Abnorm. - Astrid Wagner - E-Book + Hörbuch

Abnorm. E-Book und Hörbuch

Astrid Wagner

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Beschreibung

Es passiert plötzlich und ohne Vorwarnung. Menschen, die ein geordnetes, unauffälliges Leben führen. Unbemerkt staut sich etwas auf in ihrem Inneren, um sich mit ungeahnter Wucht zu entladen. Die bekannte Strafverteidigerin Astrid Wagner begleitet seit Jahrzehnten Menschen, die Tötungsdelikte begangen haben. Sie hat sich in ihre Akten vertieft, mit ihnen lange Gespräche geführt, sie vor Gericht nach bestem Wissen und Gewissen verteidigt. In ihrem neuen Buch, das wie immer auf wahren Fällen basiert, zeigt sie auf, welch verheerende Auswirkungen abnorme Geisteszustände auf das Leben von Tätern, Opfern und Angehörigen haben.

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Seitenzahl: 244

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Zeit:6 Std. 18 min

Sprecher:Claudia Rohnefeld
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Schuld

Sohn Gottes

Rächer

Untreu

Lebenslüge

Spirituell

Abartig

Vollmond

Sucht

Schmerz

Muttersohn

Angst

Zerrissen

Todestrieb

Gerecht

Mitten ins Herz

Erlösung

Schlusswort

Gedanken einer Strafverteidigerin

VORWORT

Dies ist kein wissenschaftliches Werk. In der forensischen Psychiatrie werden kriminelle Verhaltensweisen analysiert und klassifiziert, um daraus Schlussfolgerungen für die Frage der Zurechnungsfähigkeit der Täter und die juristische Einordnung von Straftaten zu ziehen. Die hier geschilderten Ereignisse werden aus der Perspektive einer in das Geschehen unmittelbar eingebundenen Strafverteidigerin geschildert. Hintergründe aus dem Leben von Tätern werden ausgeleuchtet, Vorgänge bei Gericht erklärt. Eine Bewertung findet jedoch nicht statt. Diese soll der Leserschaft vorbehalten bleiben.

Dieses Buch beruht auf wahren Fällen. Die darin beschriebenen Charaktere, deren Lebensläufe und Lebensumstände sind fiktional. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Astrid Wagner

Gerhard Häupler - geboren 1943 in Wien, besuchte ab 1969 die Wiener Kunstschule (Akt bei Professor Fritz Martintz). Im gleichen Jahr begann er ein Studium an der Alliance Française (Paris). Seit 1975 lebt und arbeitet Häupler als freischaffender Künstler in seiner Heimatstadt Wien. Anlässlich der Jubiläumsaustellung der Kunstschule Wien bekam er im Jahr 1976 den Künstlerhaus-Preis verliehen.

„Konfrontiert mit Bildern von Gerhard Häupler sehe ich vieles, was gern verdrängt wird, nicht nur von Akademien, auch von vielen Galerien und vielen, vielen Menschen. Darüber spricht man nicht. Darüber schreibt man nicht. Das malt man nicht. Das malt Gerhard Häupler.“

Hermann Schürrer

SCHULD

Die kahle Landschaft grenzt an ein bleiernes Meer. Am düsteren Horizont zeichnen sich schwarze Umrisse ab. Mein Blick wandert über die schroffen Formen, die ich endlich als Schiffswracks ausmache. Immer mehr der rostigen Kähne und Schornsteine scheinen aus der Tiefe zu tauchen, schaukeln mit den Wellen, die sie bedrohlich näher tragen.

Sie sind wie meine Schuld. Lange war sie tief in meinem Bewusstsein vergraben, jetzt wird sie ans Licht kommen. Alle werden sich mit Grauen von mir abwenden.

Allmählich lichten sich die Nebelschwaden, und die Erkenntnis sickert langsam in mein Gehirn: Die schwarzen Umrisse sind nur die Falten meiner zerwühlten Bettdecke. Alles war nur ein dunkler Traum.

Der Traum, dass ich große Schuld auf mich geladen habe, hat mich in meiner Kindheit immer wieder heimgesucht. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass ich mich auf die Suche begeben habe: Nach den Gründen, aus denen Menschen Verbrechen begehen. Nach den Ursachen von Kriminalität. Wer sich mit dieser Thematik befasst, dem stellt sich diese Frage unweigerlich: Was ist das, was wir Schuld nennen?

Bei mir war es nur ein Traum, aus dem ich erleichtert aufgewacht bin. Doch es gibt Menschen, deren Geist sich in Träumen verirrt. Dunkle Träume, aus denen sie nicht mehr herausfinden.

§ 21 Abs. 1 des Österreichischen Strafgesetzbuchs (StGB) lautet: Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann er nur deshalb nicht bestraft werden, weil er sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen hat, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen wird.

SOHN GOTTES

„Seht mich an, ich bin der Sohn Gottes!“ Sein Gesicht ist zu einer einzigen wütenden Fratze verzerrt, die schwarzen Augen quellen bedrohlich hervor. Er trägt ein weißes T-Shirt, es ist ärmellos, was seine schlanken, muskulösen Arme betont. Obwohl seine Hände mit Handschellen gefesselt sind, gelingt es ihm, das T-Shirt zu zerreißen und sich flink aus den Fetzen zu winden. Jetzt sitzt der Einundzwanzigjährige mit nacktem Oberkörper vor uns. Dunkelhäutig, durchtrainierter „Six-Pack“, kein Gramm Fett zu viel. Der breite Ledergürtel mit der auffallenden bronzenen Schnalle hängt lässig an den ausgewaschenen Jeans.

Vier bewaffnete Beamte des Landeskriminalamts Wien wohnen der Einvernahme bei. Die Türe zum Nebenraum steht offen, dort halten sich weitere Beamte auf. Verstärkte Sicherheitsvorkehrungen. Der Staat muss mich, die Verteidigerin, vor meinem Mandanten beschützen.

„Mein Vater ist nicht mein Vater. Er ist weiß. Ich bin schwarz.

Meine Heimat ist Tansania. Der weiße Mann hat mich geholt, als ich ein Kind war. Er hat mich mit Chloroform betäubt und vergewaltigt. Jeden Tag hat er das getan. Meine weiße Mutter und meine weiße Schwester haben zugesehen und gelacht. Es hat ihnen gefallen. Ihr müsst wissen, es sind keine Menschen. Es sind Dämonen. Und mein Vater ist der Teufel!“ Ich betrachte sein Gesicht. Die Wut scheint einem anderen Gefühl gewichen zu sein: Angst. Seine dunklen Augen blicken flehend um sich, dann vergräbt er seinen Kopf in seine Arme und beginnt laut zu heulen.

Daressalam, vor zwölf Jahren

Die hoch gewachsene, schlanke Frau hält ihre Hände vors Gesicht. Der Mann, der ihr in dem kleinen Büro der katholischen Hilfsorganisation gegenübersitzt, soll ihre Tränen nicht sehen.

Sie ist eine Frau, die gelernt hat zu kämpfen. Für ihre beiden Kinder, deren Vater sich eines Tages aus dem Staub gemacht hatte. Sie hat sie alleine durchgebracht, in einem Land, das lange Zeit von wirtschaftlichen Krisen und politischer Unsicherheit gebeutelt war. Heute ist sie aus ihrem entlegenen Dorf in die Großstadt gereist, denn sie wird eine Entscheidung treffen müssen. Die Ärzte haben ihr eröffnet, dass ihre Kraft bald schwinden wird: Es ist Aids. Die Krankheit ist immer noch unheilbar, kann inzwischen aber mit regelmäßigen Infusionen in Schach gehalten werden. Doch die Behandlung ist teuer und aufwändig. Was soll aus ihren Kindern werden?

Die Entscheidung fällt ihr schwer, und sie wird noch Jahre später damit hadern. Die Hilfsorganisation bietet der Frau nur eine Lösung: Adoption, durch eine Familie in Europa. Es sei das Beste für die Kinder. Hier, in bitterer Armut mit einer kranken Mutter, hätten sie keine Zukunft. In Europa würden sie eine an christlichen Werten orientierte Erziehung erhalten. Eine gute Ausbildung. Eine Chance für ihr Leben.

Zahir ist neun, als er mit großen Augen und in Begleitung eines Mitarbeiters der katholischen Hilfsorganisation ein riesiges Flugzeug besteigt. Über mehrere Zwischenstopps landet die Maschine am Flughafen Frankfurt am Main. Dort erwarten ihn seine künftigen Adoptiveltern, um ihn in jene bayrische Kleinstadt zu bringen, in der er seine Kindheit künftig verbringen wird.

Landeskriminalamt Wien, im Januar

Der Beamte am Schreibtisch tippt die Aussagen meines Mandanten in den PC. Es wird kein chronologisch geordnetes Protokoll, denn die Antworten passen nicht zu den Fragen des vernehmenden Beamten. Es scheint, als ob die Lebensgeschichte dieses Menschen in Trümmern vor ihm liegt. Trümmer, zwischen denen er umherzuirren scheint. Zwischen der Weite der afrikanischen Savanne seiner frühen Kindheit bis hin zu jener kleinen nordspanischen Provinzstadt, in die man ihn im Alter von neun Jahren gebracht hat. Afrikanische Magie und die strenge Ordnung katholischer Riten scheinen sich in wirren Bildern zu vermischen...

Eine kleine Stadt in der nordspanischen Provinz, zwölf Jahre zuvor

Der neunjährige Bub aus Ostafrika entpuppt sich für die europäischen Adoptiveltern als Herausforderung: Ein aufgeweckter „Wildfang“, der schreiend durch die Wohnung tobt, bis die Nachbarn mit Klage drohen. Von Tischmanieren keine Spur, er muss erst lernen, mit Gabel und Messer umzugehen. „Herr, wir danken dir für diese Mahlzeit…“ Wenn die Eltern und die Schwester ihr Gebet sprechen, kichert er und erntet dafür böse Blicke. Zahir muss noch viel lernen, um ein artiges, nach religiösen Vorschriften erzogenes Kind zu werden. Doch der streng gläubige Adoptivvater hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Buben zu einem rechtschaffenen, an christlichen Werten orientierten Menschen zu erziehen.

Landeskriminalamt Wien, im Januar

Im benachbarten Raum wird die überlebende Schwester von Zahir E. als Zeugin einvernommen.

„Ich war zwölf, als Zahir zu uns gekommen ist“, gibt sie zu Protokoll. „Er war ein schwieriges Kind. Die Trennung von seiner Mutter hat ihm zu schaffen gemacht. Er hat viel geweint. Ich habe versucht, ihn zu trösten, auch meine Mutter hat das versucht. Unser Vater war streng mit ihm, aber er wollte nur sein Bestes. Er wollte, dass Zahir etwas lernt, dass er eine gute Ausbildung bekommt. Zahir war ein schwacher Schüler, was aber nicht daran lag, dass er dumm gewesen wäre. Nein, er war einfach nur verträumt und verspielt. Mit zwölf, dreizehn Jahren ist er dann in falsche Kreise abgeglitten. Hat Drogen genommen, zuerst Haschisch, und dann, mit vierzehn, hat er Heroin probiert. Meine Eltern haben alles unternommen, um ihm davon loszubringen, haben ihn zuhause eingesperrt. Er hat es geschafft. Hat die Schule abgeschlossen, danach eine Ausbildung zum Koch. Der Beruf hat ihm ermöglicht, seinen Traum nach einem Aufbruch in die große, weite Welt zu verwirklichen. Er hat eine Zeitlang auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet, dann in einem internationalen Hotel in Zürich. Da ist ihm seine Sprachbegabung sehr zugutegekommen. Er hat innerhalb weniger Monate perfekt Deutsch gelernt. Die letzten Weihnachten hat er in Tansania verbracht, wo er seine Mutter und seine Schwester Amna getroffen hat. Sie war um vier Jahre älter als Zahir. Auch sie war als Kind von einer europäischen Familie adoptiert worden. Sie studierte inzwischen in London Sprachen und hat nebenbei in einer Boutique gearbeitet.“

Wie im Protokoll vermerkt ist, muss die Einvernahme unterbrochen werden. Die Zeugin ist in Tränen ausgebrochen.

Ein Jahr zuvor, in einem Dorf inmitten der ostafrikanischen Savanne

Zahir ist zwanzig und sieht seine Mutter nach zwölf Jahren zum ersten Mal wieder. Sie viel kleiner als er, und dick. Es ist alles ganz anders, als er sich es ausgemalt hatte. Die Mutter umarmt ihn fest, weint und streichelt seinen Kopf. Doch er spürt nichts. Sie schmiegt ihr tränennasses Gesicht an seines, es ist ihm unangenehm. Fotos werden gemacht: Zahir und seine Schwester Amna nehmen die Mutter in ihre Mitte, alle drei lachen. Die Mutter hat Amna ein orangefarbenes afrikanisches Kleid genäht. Sie posiert darin, verdreht neckisch die Augen und formt ein Kussmündchen für die Kamera. Alle scheinen fröhlich und gelöst.

Doch in Zahir macht sich eine große Traurigkeit spürbar. Er kann sich nicht erklären, woher sie kommt.

Eine Woche später sitzt er im Flugzeug und blickt hinunter auf eine Landschaft aus braunen Flecken, sich schlängelnden Linien, winzigen verdorrten Bäumchen. Sie entfernen sich immer mehr von ihm, und dann taucht er in die Wolken ein.

Nachtflug Daressalam – Zürich

Er kauert in Embryostellung auf seinem Sitz. Das weiße Rauschen der Maschinen hüllt ihn ein. Unter ihm liegt die unendliche Weite des afrikanischen Kontinents. Erinnerungen an das Erlebte tauchen auf. Das Meer. Die Sonne. Das breite Lächeln der Mutter. Die von leuchtenden, warmen Orangetönen durchfluteten Bilder beginnen sich zu drehen, lösen sich ineinander auf. In seinem Kopf das dumpfe Pochen afrikanischer Trommeln. Menschen stampfen zu rhythmischer Musik.

***

Die Reise in seine Heimat hat Zahir verändert. Sie hat etwas in ihm ausgelöst. Etwas, das lange in ihm verborgen war. Jetzt arbeitet es in ihm, will heraus aus ihm. Es beschäftigt Zahir so sehr, dass er bald keine regelmäßigen Arbeitszeiten mehr einhalten kann. Er schmeisst seinen Job hin. Beginnt, hart zu trainieren. Schläft kaum noch, und ist trotzdem stets hellwach. Immer öfter überkommt ihn ein Gefühl von Erleuchtung. Der Nebel, der über sein bisheriges Leben lag, scheint sich zu lichten. Er spürt, wie etwas aus ihm herauswill. In der Dunkelheit glaubt er schemenhafte Gestalten zu erkennen. Sind sie es, die in ihm wohnen und jetzt herausdrängen? Eines Nachts, er war eben erst eingenickt, fährt Zahir hoch: Er sieht die Fratze eines Dämons vor sich. Jenes Dämons, das weiß er dank seiner Erleuchtung, den sein Vater ihm eingepflanzt hat. Sein Vater, der Teufel. Der Teufel, der ihn, als er noch ein Kind war, mit Chloroform betäubt und vergewaltigt hat. Vor den Augen der hämisch lachenden Tochter des Teufels.

London, drei Wochen nach Weihnachten

Amna macht sich Sorgen. Seit Wochen hat sie nichts von ihrem Bruder gehört. Wenn sie ihn anruft, sagt eine Computerstimme auf Englisch: „Dieser Anrufer ist nicht erreichbar. Wenden Sie sich an Ihren Telefonanbieter.“

Amna beschließt, Kontakt zu seiner in Bayern lebenden Adoptivschwester aufzunehmen. Von ihr erfährt sie, dass Zahir vor ein paar Tagen bei seinen Adoptiveltern angerufen hatte, um sie um Geld zu bitten. „Er wirkte aggressiv, hat in den Hörer gebrüllt. Meine Eltern haben ihm angeboten, die Hotelrechnung zu bezahlen, damit er nicht auf der Straße schlafen muss. Aber er hat abgelehnt. Er wurde wütend und hat die Telefonnummer blockiert. Wir befürchten, dass er wieder auf Drogen ist.“

Amna erfährt jetzt die ganze Wahrheit über die schwierige Kindheit ihres Bruders. Es verstärkt ihre Sorge um ihn. Sie will Zahir nicht mehr verlieren, nachdem sie ihn nach vielen Jahren wiedergefunden hat.

Wien, im Januar

Zahir ist auf der Flucht. Vor den Dämonen, die der Teufel losgeschickt hat, um ihn zurückzuholen. Inzwischen weiß er alles. Er, Zahir, ist der Sohn Gottes. Der wiedergeborene schwarze Messias. Der Teufel hatte einst seine Söldner nach Afrika geschickt, um sich ihn zu holen. Jahrelang hat er ihn betäubt und vergewaltigt, jeden Tag aufs Neue. Hat ihm einen Dämon eingepflanzt, um seinen Geist anzuketten. Jetzt, nachdem Zahir sich von diesen Ketten befreit hat, ist der Teufel wieder hinter ihm her. Zahir hat Angst.

***

„Ich weiß wo er sich aufhält!“ Amnas Stimme am Telefon klingt aufgeregt. Freunde von ihr haben auf der Facebook-Seite ihres Bruders Fotos vom Wiener Hauptbahnhof gesehen, die er dort gepostet hatte. Darunter hatte er seltsame Texte geschrieben wie „Ich bin in der Hölle. Ich bin der Sohn Gottes.“

Die deutsche Adoptivschwester sagt sofort zu, Amna auf der Suche nach Zahir zu unterstützen. Sie fühlte sich immer schon ein wenig verantwortlich für ihren kleinen Bruder, dem afrikanischen Sorgenkind. Zahir hat ihr oft leidgetan, wenn der Vater wieder einmal streng mit ihm war.

***

Am Abend des folgenden Tages treffen sich zwei Frauen Mitte zwanzig in der Halle eines Hotels beim Wiener Hauptbahnhof. Die eine ist von auffallender Schönheit: Dunkelhäutig, gertenschlank, mit langen, zu Rasta-Zöpfen geflochtenen und hellblond gebleichten Haaren. Die andere wirkt ein wenig burschikos in Jeans, T-Shirt und kurzer Strubbelfrisur. Die beiden umarmen sich, als ob sie sich schon lange kennen würden. Amna ist schon seit dem Vormittag in Wien, sie hat am Bahnhof nach ihrem Bruder gesucht. Vergeblich. Morgen früh wollen sie es gemeinsam wieder versuchen, aber jetzt erst mal Essen gehen in dem gemütlichen Lokal um die Ecke. Es wird ein langer Abend, an dem sich alles um Zahir dreht. Dem kleinen Bruder mit den großen Problemen. Zahirs deutsche Schwester wirkt nachdenklich. Vielleicht war es falsch, den Buben seiner Mutter wegzunehmen, sinniert sie. Ihn auf einen anderen Kontinent zu verpflanzen. Einem Kontinent mit fremder Sprache. Fremder Kultur. Fremder Religion. Aber alle wollten nur das Beste für Zahir…

***

„Den habe ich vor zirka einer Stunde hier gesehen“, erklärt der Security-Mitarbeiter des Wiener Hauptbahnhofs, nachdem die Schwestern ihm ein Foto ihres Bruders auf ihrem Handy gezeigt hat. Amna versucht wie schon so oft zuvor, ihren Bruder über WhatsApp zu erreichen. Diesmal funktioniert die Leitung, und er hebt tatsächlich ab! „Ich bin in Wien, am Bahnhof. Dort bei den Liften…“ ruft sie in den Hörer. Dann bricht die Verbindung ab.

„Ich werde nach ihm Ausschau halten“, verspricht der Security-Mitarbeiter. Die Schwestern gehen weiter, doch Minuten später ruft jemand nach ihnen. Es ist der Security-Mann. Sofort machen sie Kehrt und laufen zurück. Da sehen sie ihn. Er kommt die Rolltreppe nach oben. „Ist das euer Bruder?“ fragt der Security-Mann. Als sie bejahen, verlangt er nach dem Ausweis des jungen Mannes. Er kramt in seinem schwarzen Rucksack, findet nichts. „Ich glaube ich hab ihn vergessen. Im Untergeschoss…“ murmelt er und bewegt sich in Richtung Rolltreppe. Der Security-Mitarbeiter folgt ihm, dicht dahinter die beiden Schwestern. Unten angekommen stürmt Zahir plötzlich los, verschanzt sich dann in einer Nische vor einem Geschäftslokal. Der Security-Mann, der ihn die ganze Zeit verfolgt hat, bleibt davor stehen und tritt auf ihn zu: „Haben Sie ihn jetzt gefunden, Ihren Ausweis?“. Zahir nickt, bewegt sich aus der Nische heraus, die Hände am Rücken verschränkt. Langsam, fast zögerlich. Der Security-Mann hält ihm die Hand entgegen: „Geben Sie mir Ihren Ausweis.“

Es passiert innerhalb weniger Sekunden. Ein wilder Schrei aus tiefer Kehle. Ein einziger Sprung, vorbei am Security-Mann, zu dem dahinter stehenden Mädchen. Es ist zart, dunkelhäutig und hat blonde Rasta-Zöpfe. Wie ein schwarzes, wildes Tier packt er seine Beute am Hals, nimmt sie in den Schwitzkasten, holt mit der rechten Hand weit aus. Erst jetzt sehen alle, was er die ganze Zeit hinter seinem Rücken versteckt hatte: Ein riesiges Küchenmesser. Wie die Tatortbeamten später feststellen werden, misst die Klinge 20 Zentimeter und ist 4,5 Zentimeter breit.

Vernehmungszone einer Justizanstalt, im Januar

„Ich wollte Amna nicht töten. Die weiße Schwester hat mich verhext. Sie ist es, die ich töten wollte. Ich liebe Amna. Ich will sie um Verzeihung bitten, wo ist sie jetzt?“

Es ist kaum möglich, Zugang zu ihm zu finden. Er ist immer noch unter Sonderbewachung in einer speziell gesicherten, mit Kameras ausgestatteten Zelle. Die Vorführung findet unter verstärkten Sicherheitsvorkehrungen statt.

Er weiß nicht mehr, wie er nach Wien gekommen ist: „Irgendwie.“ Er habe sich hauptsächlich am Hauptbahnhof aufgehalten. Eigentlich hätte er einen Job suchen wollen, und eine „gute Frau“ kennenlernen. Doch man habe ihn dort am Bahnhof nur beschimpft, als „schwarz“ und „schwul“. Er habe seine Eltern um Geld gebeten, doch die hätten ihm nur gesagt, dass sie ihn „gefickt“ hätten. Daran könne er sich noch ganz genau erinnern.

„Wieso wollten Sie Ihre weiße Schwester töten?“ frage ich ihn. „Weil sie zu ihm, dem Teufel gehört. Und weil sie mich ausgelacht hat.“ Das habe ihn so wütend gemacht, dass er kaum mehr atmen habe können. An den genauen Tatablauf könne er sich nicht mehr erinnern. Er beharrt darauf, dass er „die andere Schwester“ töten habe wollen. Amna sei ihm nachgelaufen, er habe ihr noch zugerufen, sie möge weggehen…

Wenige Tage später wird mein Mandant infolge eines akut psychotischen Zustandsbildes mit fehlender Krankheits- und Behandlungseinsicht in eine forensische Justizanstalt überstellt. Infolge seines ablehnenden Verhaltens erfolgt eine Zwangsbehandlung durch neuroleptische Depotmedikation.

***

Auszug aus dem Gutachten der Universität für Gerichtsmedizin Wien: „(…) Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Leichenöffnung ist die 25-jährige Amna E. infolge von neun Stichen, welche unter anderem zu einer Eröffnung des Herzens sowie mehrfachen, stichbedingten Verletzungen des rechten Lungenflügels und der Leber geführt haben, an innerem Verbluten eines gewaltsamen Todes gestorben.“

Schwurgerichtssaal, um neun Uhr morgens

Der aufsehenerregende Fall liegt schon mehrere Monate zurück. Heute, am Tag der Hauptverhandlung in der Strafsache Zahir E., sorgt er wieder für großes mediales Interesse. „Ist es eine Mordverhandlung?“ fragt mich eine Journalistin. „Ja, es geht um Mord. Doch ich gehe davon aus, dass mein Mandant in eine Anstalt eingewiesen werden wird“, erkläre ich ihr.

Währenddessen postieren sich die Kameramänner vor dem Gang, über den die Angeklagten regelmäßig von der Justizwache aus der Justizanstalt zu den Sälen eskortiert werden. Die graue Metalltüre öffnet sich mit ein paar Minuten Verspätung. Der in Handschellen gefesselte Mann zwischen den Beamten ist wohl hundert Kilo schwer. Es ist eine Folge der stimmungsstabilisierenden und neuroleptischen Dauerbehandlung. Er trägt einen grauen Schlabberpulli und eine graue Hose. Sein Blick wirkt starr, die Mimik verrät keine Gefühle.

Als er sich vor den Richtertisch gesetzt hat, begrüße ich ihn kurz und frage ihn, ob er nervös sei. Er murmelt etwas in Richtung „Schon in Ordnung…“

Der Staatsanwalt plädiert auf Mord. „Wer so zusticht, kann nur den Tod des Opfers beabsichtigt haben!“

Den entscheidenden Beitrag in diesem Verfahren liefert die psychiatrische Sachverständige.

Aus dem gerichtspsychiatrischen Gutachten1:

„Der Beschuldigte leidet an einer paranoiden Schizophrenie mit der Entwicklung von Verfolgungsideen, Größenideen und religiösen Wahnideen in den Wochen vor der verfahrensgegenständlichen Tat. In den Tagen vor dem Tatgeschehen ist es zu einer Verdichtung der Wahnsymptomatik bis zum Auftreten von akustischen Halluzinationen und einem zunehmenden Verlust des Realitätsbezuges gekommen. Aus psychiatrischer Sicht ist die verfahrensgegenständliche Tat als psychotische Entladung zu interpretieren. Der Beschuldigte war krankheitsbedingt nicht in der Lage, das Unrecht seiner Taten einzusehen und einsichtsgemäß zu handeln.“

***

Der Fall erscheint eindeutig, die Beratung der Geschworenen dauert nicht einmal eine Stunde. Sie entscheiden einstimmig, dass Zahir E. aufgrund seiner psychischen Erkrankung keinen Mord zu verantworten hat. Stattdessen wird er in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dort wird er weiterhin psychiatrisch behandelt werden. Ob und wann er entlassen wird, hängt von den in zweijährigen Abständen eingeholten psychiatrischen Gutachten ab.

***

Ich war in meiner beruflichen Laufbahn schon mit unzähligen Mordfällen konfrontiert und habe gelernt, damit umzugehen. Ich kann mich abgrenzen, die erschütternden Bilder begleiten mich nicht bis in den Feierabend hinein. Seltsamerweise sind es aber die kleinen, scheinbar nebensächlichen Details, die mich manchmal berühren. Als ich beim Durchblättern des Gerichtsaktes im Fall Zahir E. auf die Bilder der toten Amna gestoßen bin, fiel mir ein Tattoo an ihrem Oberschenkel auf. „Be the rainbow in someone‘s cloud“ stand dort in geschwungener Schrift. Der Geist ihres Bruders hatte sich in dunklen Wolken verirrt, Amna wollte der Regenbogen am Horizont sein. Sie hat ihre Liebe mit dem Leben bezahlt.

1 erstellt von DDr. Gabriele Wörgötter

Die alte Villa stand schräg gegenüber unserem Haus. Die Wände waren von Efeu umrankt, die hohen, taubenblau gestrichenen Fensterläden stets verschlossenen. Die Schatten der dichten Bäume ließen das Gemäuer noch düsterer erscheinen. Auf mich übte es eine eigenartige Faszination aus. Ich war acht und lebte mit meiner Familie in Le Vésinet, einem für seine großzügigen Parkanlagen und Teiche berühmten Vorort von Paris. An diesem Tag stand ich vor der alten Villa und lauschte dem herzzerreißenden Weinen einer Frau, das aus einem offenen Fenster des oberen Stockwerks zu dringen schien. Zwiespältige Gefühle von Neugier, Angstlust und Mitleid befielen mein kindliches Gemüt: Welches Schicksal mag der in diesem Gemäuer eingeschlossene Mensch wohl erlitten haben? Meine Mutter hatte mir erzählt, dass sich darin ein Krankenhaus befände. Erst später habe ich erfahren, dass es sich um eine private Nervenheilanstalt handelte.

Ich wohne längst in einer anderen Stadt, doch die Villenviertel mit ihren dichten Hecken und Parkanlagen lösen bei mir bisweilen immer noch ein Gefühl von Melancholie aus. Hinter den hohen Mauern scheinen psychische Erkrankungen vor neugierigen Blicken verborgen zu bleiben. Umso gewaltiger ist die Wucht, mit der sie plötzlich herausbrechen.

RÄCHER

Eine Bar hoch über der Wiener City

Der Blick aus der getönten Glasfront ist spektakulär. Riesige, zackenförmige Muster aus abertausenden verschiedenfärbigen Dachziegeln. Kunstvoll ziselierte, himmelwärts strebende Türmchen. Die Bar befindet sich in der obersten Etage des modernen Glaspalastes im Herzen der Wiener City. Ich liebe nicht nur den Ausblick auf das Dach des Wiener Stephansdoms, sondern auch das Ambiente aus gedimmten Licht und unaufdringlicher Lounge-Musik.

Die Frau, die mir gegenübersitzt, hat ein rundes, hübsches Gesicht. Der rote Lippenstift betont den hellen Teint. Ihre dunkelbraun glänzenden Augen erinnern mich an kleine Kirschen, sie verleihen ihrem Blick etwas Liebliches, ja Fröhliches. Und doch wirken sie unendlich traurig an diesem späten Nachmittag. „Er hat mich auf Händen getragen…“ Ihre Stimme klingt leise, fast flehentlich. Gedankenverloren rührt sie im Milchschaum ihres Cappuccinos. Plötzlich hebt sie ihren Kopf und sieht mich eindringlich an: „Aber ich hadere mit mir selbst. Wieso ist mir nichts aufgefallen? Hätte ich es verhindern können?“ Sie beginnt zu weinen. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter und erkläre ihr: „Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es kommt oft vor, dass die Umwelt nichts bemerkt, wenn ein Mensch psychisch krank wird. Weil man die Symptome falsch deutet. Weil man dem Menschen nahesteht und man es nicht wahrhaben will. Weil man keine Erfahrung damit hat.“

Wenige Wochen zuvor, an einem Abend im November

Es ist später als sonst. Harald weiß, dass sie heute nach der Arbeit mit einer Freundin verabredet war. Jetzt, um Punkt 22 Uhr, wartet er wie immer am Parkplatz bei der Wiener Staatsoper auf sie, um sie nach Hause zu fahren.

Mehr als zwei Jahrzehnte sind sie inzwischen verheiratet. Harald erinnert sich heute noch an den Augenblick, als er ihr in diesem Kaffeehaus das erste Mal begegnet war. Sie servierte dort und war zu seinem Tisch gekommen, um die Bestellung aufzunehmen. Er blickte in dunkelbraune, fröhliche Augen. Irgendetwas ermutigte ihn zu einer lustigen Bemerkung, was sonst gar nicht seine Art war. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Seitdem weiß Harald, dass es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gibt.

Später erfuhr er ihre Lebensgeschichte, die ihn berührte und ihm zugleich Respekt einflößte. Silvia war mit fünf Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen am Land aufgewachsen. Schon mit vierzehn war sie in die Großstadt aufgebrochen, um sich alleine durchzuschlagen.

Nach einem halben Jahr machte er ihr einen Heiratsantrag. Sie musste weinen, vor Glück und vor Rührung.

***

Es ist eine parkähnliche Wohnhausanlage am Rande des Wienerwalds. Vor rund einem Jahrzehnt sind sie aus der lärmenden Stadt hier hinausgezogen. Seitdem findet Harald sich jeden Abend mit seinem Auto beim verabredeten Ort bei der Oper ein, um Silvia von ihrer Arbeitsstelle in der City abzuholen. Zuhause steht das Abendessen schon am Tisch, denn beim Stadtgartenamt ist schon um vier Uhr nachmittags Schluss. Seit drei Monaten hat Harald noch mehr Zeit: Die Gemeinde hat ihm seine Stelle als Gärtner gekündigt.

***

Er erblickt sie schon von Weitem. Elegant wirkt sie, in ihrem hellen Trench-Coat und den hohen schwarzen Stiefeln. Sie hatte immer schon einen guten Geschmack, was ihr bei ihrer Arbeit als Modeverkäuferin zugutekommt. „Hallo Schatz“, begrüßt sie ihn mit einem flüchtigen Kuss, nachdem sie sich auf den Beifahrersitz gesetzt hat.

Silvia weiß, wie sehr die Kündigung Harald zu schaffen macht. Er ist jetzt Mitte vierzig und war immer schon ein in sich gekehrter Mensch gewesen. Einer, der keine Freunde hat. Ein Eigenbrötler, der abends nicht gern ausgeht, sondern sich lieber mit Videospielen beschäftigt oder im Netz surft. Seit der Kündigung hat er sich noch mehr in sich verkrochen. Er sitzt oft stundenlang teilnahmslos am Sofa, und wenn sie ihn dann anspricht, scheint er sie gar nicht zu hören. Als ob er sich in diesen Momenten in einer anderen Realität befinden würde. Vor ein paar Nächten war er unvermutet aufgestanden und hatte sein Ohr an die Wand gelegt: „Hörst du das?“ hat er sie gefragt, um dann zu bemerken: „In der Wohnung nebenan weint ein Kind. Es tut mir in der Seele weh…“

Silvia hört nichts und schweigt. Sie will ihrem Harald nicht widersprechen, es könnte ihn verletzen. Sie weiß, wie sensibel er in manchen Momenten sein kann.

***

Die Farben des Fotos sind längst verblasst. Es zeigt ein auffallend hübsches, schüchtern lächelndes Mädchen mit langen dunklen Haaren. „Sabrina“ ist in goldenen, geschwungenen Lettern am schneeweißen Grabstein eingraviert, darunter Geburts- und Sterbedatum. Sie wurde nur sieben Jahre alt.

Sie wohnten damals noch mitten in der Stadt an einer verkehrsreichen Straße. Sie war am Weg zur Schule. Ein unachtsamer Moment, der Autofahrer reagierte zu spät.

Es war ihre einzige Tochter, und sie blieb es. Auch jetzt, fast zwanzig Jahre später, besuchen sie ihr Grab so oft es geht. Es ist seltsam: Wenn Harald länger nicht dort war, taucht Sabrina in seinen Träumen auf. Dann weiß er, er muss wieder zum Friedhof, um ihr nahe zu sein.

***

„Bist du müde?“ fragt er sie, als sie am Wiener Ring in Richtung ihres Heimatbezirkes fahren. „Überhaupt nicht! Ich habe Kaffee getrunken“, antwortet sie. Er schlägt vor, ein bisschen durch die Gegend zu fahren. Silvia ist erfreut. Morgen hat sie frei. Sie liebt es, mit dem Auto in der Landschaft zu kurven. Einfach so, ohne Ziel und ohne Plan. Das hatten sie früher oft gemacht, zuletzt aber immer seltener. Aus finanziellen Gründen, denn seit Haralds Kündigung müssen sie sparen, auch beim Benzin.

Sie fahren über die Außenbezirke an den Stadtrand, wo Wien mit seinen Weinreben und Winzerhäuschen schon ländlich wirkt, hinauf zur alten Höhenstrasse, die den Wienerwald durchzieht. Silvia erzählt allerlei Belangloses aus ihrem Arbeitsalltag. Von einer arroganten Kundin und davon, dass schon wieder eine Verkäuferin wegen Schwangerschaft ausfällt. Harald wirkt in sich versunken und schweigt. Als sie seine Hand streichelt, reagiert er nicht, sondern blickt starr auf die von den Autoscheinwerfern beleuchtete Straße vor ihm.

Zwei Stunden vergehen, ohne dass zwischen ihnen ein Wort gewechselt wird.

Aus einem Amtsvermerk des Landeskriminalamts Wien

Um 00:25 Uhr wurde die Hausbesorgerin der Wohnhausanlage, Christina R. (…) aufgesucht. R. gab zum Sachverhalt befragt an, dass sie gegen 21:15 einen lauten Knall von draußen hören konnte. Sie öffnete daraufhin ihr Fenster, welches in Richtung des Parks der Wohnhausanlage zeigt und sah jemanden in Richtung Stiege 3 laufen. Erkennen konnte sie diese Person jedoch nicht. Sie sah jedoch auch den Harald S., wie dieser ganz gemütlich in Richtung der Parkplätze auf der Gasse ging. Sie hat ihn gegrüßt und nickte ihr der S. noch zu. Er war bekleidet mit einer schwarzen Lederjacke und hatte seine Brille auf. Eine Waffe hat sie nicht gesehen.

Eine Nacht im November

Gegen Mitternacht biegen sie in die Gasse ein, die sie zu ihrer Wohnung führt. Silvia erschrickt, als sie die Blaulichter der unzähligen Einsatzfahrzeuge von Polizei und Rettung sieht. „Da muss etwas passiert sein!“ ruft sie aus. In diesem Augenblick erkennen sie vor ihnen eine Polizeiabsperrung. Eine Zufahrt zur Wohnung ist nicht möglich. Harald bleibt gelassen. Er schlägt vor, einen Umweg zu machen, um über die Höhenstrasse von der anderen Seite zuzufahren.

Jetzt fahren sie wieder durch den Wald. Sie war vorhin schon müde gewesen, aber das Szenario hat sie beunruhigt. Sie macht sich Gedanken, warum Harald so schweigsam ist. Das viele Blaulicht, die Absperrung… Er müsste sich doch auch fragen, was da passiert sei?

Plötzlich spricht er es aus. Ohne Anlass, mitten in das nächtliche Schweigen hinein: „Ich habe einen Menschen getötet.“