gar nicht die Absicht hatte, Sie zu töten?«
»Nun ja, Sie haben mir immerhin den Schädel gebrochen.«
»Und dabei soll ich einen Abzählreim aufgesagt haben, um den Zufall entscheiden zu lassen, wen von euch beiden ich mitnehme?«
»Ene, mene, muh – und raus bist du.«
»Dann wäre meine Wahl kein Zufall gewesen. Dann hätte von vornherein festgestanden, wen es trifft.«
Pine beugte sich vor. »Warum haben Sie dann bei mir angefangen, wenn Sie schon vorher wussten, dass Mercy verliert?«
»Immer langsam, Agentin Pine. Nichts überstürzen, sonst kommen wir nicht weiter.«
»Ich habe aber keine Lust, noch mehr Zeit zu verschwenden«, platzte Pine heraus.
Tor lächelte und rasselte mit den Ketten. »Ich habe alle Zeit der Welt.«
»Warum haben Sie mich am Leben gelassen, und nicht Mercy? War es Zufall? Oder Ihre Entscheidung?«
»Lassen Sie sich nicht von Ihrem schlechten Gewissen leiten, das Sie als Überlebende verständlicherweise verspüren. Ich stehe nicht auf Jammerlappen. Dafür ist mir meine Zeit zu schade.« Mit einem Lächeln fügte er hinzu: »Auch wenn ich mehr als dreißigmal lebenslänglich absitzen muss.« Offenbar war er stolz auf sein unerhörtes Strafmaß. Vielleicht, überlegte Pine, betrachtet er es als eine Art Auszeichnung.
»Okay«, erwiderte sie, so ruhig sie konnte. »Wenn Sie mir nur sagen, weshalb Sie sich für Mercy entschieden haben.«
»Habe ich Ihnen wirklich den Schädel gebrochen? Mann, da hätten Sie aber genauso gut tot sein können.«
»War ich aber nicht. Und das ist seltsam, weil Sie bei Ihren Opfern sonst immer auf Nummer sicher gegangen sind.«
»Ist Ihnen klar, dass Sie sich jetzt selbst widersprechen? Bisher haben Sie immer behauptet, ich sei der Täter gewesen. Aber Sie leben noch. Das würde bedeuten, dass ich es doch nicht war.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Na gut, dann bin jetzt mal ich an der Reihe, eine Frage zu stellen. Ist Ihnen auch nur ein einziger Fall bekannt, bei dem ich ein sechsjähriges Mädchen aus seinem Zimmer geholt und einen Zeugen am Leben gelassen hätte?«
Pine lehnte sich wieder zurück. »Nein.«
»Warum hätte ich dann bei Ihnen eine Ausnahme machen sollen? Nur weil Sie unter Hypnose darauf gekommen sind, wie Sie mir bei Ihrem letzten Besuch anvertraut haben? Ist schon eine komische Sache mit der Hypnose. Manchmal kommt etwas Richtiges dabei raus, aber mindestens genauso oft was Falsches. Außerdem hatten Sie sich vorher eingehend mit mir beschäftigt. Das habt ihr beim FBI ja alle gemacht«, fügte er beiläufig hinzu, doch Pine hörte ihm an, wie stolz er darauf war. »Sie haben gewusst, dass ich zur fraglichen Zeit in Georgia aktiv war. Sie haben es selbst gesagt. Wissen Sie, für mich ist die Sache ziemlich klar. Die Hypnose hat bei Ihnen keine verschütteten Erinnerungen hervorgeholt.«
»Sondern?«
»Sie hat Ihnen eine Schlussfolgerung bestätigt, die Sie zuvor gezogen hatten – auf der Basis Ihrer Informationen über mich.« Er schüttelte den Kopf. »Vor Gericht kämen Sie nie damit durch. Sie haben in mir den Täter gesehen, weil Sie es sich in den Kopf gesetzt hatten. Weil Sie den Täter in Wahrheit gar nicht gesehen haben oder sich nicht mehr erinnern können. Da kam ich gerade recht, um die Lücke in Ihrer Erinnerung zu füllen, also haben Sie sich auf mich fixiert. Sie sehnen sich so sehr danach, die Sache endlich abzuschließen und Ihren Frieden zu finden, dass Ihnen jedes Mittel recht ist, selbst wenn es nichts mit der Wahrheit zu tun hat.«
Pine schwieg. Es war gut möglich, dass der Mann recht hatte.
»Agentin Pine?«, fragte Tor, noch während sie darüber nachdachte. »Hören Sie mir noch zu?« Er rasselte mit seinen Ketten. »Hallo, FBI? Mein Interesse geht so langsam den Bach runter.«
Pine starrte ihn an. »Sie haben Ihre Vorgehensweise mit der Zeit geändert. Ihre Methoden waren in späteren Jahren anders als früher.«
»Tja, man entwickelt sich nun mal weiter. Es ist wie in jedem Job – je länger man ihn macht, desto besser wird man. Bei mir war es nicht anders. Ich bin sozusagen ein Paradebeispiel für meine spezielle berufliche Nische.«
Pine schluckte den Hass hinunter, den seine Bemerkung in ihr weckte. Wahrscheinlich wartete er darauf, Abscheu in ihrem Gesicht zu sehen, weil er seine Morde als normale berufliche Tätigkeit hinstellte. Diese Genugtuung würde sie ihm nicht geben.
»Verstehe«, sagte sie. »Aber nur, weil Sie nie zuvor so vorgegangen sind, schließt das nicht aus, dass Sie es in diesem einen Fall getan haben. Als Ergebnis Ihres Entwicklungsprozesses, wie Sie selbst sagen.«
»Zugegeben, aber haben Sie irgendwann gehört, dass ich es danach noch einmal so gemacht hätte?«
Pine war auf diesen Einwand vorbereitet. »Wir wissen in Wahrheit doch nur von einem Teil Ihrer Opfer, oder? Also kann ich Ihre Frage nicht beantworten.«
Tor lehnte sich zurück und nahm ihren Konter mit einem widerstrebenden Lächeln zur Kenntnis. »Sie wollen also eine Antwort von mir? Ob ich es getan habe oder nicht? Ja oder nein?«
»Sie hätten keine Nachteile, wenn Sie es mir sagen. Man würde Sie auch für den Mord an meiner Schwester nicht hinrichten.«
»Ich könnte Ihnen jetzt einfach erzählen, dass Sie mit Ihrer Annahme richtigliegen. Das allerdings könnte gelogen sein. Hilft es Ihnen trotzdem weiter?«
»Ich bin FBI-Agentin.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, ich bräuchte …«
»Die Leiche, ja. Das Skelett, genauer gesagt. Mehr wäre nach so langer Zeit ja nicht übrig.«
»Ich brauche einen Beweis«, erwiderte Pine, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Eine Bestätigung.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, wo die vielen Leichen vergraben sind.«
»Dann ist es wohl doch nicht so weit her mit dem fotografischen Gedächtnis, das man Ihnen nachsagt.«
»Sie ziehen schon wieder falsche Schlüsse. Mein Gedächtnis ist perfekt. Wenn ich etwas vergessen habe, dann wollte ich es vergessen.«
»Warum?«
Er beugte sich zur Glasscheibe vor. »Weil sie nicht alle so unvergesslich waren, Agentin Pine. Und ich habe keine Lust, irgendwelchen Angehörigen einen Gefallen zu tun, die mich um Informationen anflehen, weil sie ihren Frieden finden wollen. Das interessiert mich einen Scheiß, falls Sie es noch nicht bemerkt haben.«
»Können Sie sich erinnern, wo Sie Mercy verscharrt haben?«
»Kommen Sie ein andermal wieder, dann plaudern wir weiter. Das viele Reden ermüdet mich.«
»Aber wir haben doch gerade erst angefangen!«, stieß Pine verzweifelt hervor.
»Nennen Sie mich Dan.«
Sie sah ihn verständnislos an. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. »Was?«
»Das ist jetzt schon unser drittes Treffen. Es wird Zeit, dass wir uns mit dem Vornamen anreden, Atlee.«
»Und wenn ich nicht will?«
Er klatschte leise in die Hände. »Dann wird es für immer ein Rätsel bleiben, was aus der armen, wahrscheinlich toten Mercy Pine geworden ist. Paff.«
»Wann reden wir weiter? Was schlagen Sie vor?«
»In einem Monat … Atlee. Ich bin ein viel beschäftigter Mann. Also sagen Sie es, oder wir sind fertig. Für immer.«
»Okay … Dan.«
Pine ging hinaus und ließ sich ihre Waffen zurückgeben. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zurück in den Besucherraum zu stürmen und Dan den Schädel wegzupusten.
Bedrückt stieg sie in ihren Wagen und fuhr zurück nach Shattered Rock, Arizona, wo sie als einzige FBI-Agentin für ein riesiges, dünn besiedeltes Gebiet zuständig war.
Pine war eine Stunde unterwegs, als auf ihrem Handy eine Vermisstenmeldung einging. Ein junges Mädchen war entführt worden. Der mutmaßliche Täter war mit einem grauen Nissan Pick-up ganz in der Nähe von Pines derzeitiger Position unterwegs.
Der Gott von Recht und Ordnung meinte es gut mit Atlee Pine: Fünf Minuten später kam ihr im silbernen Licht des Vollmonds der graue Pick-up entgegen und jagte an ihr vorbei.
Pine riss das Lenkrad des Mustang herum, wendete mit kreischenden Reifen und schaltete das Blaulicht ein, das sie in den Kühlergrill integriert hatte.
Sie trat das Gaspedal aus poliertem Chrom bis zum Anschlag durch. Jetzt galt es, das Leben des Mädchens zu retten.
Du wirst es nicht vermasseln, schwor sie sich.
2
Bei Entführungen gilt vor allem eine Regel: Man muss schnellstmöglich an den Täter heran und ihm den Fluchtweg abschneiden. Danach kamen, je nach Situation, verschiedene Vorgehensweisen in Betracht, von kompromisslosem Zuschlagen bis hin zu Gesprächen mit dem Entführer, um ihn davon abzuhalten, der Geisel etwas anzutun.
Als der Pick-up von der Hauptstraße abbog – offenbar hatte der Fahrer das Blaulicht hinter sich herannahen sehen –, wusste Pine, dass sie in wenigen Minuten eine rasche Entscheidung treffen musste. Zum Glück war ihr die Gegend nicht unbekannt. Nach ihrem zweiten Besuch im Hochsicherheitsgefängnis hatte sie auf der Rückfahrt einen Umweg über genau diese Straße genommen, um wieder klaren Kopf zu bekommen. Deshalb wusste sie bereits, dass der Entführer sich in einer Sackgasse befand – eine Bergstraße ohne Abzweigung.
Pine gab ihre Position an die örtliche Polizei durch, die sofort alle verfügbaren Kräfte einsetzen würde. Doch es war eine ziemlich abgelegene Gegend, sodass wertvolle Minuten verstreichen würden, bis die Cops zur Stelle waren. Im Moment war Pine auf sich allein gestellt. Alles, was sie hatte, waren ihre beiden Pistolen, ihr Verstand und die Erfahrung, die sie in den zwölf Jahren beim FBI gesammelt hatte. Das alles musste sie jetzt in die Waagschale werfen, wollte sie das Mädchen retten.
Es war fast dunkel, als die beiden Fahrzeuge die gewundene Straße hinaufjagten, wobei die Fahrbahn, die nahe am Abgrund entlangführte, immer schmaler wurde.
Pine versuchte, einen Blick ins Fahrerhaus des Pick-ups zu werfen, erkannte aber nur die schattenhaften Umrisse des Mannes und des Mädchens. Doch der Wagen trug das Kennzeichen, das in der Meldung durchgegeben worden war, und der Fahrer war unübersehbar auf der Flucht. Allerdings schien ihm nicht klar zu sein, dass diese Straße ins Nichts führte.
Pine klammerte die Hände ums Lenkrad. Das wird eng, schoss es ihr durch den Kopf. Aber mit Grenzsituationen fertigzuwerden, hatte sie in ihrer Ausbildung bis zum Exzess trainiert.
Eine halbe Meile weiter endete die Straße. Pine stellte ihren Mustang quer über die schmale Fahrbahn, um den Fluchtweg zu blockieren. Die Beifahrerseite war dem Pick-up zugewandt. Falls der Entführer versuchen sollte, den Mustang zu rammen, würde Pine durch seine Frontscheibe auf ihn feuern. Sie zog ihre Glock, zielte durch das offene Beifahrerfenster.
Der Nissan wendete und blieb stehen, den Motor im Leerlauf. Pine spürte, wie es in dem Fahrer arbeitete: Soll ich’s riskieren?
Als er das Fernlicht aufflammen ließ – wahrscheinlich, um sie zu blenden –, schoss Pine die Lichter aus. Spätestens jetzt hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nachdem sie den örtlichen Cops noch einmal ihre Position durchgegeben hatte, saß sie da und wartete, in der einen Hand die Pistole, die andere am Türgriff.
Längere Zeit standen beide Fahrzeuge da, die Motoren im Leerlauf, während Pine und der Entführer einander belauerten. Nach zehn Minuten öffnete sich die Fahrertür des Nissan. Der Mann hatte einen Entschluss gefasst.
Die Nervenschlacht begann.
Pine öffnete ebenfalls die Fahrertür und beobachtete das Geschehen am Pick-up.
Vier Füße landeten auf dem Asphalt neben dem Fahrerhaus.
Pine schwang ihre langen Beine aus dem Cabrio und richtete sich auf.
Als der Entführer und das Mädchen hinter der Deckung der Fahrertür hervorkamen, hob Pine die Waffe und zielte auf die breite Brust des Mannes.
»FBI. Lassen Sie das Mädchen los. Legen Sie sich auf den Boden, Gesicht nach unten, Beine auseinander, Hände hinter dem Kopf. Na los!«
Der Mann dachte nicht daran, der Aufforderung nachzukommen. Stattdessen duckte er sich hinter das Mädchen.
Der Mistkerl, schoss es Pine durch den Kopf. Er nutzt das Kind als Schutzschild. Dem ist jedes Mittel recht.
Im Licht der Innenbeleuchtung des Pick-ups hatte Pine gesehen, dass der Mann Anfang fünfzig war, mittelgroß, stämmig, muskulös. Sein Kopf war kahl bis auf einen wirren grauen Haarkranz. Das zerfurchte Gesicht war zu einer hässlichen Fratze verzerrt. Der ganze Kerl war das Klischee eines alternden Pädophilen. Sein schmuddeliges T-Shirt ließ seine dicken Oberarme sehen; dazu trug er eine staubige Cordhose und ausgelatschte Stiefel.
Das Mädchen war zehn oder elf, groß für ihr Alter und schlank, aber kräftig. Ihre blonden Haare waren zu Zöpfen geflochten. Sie trug grasfleckige Fußballshorts und ein dazu passendes Trikot. Ihre Knie waren ebenso schmutzig wie die langen Stutzen und ihre Adidas-Fußballschuhe. Trotz ihrer Angst lag ein Ausdruck von Trotz in ihren Augen.
Pine konnte nicht wissen, ob der Entführer ein Fremder oder ein Verwandter des Mädchens war. Er sah zu alt aus, um ihr Vater sein zu können, doch auszuschließen war es nicht.
Der Mann starrte Pine schweigend an.
»¿Habla ingles?«, fragte sie.
»Ich bin Amerikaner, du Schlampe«, blaffte er. »Sehe ich vielleicht aus wie ein verdammter Mexikaner?«
»Wenn Sie mich verstehen, dann tun Sie, was ich gesagt habe.«
Er zog eine Sig Sauer aus dem Hosenbund und drückte dem Mädchen die Mündung an den Kopf.
»Das ist mein Freifahrtschein. Wirf die Knarre weg, sonst puste ich der Prinzessin das Hirn raus.«
»Sie legen jetzt die Waffe nieder. Wenn das hier vorbei ist, nehmen Sie sich einen Anwalt und sitzen Ihre Strafe ab.«
»Hab ich alles schon erlebt. Hat mir aber gar nicht gefallen.«
»Wie heißen Sie?«
»Kommen Sie mir nicht mit dem Guter-Cop-Stuss.«
»Ich bin sicher, wir finden einen Weg, das Ganze ohne Blutvergießen zu beenden.«
»Scheiße, wollen Sie mir einen Deal anbieten?«, stieß der Mann ungläubig hervor.
»Lassen Sie das Mädchen gehen, dann findet sich ein Weg.«
»Glauben Sie wirklich, ich falle auf diesen Blödsinn rein?«
Beide hörten Sirenen in der Ferne, die sich rasch näherten.
»Das ist kein Blödsinn. Es ist die Lösung.«
»Ich verhandle nicht.«
»Was wollen Sie dann?«
»Dass Sie Ihre Schrottmühle wegfahren und den Weg freigeben. Ich hab mit der hübschen Maus was vor. Ich kann’s gar nicht erwarten.« Er legte den Arm um den Hals des Mädchens und drückte ihr die Luftröhre zu.
Pines Finger zuckte am Abzug. Sollte sie einen Fangschuss riskieren? »Und was ist mit den Cops, die jeden Moment hier sind?«
»Rede du mit denen.«
»Ich habe keinen Einfluss auf sie. Die werden garantiert nicht nachgeben.«
»Jetzt hör mal gut zu, Nutte. Ich hab die kleine Schnalle hier, also halte ich die Trümpfe in der Hand. Du tust, was ich sage, nicht umgekehrt.«
»Sie kommen hier nicht weg. Nicht mit dem Mädchen.«
»Dann hast du ein Problem, Miststück.«
Pine beschloss, ihre Taktik zu ändern. Sie schaute das Mädchen an. »Kennst du den Mann?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Wie heißt du?«
»Ich …«
»Schnauze!«, blaffte der Mann und ruckte mit der Waffe, die am Kopf des Mädchens lag. »Und du hältst ebenfalls die Fresse!«, rief er Pine zu.
»Wir alle können heil aus der Sache rauskommen, wenn …«
»Du meinst, du und die Kleine hier. Was mit mir passiert, ist dir doch scheißegal.«
»Ich will nicht auf Sie schießen, aber wenn Sie mich dazu zwingen, bleibt mir keine Wahl.«
»Dann ist die Kleine tot.«
Pine schaute erneut zu dem Mädchen. Es erinnerte sie an sich selbst in diesem Alter. Groß, athletisch. Pine fiel auf, wie bemerkenswert ruhig ihre Augen waren. Sie ließ den Blick über das schmutzige Fußballtrikot schweifen, die grasfleckigen Shorts, die aufgeschürften Knie. Dieses Mädchen war eine Kämpferin.
Pine kam eine Idee. Es war ein Vabanquespiel, aber eine andere Möglichkeit sah sie nicht.
»Du spielst Fußball?«
Das Mädchen nickte.
In diesem Moment wich der Mann zurück, zerrte seine Geisel mit zum Abgrund. Noch drei, vier Schritte, dann ging es mehr als dreihundert Meter in die Tiefe.
»Stehen bleiben!«, forderte Pine ihn auf. »Keinen Zentimeter näher an den Abgrund!«
Der Mann verharrte.
Das Sirenengeheul wurde lauter. Wenn sie jetzt nicht schnell handelte, das wusste Pine, würde die Lage spätestens in dem Augenblick eskalieren, wenn die Cops erschienen.
»Ich hab keinen Bock mehr, hier zu stehen«, rief der Mann. »Was ist jetzt?«
»Ich habe Ihnen einen Ausweg angeboten. Das Gefängnis ist immer noch besser als der Tod. Sechs Fuß unter der Erde gibt es keine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung.«
Der Mann machte einen weiteren Schritt zum Abgrund und zog das Mädchen mit sich.
»Halt!«, rief Pine und richtete das Tritium-Nachtvisier ihrer Glock auf das Ziel. Diese Visiereinrichtung ermöglichte auch in der Dämmerung eine hohe Treffgenauigkeit, dennoch konnte Pine keinen Schuss riskieren. Zu leicht hätte sie das Mädchen erwischen können – oder der Abzugsfinger des Entführers zuckte noch im Tod, wenn Pines Kugel ihn traf.
Der Mann grinste triumphierend, als ihm bewusst wurde, dass Pine in der Klemme steckte. »Du drückst nicht ab, du Hure. Das wagst du nicht. Tja, ich würde sagen, ich bin im Vorteil.«
Okay, schoss es Pine durch den Kopf. Alles oder nichts.
Sie schaute zu dem Mädchen. »Ich habe übrigens auch mal Fußball gespielt. Dribbeln war meine Stärke. Ich hab den Ball immer genau zwischen den Beinen des Gegners hindurchgetreten.« Pine sah dem Mädchen eindringlich in die Augen und versuchte ihr mit Blicken verständlich zu machen, was sie meinte.
»Halt dein Drecksmaul!«, brüllte der Mann. »Zum letzten Mal, wirf die Knarre weg, oder …«
Das Mädchen beugte sich blitzartig nach vorn und trat dabei nach hinten aus. Ihr Fußballschuh traf den Mann voll in die Weichteile. Er ließ das Mädchen los, krümmte sich vor Schmerz. Seine Pistole fiel zu Boden. »Biest!«, stöhnte er, das Gesicht knallrot. »Kleine Nutte!« Er sank auf die Knie, rang nach Atem.
Pine war mit drei langen Schritten bei ihm, trat die Pistole weg und zog das Mädchen an sich.
Damit hätte es eigentlich zu Ende sein müssen. Das Mädchen war in Sicherheit, die Waffe für den Mann außer Reichweite.
Dann aber geschah etwas Unerwartetes. Der Mann kämpfte sich hoch, starrte Pine verächtlich an. »Glaubst du etwa, du hast mich erwischt?«, spie er hervor. »Ich hab neun Leben, Miststück!« Er schaute wütend zu dem Mädchen, das seinen Blick erwiderte, zitternd vor Abscheu. »Ich weiß gar nicht, wie viele von diesen kleinen Schnitten ich schon vernascht und hinterher aufgeschlitzt habe.« Er schaute zu Pine. »Hast du kapiert, FBI-Schlampe?«
Pine starrte ihn an. Und während die Sekunden zäh verrannen, veränderte sich die Fratze des Mannes, verwandelte sich in das Gesicht eines anderen.
Pine wusste, sie hätte sich nicht provozieren lassen dürfen. Doch in diesem Moment war es ihr völlig egal.
Sie blickte zum Vollmond, der nicht strahlend gelb war wie sonst, sondern in einem trüben Orangerot leuchtete. Ein Blutmond.
Oder Jägermond, fügte Pine in Gedanken hinzu. Und jetzt bin ich auf der Jagd.
Sie steckte die Pistole ins Holster und ging auf den Mann zu.
In Gedanken sah sie Daniel James Tor vor sich, diesen Albtraum aus Fleisch und Blut, der ihr Leben schon so lange Zeit verdüsterte. Sie würde dafür sorgen, dass dieser Albtraum verschwand.
Der Mann grinste triumphierend. »Du hast gerade einen Riesenfehler gemacht.«
»Wirklich?« Pine wusste genau, was er meinte.
»Falls du’s noch nicht mitbekommen hast, du dämliches Luder, ich bin ein Mann.« Wie ein wilder Stier ging er auf sie los.
Im nächsten Augenblick taumelte er benommen nach hinten, das Gesicht blutend von dem wuchtigen Tritt, den Pine ihm mit dem Stiefel versetzt hatte. Er krümmte sich, stöhnte auf.
»Und falls du es noch nicht mitbekommen hast«, sagte Pine, »ich habe genug von deinem Geschwätz.«
Sie riss das Bein hoch, trat ihm gegen das Kinn. Die Wucht des Treffers riss den Kopf des Mannes in den Nacken. Sofort setzte Pine nach, drosch ihm die Handfläche auf die Nase. Der Mann heulte vor Schmerz, kippte nach hinten und blieb liegen, als hätte ein Huftritt ihn erwischt.
Spätestens jetzt hätte die Auseinandersetzung beendet sein sollen, doch Pine konnte sich nicht mehr bremsen. Sie warf sich auf den Mann, klemmte seine Arme zwischen ihren muskulösen Beinen fest und deckte ihn mit einem Schlaghagel zu, traf ihn mit Faust, Ellbogen und Handfläche, wie sie es in jahrelangem Nahkampftraining gelernt hatte.
Es war, als würde eine in dreißig Jahren aufgestaute Wut aus ihr hervorbrechen. Sie spürte, wie Knochen und Knorpel des Mannes nachgaben, als sie auf ihn einschlug, während der FBI-Engel auf ihrer Schulter ihr verzweifelt ins Ohr schrie, sie verstoße gegen alle Regeln des FBI und der menschlichen Vernunft. Dennoch, Pine konnte nicht aufhören.
Zuerst versuchte der Mann sich gegen den Schlaghagel zu wehren, doch schon nach kurzer Zeit erschlaffte sein Körper, als er in Bewusstlosigkeit versank. Sein Gesicht war so blutig und zerschunden, dass es kaum noch zu erkennen war. Pine roch seine stinkenden Ausdünstungen, die sich mit ihrem eigenen Schweißgeruch und dem kupfernen Gestank des Blutes vermischten. Es war ekelerregend und befreiend zugleich.
Endlich ließ sie erschöpft von ihm ab und stand zitternd auf. Erst jetzt, als der FBI-Engel auf ihrer Schulter zu ihr durchdrang, erkannte sie entsetzt, was sie getan hatte. Sie atmete tief ein und aus und starrte entgeistert auf ihre blutigen Hände, ehe sie sich die Finger an der Hose abwischte. Dann ging sie zu dem Mädchen, das einen Schritt zurückwich, panische Furcht in den Augen. Pine blieb stehen. Beinahe schämte sie sich, dass das Mädchen Angst vor ihr hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Hat er dir wehgetan? Hat er irgendwas Schlimmes mit dir gemacht?«
Sie schüttelte den Kopf, schaute zu dem Mann, der reglos am Boden lag.
»Ist er … ist er tot?«
»Nein. Nur bewusstlos.« Obwohl Pine sich nicht wirklich sicher war. Sie ging in die Hocke. »Wie heißt du?«
»Holly.«
»Du bist sehr tapfer, Holly. Und es war richtig, was du getan hast. Du hast genau verstanden, was ich dir sagen wollte, stimmt’s?«
»Ich hab drei große Brüder.« Holly lächelte schwach. »Wenn die mir auf den Senkel gehen, kann ich ganz schön zutreten.«
Pine legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie. »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«
»Bist du wirklich FBI-Agentin?«
»Ja.«
»Wirklich? Ich dachte immer, Mädchen können so was nicht werden. Höchstens im Fernsehen, aber nicht in echt.«
»Wir Mädchen können alles, wenn wir wollen. Das darfst du nie vergessen.«
Pine richtete sich auf, als der Höllenlärm der Sirenen verstummte und wenige Meter entfernt die Streifenwagen zum Stehen kamen. Kurz blickte sie zu dem Mann, der blutüberströmt am Boden lag und sich nicht rührte; dann zückte sie ihre Dienstmarke und ging zu den Cops, um ihnen zu berichten, was geschehen war. Auch, dass sie ihren Gegner beinahe zu Tode geprügelt hätte.
Und das, ging es ihr durch den Kopf, könnte das unrühmliche Ende der ach so vielversprechenden Laufbahn von Special Agent Atlee Pine bedeuten.
3
Pine trat durch die Sicherheitstür ihres Büros in Shattered Rock, Arizona, einer kleinen Stadt unweit des Grand Canyon, dem größten Naturwunder der Vereinigten Staaten. Pine war für alle Verbrechen in dieser Region zuständig, sofern sie in den Kompetenzbereich der Bundesbehörden fielen.
Carol Blum, Pines Sekretärin und Assistentin, saß an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer des Büros. Die knapp sechzigjährige Frau war seit Jahrzehnten beim FBI und hatte dabei in unterschiedlichen Funktionen und an verschiedenen Dienststellen für das Bureau gearbeitet. Die Mutter von sechs erwachsenen Kindern, die alle in verschiedenen Bundesstaaten lebten, erschien jeden Tag früh zum Dienst und ging spät nach Hause. Das FBI war ihr Lebensinhalt, wie sie Pine gegenüber gern betonte, zumal sie keine nennenswerten Hobbys hatte. Blum war eine elegante, attraktive Frau, stets makellos frisiert und dezent geschminkt, mit unfehlbarem Geschmack für stilvolle Kleidung.
»Wie war Ihr Workout?«, fragte sie.
Für gewöhnlich besuchte Pine dreimal die Woche ein Bodybuilding-Studio in der winzigen Innenstadt von Shattered Rock, wo sie gemeinsam mit Fitnessfreaks trainierte, die mit sparsamsten Mitteln größtmögliche Resultate erzielen wollten. Es gab keine neumodischen Geräte, keinen Schnickschnack, nicht mal eine Klimaanlage. Nur Tonnen von Gewichten, die von keuchenden, stöhnenden Menschen zur Hochstrecke gebracht wurden.
Und literweise Schweiß.
»Heute hab ich’s nicht geschafft. Ich bin vorgestern Nacht später als erwartet aus Colorado zurückgekommen und habe gestern ausgeschlafen. Deshalb bin ich heute länger liegen geblieben, weil … Es gibt da ein paar Dinge, die mich beschäftigen.«
Blum schaute sie besorgt an. »Zum Beispiel?«
»Kommen Sie in mein Büro, dann erfahren Sie es in allen Einzelheiten. Es könnte übrigens sein, dass Sie einen neuen Vorgesetzten bekommen.«
Blums Gesicht zeigte keine Regung. Pine schätzte es sehr, dass diese Frau sich durch nichts erschüttern ließ. Wahrscheinlich, weil sie in den vielen Jahren beim FBI so ziemlich alles erlebt hatte.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Blum.
»Sie müssen mir keinen Kaffee machen, Carol. Das sind genau diese überkommenen Rollenklischees, mit denen wir aufräumen sollten.«
»Was ist verkehrt daran, wenn ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbiete? Sie haben ja nicht verlangt: ›Koch mir einen Kaffee, Carol.‹ Dann sähe die Sache anders aus. Leider kann ich mich an viele Agenten erinnern, die es so gemacht haben.«
»Wie haben Sie darauf reagiert?«
»Ich habe ihnen meine Einstellung deutlich gemacht«, erklärte Blum lächelnd. Sie ging zur Kaffeemaschine, schaltete sie ein und holte ein Pad aus einer Schublade.
Als sie kurz darauf mit der dampfenden Kaffeetasse in Pines Büro kam, saß diese bereits an ihrem Schreibtisch. Blum stellte die Tasse ab und setzte sich ihrer Chefin gegenüber.
Das Büro war frisch renoviert – nur die beiden alten Dellen in der Wand waren noch da. Sie stammten von einem Vorfall mit einem Verdächtigen, den Pine hier befragt hatte und der handgreiflich geworden war. Pine war seiner Faust ausgewichen, die statt ihrer die Wand getroffen hatte. Der zweite, deutlich größere Abdruck war einen Augenblick später entstanden, als Pine den Schädel des Mannes gegen die Wand gerammt hatte. Blum hatte damals vorgeschlagen, den Schaden nicht zu beheben, da die Dellen eine abschreckende Wirkung besäßen. Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte, hatte sie gemeint.
»Und?«, fragte sie nun erwartungsvoll. »Was ist passiert?«
Pine trank einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortete.
»Ich war auf dem Rückweg aus Colorado, da kam eine Vermisstenmeldung rein. Zufällig war ich ganz in der Nähe. Ich hab den Kerl gestellt und verhindert, dass er mit der kleinen Holly verschwinden konnte.«
»Das ist ja großartig! Das wird Ihnen eine Belobigung einbringen, Agentin Pine.« Blum hielt inne. »Ich verstehe nur nicht, wo das Problem liegt.«
»Tja, die Sache ist die – ich habe bei der Festnahme ein bisschen die Beherrschung verloren.«
»Die Beherrschung verloren? Was meinen Sie damit?«
»Der Mann liegt mit einem Schädelbruch im Krankenhaus … und das ist nicht die einzige Verletzung.«
»Ich bin sicher, Sie haben nur getan, was nötig war, um den Kerl zu überwältigen.«
»Ihn so zuzurichten war jedenfalls nicht nötig.«
»Warum haben Sie es dann getan?«
»Er hat mich angegriffen. Als ich mich wehrte, ist bei mir die Sicherung durchgebrannt, und ich bin ein bisschen zu weit gegangen. Ich habe meinen Frust an ihm ausgelassen.«
»Ihren Frust?«
»Ich hatte kurz vorher mit Tor gesprochen.«
»Sie meinen, Sie haben in diesem Moment Tor in dem Kerl gesehen?«
»Das hätte mir nicht passieren dürfen.«
»Aber wenn er Sie doch angegriffen hat …«
Pine schüttelte den Kopf. »Das Mädchen war schon in Sicherheit, aber ich habe meine Waffe weggesteckt und die Situation eskalieren lassen.«
»Das sagt sich hinterher so leicht. Aber wenn man in der Situation drinsteckt, ist es viel schwerer, kühlen Kopf zu bewahren und nüchterne Entscheidungen zu treffen.«
»Aber genau dazu sind wir beim FBI ausgebildet worden, Carol. Man erwartet von uns, dass wir bedrohliche Situationen nüchtern einschätzen können.«
»Stimmt auch wieder«, räumte Blum ein.
Ein Klopfen an der Außentür ließ die Frauen innehalten. Sie wechselten einen raschen Blick.
»Ich glaube, das sind die Wölfe«, sagte Pine.
Blum ging hinaus, öffnete und führte einen Mann in Pines Büro. Es war Clint Dobbs, der als Special Agent in Charge für sämtliche FBI-Dienststellen in Arizona verantwortlich zeichnete. Dobbs war Mitte fünfzig, knapp über eins achtzig groß, grauhaarig, mit breiten Schultern und leichtem Bauchansatz. Er stand in der Hackordnung so hoch über Pine, dass sie ihn allenfalls zu Gesicht bekam, wenn sich eine mittlere Katastrophe ereignet hatte. Was ihr unterlaufen war, fiel offenbar in diese Kategorie. Umso mehr überraschte es sie, dass Dobbs allein gekommen war. Normalerweise ließ er sich immer von mehreren Agenten begleiten. Warum diesmal nicht?, fragte sie sich.
Dobbs setzte sich Pine gegenüber, die sich von ihrem Stuhl erhoben hatte. Blum wollte das Büro verlassen, aber Dobbs hob die Hand. »Sie können bleiben, Carol. Was ich zu sagen habe, geht auch Sie an.«
Blum warf Pine einen kurzen Blick zu und blieb am Schreibtisch stehen.
Dobbs wandte sich an Pine. Seine Miene war schwer zu deuten, als er sie aufforderte: »Setzen Sie sich.«
»Ich nehme an, es geht um den Vorfall in Colorado«, sagte Pine.
»Ja. Es sei denn, Sie haben noch jemandem den Schädel eingeschlagen, ohne mir davon zu berichten«, erwiderte er mürrisch.
»Nein, Sir«, sagte Pine ruhig. »Es war nur der eine.«
Dobbs nickte. »Der Typ, den Sie gefasst haben, heißt Clifford Rogers, ein berüchtigter Sexualstraftäter. Er wurde erst vor einem halben Jahr aus der Haft entlassen, nachdem er wegen Entführung und Vergewaltigung einer Neunjährigen eingebuchtet worden war. Man hat ihn vorzeitig auf freien Fuß gesetzt. Der Typ hat neunzehn Jahre gesessen, aber da unsere Gefängnisse aus allen Nähten platzen, hat dieser miese Anwalt ihn mit irgendwelchen formalen Tricks rausgeholt. Rogers steht außerdem im Verdacht, eine Achtjährige ermordet zu haben, nachdem er gerade mal zwei Wochen in Freiheit war. Es wurde aber keine Leiche gefunden, deshalb mussten sie ihn laufen lassen. So war es schon in vier anderen Fällen in den letzten drei Jahrzehnten. Der Kerl ist ein Monster, aber bis auf die eine Vergewaltigung konnte man ihm nichts nachweisen. Das kleine Mädchen, das Sie gerettet haben, hat er nach einem Fußballmatch entführt. Hätten Sie nicht so schnell eingegriffen, wäre die Kleine jetzt nicht bei ihrer Familie, sondern mausetot.«
»Ist Rogers schon bei Bewusstsein?«
»Ja.«
»Und?«
»Er sagt, Sie hätten ihn ohne Grund halb totgeschlagen.«
»Das hat er gesagt?«
»Wie ist Ihre Version?«
»Ich habe meinen Job gemacht. Vielleicht ein bisschen übereifrig.«
»Verstehe.«
»Hat er was anderes behauptet?«
»Es interessiert mich herzlich wenig, was der Typ sagt«, erwiderte Dobbs zu Pines Erstaunen. Immerhin war der Special Agent in Charge dafür bekannt, sich streng an die Vorschriften zu halten.
»Will er mich verklagen?«
»Das hat er vor.«
»Nun ja«, warf Blum ein, die aufmerksam zugehört hatte. »Vielleicht überlegt er es sich anders.«
Dobbs musterte sie einen Moment lang. »Was wollen Sie damit sagen, Carol?«
»Ich erinnere an einen Fall vor sechs Jahren. Special Agent Voorhies aus Tucson.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.« Dobbs nickte anerkennend.
»Fakt ist, dass man sich damals geeinigt hat. Agent Voorhies hat getan, was zu tun war, und hat anschließend weiterhin gute Arbeit geleistet.«
»Was hat er denn damals getan?«, wollte Pine wissen.
»Sagen wir mal, er hat eine Linie überschritten.« Dobbs lehnte sich nachdenklich zurück. »Was halten Sie davon, wenn ich mich mit Mr. Rogers unterhalte und ihm klarmache, dass er nichts davon hat, Sie zu verklagen?«
»Ich möchte nicht, dass Sie Schwierigkeiten kriegen wegen dem, was ich getan habe, Sir«, sagte Pine.
»Genau darum bin ich bereit, eine Ausnahme zu machen. Sie sind eine gute Agentin. Ich will nicht, dass Sie wegen dieser Sache Ihre Dienstmarke zurückgeben müssen.«
Blum sah zu Dobbs. »Glauben Sie, Rogers geht darauf ein?«
»Bei seinem letzten Gefängnisaufenthalt war er in Einzelhaft, weil er selbst darum gebeten hatte. Im normalen Vollzug überlebt er als Kinderschänder keine fünf Minuten. Und er weiß genau, dass wir es in der Hand haben, ihn von den anderen Knackis fernzuhalten.«
Blum schaute zu Pine. »Okay, klingt nach einem Plan.«
»Aber es gibt doch bestimmt eine interne Untersuchung«, wandte Pine ein.
»Sie haben nicht von Ihrer Waffe Gebrauch gemacht. Der Typ hat’s überlebt. Rogers wird auf eine Anzeige verzichten. Und aus Colorado hört man, dass der dortige Bürgermeister Ihnen den Stadtschlüssel überreichen will.«
»Na toll«, sagte Pine, war aber immer noch skeptisch.
Dobbs richtete sich auf. »Trotzdem will ich eins klarstellen, Pine. Was Sie getan haben, ist inakzeptabel. Sie haben Ihren Bonus aufgebraucht. Anders gesagt, so etwas darf sich nicht wiederholen.«
»Heißt das, ich komme ohne Disziplinarverfahren davon?«
»Ja. Diesmal.«
Pine senkte den Blick, starrte auf den Fußboden. »Das weiß ich zu schätzen, Sir. Ich … ich habe mit ernsten Konsequenzen gerechnet.«
Dobbs rieb sich das Kinn. »Sie haben eine Ewigkeit keinen Urlaub mehr gemacht, stimmt’s?«
»Urlaub? Oh, das ist noch gar nicht so lange her. Ich war in …«
»Das war kein richtiger Urlaub, das wissen Sie so gut wie ich. Im Urlaub ist man nicht ständig in Lebensgefahr, so wie Sie in den zwei Wochen damals.«
»Wenn Sie es so sehen …«
»Also, ich persönlich gehe jedes Jahr zum Fliegenfischen. Ich habe noch nie etwas gefangen und genieße trotzdem jede Minute.«
»Und wie lange soll mein Urlaub dauern?«
Dobbs erhob sich und knöpfte seine Anzugjacke zu. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen, Pine.« Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. »Wie war eigentlich Ihr Besuch im ADX Florence?«
»Nicht sehr aufschlussreich.«
»Dann können Sie Ihren Urlaub ja dazu benutzen, in der Sache ein paar Schritte weiterzukommen.« Die Hand an der Klinke, verharrte er an der Tür und blickte zu Boden. »Könnte es sein, dass dieser Drecksack Rogers Sie an jemanden erinnert hat?«
»Ja, irgendwie schon, aber …«
»Aber Daniel Tor ist eine ganz andere Liga, nehme ich an.«
»Als würden Sie ein NBA-Team mit einer Highschool-Mannschaft vergleichen.«
»Nun ja, dieses Ungeheuer ist für immer hinter Gittern. Das Problem ist, dass auch Sie, Pine, nicht wirklich frei sind, solange Sie die Sache mit sich herumschleppen. In gewisser Weise sind Sie Gefangene Ihrer eigenen Vergangenheit. Oder wie sehen Sie das?«
»Ich habe einige Rätsel zu lösen und ein paar Dinge zu erledigen, das stimmt.«
»Nehmen Sie sich Zeit dafür.«
Blum meldete sich zu Wort. »Ich finde, ich sollte Agentin Pine bei der Sache unterstützen.«
Dobbs und Pine schauten sie an. Schließlich sagte Dobbs: »Das muss Pine entscheiden.«
Pine schaute zu ihrer Assistentin. »Carol«, sagte sie, »Sie müssen das nicht …«
»Doch«, fiel Blum ihr ins Wort.
»Okay«, sagte Dobbs, »das überlasse ich Ihnen.« Er nickte den beiden Frauen zu und ging.
Blum schaute ihre Chefin erwartungsvoll an.
»Das alles ist sehr lange her, Carol«, sagte Pine schließlich. »Ich fürchte, meine Chancen sind nicht gerade blendend.«
»Ich habe miterlebt, wie Sie einen Fall nach dem anderen aufgeklärt haben. Ihnen ist immer eine Lösung eingefallen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich endlich auch diese Sache vorzunehmen.«
»Ich habe schon dreimal mit Tor gesprochen.«
»Aber Sie wissen ja nicht einmal, ob er überhaupt mit dem Verschwinden Ihrer Schwester zu tun hat.«
Pine schaute auf ihre Hände. »Ich … ich weiß nicht, ob ich bereit dafür bin, Carol.«
»Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten – ich glaube, Sie sind bereit. Zumindest sollten Sie es sein, denn wie Agent Dobbs gesagt hat: Sie haben Ihren Bonus aufgebraucht. Es wäre jammerschade, würden Sie aus dem Bureau ausscheiden. Sie sind die geborene FBI-Agentin.«
Pine erhob sich hinter ihrem Schreibtisch. »Trotzdem, es ist nicht Ihr Problem.«
»Ich bin Ihre Assistentin und werde Ihnen helfen. So einfach ist das.«
Pine lächelte unwillkürlich. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Also gut, packen wir unsere Sachen.«
»Wohin geht die Reise?«
»Weiter, als Sie ahnen, Carol. Weit in die Vergangenheit.«
4
»Okay, Sie haben mir eine Reise in die Vergangenheit versprochen«, sagte Blum. »Mir war nur nicht klar, dass Sie es wortwörtlich meinen.«
Pine saß am Steuer des gemieteten SUV, Blum hatte es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht, während sie durch die triste Main Street einer kleinen Ortschaft fuhren. Sie waren mit dem Flugzeug in Atlanta angekommen und von dort gut zwei Stunden Richtung Süden gefahren bis nach Andersonville im Sumter County, Georgia, ein winziges Kaff mit rund 250 Einwohnern.
»Irgendwann in den Siebzigern hatten der Bürgermeister und ein paar andere die Idee, die Uhr zurückzudrehen und Andersonville zu einer Touristenattraktion zu machen«, ging Pine auf Blums Bemerkung ein. »Und wissen Sie, wie? Indem sie die Zeit des Bürgerkriegs wiederaufleben ließen. Wir sind hier in der Church Street – der Hauptstraße, wenn Sie so wollen. Auf den Bahngleisen, die senkrecht zur Straße verlaufen, wurden die Gefangenen nach Andersonville gebracht. Das Kriegsgefangenenlager war für viele die letzte Station ihres Lebens.«
»Ist das Lager hier in der Nähe?«
Pine hielt den Wagen an und deutete auf die Straße. »Sehen Sie die aufgemalten Fußabdrücke? Hier sind die Gefangenen die Viertelmeile zum Lager marschiert. Wahrscheinlich der schwerste Gang ihres Lebens.«
Blum schauderte. »Furchtbar.«
Pine streckte den Arm aus. »Da drüben hat die Stadt die Pioneer Farm angelegt, ein drei Hektar großes Gelände mit einer Schmiede, einem Gefängnis, einer Räucherkammer, einer Zuckerrohrmühle und noch ein paar anderen Attraktionen. Sehen Sie das Schild? ›Welcome to Andersonville Civil War Village.‹«
Blum las die Aufschrift und nickte anerkennend. »Mit eigenem Wohnmobilpark und Restaurant.«
»Jedes Jahr kommen um die achtzigtausend Besucher, also dürfte der Plan des Bürgermeisters aufgegangen sein. Demnächst gibt es sogar eine noch größere Attraktion.«
»Und welche?«
»Sie stellen Schlachten aus dem Bürgerkrieg nach – mit großem Festzug, Marschkapelle und allem Drum und Dran. Überall Soldaten in Blau und Grau, dazu Musik, Line Dance und natürlich jede Menge zu essen und zu trinken. Kurz gesagt, ein Riesenfest. Man kann Uniformen, Revolver und Säbel kaufen, auch Fahnen, Decken und anderen Kram. Der Eintritt kostet nur vier Dollar.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Steht auf dem Schild da drüben.«
Sie sahen sich lächelnd an.
»Und die vielen Touristen kommen allein deswegen hierher?«, hakte Blum nach.
»Nicht nur. Sie kommen natürlich auch wegen des berüchtigten Kriegsgefangenenlagers, das die Konföderierten hier eingerichtet hatten.«
»Die Leute besuchen ein Gefängnis? Ist ja krass.«
»Es war immerhin das schlimmste Gefängnis zur Zeit des Bürgerkriegs. Fast dreizehntausend Unionssoldaten sind hier gestorben. Heute ist es eine nationale Gedenkstätte mit einem großen Soldatenfriedhof. Nach Kriegsende wurde der Lagerkommandant Henry Wirz als Kriegsverbrecher verurteilt und gehängt.« Pine deutete auf eine Säule in Gestalt eines Obelisken in der Mitte der Straße. »Das ist das Wirz-Denkmal.«
»Was denn – ein Kriegsverbrecher kriegt hier ein Denkmal?«
»Von den Töchtern der Konföderation. Vermutlich fanden sie das Urteil gegen Wirz ungerecht. Mag schon sein, dass er in gewisser Weise als Sündenbock herhalten musste.« Sie stockte einen Moment. »Tor wusste, dass Wirz gehängt worden war. Er hat es bei meinem ersten Besuch im Gefängnis erwähnt, als ich ihm sagte, dass ich aus der Gegend um Andersonville stamme.«
»Dann war er wirklich hier?«
»Er war hier in Georgia aktiv, als meine Schwester entführt wurde, und hat hier mehrere Morde verübt – in Macon, Atlanta, Columbus und Albany. Deshalb kam mir der Verdacht, dass er Mercy entführt haben könnte. Aber dass er von Wirz wusste, kann auch einen simpleren Grund haben. Vielleicht hatte er sich über mich informiert, bevor ich ihn zum ersten Mal besucht habe. Dabei könnte er auch ein paar Dinge über den Bürgerkrieg gelesen haben.«
»Ich dachte, Sie sind durch eine Hypnosesitzung auf Tor als möglichen Täter gekommen?«
Pine nickte. »Nur bleibt dabei die alte Frage, was früher da war, die Henne oder das Ei. Ich hatte natürlich von Tor gehört, bevor ich mich zu der Hypnose entschlossen hatte. Es kann also sein, dass er mir deshalb als Täter erschienen ist. Bei meinem letzten Besuch im Gefängnis hat sogar er selbst mich auf diese Möglichkeit hingewiesen.«
Blum verzog das Gesicht. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, auch nur fünf Minuten mit einem solchen Monster allein zu sein, geschweige denn mit ihm zu reden.«
»Ja, er hat etwas Unheimliches an sich. Und dann die Art, dir alles, was du sagst, im Mund herumzudrehen. Obwohl er sich äußerlich normal gibt und ganz vernünftig argumentiert, kann man spüren, dass sich hinter der Fassade ein Ungeheuer verbirgt.«
»Gruselig.« Blum verzog das Gesicht. »Reden wir lieber von was anderem. Hier in der Stadt leben die meisten vom Tourismus, oder?«
»Nicht ganz. Seit den Sechzigerjahren werden hier weiße Tonerde und vor allem Bauxit abgebaut. Jede Woche werden über zweitausend Tonnen Bauxiterz mit dem Güterzug wegtransportiert.«
»Bauxit?«
»Ein wichtiger Rohstoff zur Herstellung von Aluminium, aber auch von Schleifmitteln. Neuerdings wird es beim Fracking verwendet, um an besonders tiefe Öl- und Gasvorkommen heranzukommen. Deshalb ist Bauxit heute wieder sehr begehrt.« Pine deutete auf eine Fensterfront an der Straße. »Das Drummer Boy Civil War Museum. Da werden Originalgegenstände aus dem Krieg ausgestellt – Uniformen, Fahnen, Waffen und vieles mehr.«
»Schön, dass der Bürgerkrieg wenigstens für einige Leute noch einen Nutzen hat. Wo ich aufgewachsen bin, hat man nicht so viel darüber gehört.«
»Im Süden ist es so etwas wie eine zweite Bibel.«
»Wo haben Sie damals gewohnt?«
»Das zeige ich Ihnen gleich.«
Die Straße, die zu ihrem einstigen Zuhause führte, war immer noch so, wie Pine sie in Erinnerung hatte. Eine abgelegene, gewundene Schotterstraße mit Resten von Asphalt, voller Risse und Schlaglöcher.
Blum ließ erstaunt den Blick schweifen. Sie waren seit fast einer Meile an keinem Haus mehr vorbeigekommen. »Was um alles in der Welt haben Sie und Mercy bloß gemacht, wenn Sie spielen wollten? Mit Nachbarskindern können Sie sich kaum getroffen haben.«
»Außerdem hatte unsere Mom kein Auto. Mein Dad ist mit unserem Wagen zur Arbeit in die Bauxitmine gefahren. Wir mussten fast alles zu Fuß erledigen. Später, als wir alt genug waren, sind wir mit dem Rad gefahren. Meistens haben wir nur draußen im Garten gespielt. Am Wochenende ist Mom oft mit uns zum Einkaufen nach Americus gefahren. Und da drüben sind wir in den Schulbus gestiegen.« Sie deutete auf eine alte, ausladende Eiche und fügte leise hinzu: »Wir waren in der ersten Klasse, als Mercy entführt wurde.«
Pine spürte plötzlich ein Kratzen im Hals. Sie hustete, fuhr langsamer und schob die Sonnenbrille hoch, um sich über die Augen zu wischen.
Blum warf ihr einen abwägenden Blick zu. »Wann waren Sie das letzte Mal hier?«
Pine nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln, und schob die Sonnenbrille wieder herunter. »Ist sehr lange her. Kurz nachdem Mercy entführt wurde, sind wir von hier weggezogen. Seitdem war ich nicht mehr in dieser Stadt.«
»Kein einziges Mal?«
Pine schüttelte den Kopf. »Es gab nichts mehr, weswegen ich hätte zurückkommen sollen, Carol.«
»Leuchtet mir ein.« Blum legte ihr verständnisvoll und tröstend zugleich die Hand auf die Schulter. »Zumal Ihr Vater sich hier das Leben genommen hat, nicht wahr?«
»An meinem Geburtstag. Er hat sich eine Schrotflinte in den Mund gesteckt und abgedrückt.«
»An Ihrem Geburtstag? Das ist ja schrecklich.«
»Wahrscheinlich wollte er mir damit auf irgendeine verzweifelte Weise zeigen, dass er an mich denkt. Wissen Sie, meine Eltern haben sich schwere Vorwürfe gemacht, nachdem das mit Mercy passiert war. Anscheinend waren beide sturzbetrunken und high, als meine Schwester entführt und ich halb totgeschlagen wurde. Zuerst hat jeder sich selbst die Schuld gegeben, dann haben sie sich gegenseitig viele Vorwürfe gemacht. Das war einer der Gründe, dass sie sich schließlich getrennt haben.«
Blum schüttelte den Kopf. »Ich möchte mir nicht vorstellen, was für eine Hölle das gewesen sein muss.«
Nach einer lang gezogenen Kurve erblickten sie ein heruntergekommenes, halb verfallenes Haus am Ende einer unbefestigten Zufahrt.
»Sieht unbewohnt aus«, meinte Blum.
»Ist es aber nicht.« Pine deutete auf einen alten Ford Pick-up, der hinten im Hof geparkt war. Der Wagen schien fast nur noch aus Rost zu bestehen. Auf der Veranda döste ein großer schwarzer Labrador.
»Sind Sie sicher, dass da jemand wohnt? Die Bruchbude sieht aus, als würde der nächste Windstoß sie wegblasen.«
Pine runzelte die Stirn. »Es gibt Gegenden, da sind die Leute froh, wenn sie ein Dach über dem Kopf haben.«
Sie hielten auf der festgestampften Erde des Vorgartens und stiegen aus. Pine betrachtete das Haus, in dem sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Es war kleiner, als sie es in Erinnerung hatte, aber das war vermutlich ganz normal, wenn man so viele Jahre später zurückkehrte.
Die Haustür stand offen. Das halb verfaulte Holz der Veranda hing ein wenig durch, dem Gesetz der Schwerkraft folgend. Ein Fenster war gesprungen; überall blätterte die Farbe ab. Im Garten häuften sich Abfälle. Mittendrin stand ein großes, mit verkohlten Überresten gefülltes Ölfass. Wahrscheinlich verbrannte man den Müll hier auf diese Weise.
Der Hund rührte sich, erhob sich langsam auf seinen arthritischen Beinen und ließ ein halbherziges Bellen vernehmen. Seine Schnauze war grau, und er wirkte unsicher auf den Beinen.
»Na, alter Junge, wie geht’s?«, rief Pine ihm mit ruhiger Stimme zu.
Langsam näherte sie sich dem Hund, streckte ihm die Hand hin und ließ ihn daran schnuppern. Dann kraulte sie ihn am Ohr, was er honorierte, indem er ihr die Finger leckte.
Pine setzte sich auf die Veranda, ließ den Blick schweifen und streichelte den Hund, während Blum neben ihr stehen blieb. »Wer mag jetzt hier wohnen?«
»Ich.«
Beide Frauen drehten sich um.
Da stand ein Mann, der soeben um die Hausecke gebogen sein musste. Die doppelläufige Schrotflinte in seinen Händen, eine Remington Kaliber 12, war auf sie beide gerichtet.
5
Pine erhob sich von den Verandabrettern. »Wohnen Sie wirklich hier?« Sie schaute den Mann ganz ruhig an, während ihre rechte Hand sich der Glock im Holster näherte.
Der Fremde war schlank und hochgewachsen. Trotz seiner weißen Haare und des ebenso weißen Barts schien sein Körper straff und fest, wie aus Granit gemeißelt. In seinem Mundwinkel baumelte eine Zigarette. Auf dem Kopf trug er einen schweißfleckigen Stetson, unter dem die widerspenstigen weißen Haare hervorlugten. Sein Gesicht war von Sonne und Wind gegerbt und von tiefen Furchen durchzogen. Pine schätzte ihn auf Mitte sechzig, auch wenn sein kurzärmeliges Hemd die sehnigen Arme eines sehr viel jüngeren Mannes sehen ließ. Die alten Jeans, die er trug, war verwaschen und saß eng um seine langen Beine und die schmalen Hüften. Seine ausgelatschten Stiefel wurden, so schien es, nur noch von gutem Willen und gelegentlichen Gebeten zusammengehalten.
»Ja, ich wohne hier, und das heißt, ihr Mädels begeht soeben Hausfriedensbruch.«
»Ich habe früher hier gewohnt«, erklärte Pine und sah über die Schulter zum Haus zurück.
Der Mann senkte die Schrotflinte, wenn auch nur einen Fingerbreit. »Wann?«
»Mitte der Achtziger.«
Er musterte sie eingehend. »Da müssen Sie noch ein kleines Kind gewesen sein.«
»Ich und meine Schwester.«
Er schaute zu Blum. »Ist das Ihre Mutter?«
»Nein, eine gute Freundin.«
»Und was machen Sie hier? Sightseeing? Gibt nicht viel zu sehen. Den Soldatenfriedhof und das alte Gefängnis der Konföderierten.«
»Ich wollte einfach nur mein altes Zuhause wiedersehen. Wie lange wohnen Sie schon hier?«
»An die drei Jahre. Wie heißen Sie?«
»Atlee Pine. Das ist Carol Blum.«
Blum beäugte den Mann genauer. »Und Sie heißen …?«
»Cyrus Tanner. Freunde nennen mich Cy.«
»Kann ich Sie Cy nennen, auch wenn wir nicht direkt befreundet sind?«, fragte Blum. »Und wären Sie so freundlich, die Waffe woandershin zu richten? Meine Freundin und ich haben gute Nerven, aber mit so einem Ding kann leicht ein Unglück passieren.«
»Was? Oh, sorry, war nicht so gemeint.«
Tanner ließ die Flinte sinken und beäugte die beiden Frauen nervös. »Was wollen Sie wirklich hier?«
»Nur ein bisschen umsehen«, versicherte Pine. »Pure Nostalgie. Sind Sie aus Andersonville?«
»Nein, ich bin aus Alabama hergekommen. Davor war ich in Mississippi.«
»Und Sie haben das Haus gekauft?«
Tanner lachte. »Nee. Um ein Haus zu kaufen, fehlt mir das nötige Kleingeld, selbst wenn es so heruntergekommen ist wie dieses. Ich … äh, hab’s gemietet.« Er deutete auf den betagten Labrador, der es sich wieder bequem gemacht hatte. »Ich und Roscoe. Stimmt’s, alter Knabe?«
Roscoe ließ seine gelben Zähne sehen, sichtlich erfreut, seinen Namen zu hören.
»Roscoe und ich, wir sind schon lange Partner. Er ist der beste Freund, den ich je hatte. Da kann kein Mensch mithalten. Nicht annähernd.«
»Stört es Sie, wenn ich mich ein bisschen umschaue?«, fragte Pine.
»Viel gibt’s hier aber nicht zu sehen.«
»Arbeiten Sie in der Bauxitmine?«, fragte Blum.
Tanner warf ihr einen kurzen Blick zu. »In der Mine? Nee, ich mache verschiedene Arbeiten hier in der Gegend. Kenne mich gut mit Motoren aus. So was alles. Wenn was kaputtgeht, kann ich’s meistens reparieren. Ich lass mich bar auf die Hand bezahlen, das spart Steuern. Ich komme zurecht und begleiche meine Rechnungen. Hauptsache, wir haben ein Dach überm Kopf, Roscoe und ich. Was macht ihr Mädels beruflich?«
Pine zog ihren Ausweis hervor. »Ich bin FBI-Agentin. Carol ist meine Assistentin.«
Tanner riss die Augen auf. »Sie sind bei den Feds? Hören Sie, das mit den Steuern hab ich nicht so gemeint …«
»Ich bin nicht vom Finanzamt, Mr. Tanner, und es interessiert mich nicht, ob Sie es cool finden, Steuern zu zahlen.«
»Okay«, murmelte er, nicht ganz überzeugt. »Warum sind Sie wirklich hier? Bestimmt nicht, um irgendwelchen Plunder aus dem Bürgerkrieg zu bewundern«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu.
Pine warf Blum einen kurzen Blick zu, bevor sie sich erneut Tanner zuwandte. »Vor fast dreißig Jahren wurde meine Schwester aus diesem Haus entführt. Man hat den Täter nie gefunden. Meine Schwester auch nicht. Deshalb bin ich zurückgekommen. Um die Wahrheit herauszufinden.«
Dem Mann fiel beinahe die Kippe aus dem Mund. »Heilige Scheiße, ist das wahr?«
»Leider.«
Er blickte zum Haus. »Das habe ich nicht gewusst, als ich hier eingezogen bin.«
»Wie hätten Sie’s auch wissen sollen.«
»Sie sagen, der Bastard wurde nie erwischt?«
»Und meine Schwester nie gefunden.«
»Also sind Sie hier, um … nach irgendwelchen Spuren zu suchen? Ich meine, es ist lange her.«
»Ich will hier keine Spurensicherung machen, falls Sie das meinen. Nein, ich möchte ein paar offene Fragen klären und sehen, wie weit ich damit komme. Jedenfalls habe ich beschlossen, hier anzufangen, wo es sich zugetragen hat.«
Tanner legte die Schrotflinte auf die Veranda. »Möchten Sie sich erst mal umsehen?«
»Das wäre toll.« Pine zeigte auf die Waffe. »Wollen Sie die einfach so hier liegen lassen?«
»Ach, das Ding ist gar nicht geladen. Ich hab’s nur zur Abschreckung, dafür ist es ganz nützlich.«
»Haben Sie manchmal Ärger hier draußen?«
»Gelegentlich treiben sich junge Typen hier rum, die einen Platz suchen, um zu trinken und Sex zu haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich gönne ihnen beides, aber nicht in meinem Haus.«
Er führte sie ins Wohnzimmer. Die Tapete hing in Fetzen von der Wand, und an Einrichtung gab es nur einen großen Sitzsack, einen verkratzten Beistelltisch, auf dem ein klobiger alter Fernseher mit Hasenohren-Antenne stand, und ein verdreckter Teppich mit vereinzelten Urinflecken.
»Roscoe hat’s an den Nieren«, sagte Tanner kleinlaut, als er auf die Flecken blickte.
»Wie ist eigentlich der Fernsehempfang hier draußen?«, wollte Blum wissen.
»Beschissen. Aber ich bastle manchmal dran herum und krieg auch oft was rein. Meistens Sport.« Er grinste. »Wenn die Nachrichten kommen, drehe ich einfach den Ton ab. Ist mir zu deprimierend.«
Pine schaute sich im Zimmer um. Sie konnte sich kaum vorstellen, einmal hier gewohnt zu haben. Alles wirkte fremd.
»Wo haben Sie und Ihre Schwester geschlafen?«, fragte Blum.
Pine deutete zur Treppe. »Oben.«
Tanner trat zur Seite und ließ die beiden Frauen auf den ausgetretenen Sperrholzstufen vorausgehen.
Mit jedem Schritt schien Pine der schrecklichen Nacht vor fast dreißig Jahren näherzukommen. Auf dem Flur vor der Schlafzimmertür schließlich waren ihr Geist und ihre Seele endgültig in diese ferne Zeit zurückgekehrt. Einen Moment lang starrte sie auf die Tür, als wäre sie das Tor in ein anderes Universum, in dem sie die Antworten auf alle offenen Fragen bekommen würde.
Soll keiner behaupten, ich lege mir die Latte zu niedrig.
»Sie können ruhig hineingehen, Ma’am«, hörte sie Tanner sagen. »Ist sowieso nichts drin. Ich schlafe im Sitzsack unten im Wohnzimmer. Bett hab ich keins.«
Pine packte den Türknauf, als wäre er das Einzige, was sie auf dieser Erde festhielt, und drückte die Tür auf.
Von einem Moment zum anderen kehrte sie zurück ins Jahr 1989 – und zu den schrecklichsten Minuten ihres Lebens. Sie sah das Bett, den Nachttisch, die billige Lampe, die Kommode, auf der sie und Mercy ihre Puppen ablegten. Den Teppich mit dem My little Pony-Motiv. Den schmalen Schrank, in dem ihre wenigen Kleider gehangen hatten. Den blauen Ball, mit dem die kleine Atlee Fußball und Handball gespielt hatte, das Ballettkleid, das Mercy, die Tänzerin, die Mädchenhafte von ihnen beiden, so geliebt hatte. Sie hatte das Kleidchen so oft getragen, dass es irgendwann nicht mehr weiß, sondern braun war vor Schmutz, bis ihre Mutter es eines Nachts nahm und im Waschbecken wusch. Eine Waschmaschine hatten sie nicht besessen.
Und schließlich das Schlafzimmerfenster, durch das Daniel James Tor – oder ein anderes Monster wie er – eingestiegen war und den beiden Mädchen mit behandschuhten Händen den Mund zugehalten hatte, sodass sie nicht schreien konnten. Dann hatte er den Kinderreim aufgesagt und ihnen im Takt der Verse abwechselnd die Hand auf die Stirn geschlagen, bis er schließlich Mercy zum Opfer erkor, während er Atlee mit solcher Wucht gegen den Kopf schlug, dass sie einen Schädelbruch erlitt. Am nächsten Morgen war ihre Mutter ins Zimmer gekommen, noch verkatert von Gras und Bier, und hatte feststellen müssen, dass eine Tochter verschwunden war und die andere mehr tot als lebendig im Bett lag.