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Anders als früher und eher als Mädchen haben Jungen es schwer, eine sichere Identität zu entwickeln und gefahrlos durch die heutige Zeit zu kommen. Eltern wissen nicht weiter, Lehrer resignieren, Ärzte verschreiben Medikamente. Die Leser erfahren, wie wir Jungen optimal fördern können, was sie brauchen, um sicher durch die Kindheit zu kommen und wie sie seelisch widerstandsfähige und gesunde Erwachsene werden. Viele Jungen sind liebenswert und beglücken uns durch Kreativität, Ideenreichtum, Forscherdrang und Technikbegeisterung. Doch immer mehr haben sich nicht im Griff, sind unkonzentriert und zappeln, sind laut und bockig, Angeber, Störenfriede, manchmal Versager und im schlimmsten Fall gewalttätig. Hopf verdeutlicht, welchen äußeren Einwirkungen Jungen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind und wie diese Erfahrungen sie als Kind und später als Männer prägen. Die Jungen sind die Emanzipationsverlierer, die in ihrer männlichen Eigenart nicht hinreichend gefördert werden. Wenn Mütter, ErzieherInnen und LehrerInnen nicht verstehen, was in Jungen vorgeht, unterdrücken sie unbewusst deren gesunde Entwicklung. Hopf zeigt, wie Jungen auf die Anforderungen des Lebens vorbereitet werden können in einer Zeit, in der traditionelle Männerbilder überholt und Identitäten fragiler geworden sind. Diese Buch richtet sich an - Eltern - Erziehende- Alle, die beruflich in irgendeiner Form mit Jungen zu tun haben - PsychologInnen und ÄrztInnen - Heimpersonal
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Seitenzahl: 284
Hans Hopf
Jungen verstehen
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
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Printed in Germany
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von © Jeanette Dietl, Adobe Stock
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96191-1
E-Book: 978-3-608-11546-8
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20407-0
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1
Einleitung – Die schlimmen, liebenswerten Jungen
Die Weisheit des Philosophen Platon
Risiken und Stärken des Jungen
Die Biologie des Jungen: Hormone und Geschlechtsentwicklung
2
Heimliche Miterzieher – gesellschaftliche Einflüsse
Eine veränderte Gesellschaft
Krippenerziehung für Jungen?
Angst vor Aggression
Störungen der Symbolisierungsfähigkeit
Inzestgrenzen und die Achtung von Generationenunterschieden
3
Jungen und die digitale Welt
Was können die digitalen Medien bewirken?
Exzessiver Gebrauch von Medien und Sucht
Pornografie und Sexualisierung
4
Mutter und Sohn oder: Die Mutter als Schicksal
»Bindung ist ein emotionales Band«
Digitale Bindungsstörungen
Die psychische Zerrissenheit von Müttern
Wenn Eltern ihren Kindern Rollen zuschreiben
Das Bild von der Mutter
5
Vater und Sohn – der Junge und sein Vater
Triangulierung und das unterschiedliche Spiel
Identifizierung und Ent-Identifizierung
Das »väterliche Gehirn« und der abwesende Vater
Gewalt von Vätern in der Erziehung
Was braucht der Junge vom Vater?
6
Die Bedeutung von elterlichen Beziehungen
Das heterosexuelle Elternpaar
Allein-Erziehen
Triangulierung bei Alleinerziehenden
Die elterliche Allianz
Gleichgeschlechtliche Elternpaare – Regenbogenfamilien
7
Geschwisterbeziehungen – lebenslang Liebe, Hass und Rivalität
Die Bedeutung der Geschwisterfolge
Kinder ohne Geschwister
Mobbing unter Geschwistern
8
Macho oder Muttersöhnchen – wie sich Jungen entwickeln können
Grandios und frauenverachtend
Der feminine Junge
Die übergriffige und missbrauchende Mutter
Zwischen Überheblichkeit und Verachtung von Frauen
9
Die psychosexuelle Entwicklung des Jungen
Verselbstständigung, Autonomie und Wiederannäherung
»Ich will alles selber machen – Ich bekomme Angst, ich brauche dich!«
Zeigelust und Grandiosität: Die »phallische« Entwicklung
Was ist »Kastrationsangst«?
Versuche, die männliche Identitätsentwicklung zu manipulieren
Ich kann mich verlieben, ich kann verzichten: Der Ödipuskomplex
10
Die Adoleszenz des Jungen – Wenn der Körper die Seele zur Veränderung zwingt
Krise und Gefährdung – Aufbruch und Hoffnung
Sonderbare Verhaltensweisen
Niemand liebt mich so wie ich – eine narzisstische Zwischenphase
Sexualität – der Motor für die Suche einer Partnerin
Loslösung und Abschied von den Eltern
Jeden gibt’s nur einmal!
11
Jungen vermeiden Nähe – Mädchen suchen Beziehungen
Die Lust an äußeren Welten und unbelebten Dingen
Exkurs: Zwei Persönlichkeitstypen
Träume von Nähe und weiten Räumen
Welche Eigenschaften haben Jungen?
Angstlust, Thrill und Risiko
12
Aggression
Gutartige Aggression und bösartige Destruktivität
Wie entsteht die Fähigkeit, Gefühle zu regulieren?
Rumpelstilzchen oder: Wenn Wut grenzenlos wird
Mobbing und andere seelische Verletzungen
Der negative Held
Waffen
Computerspiele
13
Bewegungsunruhe, Aufmerksamkeit und die ADHS-Frage
Jungen externalisieren
Der Weg zur zielgerichteten Steuerung von Bewegungen
Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsstörungen
Vom Umgang mit Reizen
Über Lust und Unlust
Eine medizinische Diagnose: ADHS
14
Kernthesen zum Verständnis von Jungen
Literatur
Ich widme dieses Buch meinen Enkeln Vincent, Sophie und Raphael aus Grünwald, Anna-Lena und Julia aus Karlsruhe sowie Penelope aus Singapur
Hans Hopf
1
Seit vielen Jahren befasse ich mich mit der Entstehung von männlicher Identität. 2013 ist mein Fachbuch »Die Psychoanalyse des Jungen« erschienen, das sich mit den Besonderheiten des männlichen Geschlechts befasst. Es ist ein Lehrbuch für Psychotherapeuten. Mit diesem Buch will ich die dortigen Gedanken weiterführen und sie in eine möglichst verständliche Sprache bringen.
Jungen – das schwierige Geschlecht?
Was ist heutzutage mit den Jungen los? Sie haben mittlerweile ein großes Image-Problem und gelten als das ›schwierige Geschlecht‹. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat sogar eine Tagung mit dem Titel: »Diagnose Junge! Pathologisierung eines Geschlechts?« veranstaltet. Zeigen Jungen wirklich mehr Probleme als die Mädchen? Oder fallen sie nur deswegen mehr auf, weil sie Sand ins soziale Getriebe tragen? Befinden sie sich in einer Krise?
2017 wurden in Baden-Württemberg 55 032 Kinder geboren, 51,24 % waren Jungen und 48,76 % Mädchen. Dieses Verhältnis gilt mit kleinen Abweichungen für alle Bundesländer und ist seit vielen Jahren stabil. Es gibt also mehr Jungen als Mädchen. Eine Forschergruppe in Cambridge (USA) erklärt dazu, dass zwar Mädchen und Jungen im gleichen Verhältnis gezeugt werden, im Verlauf der Schwangerschaft jedoch mehr Mädchen sterben (Süddeutsche Zeitung, 30. 3. 2015). Jungen schneiden schulisch schlechter ab als Mädchen und haben niedrigere Bildungsabschlüsse: Lediglich 40 % der Jungen werden vorzeitig eingeschult gegenüber 60 % der Mädchen. Von den Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss sind 60 % Jungen. Die Allgemeine Hochschulreife hingegen besitzen 55 % der Mädchen gegenüber 45 % der Jungen. Jungen erhalten bis zur Pubertät mehr Förderungen, Nachhilfe, Hilfen und Behandlungen als Mädchen. Auch für den weiteren Entwicklungsverlauf zeigen sie ungünstige Perspektiven: Viele haben sich nicht im Griff, sind unkonzentriert und zappeln, sind laut und bockig, Angeber, Störenfriede, manchmal Versager und im schlimmsten Fall gewalttätig. Eltern wissen häufig nicht weiter, Lehrer resignieren, Ärzte verschreiben Medikamente, viele werden mit Tabletten ruhig gestellt.
Jungen neigen zu Drogenkonsum und Computerabhängigkeit und verfügen wahrscheinlich über eine geringere Empathiefähigkeit. Mädchen sind ihnen mit ihren psychischen Ausstattungen, Durchhaltevermögen, Empathie und Symbolisierungsfähigkeit meist überlegen. Sind Jungen durchweg ein Problem?
Aber jetzt mal Halt! Die meisten Jungen sind besser als ihr Ruf. Sie sind liebenswert und beglücken uns durch ihre Kreativität, ihren Ideenreichtum, Forscherdrang und ihre Technikbegeisterung. Der Soziologe Dornes hat über statistische Vergleiche nachgewiesen, dass psychische Störungen nicht zugenommen haben. Er hat wahrscheinlich Recht, vor allem wenn man jene 558 000 Jungen nicht dazu rechnet, die bereits – gemäß einer Untersuchung der BARMER EK – die Diagnose »ADHS« (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität) erhalten haben. Verändert hat sich jedoch die Qualität der Störungsbilder mit den genannten Problemfeldern: Die Störungen der Jungen weisen heute, anders als noch in den 50er-Jahren, sehr lärmende, sehr beunruhigende Symptome auf. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen profitiert erkennbar von den positiven Wandlungen in den Erziehungshaltungen ihrer Eltern. Doch liegen bei manchen Jungen Risikofaktoren vor, und bei einer kleinen Gruppe verdichten sie sich in besonderer Weise. Bedauerlicherweise werden die Probleme einiger Jungen auf das gesamte Geschlecht übertragen, so wie das auch bei den Männern geschehen ist.
Weshalb Jungen problematische Zuschreibungen bekommen konnten und um welche Schwierigkeiten es sich handelt, darüber will ich in diesem Buch berichten. Dabei berücksichtige ich verschiedene Fragestellungen: Sind es biologische Probleme? Sind es psychische und psychosoziale? Ist es eine veränderte Gesellschaft, die zur Anpassung an neue Verhältnisse zwingt?
Ich lausche in einem ICE unbeabsichtigt dem Gespräch zweier junger Frauen über die Geburt eines männlichen Nachkommen. Eine der beiden ist hochschwanger. »Was wird es denn?«, fragt die gegenübersitzende Frau neugierig. Ein Ausdruck von Enttäuschung wandert über das Gesicht der Schwangeren, gepaart mit leichtem Kummer: »Ach«, sagt sie, »es wird ein Junge«. Mitfühlend meint die andere: »Na, da werden Sie es aber nicht leicht haben«. Dass eine werdende Mutter das Verhalten ihres ungeborenen Sohnes bereits als prekär einschätzt, hat mich berührt. Müssen sich Mütter schon vor der Geburt vor ihren Söhnen fürchten? Wir wissen, wie fatal sich unbewusste Motive von Eltern auf ihre Kinder auswirken können. Wie wird erst eine solche bewusste Rollenzuschreibung auf die Entwicklung dieses Jungen Einfluss nehmen?
Dass vielleicht doch nicht alles ganz schlimm ist, und das meiste schon immer so war, hat mir der Philosoph Platon verdeutlicht. Kurz vor seinem Tod, im Jahr 348/347 v. Chr., verfasste er seine Bücher Nomoi über Gesetze innerhalb einer Staatstheorie. Darin heißt es:
»Der Knabe ist aber unter allen Geschöpfen das am schwierigsten zu behandelnde; denn je mehr er eine Quelle des Nachdenkens besitzt, die noch nicht die rechte Richtung erhielt, wird er hinterhältig und verschlagen und das übermütigste der Geschöpfe. Darum gilt es, durch mannigfache Zügel ihn zu bändigen.« (Nomoi, 808 de)
Platon beschreibt anarchische Jungen, grandios agierend und sozial gestört, wie es sie auch heute in vielen Schulen gibt. Wir können uns die »mannigfachen Zügel« vorstellen, die damals zur Verhinderung solcher Verläufe eingesetzt wurden. Nach dem Gesetzeslehrer Drakon heißen sie auch heute noch drakonisch, was mit nachdrücklich und unerbittlich gleichgesetzt werden kann. Gewalt- und Prügelpädagogik fand bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts statt. Kinder wurden dadurch unterwürfig und »verschlagen« und gaben vor allem die erfahrene Gewalt weiter, wenn sie selbst die Macht besaßen. Es ist ein großes Glück, dass die meisten Eltern und Pädagogen heute anders denken und handeln.
Der weise Platon zeigt uns auf, woran das Ausufern und Grenzüberschreiten von Jungen liegen könnte. Er stellt fest: Jungen können schwierig werden, wenn sie nicht angemessen erzogen und begrenzt werden. Ist womöglich unsere Gesellschaft heute nicht ausreichend in der Lage, den Jungen Halt zu geben und ihnen Grenzen zu setzen? Sind wir eine erregte Gesellschaft, die Kinder nicht zur Ruhe kommen lässt? Fehlt es an strukturierender Väterlichkeit? Leben wir in einer grenzenlosen und verwöhnenden Gesellschaft?
Warum die notwendige ›Eingrenzung‹ nicht mit drakonischen Maßnahmen geschehen sollte, sondern mit Verständnis, Beziehung und Erziehung und ohne Medikation, darüber schreibe ich in diesem Buch. Meine Erkenntnisse beziehe ich vor allem aus praktischer Anschauung und Erleben. Seit mehr als fünfzig Jahren befasse ich mich mit Kindern als Vater, Großvater, als Pädagoge und Kinderpsychoanalytiker. Ich habe viele problematische Kinder behandelt und war therapeutischer Leiter in einem psychotherapeutischen Heim. Mit diesem Buch will ich aufzeigen, warum es Jungen heutzutage so schwer haben, anders als früher und schwerer als Mädchen, eine sichere Identität zu entwickeln und unbeschädigt durch das Leben zu kommen. Und ich möchte herausarbeiten, was dagegen, vor allem aber was unterstützend dafür getan werden kann.
Zu Beginn will ich über die Ursprünge nachdenken, die jene offensichtlichen Risikofaktoren beim männlichen Geschlecht bewirken. Der erste Bereich wird sich mit den biologischen, physiologischen und hormonellen Auswirkungen befassen, denn Geschlecht wird nicht nur durch Beziehung »konstruiert« und erschaffen, wie es oft unterstellt wird.
Es können auch Verursacher aus der Stammesgeschichte angenommen werden, die weit in die Vergangenheit des Menschen zurückreichen. Und wir kennen auch die Auswirkungen eines kollektiven Unbewussten. In ihm sind alle Menschheitserfahrungen angesiedelt, und es wird von den so genannten Archetypen strukturiert; Archetypen des Mannes werden in Märchen und Mythen beschrieben. Da gibt es etwa den Trickser, im Mythos ist es der Loki, in der Literatur der Eulenspiegel. Solche Archetypen deuten das Verhalten des Jungen aus einer besonderen Perspektive. Die entscheidenden Faktoren, die männliche Identität entstehen lassen, sind jedoch die Beziehungen zu Mutter, Vater und den Geschwistern und deren Einfluss auf die innerseelische Entwicklung mit allen zwischenmenschlichen Folgen. Die Entwicklung jeder Persönlichkeit ist ein Produkt sozialer Beziehungen – vor dem Hintergrund der physiologischen Bedingungen. Die »Anatomie« ist kein unausweichliches Schicksal, wie es Sigmund Freud bezeichnet hat, im Gegenteil, das, was ein Junge aus ihr machen kann, wird ausschlaggebend für das Schicksal seiner Männlichkeit sein.
Beziehungen finden jedoch nicht in einem abgegrenzten familiären Bereich statt, vielmehr dringen in diesen Raum unaufhörlich Einflüsse der Gesellschaft. Die Beschreibung der Folgen von Beziehungen wird den größten Teil des Buches bestimmen. Über die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werde ich in einem gesonderten Kapitel berichten.
Es besteht ein ständiges Wechselspiel zwischen Leib und Seele sowie einer fördernden oder störenden Umwelt. Eine explizite Trennung einzelner Faktoren wie Biologie, hormonelle Wirkungen, den Chromosomen sowie dem psychischen Erleben ist somit nicht möglich. Diese Grundlagen will ich hier in Kürze beschreiben.
Mag es noch so klischeehaft klingen: Jungen sind anders als Mädchen. Jungen besitzen Schwächen und Stärken, die sie von Mädchen unterscheiden. Ihr Verhalten kann nur dann verstanden werden, wenn davon ausgegangen wird, dass die Persönlichkeit von Wechselbeziehungen zwischen Körper und Geist im sozialen Kontext geprägt wird.
Alle körperlichen Geschlechtsunterschiede sind auf Androgene, die männlichen Sexualhormone, insbesondere das Testosteron zurückzuführen. Es beeinflusst im Gehirn Verhaltensweisen wie etwa Aggressivität, und es fördert die Kampfeslust, macht risikobereit und schärft die Wahrnehmung – und es macht unruhiger. Diese Besonderheiten können für Jungen zum Problem werden.
Jungen müssen mehr Aggression und andere Spannungen als Mädchen verarbeiten, was ihnen oft misslingt. Sie »externalisieren«, richten ihre Spannungen nach außen. Sie denken weniger und handeln schneller. Darum fallen sie wegen ihrer sozialen Störungen auf. Vor der Pubertät kommen viermal so viele Jungen wie Mädchen in psychotherapeutische Behandlung. Verkürzt kann gesagt werden: Jungen machen den Schulhof zum Kampfplatz und Mädchen den eigenen Körper!
Spannungen führen sie auch über Bewegungsunruhe ab. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist geringer, und sie können sich nur schwer beherrschen. Damit können sie der Umwelt zur Last fallen. Dieses Verhalten wird oft als eine hirnorganische Störung, die so genannte ADHS diagnostiziert. Etwa 75 % von allen ADHS-Diagnosen betreffen Jungen und ungefähr 12 % aller zehnjährigen Jungen erhalten diese Diagnose – jeder achte Junge.
Die Lust der Jungen an Bewegung kann direkt in eine fatale Risikobereitschaft führen, die auch eigene Schädigung in Kauf nimmt. Diese Tatsache ist besonders während der Adoleszenz folgenreich.
Jungen tendieren zu einer eher narzisstischen Haltung, also zu einer stärkeren Selbstliebe. Sie meiden Nähe und Beziehungen. Darum neigen sie dazu, mit wenig oder gar keiner Hilfe von anderen Menschen auszukommen und idealisieren eigenes Können. Einige glauben, alles aus sich selbst aufgrund ihrer überragenden Fähigkeiten bewältigen zu können.
Mütter können Jungen gegenüber zwiespältig sein. Manche bringen ihnen weniger emotionale Zuwendung entgegen als ihren Töchtern.
Die Grenzen setzende Funktion des Vaters ist von größter Bedeutung für den Sohn. Leider sind Männer in der Erziehung mittlerweile eine rare Spezies geworden. Häufig fehlt es nicht nur an leiblichen Vätern, sondern auch an öffentlichen Vätern in den Institutionen. Sichere Bindungsbeziehungen der Erzieherinnen zu Jungen sind weltweit seltener als bei Mädchen der gleichen Kindergruppe. In der frühen Erziehung ist oft das Mädchen das Maß aller Dinge!
Aus vielen ihrer Schwächen machen Jungen im besten Sinne eine Tugend:
Sie lieben das Risiko, die Angstlust und das Abenteuer.
Sie haben Freude an Entdeckungen. Schon in früher Kindheit begeistern sie sich für Schatzsuche und ferne Welten, auch für die Weiten des Weltalls, für Science Fiction und ferne Galaxien.
Von klein auf sind Jungen von technischem Spielzeug begeistert, von Autos, Baggern und Traktoren. Jungen sind Konstrukteure, Tüftler und Erfinder. Angefangen von Lego, über Baukästen hin zur Elektronik und Informatik. Ihre Lust am Experimentieren ist grenzenlos. Aus den gleichen Gründen sammeln sie. Waren es früher Briefmarken, Bücher oder Kunstwerke, sind es heute Spielkarten, Lego und Playmobil, Filme und Musikstücke auf dem iPod oder Smartphone.
Darum sind sie auch von den digitalen Welten fasziniert. Sie tauchen darin ein, wie in eine Galaxis und haben Spaß am Programmieren und Spielen.
Während des zweiten bis dritten Lebensjahrs lernen Jungen – zumeist – sich durchzusetzen. Sie rivalisieren, konkurrieren und entwickeln Ehrgeiz.
Jungen lieben die Bewegung, mit dem ganzen Körper, später auch mit dem Fahrrad, mit Motorrad, Skateboard und Surfbrett. Bewegen ist höchste Lust.
Denken wir an Jungen, so stehen ihre Stärken im Vordergrund: der spätere Erfinder, der Abenteurer, der Entdecker, der kreative Künstler. Diese herausragenden Eigenschaften sollen nicht aus dem Blickwinkel geraten, wenn wir im Buch auch die Schattenseiten der Jungen betrachten. Keineswegs sind Jungen ein problematisches Geschlecht!
Die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern sich fortwährend, Jungen wachsen heute anders auf als vor 50 Jahren. Am Anfang des Buches will ich darum über die heutige Gesellschaft berichten, und über die vielfältigen digitalen Reize, die Kinder heute bewältigen müssen. Jungen sind psychisch weniger flexibel als Mädchen, ihnen fällt die Anpassung an die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht leicht.
Bei der Befruchtung einer Eizelle wird das chromosale Geschlecht des Menschen, beim Mann: XY, bei der Frau: XX durch ein Y- oder X-tragendes Spermatozoon festgelegt: Von der Mutter kann nur ein X-Chromosom weitergegeben werden, vom Vater ein X- oder ein Y-Chromosom. Kommt also während der Zeugung die Geninformation aus dem Y-Chromosom hinzu, so entsteht ein Junge. Bei genauer Betrachtung starten also Männer schon mit einem Defizit ins Leben: Ihnen fehlt ein zweites vollständiges X-Chromosom, dafür haben sie lediglich ein Y-Chromosom, ein Bruchstück, so dass ihnen letztlich das Ersatzteillager fehlt. (Betrachten wir die Chromosomen unter einem Elektronen-Mikroskop, so zeigt sich ein Chromosom, das einem X ähnelt und eines dem Y. Entferne ich einen Teil des X, so entsteht ein Y. Das Y ist ein defizitäres X, es fehlt ein Teil.) Ist ihr X-Chromosom beschädigt, haben Jungen und Männer keine Reserven und können Beschädigungen nicht kompensieren.
Etwa 30 000 Gene sind bei Frauen und Männern übrigens identisch, lediglich 20 auf dem Y-Chromosom sind anders. Etwa ein Drittel der vermeintlich gleichen Gene kann jedoch unterschiedlich aktiviert werden. So sind etwa Gene, welche die Körperbehaarung fördern, beim Mann aktiver, solche für Fettspeicheranlagen bei Frauen. Für die Entwicklung von Männlichkeit ist etwas anderes viel bedeutsamer.
Im Artikel eines sehr populären Kinder- und Jugendpsychiaters zur Entstehung von psychischen Störungen habe ich gelesen, dass es bei der Diagnose ADHS einen Überhang bei den Jungen gebe, verursacht durch die Gene. Aber die sind es gerade nicht! Männer und Jungen bekommen nicht deshalb einen anderen Körper als Mädchen und Frauen, weil sie andere Gene oder ein anderes Gehirn haben, sondern weil die Keimdrüsen andere Hormone produzieren und in den Blutkreislauf ausschütten. Hormone sind Boten- oder Signalstoffe, ihre Zielzellen erreichen sie über die Blutbahn. In den ersten Schwangerschaftswochen entwickelt sich der Fötus bisexuell, also geschlechtsindifferent. Bei Vorhandensein eines X- und eines Y-Chromosoms werden ab der 6. – 7. Woche Hodenwachstum, Androgenproduktion und damit die Maskulinisierung von Körper und Gehirn eingeleitet. Androgen ist der Oberbegriff für jede natürliche oder synthetische Substanz, welche die Entwicklung und Erhaltung der männlichen Merkmale stimuliert oder kontrolliert. Androgene, vor allem das Testosteron, haben in der Zeit vor und kurz nach der Geburt den entscheidenden organisierenden Effekt für die Gehirnentwicklung. In der Pubertät und danach üben sie einen primär aktivierenden Effekt auf das Sexualverhalten aus. Bei Männern ist der Testosteronspiegel etwa fünfzehnmal höher als bei Frauen.
Ohne Androgene bleibt der sich entwickelnde Organismus weiblich. Insofern scheint der biblische Mythos, Eva sei aus der Rippe des Mannes geprägt, von patriarchalen Fantasien geprägt: Nach neueren physiologischen Erkenntnissen ist es genau umgekehrt. Das erste Geschlecht ist ein weibliches, Männlichkeit ist lediglich eine sekundäre Bildung. Wie schon erwähnt, wirken die Androgene auf die männliche Geschlechtsdifferenzierung, auf die Spermienbildung sowie auf Wachstum und Funktion der Genitalien, Prostata und Samenbläschen. Zudem steuert Testosteron die Ausbildung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale sowie die Stärke der Libido. Testosteron wirkt auch Gewebe aufbauend, was zu der stärker entwickelten Muskulatur des Jungen führt. Kurz gesagt: Fast alle körperlichen Geschlechtsunterschiede sind auf die Androgene zurückzuführen. Testosteron beeinflusst gemäß den Physiologen Silbernagl und Despopoulos im Gehirn aber auch Verhaltensweisen wie etwa Aggressivität. Damit fördert es die Kampfeslust, macht risikobereiter und schärft die Wahrnehmung. Zwar korreliert der Testosteronspiegel nicht generell mit Aggressivität, doch steht er vor allem im Zusammenhang mit Wettbewerbsorientierung für Leistungsbereitschaft und Kräftemessen. Es ist das Hormon, das den Jungen männlich werden lässt.
Darum bewegen sich Jungen bereits im Mutterleib mehr als Mädchen. Von Geburt an sind sie impulsiver, aber auch störbarer. Sie geraten emotional rascher in Fahrt, sie streiten ständig herum und zeigen ein krawalliges Hahnenkampf- und Imponiergehabe, besonders in Gruppen. Alles machen sie etwas aufgeregter, etwas überschießender, immer mit Vollgas und einem hochtourigen Motor.
Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass Jungen eine große Lust an der Bewegung verspüren und Bewegung auch zur Spannungs- und weiteren Affektabfuhr nutzen. Das macht sie ebenfalls zu Störenfrieden. Von früher Kindheit an ist Bewegung also für Jungen ein Vehikel für rivalisierendes Lusterleben, für Risiko, Kräftemessen und Rivalitäten – darum fasziniert der männliche Fußballsport fast die ganze Welt – obwohl Frauen eleganter und rücksichtsvoller spielen. In ihren Bewegungen spiegeln sich ihre Emotionen.
Eine Bekannte erzählt von ihrem Urlaub in den Fjorden Norwegens. Sie und ihr Mann seien mit einem befreundeten Ehepaar gereist. Die Frau erzählt, dass die Männer fast jeden Tag mit dem Boot zum Fischen hinausgefahren seien. Die Frauen konnten nicht verstehen, wie man daran so große Freude finden konnte. Sie seien lieber jeden Tag in die Natur hinausgewandert, hätten die Pflanzenwelt bewundert und Beeren gesammelt.
Während sie das erzählt, überlege ich, was sich denn seit grauer Vorzeit verändert hat, als unsere Vorfahren noch Jäger und Sammler waren. Die Evolution, die stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen, hat Eigenschaften hervorgebracht, die als männlich bezeichnet werden können. Die Psychologin Doris Bischof-Köhler betont, dass die Gesellschaft immer die anlagebedingten geschlechtstypischen Neigungen aufgegriffen hat. Sie wurden Teil von Inszenierungen der Geschlechtsrolle. Risikobereitschaft, Unternehmungslust, die Freude sich in Gefahr zu begeben und sich im Kampf zu messen einerseits und Kooperationsbereitschaft andererseits sind für die spezifischen Aufgaben des Mannes bei der Daseinsbewältigung sicherlich von Vorteil gewesen. Wem dies leichter fiel, der war nicht nur als Jäger erfolgreich und ein tapferer Krieger, sondern auch als Ehepartner begehrt – das ist sicherlich auch heute noch so. Notwendig waren dabei eine fürsorgliche Haltung und eine Bindungsbereitschaft an Frau und Kinder. So waren wahrscheinlich schon Väter der Vorzeit in vielen Fällen ›aufmerksame Beschützer‹.
Diese Neigung des Mannes rührt aus der biologischen Vergangenheit des Männchens, die bei ihren Weibchen bleiben, sie bei der Brutpflege unterstützen, sich an der Ernährung, vor allem an der Verteidigung der Jungen beteiligen. Es existiert jedoch noch eine andere Variante von Männchen, denen es genügt, eine paarungsbereite Partnerin zu finden und mit dieser zur Zeugung zu kommen. Am erfolgreichsten ist, wer sich danach möglichst schnell auf die Suche nach der nächsten macht und es dem trächtigen Weibchen überlässt, für sich und die Nachkommenschaft zu sorgen. Männer können die Strategie verfolgen, sich auf möglichst viele sexuelle Begegnungen einzulassen, ohne die Folgelasten auf sich zu nehmen (Bischof-Köhler, S. 146).
Ich war immer von der Tatsache beeindruckt, dass es Männer gibt, die ihre Gefährtinnen und Ehefrauen bereits während der Schwangerschaft oder während des ersten Lebensjahres des Kindes verlassen haben. Es wiederholt sich damit das beschriebene biologische Verhalten. Diese Männer wollten (oder konnten) ganz offensichtlich nicht die Verantwortung übernehmen, Vater zu sein. Sie suchten den Geschlechtsakt mit der Frau, wollten aber nicht zum aufmerksamen Beschützer eines Kindes werden.
2
Genervt ermahnt eine Mutter ihren achtjährigen Sohn, der schon wieder auf seinem Nintendo »daddelt«, obwohl er Hausaufgaben machen soll.
Ein 14-jähriger Jugendlicher spielt bis spät in die Nacht Counter-Strike, ein bei vielen Erwachsenen berüchtigtes Ballerspiel. Auf einmal wird der Bildschirm schwarz, das Licht geht aus. Der wütende Vater hat die Sicherung ausgeschaltet, um dem Sohn einen Denkzettel zu verpassen.
Ist es bei den Mädchen anders? Laura, 13 Jahre alt, hat wie viele ihrer Altersgenossinnen regelmäßig die Sendung Germany’s Next Topmodel gesehen. Sie kündigt ihren Eltern an, die Mädchen ihrer Klasse hätten beschlossen, gemeinsam abzunehmen, weil sie zu dick seien. Germany’s Next Topmodel ist eine Fernsehsendung, die vorwiegend adoleszente Mädchen anspricht. Die Sendung steht im Verdacht, dass weibliche Jugendliche, die für Magersucht anfällig sind, in der falschen Wahrnehmung ihres Körpers bestätigt werden. Es ist ein Fernsehbeitrag, der eine Frau auf ihr Aussehen und Schlanksein reduziert, voller flacher Klischees. So bejahen etwa Mädchen, die Germany’s Next Topmodel ansehen, deutlich häufiger, dass sie sich zu dick fühlen als eine Vergleichsgruppe. Die Eltern sind über das Vorhaben der Tochter entsetzt.
Einen dreizehnjährigen Jungen überkommen plötzlich Angstzustände. Weinend gesteht er seinen Eltern, er habe über Monate mit einem anderen Jungen Pornoseiten im Internet angesehen. Die Bilder würden ihn in den Schlaf verfolgen, und er habe ein schlechtes Gewissen.
Das sind nur einige Berichte von hilflosen Eltern aus meiner Sprechstunde.
Erziehung findet nie ausschließlich im abgegrenzten familiären Bereich statt. Deshalb entstehen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen. Auch die Störungsbilder passen sich den jeweiligen gesellschaftlichen Einflüssen an. So herrschten noch in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts strenge Moralvorstellungen, die zu vielen charakteristischen Störungen führen konnten. Es waren vor allem Depressionen, Angstkrankheiten, Zwänge, auch religiöse Störungen, die ein Ergebnis von großen Gewissensängsten waren. Überwiegend waren es Konflikte, die nach innen gerichtete Störungen verursachten. Aber Verzicht und Strenge haben auch positive Auswirkungen auf menschliche Entwicklungen. Die Moralvorstellungen, die damals zur Unterdrückung des Triebhaften im Menschen führten, produzierten andererseits ein klar strukturiertes Individuum mit moralischen Prinzipien und der Fähigkeit zur Triebbeherrschung. So bringt jede Gesellschaftsordnung, wie ein gutes Medikament, positive Kräfte und Wirkungen, aber auch manche schädlichen Nebenwirkungen mit sich.
Nie sind Kinder und Jugendliche in Deutschland so sicher, umsorgt, gesund und zufrieden, gebildet und wohlhabend aufgewachsen wie heute. Wahrscheinlich hat es für junge Menschen zu keiner Zeit derart viele Freiheiten und Möglichkeiten gegeben, um eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln, mit deren Hilfe sie das Leben meistern könnten. Aus dem autoritären Erziehungsstil früherer Zeiten ist im Lauf der vergangenen dreißig bis vierzig Jahre ein partnerschaftlicher geworden. Die Prügelstrafe wurde geächtet und ist mittlerweile gesetzlich verboten. Die Erziehungsvorstellungen sind mittlerweile nicht mehr Gehorsam und Unterordnung, sondern Selbstständigkeit und freier Wille. Wir haben eine Fülle junger Leute, die ihr Leben sehr individuell und selbstbewusst gestalten.
Ich beschreibe vereinfacht die Unterschiede an den äußeren Polen. Früher gab es zu viel Strenge und körperliche Gewalt, gelegentlich zu wenig Einfühlung, die Leistungsanforderungen waren hoch und Kinder waren keine autonomen Wesen. Heute wird zumeist viel verwöhnt, es werden zu wenig Grenzen gesetzt, zu wenige Einschränkungen gefordert. Heutige Kinder wachsen mit vielen Freiheiten auf, die sie früh selbstständig werden lassen. Das Elixier Freiheit birgt jedoch manche Nebenwirkungen. Zu frühe Selbstständigkeit kann Kinder überfordern, verunsichern, sogar ängstigen. Kinder haben Abhängigkeitsbedürfnisse und Bindungswünsche, die gestillt werden müssen. Heute stehen Autonomie, Freiheit und Leistungsoptimierung im Vordergrund, doch fehlt es gelegentlich an ausreichender schützender Aufmerksamkeit von Eltern. Wie sind beispielsweise die folgenden Veränderungen zu verstehen? Etwa 60 – 65 % aller Kinder entwickelten vor 20 Jahren in den ersten Lebensjahren eine sichere Bindung zu ihrer Mutter. Eine Forschergruppe um Verhage hat festgestellt, dass es mittlerweile nur noch 48 % sind. Welche Ursachen sind für diesen Rückgang anzunehmen? Berücksichtigen heutige Eltern mit ihren eigenen Interessen und Lebenszielen, mit ihren Freiheiten und beruflichen Ambitionen, immer die notwendigen Bedürfnisse von Kindern? Sind Eltern gelegentlich damit überfordert, Kinder und Beruf auszubalancieren? Wer schon einmal den morgendlichen Stress in jungen Familien miterlebt hat, bis Kinder und Eltern angekleidet sind, gefrühstückt haben und alle termingerecht das Haus verlassen, wird kaum daran zweifeln.
Kinderkrippen sind aus der Gesellschaft nicht wegzudenken. Erziehung in der Familie und Krippenerziehung können einander hilfreich ergänzen. Nachdenklich macht eine Analyse von 40 Studien: Sichere Bindungsbeziehungen der Erzieherinnen traten danach weltweit häufiger zu den Mädchen auf als zu den Jungen der gleichen Kindergruppe. Hauptursache dafür ist, dass sich bereits Kleinkinder an Verhaltensweisen des eigenen Geschlechts orientieren und ihr Verhalten danach ausrichten. Häufig zerfällt die Großgruppe in Jungen- und Mädchengruppen. Jungen rivalisieren und balgen sich, sie sind aktiv und risikobereit, vornehmlich aggressiv und unbeherrscht. Sie profitieren auch mehr von der Aktivierung des Erkundungssystems, für dessen Förderung traditionell Männer, Väter zuständig sind. Aber in den Kitas kommen Männer nur im Promillebereich vor.
Mädchen sind partnerschaftlicher und gehen bereits im Kleinkindalter einfühlsam miteinander um. Das Verhalten der Jungen veranlasst Erzieherinnen zu Maßnahmen, die tendenziell reglementierend und einschränkend sind. Damit sehen die Jungen ihre Bedürfnisse und Interessen verkannt, und sie verankern sich noch intensiver in ihren Jungengruppen. Deren Einfluss nimmt immer mehr zu, was zur Eskalation führen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass langfristige Folgen von unsicheren Bindungsentwicklungen bei den Jungen bis ins Schulalter reichen können. Wahrscheinlich werden Mädchen in Kinderkrippen auch besser gefördert als Jungen. Hier setzt meine Sorge um die Jungen in Kinderkrippen ein, weil Männer, auch später in der Pädagogik, Psychologie und Psychotherapie kaum vorhanden sind. Kann der Junge bei Erzieherinnen und Lehrerinnen mit den ruhigen, introvertierten und anhänglichen kleinen Mädchen konkurrieren? Besitzt er ausreichende Fähigkeiten für eine weiblich geprägte Welt voller Nähe, mit Trinkfläschchen, Kuschelecken – und ohne Vaterfiguren, mit denen er sich identifizieren kann? Wie können mehr Männer für die Vorschul- und Grundschulpädagogik begeistert werden?
Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat einen »autoritären Charakter« beschrieben. Mit diesem Begriff hat er ein Muster von Persönlichkeitseigenschaften zusammengefasst, die das Sozialverhalten negativ prägen. Eine solche Persönlichkeit neigt zur übermäßigen Anpassung, zum extremen Gehorsam und zur Ablehnung von Minderheiten. Die 1968er-Bewegung hat ihn in Frage gestellt und die Ursachen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben, aufgedeckt oder beseitigt. Damit begann ein Erosionsprozess, der alles vermeintlich Autoritäre betraf. Seit den 70er-Jahren entfernten sich Eltern immer weiter von den ehemaligen Erziehungszielen »Gehorsam und Unterordnung« hin zu Vorstellungen von »Selbstständigkeit und freiem Willen«. Kultur baut jedoch darauf, dass der einzelne Mensch auf ein ständiges Ausleben von Trieben verzichten lernt und zur Leistung bereit ist. Indem sich der Einfluss des Gewissens verringerte, nahm der Zwang zum Triebverzicht immer mehr ab: Triebwünsche aller Art, Aggression, Sexualität und anderes Lusterleben durften immer ungehemmter ausgelebt werden. Grenzen und Verbote wurden zunehmend als wenig förderlich für eine gelungene Erziehung gesehen. Damit geriet die unentbehrliche Balance zwischen Gewissen und Triebwünschen ins Wanken. Denn Gesetze, Regeln und Grenzen sind für das Gelingen eines effektiven Zusammenlebens unentbehrlich.
Die Mehrzahl von Kindern und Jugendlichen profitieren von den zuvor genannten positiven Wandlungen in den Erziehungshaltungen ihrer Eltern. Sie zeigen Einfühlung, ein prosoziales Verhalten und Lernwillen. Bei einer kleineren Gruppe mit überforderten, desorientierten, desolaten – manchmal auch vaterlosen – Elternhäusern werden jedoch vielerlei Fehlentwicklungen deutlich. Zwar existieren Hinweise, dass sich die Anzahl der seelischen Störungen nicht vergrößert hat. Doch nicht die Anzahl der Störungen im Vergleich zu vergangenen Zeiten ist entscheidend. Fachleute sind sich einig, dass sich die Qualität der Störungen bei den Jungen extrem verändert hat. Seit Platon wissen wir, dass Jungen liebevoll eingegrenzt werden müssen, zumeist von Vätern. Eltern haben inzwischen jedoch Angst, im guten Sinn »autoritär«, also eine Autorität zu sein.
Ein Fallbeispiel: Ein sechsjähriger Junge wird eingeschult. Nach wenigen Tagen kommt es zu ersten Schwierigkeiten. Daniel bleibt nicht auf seinem Platz sitzen, wirkt getrieben und unruhig, kann sich nicht auf das Gesagte konzentrieren und weigert sich, Arbeitsanweisungen zu folgen. Er beginnt herumzukaspern und sich vor seinen Mitschülern aufzuspielen: Daniel steckt Stifte in seine Ohren, grimassiert, hüpft herum. In den Pausen kommt es zu aggressiven Auseinandersetzungen mit Mitschülern und aufsichtführenden Lehrern. Bitten und Ermahnungen ignoriert er, und Strafen führen zu keinen Veränderungen: Leistungen werden weiterhin verweigert, Hausaufgaben nicht gemacht. Die Mutter wird schließlich in die Schule bestellt. Sie lebt von Daniels Vater getrennt, ist alleinerziehend. Unter Tränen gibt sie zu verstehen, dass es zu Hause nicht anders sei. Täglich gebe es »Krieg«, weil Daniel keine Hausaufgaben machen wolle. Mit der älteren Schwester habe er immerzu Streit. Er müsse ständig ermahnt werden, und immer häufiger reagiere er auf Anweisungen und Strafen mit heftiger Wut. In letzter Zeit habe er begonnen, Sachen zu zerstören oder blindwütig auf die Schwester einzuschlagen. Die Mutter könne sich das Verhalten des Jungen nicht erklären, es habe ihm doch nie an Liebe gefehlt. Immer sei sie bei ihm gewesen und habe sich allezeit um ihn gekümmert. Andererseits sei es so, dass sich Daniel nicht von ihr trennen könne, nachts Angst habe, allein zu schlafen, und sie immer in der Nähe wissen wolle. Neulich habe es zum Mittagessen Spaghetti gegeben. Er habe sie mit den Händen aus dem Teller genommen und herumgeworfen. Hier unterbreche ich und frage, was sie denn da unternommen hätte. »Natürlich nichts«, meint die Mutter, »ich habe es so hingenommen. Würde ich schimpfen, dann wäre das doch Liebesentzug.«
Es ist nicht schwer, zu erkennen, dass der Junge nach diesem Nein geradezu lechzt. Er lebt alle Fantasien, alle Lust direkt aus, ihm bleibt keine Energie für zweckdienliches Handeln. Seine Ängste machen andererseits deutlich, mit welchen unbewussten Schuldgefühlen er wahrscheinlich lebt.
Befriedigungen müssen immer im Wechsel mit Frustrationen erfolgen. Kinder müssen lernen, Veränderungen hinzunehmen, Unlust auszuhalten sowie Befriedigungen aufzuschieben. Sie müssen es lernen, Hindernisse zu überwinden, um selbstständig zu werden. Das verlangt die Umwelt von ihnen. Daniel zeigt bereits die verheerenden Ergebnisse einer elterlichen Haltung, die kein »Nein« und keine Grenzen kennt. Er kann seine Affekte nicht regulieren, kennt keine Einfühlung und ist extrem selbstbezogen. Fortwährend trägt er Sand ins soziale Getriebe, weil er innere Spannungen nach außen trägt.
Die Angst, autoritär zu sein, sitzt bei vielen Eltern tief. ›Auctoritas‹ bedeutet Ansehen und Einfluss, das sind Eigenschaften, die für Eltern letztendlich wünschenswert sind. Seit längerer Zeit beobachte ich bei Eltern eine große Angst vor dem »Nein«. Aggression wird in ihren Vorstellungen mit zerstörerischem Tun gleichgesetzt. Dabei bedeutet Aggression Selbstbehauptung und Durchsetzung, was bekanntlich für jeden Menschen überlebenswichtig ist. In vielen Familien dominieren inzwischen aggressive Hemmungen. Oft wird bereits mit kleinen, dabei völlig überforderten Kindern über selbstverständliche Rahmenbedingungen stundenlang diskutiert: Ob Hausaufgaben gemacht werden sollen, warum man in die Schule gehen müsse, warum sie nicht so lange wie die Erwachsenen fernsehen dürften, warum sie nicht so lange mit dem Computer spielen dürften, wie sie es wollten. Ich halte Aussprachen immer für wichtig. Aber gelegentlich erlebe ich bei Eltern eine Hemmung, einfach zu sagen, dass sie wissen, was für Kinder richtig ist. In einer Diskussion hat mir ein Kinder- und Jugendpsychiater vorgeworfen, ich wolle wohl wieder autoritäre Zeiten einführen. Ich hatte geäußert, dass Jungen rechtzeitig begrenzt werden sollten, nicht erst wenn soziale Störungen aufgetreten sind. Der Kinderpsychiater fand es besser, später Ritalin zu verordnen.
Der Affektforscher Rainer Krause hat betont, dass ein zeitweiliges Ertragen negativer Gefühle und ein klares »Nein« der Eltern wesentliche Grundlagen für eine gut strukturierte Persönlichkeit seien. Auf diese Weise entstünde eine ausreichende Aufmerksamkeitsspanne und Gefühle könnten im Zaum gehalten werden. Eltern würden heute versuchen, alles Unangenehme, alle schwierigen Gefühle ihrer Kinder ängstlich zu vermeiden. Krause sieht darin den Anfang für die heutige Maßlosigkeit und das Fundament für eine spätere Suchtkultur. In ähnlicher Weise spricht der Soziologe Götz Eisenberg von einer elterlichen Haltung, die er als »Feigheit vor dem Kind« bezeichnet. Viele Eltern wollen mit dem Kind befreundet sein und von ihm grenzenlos geliebt werden. Sie scheuen jeden Konflikt, aus Angst, das Kind könnte ihnen etwas verübeln und sich zurückziehen.