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»Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.« Georg Büchner, Woyzeck - Tiefe Einblicke in die Facetten der menschlichen Psyche - Spannendes Buch über die menschliche Existenz und ihre Abgründe - Autor ist einer der bekanntesten deutschen Psychotherapeuten Der junge Mann, der sich aus Liebeskummer erhängen will, die türkische Großfamilie, die seine Praxis umstellt oder der junge Mann, der in einer Sitzung seine Pistole zückt. Diese und andere Erlebnisse beschreibt der angesehene Psychotherapeut Dr. Hans Hopf in seinem neuen Buch. Es sind Geschichten über Gewalt, Sucht, Tod, Missbrauch – teils kurios, immer spannend, ergreifend, schockierend, aber auch lehrreich. Die Tätigkeit von Psychotherapeuten stellt man sich als nicht enden wollende Abfolge quälend langer Sitzungen voller schwieriger Gespräche mit verunsicherten oder psychisch gestörten Menschen vor. Dass es auch ganz anders sein kann, zeigt uns der erfahrene Psychoanalytiker Hans Hopf, der die spannendsten, ergreifendsten Therapieerlebnisse aus seinem langen Therapeutenleben schildert. Zu jedem Fall gibt er Erläuterungen aus psychoanalytischer Sicht und schildert den Verlauf der Therapien, auch wenn diese nicht immer erfolgreich enden. Dieses Buch richtet sich an: - alle, die sich für die menschliche Psyche und ihre Abgründe interessieren- LeserInnen von Michael Tsokos und Ferdinand von Schirach
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Seitenzahl: 245
Hans Hopf
Abgründe
Spektakuläre Fälle aus dem Leben eines Psychotherapeuten
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von © iStock/George Peters
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98333-3
E-Book: ISBN 978-3-608-12050-9
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20437-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
1
Das letzte Gespräch mit einem Sterbenden
2
Meine Praxis wird umlagert
3
Ein Mädchen zwischen Vater und Therapeut
4
Petra will nicht sprechen
5
Gerhard, der Junge, der sich nach Liebe sehnte
6
Das Ferienhaus, die Darmgrippe und ein Traum
7
Ein ängstliches Kind
8
Teufelskreis Missbrauch
9
Von der unstillbaren Sehnsucht nach der Mutter
10
Der Abbruch: Bibelkreis statt Therapie
11
Anorexie – Die unheimliche Sucht
12
Was ist Wirklichkeit?
13
Die Schlinge um den Hals
14
An den Grenzen des Erträglichen – Kinder werden aggressiv
15
»Du packst die Pistole sofort weg« – Die Ohnmacht des Therapeuten
16
Gestank und Ekel
17
Ein Vater erpresst den Therapeuten
18
Wie ein böses Märchen – ein Blick in den Abgrund
19
Vom Opfer zum Täter – der unheimliche Wiederholungszwang
20
Gewalt und Aggression, oder: Auf der Suche nach einer besseren Familie
21
Der Junge, der sich wie eine Frau kleidete
22
Der Traum und der Tod
Literatur
In diesem Buch will ich aus meinem Leben als Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche berichten. Es sind Geschichten, die anschaulich machen, an welchen Störungen Kinder erkranken können und wie Eltern an ihnen teilhaben können. Sie lassen aber auch deutlich werden, wie verschlungen und wie tragisch menschliche Schicksale mitunter sind. Zu ihrem Schutz habe ich Namen und Umstände verfremdet. Ich wollte hier keine Falldarstellungen niederschreiben, wie sie in psychoanalytischen Schriften üblich sind. Dies habe ich in mehr als vierzig Büchern gemacht, rechne ich jene dazu, für die ich einzelne Kapitel verfasst habe. Dort habe ich über fast alle Störungsbilder von Kindern und Jugendlichen sowie über psychotherapeutische Behandlungstechniken berichtet. In diesem Buch will ich erzählen, was ich therapeutisch erreichen konnte und auch, woran ich gescheitert bin. Es sind Geschichten, die sich mir eingegraben haben, die ich nicht mehr vergessen kann. Gleichzeitig möchte ich ein Loblied auf die heutzutage vielgeschmähte Psychoanalyse singen, die nicht nur Grundlage meines therapeutischen Handelns ist. Sie ist zu einem Teil meines Lebens und meiner Seele geworden.
Als ich vor dem Abitur stand, wollte ich entweder Medizin oder Chemie studieren. Meine Eltern waren jedoch sehr arm. Lange Jahre waren wir auf der Flucht gewesen und hatten an vielen Orten und in Flüchtlingslagern gelebt. Mein Vater war kriegsverletzt und traumatisiert aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückgekehrt und hatte tapfer bis zur Rente gearbeitet. Ich hatte bei der BASF angefragt, das Unternehmen hätte mir wegen meiner Eins in Chemie das Studium bis zum Vordiplom finanziert. Aber damals fehlte mir die Kraft. Ich litt unter Traumafolgestörungen; Krieg, Vertreibung und ein unstetes Leben hatten bei mir tiefe Spuren hinterlassen. Stattdessen studierte ich Lehramt an der Pädagogischen Hochschule mit den Hauptfächern Mathematik und Physik. Das damals nur viersemestrige Studium konnte ich finanziell mit einem Stipendium und regelmäßiger eigener Arbeit bewältigen.
Die Symptome meiner Traumatisierungen wurden schließlich so unerträglich, dass ich noch während des Studiums mit einer psychotherapeutischen Behandlung begann. Bereits als Schüler und auch während des Pädagogikstudiums hatte ich einige Werke der Psychoanalyse und der Jung’schen Analytischen Psychologie gelesen. An erster Stelle die »Traumdeutung« von Sigmund Freud, die ich mehrere Male gelesen habe. »Antwort auf Hiob«, ein religionspsychologisches Buch, war meine erste Lektüre von C. G. Jung. Mit der Kinderpsychotherapie kam ich erstmals in Kontakt über das Buch von Hans Zulliger »Heilende Kräfte im kindlichen Spiel«. Als ich meine Analyse bei dem kriegsblinden Psychotherapeuten Gerhard Greulich begann, besaß ich einige wenige Vorkenntnisse. Mein Therapeut eröffnete mir von Anfang an eine neue Welt, die des Unbewussten. Dies geschah über sein therapeutisches Handeln, aber auch indem er mich anregte, wichtige Werke zu lesen. Ich erfuhr die Kunst der Traumdeutung, begriff die Bedeutung von Assoziationen. Ich tauchte ein in die faszinierende Welt von Symbolen, Mythen und Märchen, las Werke von Freud und Jung, aber auch von Philosophen. Inzwischen war ich als Lehrer tätig und lernte den schwierigen Alltag von Lehren und Erziehen kennen in Klassen von bis zu 56 Schülerinnen und Schülern. Mir begegneten die ersten Kinder mit schwerwiegenden Problemen und Störungen. Mit meinem Psychotherapeuten konnte ich über diese bedauernswerten Kinder sprechen, entdeckte und begriff die psychodynamischen Zusammenhänge, welche die Störungen verursachten.
Ich stellte damals fest, dass eine gute Pädagogik immer mit psychoanalytischem Verstehen unterfüttert sein sollte. Gerhard Greulich vermittelte mir, dass ich eine große Begabung für psychoanalytisches Verstehen habe, und ermunterte mich, eine psychoanalytische Ausbildung zu beginnen. So bewarb ich mich an der Stuttgarter Akademie für Tiefenpsychologie und Psychotherapie und wurde angenommen. Nach meinem Lehrerstudium, erster und zweiter Dienstprüfung, saß ich nun wieder in Vorlesungen und Seminaren, studierte Freud und seine Nachfolger sowie die Lehren C. G. Jungs. Ich begann eine Lehranalyse bei Dr. Vera Scheffen, Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und konnte dabei meine Kenntnisse erweitern und vertiefen. Sie arbeitete nach klassischer psychoanalytischer Methode an Übertragungen. Ich lag auf der Couch und regredierte in meine frühesten Verhältnisse. Meine Lehranalytikerin vermittelte mir die Bedeutung der Regression für die Therapie, wie sie Ferenczi und Balint entdeckt hatten. Vera Scheffen gehört zu den bedeutendsten Frauen, die mir begegnet sind und die mich geprägt haben. Die entscheidenden Grundlagen für mein Verständnis von Kinderpsychotherapie wurden von Anna Freud, Melanie Klein, Donald Winnicott und Wilfred Bion gelegt. Am Institut waren Jacques Berna, der bei Anna Freud studiert hatte, Jutta von Graevenitz, Ursula Laessig, Hans Schmid und Rosemarie Glantz meine herausragenden Lehrer. Beeindruckt haben mich Otto Kernberg und Leon Wurmser, bei ihnen habe ich regelmäßig Vorlesungen in Lindau gehört. Mein großes Vorbild ist bis heute Horst Eberhard Richter. Als er einmal einen Artikel von mir gelesen hatte, rief er mich an und wir haben zwei Stunden miteinander gesprochen.
Das Psychoanalytische Institut Stuttgart, wie es heute heißt, habe ich nie verlassen. Ich wurde Vorstand, Dozent und Supervisor – bis heute. Vielleicht ist es ein kleiner Ansporn für andere seelisch leidende Menschen, niemals zu resignieren: An jenem Institut, an dessen Ambulanz ich einst um einen Psychotherapieplatz angefragt hatte, bin ich inzwischen Ehrenmitglied.
Bis heute habe ich viele Hundert ambulante Psychotherapien in eigener Praxis durchgeführt, acht Jahre lang war ich Therapeutischer Leiter des psychotherapeutischen Kinderheims »Osterhof«. Dort bin ich vielen Kindern mit schweren Störungen begegnet.
In den 1980er Jahren habe ich Medizinische Psychologie, Physiologie und Psychiatrie studiert und als Doktor der Theoretischen Medizin abgeschlossen. Mein verstorbener Doktorvater Professor Helmut Enke hat mich gefördert, wo immer er konnte. In das Geleitwort eines meiner Bücher schrieb er 2004: »Als sein ›Doktorvater‹ bin ich bis heute ungebrochen stolz auf diesen Doktoranden«.
Die Geschichten dieses Buches sind durchweg sehr eindringlich, manche auch belastend. Zwei erfahrene Kolleginnen haben sie gelesen und hilfreich kommentiert, Sigrid Barthlott-Bregler und Hildegard Linge, selbstverständlich auch meine Frau Gisela. Dr. Heinz Beyer, der herausragende Lektor, hat mich – wie immer – bei diesem Buch begleitet und wertvolle Unterstützung geleistet. Frau Rosel Müller hat die Texte wie immer perfekt lektoriert. Ich danke allen von Herzen.
Bei aller Genugtuung über manche Heilungserfolge und Begeisterung für die Psychoanalyse ist ein Psychotherapeut auch grenzenlosem Leiden, unerträglichen Spannungen, Aggressionen und Angriffen von verschiedenen Seiten ausgesetzt, manchmal regelrecht ausgeliefert. Ich werde immer wieder gefragt, wie man das über so viele Jahre aushalten kann. Meine Antwort darauf ist einfach: Man braucht eine Partnerin, die alles mitträgt und erträgt, und es braucht eine Familie, in der man nichts anderes ist als ein einfacher Vater. So danke ich an dieser Stelle einmal mehr meiner standhaften und liebevollen Frau Gisela, die alles mit mir durchgestanden hat.
1
An einem Ostermontag rief eine mir unbekannte Frau an. Der brüchigen Stimme nach war sie wohl schon älter. Sie entschuldigte sich vielmals, dass sie an einem Feiertag stören würde. Ihr Mann läge im Sterben und wollte noch einmal mit seinem ehemaligen Psychotherapeuten sprechen. Zu ihrem Kummer habe sie gehört, dass dieser mittlerweile verstorben sei. Die verwitwete Ehefrau hatte auf mich verwiesen, weil ich damals viele seiner Patienten übernommen habe. Spontan spürte ich den Impuls, sofort loszufahren, fühlte aber andererseits die Verpflichtung, bei meinen Gästen zu bleiben. An Feiertagen pflegten immer alle Kinder, in späteren Jahren mit Partnerinnen und Partnern zu uns nach Hause zu kommen. Für alle waren es besondere Stunden, wenn wir uns bei gutem Essen und Trinken begegneten, austauschten und wieder Familie waren. Darum vereinbarte ich mit der Frau, dass ich am nächsten Morgen gegen 10 Uhr kommen würde. Sie akzeptierte das freudig, weil ich immerhin zugesagt hatte.
Ich schlief jene Nacht unruhig. Ich musste fortwährend an den alten Mann denken, der da irgendwo lag, der sterben wollte, es aber nicht konnte, weil er noch etwas sagen wollte. Ich wachte früh auf und fuhr zur angegebenen Adresse. Mit dem Auto war es etwa eine halbe Stunde entfernt von meinem Wohnort zu erreichen. Es war ein wunderschöner Morgen im April, wegen der Osterferien herrschte nur wenig Verkehr. Das Haus, das mir die Frau am Telefon beschrieben hatte, lag auf einem kleinen Hügel, eine Treppe führte hinauf. Es war ein schmuckes Einfamilienhaus, wohl in den Siebzigerjahren erbaut, mit einem Gärtlein drum herum. Ich schaute nach einem Parkplatz, da sah ich einen Notarztwagen. Ich erschrak und spürte heftige Gewissensbisse. Wäre ich doch meinem ersten Impuls gefolgt! Meine Gewissensqualen verschärften sich, als ich sah, wie Arzt und Rettungssanitäter, wie mir schien, resigniert die Treppe herunterkamen. Erst jetzt erkannte ich, dass ein zweites Auto hinter dem Notarztwagen parkte – es war ein schwarzer Leichenwagen.
Nun fühlte ich mich schuldig. Warum war ich nicht spontan losgefahren und hatte mit dem alten Mann gesprochen? Gewiss hätte er leichter sterben können. Ich saß wie erstarrt in meinem Auto und überlegte. Sollte ich dennoch ins Haus gehen und der Frau mein Beileid aussprechen? Ich zögerte. Ich verspürte Skrupel, in ihre traurigen Augen zu sehen. Hatte ich doch meinen Auftrag aus egoistischen Motiven nicht erfüllt. In dieser Verfassung wartete ich etwa eine Viertelstunde. Dann entschied ich, der trauernden Frau mein Beileid auszusprechen, samt Bekenntnis meiner Schuld. Auch wollte ich von dem verstorbenen Mann Abschied nehmen und auch ihn um Verzeihung bitten. Also lief ich die Treppe hinauf. Ohne zu läuten, trat ich ein. Dunkel gekleidete Mitarbeiter des Beerdigungsinstitutes standen im Raum vor der Totenbahre, auf der der Leichnam ruhte, ehe er eingesargt werden sollte. Die Frau, die mich angerufen hatte, war nicht zu sehen. Also trat ich an die Bahre, um wenigstens den verstorbenen Mann zu sehen. Aber da lag eine alte Frau mit geschlossenen Augen. Jeder kennt solche Momente, in denen man glaubt, die Wahrnehmung sei gestört und man erlebe die Wirklichkeit wie einen Traum. Endlich nahm ich zur Kenntnis, dass nicht der Mann gestorben war, sondern seine Frau, die mich hergebeten hatte.
Ich weiß nicht, ob ich deutlich machen kann, wie groß mein damaliges Entsetzen war. Jemand sagte mir, sie sei kerngesund gewesen. Gestern Abend sei sie frohgemut ins Bett gegangen, und heute Morgen habe man sie tot aufgefunden. Ich versuchte, die Zusammenhänge für mich zu klären. Hatte die Frau den letzten Wunsch ihres Mannes erfüllt, um selbst ruhig abtreten zu können? Jetzt wurde mir auch klar, dass ich ihren Wunsch konsequent erfüllen musste. Ich fragte den anwesenden Sohn, ob ich mit dem Vater reden dürfe. Er wusste, dass dieser mit mir sprechen wollte und auch, dass seine Mutter mich angerufen hatte. Er führte mich in das Zimmer des Vaters. Der alte Mann lag in seinem Bett und lächelte mich glücklich an. Seine Frau hatte ihm nach unserem Telefonat gesagt, dass ich kommen würde. Darauf hatte er den ganzen Morgen gewartet. Vom Tod seiner Frau wusste er nichts. Man hatte es bisher nicht übers Herz gebracht, diese Nachricht dem alten, kranken Mann zu überbringen. Mir war klar, dass ich es ihm jetzt auch nicht sagen würde. Das war Sache und Pflicht seines Sohnes. Ich nahm mir einen bereitstehenden Stuhl, auf dem wahrscheinlich meist die Ehefrau am Bett gesessen hatte und stellte mich als Freund und einstiger Schüler seines verstorbenen Psychotherapeuten vor.
Das Lächeln des Mannes wurde geradezu selig. Bei ihm habe er unfasslich bedeutsame Stunden erlebt. Schreckliche Albträume hätten ihn damals gequält. Mit seinem Therapeuten konnte er über schlimme Geschehnisse im Krieg, über die schrecklichen Erfahrungen aus der Gefangenschaft und über die Nöte der Nachkriegszeiten sprechen. Der Psychotherapeut, schwer verletzter Kriegsteilnehmer, habe ihn stets verstanden. Er hatte das Gefühl, als würde dieser seine damaligen Ängste, Scham und Schuld in sich aufnehmen und mit ihm verdauen. Er erzählte vom guten Leben mit seiner Frau, von den Kindern, von seinem Beruf und wurde schließlich immer leiser. Dann schlief er ein. Ich blieb noch etwa eine Viertelstunde bei dem schlafenden Mann am Bett sitzen. Schließlich entfernte ich mich leise und verabschiedete mich vom weinenden Sohn.
Mich hat immer interessiert und fasziniert, was eine Paarbeziehung lebenslang aufrechterhält. Wie sie sich verändert und wie sich im Alter, wenn aufgrund von Hilflosigkeit auch Abhängigkeiten entstehen, neue Qualitäten entwickeln können. Im Mittelpunkt steht jedoch die Frage, was das Unbewusste eines Menschen alles erfassen kann und wie es mit einem nahestehenden Menschen korrespondieren kann.
Während meines gesamten Psychotherapeutendaseins bin ich von vielen Menschen aus ganz Deutschland kontaktiert worden. Später, als ich einige Bücher veröffentlicht hatte, häuften sich die Anfragen, schriftlich oder telefonisch. Es war nicht immer leicht, alle zu beantworten, zumal einige von einem herrischen und fordernden Ton begleitet wurden. Bis heute habe ich mich bemüht, alle Fragen zu beantworten. Immer stand viel Leid im Hintergrund. Untätig zu bleiben, hätte mir ein schlechtes Gewissen bereitet.
Ich kam sehr betroffen nach Hause und erzählte meiner Frau von dem verstörenden Erlebnis. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, hätte ich meinen spontanen Eingebungen nachgegeben und wäre sofort gefahren. Was hatte meine Zusage, mit ihrem Mann zu sprechen, wohl bei der Frau ausgelöst? Wusste sie jetzt ihren Mann versorgt? Konnte sie von nun an selbst ihren unbewussten Wünschen nachgeben, loszulassen? Ich versuchte, die Szene, die ich morgens vorgefunden hatte, zu verstehen. Ich vermute, dass die Frau endlich sterben konnte, nachdem sie wusste, auch ihr Mann werde in Ruhe sterben.
Über noch etwas anderes hat mich diese Geschichte nachdenken lassen, über die Qualitäten langjähriger Beziehungen. Warum fällt unsere Zuneigung auf bestimmte Personen? In früher Kindheit lernen wir, uns zu verlieben. Verlieben wir uns dann später in einen Partner, werden wir wahrscheinlich unbewusst an Menschen erinnert, die uns viel bedeutet haben. Dabei werden Erinnerungen aus frühester Jugend, Eindrücke, Gefühle und Beziehungen wirksam. Diese Empfindungen können wir auf bislang unbekannte Personen »übertragen«. Dabei mag es bedeutungsvoll sein, dass sie den Personen unserer Kindheit so ähnlich, aber auch so unähnlich wie möglich sein können. Der Rausch der Verliebtheit sollte im späteren Leben in eine dauerhafte, tiefe Liebe übergehen. In einer langen Beziehung nähern sich Mann und Frau einander an und können schließlich die Wünsche des anderen erfühlen.
Es war so, als sei ich Zeuge und Beteiligter der Zusammenfassung einer Liebes- und Lebensbeziehung geworden! In der letzten Handlung der Ehefrau wurde das Wesentliche des Lebens zusammengefasst. Beide waren danach frei: Die Frau in meiner Geschichte hatte offensichtlich gespürt, dass sie erst gehen konnte, nachdem sie den Wunsch ihres Mannes erfüllt hatte. Als sie ihm den letzten Liebesdienst erfüllt hatte, konnte sie sterben. In der Tat ist ihr der Ehemann wenige Tage später nachgefolgt.
2
Ich will vom Schicksal des türkischen Mädchens Selda berichten. Keine Zeitung hat darüber berichtet, die Ereignisse waren nicht spektakulär genug. Ich bin mir aber sicher, dass ihr Schicksal stellvertretend für das von vielen gleichaltrigen türkischen Mädchen steht, damals wie heute.
Alles begann damit, dass mich Selda eines Tages anrief. Meine Adresse hatte sie im Telefonbuch gefunden. Ob ich etwas von seelischen Schwierigkeiten bei Jugendlichen verstehen würde. Und ob ich einer wäre, mit dem man auch reden könne und der nicht gleich Spritzen geben würde. Wir vereinbarten den Termin für ein Gespräch. Schon am Telefon beschwor mich Selda, dass ihre Eltern nichts davon erfahren dürften.
Selda kommt pünktlich zur vereinbarten Stunde, obwohl sie zehn Kilometer entfernt in einem kleinen Dorf lebt. Ihre erwachsene Schwester hat sie mit dem Auto hergefahren. Das Mädchen ist 16 Jahre alt, wirkt sehr schmächtig, braune Haare, große braune Augen, verhärmte, ja versteinerte Gesichtszüge. Nach anfänglichem Zögern bricht es eruptiv aus dem Mädchen heraus. Es spricht erstaunlich differenziert, reflektierend, andererseits stark emotional und anklagend, oft von lautem Weinen unterbrochen. Selda ist das jüngste von sieben Geschwistern, zwei Schwestern, vier Brüder. In Deutschland geboren, ein Opfer des sogenannten Babyexports: Direkt nach der Geburt kam sie zu Verwandten in die Türkei und sah die Eltern nur einmal im Jahr. Mit acht Jahren wurde sie zur Familie nach Deutschland geholt. Bis dahin konnte sie kein Wort deutsch – ein fremdes Kind kam zu fremden Eltern. Schnell erlernte das intelligente Mädchen die deutsche Sprache, lernte leicht und eifrig und gehörte bald zum oberen Drittel ihrer Klasse. Jetzt, in der neunten Klasse, ist Selda sogar beste Schülerin – Deutsch und Mathematik »sehr gut« – und beabsichtigt eine höhere Handelsschule zu besuchen. Alles könnte so schön sein, sie habe deutsche Freundinnen, sei heimlich in einen deutschen Jungen verliebt, wenn nicht die Eltern wären. Die würden ständig alles zerstören, was für sie wichtig, liebens- und lebenswert sei. Insbesondere die Mutter sei eine »alte Hexe«. Weil sie eng mit deutschen Mädchen befreundet sei, sich ebenso kleiden wolle und an allem Gefallen finde, werde sie von ihr als »deutsche Hure« beschimpft. Sie dürfe keine westliche Musik hören, sich nicht mit ihren deutschen Freundinnen treffen, müsse immer zu Hause bleiben. Gelinge es ihr gelegentlich, die elterlichen Verbote zu umgehen, würden die vier großen Brüder als Spitzel eingesetzt. Einmal hatte die Klasse einen Aufenthalt im Schullandheim geplant: Vierzehn Tage Freiheit, ohne das verhasste strenge Reglement der Eltern!
Vierzehn Tage Zusammensein mit ihren Freundinnen! Als die Eltern davon erfahren, verbieten sie die Teilnahme entschieden. Selda kann es nicht glauben. Ihr Klassenlehrer spricht mit dem Vater. Dieser bleibt hart und unzugänglich. Die Rektorin der Schule versucht es ebenfalls, aber der Vater droht mit Anzeige, wenn sich die Lehrer nicht aus seinen Familienangelegenheiten heraushielten! Einen Teil des Geldes hat Selda bereits angezahlt, die Schwester hat es ihr gegeben. Am Tag vor der Abreise hat sie alles gepackt, hofft immer noch, die Eltern umstimmen zu können. Am nächsten Morgen ist ihr Zimmer von außen abgeschlossen. Selda weint, schreit, trommelt gegen die Wände. Mittags öffnet die Mutter die Tür, die Klasse ist längst abgefahren. Am selben Tag erkrankt Selda an einer Entzündung der Ovarien. Sie sagt, seither sei der Rest von Zuneigung zu den Eltern gestorben.
In den achtziger Jahren lebten in Deutschland 520 400 Einwohnerinnen und Einwohner türkischer Herkunft. Offizielle Daten aus dem Jahr 2017 beziffern die Zahl der türkischen Staatsbürger in Deutschland mit 1,48 Millionen, es gibt rund 360 000 türkische Schüler, die meisten an Grund- und Hauptschulen (245 000). Ruth Herrmann hatte schon 1978 in »DIE ZEIT« beschrieben, was sich hinter diesen Zahlen auch verbirgt: »Und ganz am Rande der Randgruppe existieren ihre Kinder, die ja niemand gerufen hat, die dem Gastland keinen materiellen Nutzen bringen, im Gegenteil Kosten und Probleme. Isoliert, diskriminiert, in allem gegenüber den deutschen Kindern benachteiligt, existieren sie nicht nur hinter sprachlichen Barrieren«. Und: »Weit stärker als deutsche Kinder haben sie unter Infektionskrankheiten zu leiden, unter Krankheiten der Atemwege und Durchfallkrankheiten. Ihr Morbiditätsrisiko ist dreimal so hoch, die Sterblichkeitsrate über dem Durchschnitt. Weit häufiger als unsere Kinder erleiden sie Unfälle«. Was sich als körperliche Symptomatik manifestiert, ist vor allem Ausdruck des beträchtlichen psychischen Leidens dieser Kinder.
Ein zentraler Konflikt der Adoleszenz ist, dass sich Jugendliche nicht nur aus den familiären Bindungen zu lösen versuchen, sondern dass die elterlichen Ideale und Moralvorstellungen, die das Kind einst in sich aufgenommen hatte, tiefgreifend erschüttert werden. Die Jugendlichen müssen neue Wege suchen.
Aber wer kann ausreichend mitfühlen und ermessen, was ein türkisches Mädchen mit beginnender Pubertät an Konflikten und seelischen Belastungen durchstehen muss, wenn muslimische Ideale und Wertvorstellungen mit den Verhaltensmustern einer Industriegesellschaft kollidieren? Damals wie heute? In vielen türkischen Familien hat sich bis heute nur wenig geändert. Ein türkisches Mädchen sieht bei seinen deutschen Altersgenossinnen alle Freiheiten. Es wird doppelt hart mit den moralischen Vorstellungen und Idealen ihrer Eltern konfrontiert. Die entstehenden adoleszenten Krisen können das Ausmaß von Katastrophen bekommen. Einmal sagte ein 14-jähriges türkisches Mädchen zu mir: »Wenn ich mich mal wie eine Deutsche anziehen will, etwa Jeans und ein Top, dann sagt meine Mutter gleich vorwurfsvoll: »Willst Du auch wie Deutsche werden …«
Ich will zu Selda zurückkehren. Vorbild ist ihr die 25-jährige Schwester. Sie lebt zusammen mit ihrem gleichaltrigen Freund, die Familie hat sie verstoßen. Nie mehr möchte sie in die Türkei zurück. Selda erzählt von Paniken, die sie blitzartig überfallen, von erschreckenden Traumbildern und dem Wunsch, endlich Ruhe finden zu können. Entweder werde ihr endlich geholfen oder sie werde sich umbringen. Die Klasse plant derzeit eine mehrtägige Berlinreise, und sie dürfe wieder nicht mit. Ob ich nicht mit dem Vater sprechen könne, vielleicht würde er auf mich hören, wenn er vom Ernst der Situation erfahren würde. Er habe seine Tochter eigentlich gern, werde aber ständig von der Mutter aufgehetzt.
Tatsächlich zeigt Selda alle Symptome einer schweren depressiven Episode. Wie bei allen Jugendlichen ihres Alters haben die elterlichen Leitbilder mit beginnender Pubertät an Gültigkeit verloren. Doch mit welcher Dynamik hat sich dieses Mädchen innerseelisch von den elterlichen Moralbegriffen und dem islamischen Erbe gelöst. Ein geringer äußerer Anlass kann jederzeit das Fass mit Emotionen zum Überlaufen bringen. Die Gefahr ist groß, dass das Mädchen versuchen könnte, kurzschlussartig mit Scheinlösungen den Konflikt zu bewältigen – dass es wegläuft oder sich selbst zu töten versucht. Es besteht immer ein enger Zusammenhang zwischen Weglaufen und Suizid: Kinder und Jugendliche, die weglaufen, sind immer auch suizidgefährdet. Nicht so, dass sie etwa Suizid verübten, wenn sie wieder nach Hause müssten, sondern sie bewahren die Selbsttötung als letzte Möglichkeit. Suizidversuch und Weglaufen sind Symptome einer Flucht vor nicht lösbaren Konflikten.
Therapeutische Maßnahmen greifen nur, wenn die Eltern erreicht werden. Ich schreibe also dem Vater einen Brief, in dem ich die ernste seelische Verfassung seiner Tochter beschreibe und einen Termin für ein Gespräch vorschlage. Am Tag des geplanten Gesprächs ruft mich Selda voller Angst an: Die Mutter habe den Brief heimlich geöffnet und irrtümlicherweise angenommen, Selda habe sich beim Jugendamt über die Eltern beschwert. Sie hat wahrscheinlich »Jugendlichen-Psychotherapeut« mit »Jugendamt« verwechselt. Die Brüder seien schon unterwegs zu mir. Ich dürfe aber um Gotteswillen nicht verraten, dass sie bei mir angerufen hat.
Tatsächlich stehen wenig später drei türkische Männer mit finsteren Gesichtern vor dem Haus. Der Vater habe sie beauftragt, mir etwas mitzuteilen. Zu der von mir vorgeschlagenen Zeit, 20 Uhr, könne er nicht kommen, da müsse er arbeiten. Außerdem wolle er nicht mehr mit Briefen belästigt werden und wolle vor allem nichts mit dem Jugendamt zu tun haben. Ich bin mitten in einer Therapiestunde und sage, dass ich nicht das Jugendamt sei. Doch ich hätte festgestellt, dass ihre Schwester ernsthaft seelisch gefährdet sei und dringend therapeutische Hilfe bräuchte. Nur darüber hätte ich mit dem Vater reden wollen. Und dann sagte ich sehr ernst: Wenn Selda etwas zustoße, hätten die Eltern und die Brüder die Verantwortung zu tragen. Ich sagte das ganz bewusst so unmissverständlich, in der Hoffnung, Eltern und Brüder umstimmen zu können. Tatsächlich verlieren die türkischen Männer etwas von ihrem misstrauischen Gesichtsausdruck, erschrecken sichtlich, sagen jedoch nichts und fahren grußlos weg.
Für mich gibt es nicht viele Möglichkeiten, Selda zu schützen, ich bin 10 km vom Wohnort des Mädchens entfernt. Ich schreibe dem Klassenlehrer des Mädchens einen Brief und telefoniere mit der Rektorin. Ich bitte sie, Kontakt zu den Eltern zu suchen und in den nächsten Wochen auf Selda zu achten. Vier Wochen später ruft mich Selda wieder an. Es sei ganz dringend. Ob sie noch am gleichen Nachmittag in meine Praxis kommen könne. Das geht nicht so einfach, alle Termine sind längst verplant. Es müsse aber sein, es ginge um Entscheidendes. Ich sage Selda zu, dass sie in einer 10-Minuten Pause kommen dürfe, allerdings müsse sie pünktlich sein.
Als es läutet, stehen nicht nur Selda, sondern ein blondes deutsches Mädchen und eine etwa 40-jährige Frau vor der Tür. An ähnliche Überraschungen bin ich gewohnt, also bitte ich alle drei in mein Sprechzimmer. Selda druckst verlegen herum und sagt schließlich: »Ich bin von zu Hause weggelaufen. Weil mich meine Brüder bei meiner Schwester zuerst gesucht hätten, und weil ich nicht wusste wohin, bin ich gestern Abend um neun Uhr zu meiner Freundin Gabi. Ihre Mutter hat mich übernachten lassen. Heute Morgen haben wir nicht mehr weiter gewusst. Ich habe gesagt und dabei bleibe ich, zu meinen Eltern kehre ich nie mehr zurück!« Selda klammert sich an ihre Freundin und weint hemmungslos. Gabis Mutter ist eine tatkräftige und einfühlsame Frau. Sie versteht, dass Selda Angst vor den Eltern hat und nicht mehr zurück will. Andererseits hätten Seldas Eltern gestern Abend – noch bevor das Mädchen zu ihnen gekommen sei – angerufen und gefragt, ob sie wüsste, wo das Mädchen sei. Auch Gabi sei heute Morgen in der Schule befragt worden, ob sie eine Ahnung habe, wo sich Selda versteckt haben könnte. Bei allen herrschte die Angst vor, dass sich das Mädchen in seiner labilen Verfassung etwas antun könnte. Es muss also etwas geschehen. Darum hätten sie ihre ganze Hoffnung darauf gesetzt, dass ich eine Lösung weiß.
Damit hatte man mir die Rolle eines allmächtigen Konfliktlösers zugewiesen. Ich frage zunächst nach Seldas Eltern. Wohl oder übel müssen sie als erstes über den Verbleib des Mädchens informiert werden. Aus Erfahrung weiß ich, dass türkische Eltern zunächst selber mit Verwandten und Freunden nach verschwundenen Kindern suchen, ehe sie die Polizei einschalten. Ich bin mir sogar sicher, dass sie über Seldas Aufenthaltsort Bescheid wissen. Mittlerweile ist es 16 Uhr, mein nächster Patient wartet bereits. In diesem Moment summt meine Sprechanlage. Meine Frau teilt mir mit, dass vor dem Haus ein türkisches Ehepaar und etwa zehn männliche Türken stünden. Alle mit reichlich finsteren Gesichtern.
Seldas Eltern sind noch früher eingetroffen als erwartet. Von jetzt an überstürzen sich die Ereignisse. Ich teile den Anwesenden im Praxiszimmer mit, dass Seldas Eltern bereits da seien. Selda schreit laut und umklammert Gabi. Nie mehr ginge sie zu den Eltern, vorher würde sie sich umbringen. Ich versuche, sie zu beruhigen und verspreche, ich würde versuchen, dass sie zunächst bei Gabi bleiben dürfe. Ich müsse aber mit den Eltern sprechen, ansonsten müsse ich mit einer Anzeige rechnen. Mit mulmigem Gefühl trete ich also vor die Haustür und stehe zwölf wütenden Menschen gegenüber. Ich bitte die Eltern in mein Sprechzimmer.
Dort versuche ich auf sie einzugehen, ins Gespräch zu kommen, aber es ist unmöglich. Selda müsse sofort mit ihnen gehen. Das verweigere ich, alle seien viel zu erregt. Ich kann es nicht verantworten. Und Selda will auf keinen Fall mit. Ich sage jetzt, dass Selda sehr gefährdet sei, seelisch krank. Der Vater schreit: »Wenn krank, dann Krankenhaus! Jetzt mit – oder Polizei!« Er springt auf, packt seine Frau beim Arm. Sie rennen raus und fahren mit dem Auto weg. Ein paar Türken warten weiterhin vor meinem Haus. Selda schluchzt laut, sie fürchtet die grausamen Schläge der Brüder.
Jetzt bin ich im Zugzwang, denn in kürzester Zeit wird ein Streifenwagen der Polizei eintreffen. Ich rufe die zuständige Polizeistation an, finde einen Beamten, der sich den Fall schildern lässt. Tatsächlich haben Seldas Eltern bereits die Polizei angerufen und mich angezeigt, dass ich gegen ihren Willen die Tochter festhalte. Der Streifenwagen wird zurückbeordert. Zwar glaubt die Polizei auch, dass dringend Hilfe vonnöten sei, um Schlimmes zu verhüten. Aber noch gebe es für die Polizei keinen Anlass einzugreifen. Der Polizist empfiehlt mir, mich mit dem zuständigen Jugendamt in Verbindung zu setzen. Er gibt mir allerdings zu verstehen, dass die Bereitschaft zur Mitarbeit wahrscheinlich nur gering sein werde. Trotzdem rufe ich dort an. Die zuständige Beamtin hat Urlaub. Ich rufe bei ihr zu Hause an. Empörung des Ehemanns, dass seine Frau sogar an ihrem freien Tag belästigt werde. Wieder Anruf beim Jugendamt, wer denn die Vertretung habe. Mittlerweile ist es kurz vor 17 Uhr. Der Stellvertreter, den ich endlich erreiche, ist ungehalten. Gerade will er Feierabend machen. Ich beziehe mich auf mein Telefonat mit der Polizei und mache ihm deutlich, dass er die Verantwortung dafür trage, sollte Schlimmeres geschehen. Das wirkt offensichtlich. Der Sozialarbeiter erklärt sich bereit, zu Seldas Eltern zu fahren und mit ihnen zu sprechen. Er will erreichen, dass das Mädchen vorerst bei seiner Freundin Gabi bleiben darf. Ich ringe ihm das Versprechen ab, so lange in der Familie zu bleiben, bis wirklich alles geklärt ist.
Ich teile den Wartenden das Ergebnis mit. Sie haben meine Telefonate mit angstvoller Hoffnung verfolgt: Jubel bei Selda und Gabi, Erleichterung bei Gabis Mutter. Ich vereinbare mit ihr, dass ich gegen 21 Uhr bei ihr anrufen werde, um ich über den weiteren Verlauf zu erkundigen. Alle gehen jetzt. Drei Patienten, die zur vereinbarten Therapiestunde gekommen waren, habe ich – mit schlechtem Gewissen – wegschicken müssen. Ich rufe nochmals bei der Polizei an, um den weiteren Verlauf mitzuteilen. Der Beamte wird zu späterer Zeit einen Streifenwagen bei Seldas Familie vorbeischicken, falls es doch noch Schwierigkeiten geben sollte.