Liebe, Mord & Zweifel - Astrid Wagner - E-Book

Liebe, Mord & Zweifel E-Book

Astrid Wagner

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Beschreibung

Niemand stand Jack Unterweger so nahe wie Astrid Wagner, die letzte Frau in seinem Leben und heute erfolgreiche Strafverteidigerin. Sie sagt: "Es war anders, als es all die Bücher und Dokumentation darstellen. Es gibt viele Fragen, Zweifel, Verschwundenes." Astrid Wagner hat Jack Unterweger geliebt. Sie hat für ihn gekämpft und dabei die Schattenseiten der Justiz kennengelernt. Dies ist ihre Geschichte. Jack Unterweger ließ Astrid Wagner tief in sein Inneres blicken, überließ ihr seine Tagebücher, Briefe und literarischen Werke. Sie suchte nach der Wahrheit, sprach mit Frauen, die ihn geliebt, verehrt oder gehasst hatten. In diesem Buch sät sie Zweifel, stellt Fragen und entlarvt ein System, in dem Medien und der Justizapparat auf unselige Weise zusammengewirkt haben. Wir erfahren die Todesumstände des Jack Unterweger, und was danach geschah. Wie es mit dem Leben von Astrid Wagner weiterging, bis sie zu einer der erfolgreichsten Strafverteidiger des Landes wurde. Und warum ein Buch von Jack Unterweger verboten wurde. Man spürt es, an der lebendigen Erzählweise, die Bilder vor dem geistigen Auge entstehen lassen, die einen förmlich in die dramatischen Ereignisse jener Zeit zurück katapultieren: Astrid Wagner war ganz nah dran an diesem von überraschenden Wendungen, von extremen Gefühlen vom tiefsten Seelenschmerz bis hin zur höchsten Glückseligkeit geprägten Leben. In der facettenreichen, zugleich auch widersprüchlichen und tiefgründigen Persönlichkeit des Jack Unterweger scheint sich jene von Astrid Wagner widerzuspiegeln. Wie sehr hat Jack Unterweger sie geprägt? Antworten gibt dieses Buch.

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Vertraute. Geliebte. Sogar Verlobte nannten sie mich. Ich kann mich mit keinem dieser Attribute identifizieren. Vertraute klingt mir zu verschwörerisch. Eine Geliebte beinhaltet eine körperlich-sexuelle Komponente, die im Gefängnis aber nicht ausgelebt werden konnte. Und verlobt waren wir nie. Ich war einfach die letzte Frau im Leben des Mannes, der als Serienkiller und Gefängnispoet berühmt-berüchtigt wurde. Hier ist meine Geschichte. Und jene des Jack Unterweger…

Dies ist eine völlig neu bearbeitete, vertiefte und aufgrund neuer Entwicklungen mit bis dato unveröffentlichten Informationen erweiterte Neuauflage von „Verblendet“, das gerichtlich verboten wurde – die näheren Umstände werden hier erklärt. Dieses Sprachwerk stammt aus meiner eigenen Feder und steht somit in meinem ausschließlichen geistigen Eigentum1. Erinnerungen an Erlebtes, Gesagtes und Geschriebenes wurden in meine eigenen Worte gegossen, mitunter habe ich diese im Sinne künstlerischer Freiheit zur textlichen Auflockerung als Zitate oder Briefe gestaltet. Namen von beteiligten Personen wurden abgekürzt oder verändert; ausgenommen sind jene Personen, die ihr Einverständnis zur namentlichen Nennung erteilt haben oder im Zusammenhang mit dem Fall Unterweger an die Öffentlichkeit getreten sind.

Der Titel dieses Werkes drückt die Widersprüchlichkeit aus, die meine Begegnung mit Jack Unterweger geprägt hat: Ich habe ihn geliebt. Er war ein Mörder. Und doch bleiben auch Zweifel …

Astrid Wagner, im Frühjahr 2024

1 Ausgenommen Zitate aus ausdrücklich als solche gekennzeichneten Fremdtexten, welche bereits rechtmäßig veröffentlicht waren.

Inhaltsverzeichnis

1. Teil: Verblendet

Trugbilder

Strange Days

Fegefeuer

Entlassung und Abschluss

Weichenstellungen

Miami, Collins Avenue

„Jack droht die Todesstrafe!“

Ein Brief

Glas und Fliegengitter

Bia

Laura

Eifersucht

Eine Mission …

… und eine Spurensuche

Süßer Jack

Eingeweiht

Eva

Nina

Benedicta

Ruth

„Fanpost“

Nora

Margret

Knastbräute

„Die Suppe ist zu dünn“

Elf Mal Mord!

„Befangen“

Das Haar

Augensprache

Eine Mutter

Abschiede

„Versteck dich nicht!“

Single-Dasein mit Herzpartner

Platzkarten für den „Jahrhundertprozess“

Fast wie ein Testament…

Stahlrute

Erotik des Bösen

Alibi aus Liebe?

„Unpackbar“

„Ich bin jung, ich will leben!“

Jimmy

Geächtet

Eine Rachegöttin?

Landluft

„So verliebt und so blöd“

Manuela

„Er ist nicht Jesus Christus!“

In Verruf geraten

Sandra

Kaninchen und Schlange

Miss Boa

Hohe Sphären

„Ich bin verurteilt“

„Ich bin eine Kriegsbraut“

„Nur der Hund kennt die Wahrheit“

Sadistischer Narziss

Zwei Briefe

Wie ein Blitz…

Nächtliches Poltern

Letzte Freiheit

„Sein bester Mord“

Heilung

Verschwundenes und Gerüchte

„… und die Kette bricht“

„Ein Mensch mit ungeahnten Facetten“

2. Teil: Endlich frei?

„Kannibalenzeit“

Zeitreise

Vicky

Anna

Verena

„Ich denke fast jeden Tag daran“ (Interview mit Reinhard Haller, Herbst 2013)

3. Teil: Danke, Jack

Faszinierend, abstoßend …

„Ich habe wie eine Ratte gelebt“

Wie ticken Mörder?

Verboten!

„KE“

Claudia

Seelen-Experten

Zeitloch

Helene

Ein Überraschungszeuge

Simone

Bei Gericht und auf hoher See

Zeitenwende

Danke, Jack

DAS LEBEN DES JACK UNTERWEGER - ZEITTAFEL

1. Teil: Verblendet

Trugbilder

Ein Lufthauch, kaum wahrnehmbar, eher eine Ahnung. Ist da jemand hinter ihr? Eine flüchtige Berührung. Eine Hand, die zärtlich, fast zögerlich ihren schmalen Hals erfasst. Rasch dreht sie sich um und erblickt sein gut geschnittenes, maskulines Gesicht: Jack? Du bist frei? Er sieht sie ernst an. Da ist es wieder, dieses geheime Verlangen. Sie verspürt es stärker denn je. Endlich brauchen sie sich nicht mehr zu verstellen. Seine kräftigen, schön geformten Hände streichen ihr langes Haar zurück, erfassen ihr Gesicht. Seine schmalen Lippen berühren die ihren, sie kann jetzt seinen männlichherben Duft riechen, saugt ihn ein, schließt die Augen… Seine Zunge drängt in ihren halb geöffneten Mund, sie ist heiß und fordernd. Immer tiefer bohrt sie sich in ihre Kehle, die züngelnden Bewegungen werden heftiger, fordernder, schärfer…

Stechender Schmerz! Sie schreit auf. Ein Messer! Seine Zunge hat sich in ein Messer verwandelt, das ihre Kehle durchbohrt hat!

Sie wacht schlagartig auf. Entschwunden sind die bizarren Trugbilder, doch der Schmerz in der Kehle, er ist noch spürbar. Ihr verschwitztes Nachthemd klebt an ihrem Leib.

Wenige Wochen später wird bei ihr ein Knoten an der Schilddrüse entdeckt, der dringend operiert werden muss. Sie kann Jack nicht mehr ins Gefängnis schreiben, nicht einmal mehr für einen Abschiedsbrief findet sie die Kraft.

Sie ist froh, dass es Astrid gibt. Eine starke, mutige junge Juristin, die Jack zur Seite stehen wird, in diesem wohl schwersten Kampf seines Lebens.

Strange Days2

Ich war immer „die Neue“. Diejenige, die auf eine schon festgefügte Gruppe trifft und sich dort erst mal behaupten muss.

Mein Vater stammte aus einer steirischen Unternehmerfamilie, aus der er gegen den Willen der Eltern ausgebrochen war, um nach dem Studium des Welthandels – heute läuft es unter Betriebswirtschaft – die „weite Welt“ zu erobern. Ein ernsthafter junger Mann, und doch auch überaus geschäftstüchtig. Ein Post-Graduate-Studium in den USA nützte er, um bei einem großen US-Chemiekonzern anzuheuern. Er kehrte mit einem lukrativen Vertrag als Generalvertreter für Europa zurück. Und so kam es, dass wir – meine Eltern, mein kleiner Bruder, meine kleine Schwester und ich – insgesamt neun Mal in meiner Kindheit an andere Orte gezogen sind. Es hat mir nicht geschadet, im Gegenteil bin ich dankbar dafür, dass ich weltoffen aufwachsen durfte. Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich ihn gedanklich vor mir. Seine blaugrauen Augen scheinen mich skeptisch durch die randlose Brille anzublicken. Mein Vater hat mich wohl mehr geprägt als ich es lange Zeit wahrhaben wollte. Ein wenig unnahbar war er, und doch auch mit feinem, intelligentem Humor ausgestattet. Er konnte durchaus zynisch werden, hat es uns Kindern nie leichtgemacht, hat einen bisweilen regelrecht heruntergemacht. So etwas wie Respekt vor der Obrigkeit war ihm geradezu wesensfremd, vor einem „einfachen“ Bauern hatte er mehr Ehrfurcht als vor einem Hofrat. Nein, mein patriarchalischer Vater hat mir nicht geschadet, im Gegenteil. Er hat mich innerlich stark gemacht, meinen Widerspruchsgeist erweckt.

Die Nestwärme jedoch, die jedes Kind für eine stabile Entwicklung braucht, kam von meiner Mutter. Als typisches Kind ihrer Zeit hatte sie ihre eigenen Bedürfnisse vor jenen der Familie zurückgesteckt, hielt als Hausfrau meinem karrierebewussten Vater den Rücken frei. Sie war eine natürlich schöne, schlanke Frau mit leicht gebräuntem Teint und strahlenden, braunen Augen. Trotz ihrer Schönheit fehlte ihr jegliche Eitelkeit, im Gegenteil war sie von ungewöhnlich herzlichem Wesen. Heute weiß ich, dass ich das, was ich im Leben erreicht habe, ihrer bedingungslosen Liebe verdanke.

Unsere Eltern boten uns Kindern ein gutbürgerliches Umfeld, und doch mussten sie haushalten. Auch wenn mein Vater recht gut verdiente, drei Kinder kosteten Geld, und geerbt hatten meine Eltern nichts. In der Familie meines Vaters hatte damals alles der älteste Sohn bekommen: Ein Unternehmen müsse in einer Hand bleiben, sonst werde es ruiniert. So sei es einem Vorfahren ergangen, der seine Firma durch Verschwendungssucht in den Bankrott getrieben habe. Offenbar ein Familientrauma, vielleicht rührt von daher eine gewisse Existenzangst, die mir lange Zeit zu schaffen machte.

Durch die oftmaligen Ortswechsel meiner Familie habe ich fast jede Schulklasse an einer anderen Schule verbracht, drei Jahre davon in Frankreich. Eine Zeit, an die ich gerne zurückdenke, denn ich habe mich dort sehr wohl gefühlt. Vielleicht lag es daran, dass ich in den Augen meiner französischen Mitschüler nicht so sehr die Außenseiterin, sondern eine Exotin aus einem unbekannten Land namens „autriche“ war. Ein Land, das in den Ohren der kleinen Franzosen fast so klang wie „autruche“ – der Straußvogel, was die Exotik nur noch unterstrich.

Meine Eltern waren durchaus bemüht, in ihren Nachwuchs zu investieren. Vielleicht waren sie zu wenig konsequent, oder ich war wirklich ein so trotziges Kind, wie später behauptet wurde. Jedenfalls habe ich weder meine verordnete Zahnregulierung getragen noch den Klavierunterricht ernst genommen, sodass diese Aufwendungen als „frustriert“ abgeschrieben werden mussten. Ich besuchte zwar brav den Unterricht, war aber zumeist geistig abwesend. „Astrid träumt während der Stunde!“ und „Astrid serait-elle timide?“3: Zwei Rückmeldungen von Lehrern in Mitteilungsheften verschiedener Schulen, die meine damalige Einstellung wohl gut dokumentieren.

Ein Gefühl, das ich schon sehr früh empfunden habe, war Mitleid. Etwa mit den Straßenkatzen, die unseren Wohnort bei Paris damals bevölkerten. Immer wieder gelang es mir, eine von ihnen zu „retten“ und meine leidgeprüfte Mutter davon zu überzeugen, sie bei uns aufzunehmen. Auch mein Gerechtigkeitssinn war schon früh ausgeprägt: Als mein aus einer kinderreichen Familie stammender Sitznachbar wegen seiner zerschlissenen Schultasche gehänselt wurde, schwang ich mich zu dessen Verteidigerin auf. Und es tut mir heute noch weh, wenn ich an den Buben mit Down-Syndrom denke, den die anderen vom Spiel ausgeschlossen hatten. Was mag wohl aus ihm geworden sein?

Auch als wir in Frankreich lebten, verbrachten wir die Sommerferien meiner Kindheit alljährlich in der steirischen Heimat meines Vaters. Dort lebte sein Bruder mit seiner Familie in einem alten Herrenhaus neben einer Mühle. Unterhalb der Wehranlage schlängelte sich der Fluss, die Raab, entlang einer pittoresken Aulandschaft. Sie regte meine kindliche Fantasie dermaßen an, dass ich dort ein Land „gründete“. Ich nannte es „Tilsie“, erfand eine eigene Sprache und schrieb kleine Bücher über die Kultur und Geschichte der „Tilsianer“. Ach, wie sehr ich doch diese langen heißen Sommer in der noch weitgehend unberührten Natur liebte. Allein die Anreise gestaltete sich mühsam, es gab dorthin noch nicht mal eine Autobahn. Wir Kinder mussten stundenlang zusammengepfercht am Rücksitz ausharren. Ein Kapitel dieser Schreckensfahrten ist mir in Erinnerung geblieben: Als wir nach einer Ewigkeit endlich die österreichische Grenze erreichten, wurden wir von einem Gendarmen, wie man die Polizisten am Land damals noch nannte, aufgehalten: Fahrzeugkontrolle! Mein Vater muss sich ziemlich aufgeregt haben, denn plötzlich hieß es: Sie sind verhaftet! Jetzt trat meine Mutter in Aktion und rief empört: Und was ist mit den Kindern? Die kommen ins Heim, lautete die Antwort. Meine Mutter hätte den Polizisten fast geohrfeigt, doch zum Glück schritt jetzt der ältere und besonnenere der beiden Gendarmen ein und beruhigte die Situation. Geblieben ist jedenfalls meine tiefsitzende Abneigung gegen lange Autofahrten.

Ich war dreizehn, als wir in die Steiermark übersiedelten. Man hatte meinem Vater ein Angebot gemacht, das er nicht ausschlagen konnte: Den Direktionsposten des neu gegründeten Kurbades im oststeirischen Loipersdorf. Für meine Eltern war es die Rückkehr zu ihren Wurzeln, für mich ein Kulturschock: Mit einem Schlag verlor ich alle meine Freundinnen und musste schleunigst den örtlichen Dialekt erlernen, um nicht als hochnäsige Großstadt-Tusse zu gelten. Ich befand mich mitten in der Pubertät und eckte an, in der Schule wie auch daheim. Als ich meinem Vater eines Abends wutschnaubend von einer vermeintlichen Ungerechtigkeit einer Professorin berichtete, zeigte er sich zu meiner Enttäuschung keineswegs solidarisch mit mir. Stattdessen bekam ich die Ermahnung „Du musst Demut lernen!“ zu hören. Das saß!

Aber ich konnte mich nicht mehr einordnen und anpassen. Ich hatte mein Außenseitertum längst verinnerlicht: Ich verachtete die „seichte“ Disco-Bewegung, kleidete mich wie ein Hippiemädchen aus den Siebzigern, las politische Bücher aus linken Buchhandlungen, schwärmte von südamerikanischen Befreiungsbewegungen und sogar von der berüchtigten „Roten Armee Fraktion“, deren Anführer Andreas Baader eines meiner heimlichen Idole war. Meinen damaligen emotionalen Zustand kann man eigentlich ohne viel Worte mit einem Vergleich aus der Musikbranche auf den Punkt bringen: Während die anderen Mädels auf John Travolta abfuhren, schwärmte ich von Jim Morrison von den „Doors“. Der war unerreichbar fern – und seit Jahren tot.

***

Ich habe immer schon Gegensätzliches in mir vereint, und so galt meine Liebe neben dem Hard Rock auch dem französischen Chanson. Die Musik von Moustaki, Brel oder Macias, sie war für mich wie ein nostalgisches Echo meiner Kindheit in Frankreich. Auch nach meiner Rückkehr nach Österreich blieb das Band zu diesem Land lange erhalten. Dank Frédéric, der ein Jahr älter als ich war und aus Le Vésinet stammte, jenem hübschen Vorort von Paris, in dem wir einst gelebt hatten. Jeden Sommer verbrachte ich einen Monat bei ihm und seiner Familie. Im Gegenzug kam er dann während der Weihnachtsferien zu uns, um seine in der Schule erworbenen Deutschkenntnisse zu perfektionieren. Er lernte schnell, vor allem den österreichischen Dialekt – ob das im Sinne seiner Lehrer war? Freilich verlor er als gebürtiger Franzose niemals seinen charmanten Akzent, und seine Frage „Geht man in Österreich sonntags in die Kirsche?“ und das folgende Gelächter meiner Geschwister sind mir noch so in Erinnerung, als ob es gestern gewesen wäre. Frédérics Vater war Jude, umso ungewöhnlicher war seine Entscheidung, ausgerechnet Deutsch zu lernen und für die Musik von Richard Wagner und Reinhard Mey zu schwärmen. Dieser hochbegabte, an philosophischen Fragen und Politik interessierte junge Mann entschloss sich nach dem „bac“4, wie der Schulabschluss in Frankreich genannt wird, fürs Jus-Studium.

Ein Jahr später war es bei mir soweit, die Entscheidung stand an: Matura bestanden, was nun? Ich dachte an Frédéric. Auch wenn ich mir es damals nicht eingestehen wollte, so war er für mich wohl doch eine Art Vorbild gewesen. Natürlich sahen es auch meine Eltern gerne, wenn ich etwas „Handfestes“ lernen würde. Und so kam es, dass ich im Herbst das Fach Rechtswissenschaften an der Grazer Karl-Franzens-Universität inskribierte. Als ich dann aber bei der ersten Vorlesung die vielen Jus-Studenten erblickte, die mit ihren feinen Aktenköfferchen auf mich stockkonservativ wirkten, hätte ich fast schon wieder das Handtuch geworfen. Aber dann dachte ich an Frédéric, diesen „untypischen“ Jus-Studenten. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich durchgehalten habe und letztlich doch Juristin geworden bin. Eine untypische wohl, worüber ich aber gar nicht unglücklich bin.

Inzwischen hatte ich meinen ersten „richtigen“ Freund, mit dem ich auch zusammenleben wollte. Gerhard und ich bezogen eine winzige Einzimmerwohnung nahe der Uni. Zunächst heimlich, da mein Vater gegen eine „wilde Ehe“ gewesen war. Der Küchenschrank war alsbald prall gefüllt mit Konserven und Spaghetti, denn Gerhard war Außendienstmitarbeiter eines großen Lebensmittelkonzerns.

Damals war es noch möglich, das Studentenleben zu genießen: Es gab keine Studiengebühren, die Hörsäle waren zwar voll, aber längst nicht überfüllt, man erhielt jederzeit einen Platz in einem Seminar, und die Berufsaussichten der meisten Jungakademiker waren durchweg positiv. Ich ließ mich ein bisschen treiben, jobbte als Nachhilfelehrerin oder bei einer Zeitung, betätigte mich auch mal politisch bei den linken Studenten, las viel und gerne. Zum Beispiel den „Minusmann“, die wahre Geschichte eines Knackis, bis heute ein Klassiker. Das Vokabular der Gauner- und Knast-Sprache war neu und interessant, ich sog es geradezu in mich hinein.

Zu Sprachen hatte ich mich immer schon hingezogen gefühlt, und im zweiten Studienjahr inskribierte ich zusätzlich ein Dolmetscherstudium in den Sprachen Französisch und Italienisch. Abgeschlossen habe ich dieses Studium allerdings nie, weil mich Stenografie, damals noch ein Pflichtfach, nervte.

Es klingt kitschig, aber Gerhard und ich lebten bescheiden und glücklich. Unsere Sommerurlaube verbrachten wir am Meer im damaligen Jugoslawien, in den Wintermonaten gingen wir gerne ins „Rechbauer“-Kino nahe der Universität, wo anspruchsvolle Filme gezeigt wurden. Mein Vater hatte längst akzeptiert, dass ich Gerhard liebte, aber nicht heiraten wollte, weil ich das „spießig“ fand. Dahinter stand wohl eine tiefsitzende Urangst: Niemals wollte ich von jemandem abhängig sein.

2 Titel eines Albums der „Doors“, 1967

3 Ist Astrid schüchtern?

4 Abkürzung für „baccalauréat“

Fegefeuer

„Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“ war einer jener intellektuell anspruchsvollen Filme, die im Grazer „Rechbauer“-Kino präsentiert wurden. Der steirische Regisseur Willi Hengstler hatte die gleichnamige Autobiografie eines jungen Strafgefangenen verfilmt. Jack Unterweger hieß er. Einer, der seine Mutter nie kennengelernt hatte. Sie hatte das Baby alleine bei ihrem Vater in einer Keusche in einem entlegenen Tal in Kärnten zurückgelassen. Der Großvater war als brutal und rücksichtlos gefürchtet, drosch auf das „Hurenbankert“ genauso ein wie auf seine wechselnden Frauenbekanntschaften. Das Kind war sechs, als die Fürsorge eingriff. Jack landete bei Pflegeeltern, später im Heim. Mit siebzehn wurde er aus der berüchtigten „Erziehungsanstalt“ Kaiserebersdorf bei Wien als „unerziehbar“ entlassen. Sein unstetes Leben führte ihn ins deutsche Nachbarland bis hinauf nach Hamburg, wo er sich als Zuhälter und Stricher verdingte. Knastaufenthalte, Gewalt und Drogen – die Spirale im Leben dieses jungen Mannes drehte sich immer schneller nach unten, bis hin zum entsetzlichen Tiefpunkt: Es war eine eiskalte Dezembernacht des Jahres 1974. In einem Waldstück bei Herborn (Deutschland) stirbt die achtzehnjährige Margret S. qualvoll unter den brutalen Hieben einer Stahlrute, die von Jack Unterwegers Hand geführt wird.

Seitdem verbüßte er eine lebenslängliche Haftstrafe in der Justizanstalt Stein an der Donau.

***

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab man sich betont gesellschaftskritisch. Kriminalität betrachtete man als Phänomen gesellschaftlicher Unterdrückung. Kriminelle Menschen wären eigentlich Opfer, nämlich trister sozialer Verhältnisse und schlechter Kindheiten. Christian Broda, Justizminister von 1970 bis 1983, entwarf gar die Vision einer gefängnislosen Gesellschaft.

„Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“ entsprach genau diesem Zeitgeist. Der Film avancierte zu einem Kultfilm der intellektuellen Linken. Der liberale Anstaltsleiter der Justizanstalt Stein, Hofrat Karl Schreiner, genehmigte sogar eine Ausführung des Strafgefangenen Jack Unterweger zu den Österreichischen Filmtagen in Wels. Dort durfte er sich am Podium der Diskussion stellen, während sich die Justizwachebeamten diskret im Hintergrund hielten.

Nachdem ich den Film gesehen hatte, besorgte ich mir Jack Unterwegers autobiografische Romane „Fegefeuer“ und „Kerker“.

Jack Unterweger, zirka 1980, als Strafgefangener in der Justizanstalt Stein (Foto privat)

Entlassung und Abschluss

„Wenn Kinder Liebe leben“ lautete der Titel des Büchleins, das von einer gewissen „Julia Weger“ verfasst wurde. Ein Kinderbuch mit kleinen Geschichten aus dem Alltag, die durch die Schlichtheit ihrer Sprache berühren. „Julia Weger“ schrieb auch Gedichte und Kurzgeschichten, bis Jack Unterweger sein weibliches Pseudonym ablegte. Die Beiträge für die Gute-Nacht-Sendung des österreichischen Fernsehens, dem „Traummännlein“, schrieb er schon unter seinem echten Namen. Daneben gab er eine eigene Gefängniszeitung heraus, die „Wortbrücke“, in der er sich auch mit namhaften Autoren austauschte. Spätestens die Verfilmung seiner Autobiografie machte ihn im gesamten deutschen Sprachraum berühmt.

Und doch blieb er ein „Lebenslänglicher“. Eine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung kommt nach dem österreichischen Strafrecht frühestens nach Verbüßung von fünfzehn Jahren Haft in Betracht. Doch der Schnitt ist weitaus länger, zwanzig Jahre und mehr. Bei Jack ist alles anders. Künstler, Intellektuelle und Kulturschaffende setzen sich dafür ein, den „resozialisierten Musterhäftling“ vorzeitig aus der Haft zu entlassen. Einige von ihnen starten gar eine Petition.

Aus dem Beschluss des Kreisgerichts Krems/Donau vom 27. April 1990

Der Strafgefangene begehrte seine bedingte Entlassung nach der Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen gemäß § 46 Abs. 5 StGB unter dem Vorbringen, daß durch seine literarische Tätigkeit eine solche Veränderung in seiner Persönlichkeit eingetreten sei, daß die Annahme der Rückfallfreiheit gerechtfertigt sei (…).

Die besonderen Umstände, unter denen der Antragsteller in der Öffentlichkeit durch seine literarischen Tätigkeiten bekannt wurde (…) lassen erwarten, daß auf die bedingte Entlassung des Antragstellers auch in der Öffentlichkeit als Ausnahme reagiert wird, und zwar wegen der besonderen Fähigkeiten des Antragstellers, nicht nur seinen Bildungsstand zu erhöhen und literarische Texte zu verfassen, sondern vor allem Kritik von Fachleuten nicht nur zu ertragen, sondern auch als Hilfe und Unterstützung bei seinen Bemühungen anzuwenden, mit seinen, des Antragstellers Anlagen, die eine wesentliche Rolle bei der Anlaßtat gespielt haben, so umgehen zu lernen, daß jener hohe Grad an Energie und Durchsetzungsvermögen (seinerzeit Elemente der Anlaßtaten) sich jetzt in Bahnen bewegt, welche in ein redliches Leben führen. (…)

Berücksichtigt man zuletzt noch das wohl verstandene Verständnis der - nicht dem Milieu angehörenden - rechtstreuen Bevölkerung für die gesetzliche Einrichtung der bedingten Entlassung aus lebenslanger Freiheitsstrafe, dann kommt hier wiederum die Tatsache und der Umstand zum Tragen, daß der Strafgefangene bewiesen hat, daß es möglich ist, auch bei sehr schlechten Ausgangsbedingungen durch die Pflege der oben als Gründe für den Milieuwechsel angegebenen Charaktereigenschaften das kriminogene Milieu zu verlassen. (…)

Dem Antrag war demnach Folge zu geben.

Im Mai 1990 war es soweit: Jack Unterweger wurde nach nur fünfzehn Jahren Haft vorzeitig entlassen.

***

Im selben Monat legte ich meine letzte Prüfung ab, im Strafrecht. Dieses Fach hatte ich mir für den Schluss aufgehoben, und ich fand Gefallen an der logisch aufgebauten Systematik, die diesem Rechtsgebiet eigen ist.

Meine Mutter war glücklich und stolz über den Studienabschluss ihrer Astrid. Voller Freude fuhren wir nach Wien, wo sie mir ein elegantes schwarzes Kostüm zur Sponsionsfeier aussuchte. Mein Vater hingegen hatte sich immer schon darin schwergetan, Gefühle zu zeigen, aber auch er war wohl stolz, zumindest aber erleichtert über meinen Abschluss. Immerhin hatte ich mir sieben Jahre Zeit dafür gelassen.

Wenige Monate später erhielt ich einen Brief aus Frankreich. Die Absender waren die Eltern meines Freundes Frédéric. Als ich ihn öffnete, sah ich in Schönschrift gedruckte Buchstaben und glaubte im ersten Augenblick an die feierliche Bekanntgabe, dass Frédéric seine Professur erlangt hätte. Doch es war ein Parte-Zettel: Frédéric war im Alter von 28 Jahren an Aids gestorben. Wie mir unser gemeinsamer Lehrer später erzählte, war er durch eine Bluttransfusion angesteckt worden.

Es folgte das Gerichtsjahr. Meine erste Gerichtszuteilung war am Landesgericht für Strafsachen Graz, und ich hatte Glück: Man hatte mich dem Richter Helmuth Bourcard zugeteilt. Bourcard war ein Strafrichter, der seinem Namen alle Ehre machte: Penible Aktenkenntnis, faire Verhandlungsführung und Verständnis für junge, unbedarfte Juristen wie mich. Ich blieb zwei Monate dort und lernte in der Zeit sehr viel über die strafrechtliche Praxis. Die Arbeit gefiel mir so sehr, dass ich beschloss, mich fürs Richteramt zu bewerben. Doch für derlei Ambitionen waren in Graz damals „gute Kontakte“ unerlässlich. Es waren fast ausschließlich Söhne und Töchter aus heimischen Juristen- oder Primararztkreisen, die in die Justiz übernommen wurden.

Dass ich nicht zu diesen Kreisen gehörte und folglich chancenlos war, machte mir nicht wirklich etwas aus. Wenige Wochen nach Abschluss des Gerichtsjahres hatte ich meinen ersten Job als Juristin der Mietervereinigung in Graz. Die Arbeit machte mir großen Spaß, ich war viel bei Gericht, hatte mit Menschen zu tun und konnte meine soziale Ader ausleben. Nach nur einem Jahr wurde ich dort zur Bürochefin ernannt. Mein Weg hätte mich sicherlich weiter nach oben geführt, denn ich war auch politisch aktiv, und nach dem Ende des „trockenen“ Studiums war endlich auch mein beruflicher Ehrgeiz erwacht. Heute wäre ich wohl führende Juristin in einem Ministerium, hätte vielleicht sogar ein hohes politisches Amt inne.

Doch das Schicksal meinte es anders mit mir.

Weichenstellungen

Es ist Silvester 1992, und mir geht es nicht gut. Vor kurzem habe ich erfahren, dass meine Mutter an Brustkrebs erkrankt ist. Heute bin ich überzeugt, dass sie Opfer einer fragwürdigen „Modeerscheinung“ der Schulmedizin war: Obwohl sie mit fünfzig toll aussah und null Probleme mit dem „Wechsel“ hatte, verschrieb ihr der Frauenarzt Östrogene. Wenig später ertastete sie einen Knoten in der Brust. Der Chirurg, ein anerkannter Herr Professor, tat ihn als „harmlos“ ab, sie möge „in drei Monaten zur Kontrolle“ wiederkommen. Beim Kontrolltermin wurde dann doch eine Biopsie vorgenommen. Das Ergebnis: Ein „Minikarzinom“, wie er es nannte. Wenig später wurde meine Mutter operiert, auch die Lymphknoten wurden entnommen.

Ich erinnere mich noch gut an den Besuch des Herrn Professor am Krankenbett meiner Mutter. Ich war alleine mit ihr im Zimmer. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie“, begann er. Zuerst eröffnete er uns die „gute Nachricht“: Der Krebs sei „hormonrezeptoren-positiv“. Das würde bedeuten, dass er unter dem Einfluss des Hormons Östrogen wachse – und daher leichter zu bekämpfen wäre, nämlich durch die Gabe von Anti-Östrogenen, erklärte der Arzt. Sein Kollege hatte meiner Mutter wenige Monate zuvor ebenjene Östrogene verschrieben… Tja, und die schlechte Nachricht: Der Krebs habe leider schon gestreut. Die Metastasen seien durch die Lymphknoten in den Blutkreislauf geraten.

Meine Mutter war ein Waisenkind gewesen, und der Tod hatte sie offenbar immer schon, tief in ihrem Inneren, beschäftigt, gerade weil sie das Thema so verdrängte. Seit der Diagnose war sie unbeirrbar davon überzeugt, nur mehr drei Jahre zu leben zu haben.

Ich hatte mir immer vorgestellt, einmal Kinder zu haben, und mit Ende zwanzig war ich im richtigen Alter dafür. Meine Mutter liebte Kinder über alles, ihr Traumberuf wäre Kindergärtnerin gewesen, hatte sie mir immer erzählt, doch aus wirtschaftlichen Gründen hatte sie das verhasste Schneiderhandwerk erlernen müssen. Das Glück, das ihr ein Enkelkind von ihrer Astrid gegeben hätte, lässt sich in Worten nicht fassen. Mit einem Mal wird mir bewusst, dass mit meiner Mutter ein Teil meiner eigenen Zukunft sterben wird: Sollte ich je Kinder haben, würden sie ihre Großmutter, diese wunderbare, warmherzige, temperamentvolle und attraktive Frau, niemals kennenlernen. Plötzlich sehe ich keinen Sinn mehr darin, Kinder zu bekommen.

***

„Haftbefehl gegen Jack Unterweger!“ Die in der Steiermark auflagenstärkste Tageszeitung „Kleine Zeitung“ hat an diesem 14. Februar 1992 ihre dicke Schlagzeile. Eine Exklusivgeschichte, von der kein anderes Medium gewusst hatte: Ein steirischer Kriminalbeamter hatte einen steirischen Untersuchungsrichter davon überzeugen können, einen Haftbefehl gegen den zum Literaten avancierten Ex-Häftling zu erlassen. Hintergrund war eine Serie ungeklärter Mordfälle an Prostituierten in ganz Österreich, und als entlassener Mörder war Jack Unterweger bald ins Visier der Ermittler geraten.

Ein steirischer Redakteur mit besten Polizeikontakten war noch vor der Festnahme des Jack Unterweger exklusiv informiert worden. Keine gute Idee: Nach Erscheinen des Berichts in der „Kleinen Zeitung“ ist der Verdächtige spurlos verschwunden. Mit ihm, wie sich wenig später herausstellt, seine erst 18-jährige Freundin Bianca. „Mit Unterweger auf der Flucht: Ihr Leben in Gefahr!“, titelt die Kronen-Zeitung am 18. Februar 1992. Darunter prangt das Passfoto des jungen Mädchens in Großformat.

In den folgenden Tagen ist Jack Unterweger das Hauptthema der Medienberichte, vornehmlich des Boulevards. Denn der Mörder hatte nach seiner Entlassung als Paradebeispiel einer erfolgreichen Resozialisierung Prominentenstatus erlangt. Er hatte Bücher veröffentlicht, Reportagen und Theaterstücke über Randthemen wie Prostitution, Aids oder Obdachlosigkeit geschrieben, war mit Schauspielern durch die Lande getingelt, um die von ihm geschriebenen Theaterstücke aufzuführen, war in der legendären Diskussionssendung „Club 2“ zum Thema Resozialisierung von Haftentlassenen aufgetreten – eloquent argumentierend, doch in ungewöhnlicher Aufmachung: weißer Anzug mit roter Steckblume, schwarz-weiß getupftes Hemd. Der exhibitionistisch anmutende Auftritt sorgte bei manchen Zeitgenossen für Irritation. Darf sich ein ehemaliger Strafgefangener so zeigen?

Außerdem hatte Jack Unterweger erst wenige Wochen zuvor für das TV-Journal „Panorama“ eine Reportage gedreht – das Thema: die ungeklärten Prostituiertenmorde. Er hatte an den Schauplätzen des Verschwindens der Frauen recherchiert, Prostituierte interviewt – und den damaligen Chef der Wiener Kriminalpolizei Max Edelbacher. Jetzt, im Nachhinein, macht ihn das nur noch verdächtiger: Wollte er auf diese Weise erfahren, wie es mit den polizeilichen Ermittlungen steht? Weidete er sich an der Angst der Prostituierten?

Die Fahndungsaufrufe der Polizei führen zu einer regelrechten Unterweger-Hysterie: Ein „Doppelgänger“ des Gesuchten löst auf dem Salzburger Mirabellplatz einen Polizei-Großeinsatz aus, ein anderer eine Großfahndung in Wels nach einem Auto mit Grazer Kennzeichen. Das gesuchte Auto kann gestoppt werden, doch der Lenker ist nicht Jack Unterweger, sondern ein Mann, der ihm „täuschend ähnlich“ sieht („Kurier“, 26.2.1992) Der Innenminister muss zugeben: Die Zahl der Informationen sei so umfangreich, dass „Unterweger mit einem Jet unterwegs sein müsste“, sei er doch „in Süddeutschland, eine Stunde später in Norditalien und zum gleichen Zeitpunkt in Ungarn gesehen worden“ („Wiener Zeitung“, 22.2.1992).

Es ist übrigens Faschingszeit, und der berühmte Karikaturist Manfred Deix zeichnet einen seiner nicht minder berühmten, pausbäckigen und rundlichen Protagonisten im Unterweger-Kostüm: Weißer Anzug mit roter Steckblume, darunter ein schwarz-weiß-getupftes Hemd.

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Ich verfolge die Medienberichte mit Interesse, krame die Taschenbuchausgabe des Romans „Fegefeuer“ hervor, blättere darin. Jack Unterweger hatte den Mord in den langen Jahren der Haft doch aufgearbeitet, er hatte Bücher geschrieben, ist längst resozialisiert, ja prominent – kann es sein, dass ein so ungewöhnlicher Mann rückfällig geworden ist? Aus den Medienberichten werde ich nicht wirklich klug. Sie haben ihn zu ihrem Anti-Helden stilisiert und strotzen von Vorverurteilungen. Am liebsten bringen sie Bilder, auf denen er mit dunkler Sonnenbrille und seinem Schäferhund posiert oder verwegen eine Pistole in Kamera richtet, ein weiteres Lieblingsmotiv sind seine auffallenden Knast-Tattoos. Es ist Sex & Crime, wie es sich die Boulevardpresse nicht besser ausdenken könnte: Die „Kronen Zeitung“ weiß von einer „intimen Frauenkartei“ zu berichten, die Jack Unterweger geführt haben soll, mit „Noten für die sexuellen Qualitäten seiner Geliebten“. „Hat er die Morde verübt, um sie schriftstellerisch auszuschlachten?“, lautet der schreckliche Verdacht von „Bild“. Die Illustrierte „Stern“ bringt eine vierteilige Serie über den „Dichter und die Dirnenmorde“, „Bunte“ packt über „Jack the Lover und seine Opfer im Bett“ aus – mit letzterem sind die feinen Damen der Wiener Gesellschaft gemeint, die sich angeblich von der „Erotik des Bösen“ angezogen gefühlt haben. Die weniger feinen Damen verkaufen ihre angeblichen Begegnungen mit dem „Mordpoeten“ an die Presse. So gesteht eine Margit G. der deutschen Illustrierten „Quick“, dass er ihr „kältester Freier“ gewesen sei: „Er wollte, dass ich ihn vergewaltige. Als ich’s dann tat, fand er es zu brutal. Er wirkte wie ein Softie auf mich. Gleichzeitig hatte ich Angst vor ihm, denn er strahlte eine Gefühlskälte aus, wie ich sie von keinem anderen Kunden kenne. Zum Glück ist er nie wiedergekommen. Ich bin mir sicher: Ich sollte sein nächstes Opfer werden.“

Doch derjenige, dem dieser einzigartige mediale Hype gilt, bleibt verschwunden. Zunächst. Denn als das österreichische Fernsehen am 20. Februar 1992 in der Sendung „Inlandsreport“ live über den brisanten Kriminalfall Unterweger berichtet, meldet sich der Gesuchte überraschend telefonisch zu Wort: „Ich gehe nie wieder in eine Zelle. Lieber verrecke ich in Freiheit!“

Miami, Collins Avenue

„Meine angstschwitzenden Hände werden auf den Rücken gedreht, Stahlfesseln schnappen um meine Handgelenke. Der harte Druck eines ruhig und zufrieden lastenden Beines in meinem Rücken bringt mir die letzte Erkenntnis: meine Flucht ist zu Ende.“ (Aus Jack Unterwegers autobiografischem Roman „Fegefeuer“)

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Anja S. ist zwanzig und arbeitet als Sekretärin beim Zeitschriftenverlag „Erfolg“, der ein gleichnamiges Magazin herausgibt. Jack hatte dort Reportagen veröffentlicht, unter anderem über seine USA-Reise. So hatte es sich ergeben, dass er die junge Verlagssekretärin kennenlernte und ihr den Kopf verdrehte.

So sehr, dass Anja S. ihn auch nicht verrät, als er sich aus den USA meldet, wo er mit seiner anderen jungen Geliebten auf der Flucht ist. Doch irgendwann lastet der Druck, als Einzige über Jacks Aufenthaltsort Bescheid zu wissen, zu schwer auf ihr. Anja S. beschließt, ihren väterlichen Chef, den Herausgeber Gert Schmidt einzuweihen. Vielleicht weiß er Rat, bietet Hilfe an? Spontan greift sie zum Telefonhörer und ruft ihn an: „Jack ist in Amerika! Er ist doch sicher unschuldig…“ Ihre Stimme zittert bei diesen Worten, und sie hofft inständig, dass ihr Chef ihrem Anliegen keine Abfuhr erteilen wird. Das tut er nicht, im Gegenteil. „Ich werde mir etwas einfallen lassen. Wir müssen ihm helfen“, erklärt Schmidt mit fester Stimme. Da fällt ein Stein vom Herzen der naiven jungen Frau. Ihr Chef hat sie nicht enttäuscht. Er ist ein Menschenkenner, der spürt, dass Jack unschuldig ist. Und er wird ihm jetzt aus der Patsche helfen...

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In Wahrheit ist Gert Schmidt ein routinierter Medienprofi und wittert die Story seines Lebens. Flugs wählt er die von seiner Sekretärin aufgeschriebene Telefonnummer. Jack hebt sofort ab und bekommt von Schmidt ein Angebot zu hören, das er in seiner Situation nicht ablehnen kann: Ein Boulevard-Blatt habe hunderttausend Schilling für ein Interview geboten! Einen kleinen Vorschuss, so Schmidt, könne er schon mal vorweg überweisen, dazu noch ein von Jack benötigtes Medikament und ein paar Zeitungsausschnitte über die aktuellen Medienberichte.

Am 27. Februar 1992 fährt die immer noch ahnungslose Anja S. in eine Wiener Filiale der „American Express Bank“ und überweist Jack wie ausgemacht 300 Dollar nach Miami. Dort werden längst sämtliche Geldwechselläden vom FBI überwacht. „High noon“ ist es so weit: Vor einer Bankfiliale in der Collins Avenue in Miami klicken die Handschellen. Jack Unterweger wird ins „Miami Correctional Center“ (MCC) eskortiert. Seiner konsternierten Freundin Bianca erklärt man: „Forget your lover, baby!“

Es war einer der größten Fahndungserfolge der österreichischen Polizei in enger Zusammenarbeit mit den USamerikanischen Kollegen. Und für den Verleger Gert Schmidt wohl die Story seines Lebens.

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Die Serie der ungeklärten Prostituiertenmorde. Im Gegensatz zu den Mädchenmorden, welche Ende der achtziger Jahre den Wiener Stadtteil Favoriten heimgesucht hatten, waren sie in den Medien nur ein Randthema gewesen.

Es ging ja „nur“ um Prostituierte, um Frauen vom Rande der Gesellschaft. Auch ich hatte mich kaum dafür interessiert, nur ein einziges Mal eine Schlagzeile am Titelblatt irgendeiner Illustrierten aufgeschnappt: „Treibt ein Serienmörder im Rotlicht sein Unwesen?“

Jetzt, nach der Verhaftung des Jack Unterweger, interessiert mich das alles brennend. Ich möchte wissen, was dahintersteckt. Ob es wirklich sein kann, dass dieser besondere Mensch, der es von ganz unten in die Gesellschaft der Literaten und Intellektuellen geschafft hat, ein Serienmörder ist oder vielmehr ein Opfer von Vorverurteilung und Medienhetze. Ich betrachte die Bilder des zwischen zwei groß gewachsenen US-Cops eingekeilten und an Händen und Füßen gefesselten Jack Unterweger, die in allen Medien gezeigt werden. Er blickt verzweifelt in die Kameras, es wirkt, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. Ein bisschen Trotz ist wohl auch dabei. Genießt er es gar heimlich, so in der Öffentlichkeit zu stehen? Ein Interview aus dem US-Gefängnis wird veröffentlicht. Jack beteuert seine Unschuld, weint, es berührt mich. Doch für die meisten scheint es schon festzustehen: Er ist es, der erste Serienkiller der österreichischen Kriminalgeschichte.

„Jack droht die Todesstrafe!“

Bis zu seiner Auslieferung nach Österreich sollten jedoch noch Monate vergehen. Schuld war zunächst ein vergleichsweise geringfügiges Vergehen: Er hatte gegen die strengen US-Einreisebestimmungen verstoßen, indem er bei der Einreise seine Vorstrafen verschwiegen hatte. Bald jedoch warteten die US-Cops mit weitaus schwererem Geschütz auf: „USA: Drei Dirnen erwürgt wie in Wien und Graz“ (Titelblatt der „Kronen Zeitung“ am 11.3.1992). Die österreichischen Ermittler hatten ihren US-Kollegen dringend nahegelegt, Jack Unterweger auch wegen ungeklärter Mordfälle in den USA unter die Lupe zu nehmen. Denn: Der Verdächtigte hatte sich im vergangenen Sommer zwei Monate in Los Angeles und Umgebung aufgehalten. L.A. galt schon damals als eine der „Mordhauptstädte“ der Welt. Allein im Sommer 1991 waren im Großraum L.A. vierzig Prostituierte ermordet worden. Alsbald steht Jack Unterweger für vier Morde im Großraum L.A. zur Debatte. Die österreichischen Ermittler unternehmen eine Dienstreise in die USA, aus der sie freudestrahlend zurückkehren: „Unsere Arbeit war ein Riesenerfolg! Wir konnten bei drei Prostituiertenmorden in Los Angeles umfangreiches Indizienmaterial gegen Jack Unterweger sichern“, wird einer der Ermittler in der „Kronen Zeitung“ (Ausgabe vom 18.4.1992) zitiert. „Knalleffekt im Fall Unterweger. Doch keine Auslieferung aus den USA“, titelt dieselbe Zeitung und schreibt weiter: „Jack droht jetzt die Todesstrafe!“

Jack Unterweger in US-Haft (Foto: FBI)

Die US-Staatsanwaltschaft teilt den Enthusiasmus der Ermittler nicht. Der zuständige Staatsanwalt weigert sich vielmehr, den Fall anzuklagen: „Ohne ein Minimum an Beweisen machen wir das nicht. Ein Richter würde den Fall abweisen, auch nach einer DNA-Analyse.“ (US-Staatsanwalt Montagna gegenüber dem Nachrichtenmagazin „profil“, Ausgabe 42/92).

Nach einem letzten Hearing vor dem US-Richter wird Jack Unterweger am 27. Mai 1992 von zwei US-Marshalls aus dem Gefängnis abgeholt und zum Flughafen gebracht. In einer Sondermaschine der US-amerikanischen Delta-Airlines – die vorgesehene Maschine der Austrian Airlines war von Journalisten, die von der geplanten Überstellung Wind bekommen hatten, bis zum letzten Platz ausgebucht worden – geht es via New York nach Wien-Schwechat. Dort kommt Jack Unterweger am 28. Mai 1992 um acht Uhr dreißig an. Ohne Handschellen und lächelnd, was viele irritiert. Vor der Gangway erwarten ihn die Beamten der Mordkommission, die ihm sofort die Handschellen anlegen. Und eine riesige Horde von Pressefotografen, die dem Polizei-Kleinbus mit dem berüchtigten Mordverdächtigen bis zur Grazer Justizanstalt folgen.

Am folgenden Tag verhängt der Grazer Untersuchungsrichter offiziell die Untersuchungshaft.

Ein Brief

Es ist Ende Mai geworden. Meist scheint die Sonne, die Temperaturen sind entsprechend sommerlich warm. Seit wenigen Tagen habe ich einen neuen Nachbarn: Jack Unterweger. Meine Wohnung liegt nämlich nur einen Häuserblock entfernt von der Justizanstalt Graz-Jakomini, in die er eingeliefert worden ist.

Die widersprüchlichen Presseberichte, das Tauziehen über die Auslieferung und die Weigerung des US-Staatsanwaltes, Anklage zu erheben, haben mich in meiner Meinung bestärkt, wonach dieser Jack Unterweger Opfer einer Vorverurteilungs-Kampagne ist. Als entlassener Strafgefangener, so denke ich mir, scheint er dafür prädestiniert zu sein, für all die ungeklärten Mordfälle herhalten zu müssen. Es ist wie so oft, wenn es um brisante Themen geht: Man stellt sich Fragen, hegt Zweifel, doch dann hat einen der Alltag wieder. In meinem Fall bin ich mit meinem Job als Chefin der Mietervereinigung voll ausgelastet und finde keine Zeit, mich jetzt noch näher mit dem „Fall Unterweger“ zu befassen.

Bis zu jenem lauen Frühsommerabend im Juni 1992. Ich habe einen anstrengenden Arbeitstag hinter mir, bin vormittags bei Gericht gewesen, und nachmittags haben mich wie immer zahlreiche Klienten im Büro aufgesucht, um sich juristischen Rat zu holen. Jetzt versuche ich zu entspannen und bereite mir daheim ein Abendessen zu. Mein Freund Gerhard ist nicht zu Hause. Ich weiß heute nicht mehr warum, vielleicht war er auf Geschäftsreise. Ich schalte das Radio ein, und die Stimme eines Nachrichtensprechers ertönt. „Der Untersuchungshäftling Jack Unterweger hat heute Morgen gegen 5:30 Uhr einen Selbstmordversuch unternommen, indem er sich die Armvenen aufgeschnitten hat. Er befindet sich derzeit auf der Inquisiten-Station des Landeskrankenhauses Graz. Das waren die Meldungen, nun zum Wetter.“

Ich schreibe ihm noch am selben Abend: „