Ich liebe dich! Ich töte dich! - Astrid Wagner - E-Book + Hörbuch

Ich liebe dich! Ich töte dich! E-Book und Hörbuch

Astrid Wagner

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Wieder ein Buch von Astrid Wagner, das die Leser durch packende Schilderung, Authentizität und Empathie mitreißt. Die in diesem Buch versammelten wahren Verbrechen zeigen die Abgründe der menschlichen Seele. Es sind unfassbare Geschichten von Liebe, die in Hass umschlägt, und Leidenschaft, die zu Mordlust wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 245

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:6 Std. 22 min

Sprecher:Peter Bocek
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Häupler - geboren 1943 in Wien, besuchte ab 1969 die Wiener Kunstschule (Akt bei Professor Fritz Martintz). Im gleichen Jahr begann er ein Studium an der Alliance Française (Paris). Seit 1975 lebt und arbeitet Häupler als freischaffender Künstler in seiner Heimatstadt Wien. Anlässlich der Jubiläumsaustellung der Kunstschule Wien bekam er im Jahr 1976 den Künstlerhaus-Preis verliehen.

„ Konfrontiert mit Bildern von Gerhard Häupler sehe ich vieles, was gern verdrängt wird, nicht nur von Akademien, auch von vielen Galerien und vielen, vielen Menschen. Darüber spricht man nicht. Darüber schreibt man nicht .

Das malt man nicht. Das malt Gerhard Häupler".

Hermann Schürrer

INHALT

Vorwort

»… Und dann hat mich ein Blitz durchzuckt« (Martin B.)

»Sie hat mich sekkiert« (Anton T.)

»Ich liebe sie noch immer« (Amar J.)

»Besser eine schlechte Ehe als gar keine« (Klaus F.)

»Ich war hungrig nach Liebe« (Walter M.)

»Sie hat mir ihre Liebe nur vorgespielt!« (Sandy Z.)

Schuld

Die in diesem Buch geschilderten Fälle und Personen sind fiktionalisiert. Sie beruhen auf meinen langjährigen Erfahrungen als Strafverteidigerin. Namen wurden verändert1, ebenso wie biografische Details und Örtlichkeiten abgeändert wu rden.

1 Ausgenommen sind Personen, die mit deren Einverständnis mit vollem Namen genannt sind

Vorwort

Es bricht urplötzlich aus ihnen heraus. Wut. Verzweiflung. Wahnsinn. Es dauert Minuten, oft nur Sekunden. »Das Messer schnitt ins Fleisch wie in Butter«, »Es spritzte gar kein Blut«, »Es ging alles so schnell«, sagen manche von ihnen später. Sie werden für immer stigmatisiert sein. Als Mörder und Totschläger.

Bei einer überproportional hohen Anzahl von Tötungsdelikten ist das Opfer der Lebens- und Liebespartner. Man spricht von »Beziehungstaten«, jüngst ist der Ausdruck »Femizid« gebräuchlich geworden, da die Täter sehr oft männlich und schon vorher durch Gewalttätigkeit aufgefallen sind. Aber das ist nicht immer so. Manche Täter weisen unauffällige Biografien auf, waren liebevolle Partner und rücksichtsvolle Ehemänner. In diesem Buch will ich aufzeigen, dass die Problematik der »Beziehungstaten« und »Femizide« komplexer ist als man vermuten möchte. Die Menschen, von deren Taten dieses Buch handelt, könnten hinsichtlich ihrer Herkunft, ihrer sozialen Stellung und ihres Charakters unterschiedlicher nicht sein. Einer von ihnen ging so weit, das Fleisch seines Opfers zum Verzehr zu verarbeiten. Verzehrende Liebe und verzehrender Hass, sie liegen oft eng beieinander.

Astrid Wagner

Eine Begriffsklärung

Mord ist im österreichischen Strafgesetzbuch (StGB) im § 75 geregelt: »Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von zehn bis zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.« Der Täter muss dabei nicht absichtlich handeln. Es reicht aus, wenn er gemäß der Definition des »Vorsatzes« im österreichischen Strafrecht es »ernsthaft für möglich hält und sich damit abfindet«, dass ein anderer durch sein Handeln zu Tode kommt.

76 § StGB regelt den Totschlag: Wer sich in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütserregung dazu hinreißen lässt, einen anderen zu töten, ist mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu zehn Jahren zu bestrafen. In der Praxis wird die Tötung eines Menschen von den österreichischen Gerichten nur selten als Totschlag qualifiziert.

Anders sieht es im deutschen Strafrecht aus: Nach § 211 des deutschen Strafgesetzbuches ist Mörder, wer »aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken«, einen Menschen tötet. Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Fehlen diese sogenannten »Mordmerkmale«, wird die Tat in Deutschland als Totschlag klassifiziert. Die Strafandrohung ist mit Freiheitsstrafen von fünf bis fünfzehn Jahren dementsprechend niedriger.

Die Konzeption der Mordmerkmale führt dazu, dass in Deutschland weitaus weniger Menschen wegen Mordes verurteilt werden als in Österreich.

»… Und dann hat mich ein Blitz durchzuckt« (Martin B.)

»Es war ein Blutbad. Dafür kann es nur die Höchststrafe geben!« Wie ein Echo klingen die Worte des Richters in meinen Ohren nach, während ich die dicken Akten in meinen Rollwagenkoffer verstaue. Der Schwurgerichtssaal leert sich unter allgemeinem Gemurmel. Die Berufsrichter plaudern entspannt. Feierabend.

Ein Schrei. Wie aus dem Nichts, alles zerschneidend. Eine junge Frauenstimme. Schrill, langgezogen, zornig und verzweifelt zugleich. Er kommt von draußen. Ich eile zur breiten, offenen Tür. Der Wartesaal ist voller Menschen, die dem Prozess beigewohnt haben. Meine Mitarbeiterin ist mir gefolgt, ich drücke ihr den Griff meines Koffers in die Hand. Laufe weiter, die Treppen hinunter zu der immer noch schreienden Frauenstimme. Vorbei an der Sicherheitsschleuse, hinaus ins Freie. Da steht sie, vor dem Haupteingang des Gerichtsgebäudes. Ich umarme sie. Sie schmiegt ihren Kopf an meine Brust und weint bitterlich. Ich streiche sanft über ihr langes blondes Haar und gebe mir selbst ein Versprechen ab: Ich werde all meine anwaltliche Kunst einsetzen, um dieses Urteil zu bekämpfen.

Währenddessen schlendern drei junge Anwältinnen an uns vorbei. Eine davon war in der Verhandlung, aus der wir gerade kommen, »Privatbeteiligtenvertreterin«. So nennt man Anwälte, die in einem Strafverfahren die Interessen des Opfers und dessen Familie vertreten. Es ist ein lauer Sommerabend, und alle drei scheinen guter Dinge. Sie lachen, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Wir, das sind die Angehörigen des Täters und dessen Anwältin.

* * *

»Gerne gebe ich Ihnen einen Termin. Worum geht es denn? Ist es eine Strafsache, eine Scheidung, oder geht es um Fremdenrecht?« Meine Sekretärin ist stets bemüht, am Telefon höflich zu klingen. Was nicht immer leicht ist: Es läutet manchmal im Minutentakt, und jeder glaubt, dass sein Anliegen das allerwichtigste auf der Welt sei, das sofort erledigt werden müsse.

»Ich kann es nicht sagen …«, flüstert die junge Anruferin in den Hörer. Dann versagt ihre Stimme. Sie legt auf. Zur Angst ist jetzt auch der Zweifel gekommen: Warum sollte sich eine prominente Strafverteidigerin dieses Falles annehmen? Noch dazu, wo er ihr kein Geld bringen wird. Die junge Mutter, die in meiner Kanzlei angerufen hat, arbeitet an der Kassa eines Supermarkts, ihr Mann ist einfacher Arbeiter.

Wenige Stunden später fasst die junge Frau all ihren Mut zusammen und ruft nochmals in meiner Kanzlei an. Am Abend sitzt die ganze Familie in meinem Besprechungszimmer: Die junge Anruferin, die immer noch hofft, dass ihr Vater unschuldig ist. Dass sich vielleicht alles ganz anders abgespielt hat, als es den Anschein hat? Ihre Mutter, zu der der mutmaßliche Täter immer noch ein gutes freundschaftliches Verhältnis hat. Sie kann ihr Entsetzen nur schwer verbergen. Sein Bruder, der es nicht glauben kann und unentwegt den Kopf schüttelt. Die Mutter des mutmaßlichen Täters ist nicht gekommen. Sie hat am Morgen nach der Tat die schreckliche Entdeckung in der Wohnung ihres Sohnes gemacht …

In dieser Stunde, da die Familie in meiner Kanzlei sitzt, kämpfen die Ärzte um das Leben des mutmaßlichen Täters Martin B.

* * *

Ein Anwalt empfiehlt seinem Klienten in der Regel, vor der Polizei von seinem Recht zu schweigen Gebrauch zu machen, bis anwaltlicher Beistand eintrifft. Denn alles, was man dort zu Protokoll gibt, hat vor Gericht weitaus mehr Gewicht als jede spätere Aussage. Unmittelbar nach der Tat sei die Erinnerung am besten, heißt es.

Im Fall des 47-jährigen Martin B. macht mir eine Kriminalbeamtin einen Strich durch die Rechnung. Der Staatsanwalt hat sie davon informiert, dass mein Mandant aus dem Koma erwacht ist und sich in der gesperrten Abteilung eines Wiener Krankenhauses befindet. Ich werde nicht verständigt. Die Beamtin begibt sich umgehend ins Krankenhaus, um ihn zu vernehmen. Später soll Martin B. das »von Anfang an abgelegte, umfassende Geständnis« als Milderungsgrund zugutegehalten werden.

* * *

Ich reiße die Türe des Krankenzimmers auf. Die Kriminalbeamtin sitzt am Fußende des Krankenbetts und sieht mich entgeistert an. Offenbar komme ich nicht nur unerwartet, sondern auch ungelegen. »Wieso haben Sie mir nicht Bescheid gegeben?«, stelle ich sie zur Rede. Sie hat sich schnell gefasst: »Wir plaudern doch nur …« Meinem Ersuchen, alleine mit ihm sprechen zu dürfen, kommt sie zuvor: »Wir sind schon fertig!«, erklärt sie, um dann mit ihrem Kollegen eilig das Krankenzimmer zu verlassen.

Mein neuer Mandant blickt mich ein wenig scheu an. Er hat ein kantiges Gesicht, das jungenhaft wirkt, und doch scheinen sich die Spuren eines schmerzlichen Lebens darin eingegraben zu haben. Welliges, grau meliertes Haar. Er ist groß, das erkenne ich, obwohl er im Bett liegt. »Ihre Familie hat mich gestern beauftragt. Sie sagen jetzt bitte nichts mehr ohne Ihre Anwältin«, erkläre ich ihm. Er will sich aufrichten. Ich ergreife seine Hand: »Bleiben Sie liegen, Sie sind noch ganz schwach …« Er versucht, höflich zu lächeln. Es gelingt nicht.

* * *

Am nächsten Tag liegt die Kopie des Gerichtsakts auf meinem Schreibtisch. Es ist ein Freitag, und so werde ich genügend Zeit haben, um ihn am Wochenende daheim zu studieren.

Nach dem Frühstück mache ich es mir mit einer Tasse Kaffee und den Akten auf der breiten, mit bunten Ethno-Decken überworfenen Wohnzimmercouch gemütlich. Sissy, einer meiner drei Stubentiger, legt sich schnurrend zwischen meine Füße.

Beim Lesen stelle ich fest, dass Martin B. noch als vermisst galt, als die ersten Zeugen einvernommen wurden. Die Fragen der Beamten waren alle darauf gerichtet, wo er sich denn aufhalten könnte. Die polizeiliche Vermutung, dass er sich ins Ausland abgesetzt habe, wurde von der Familie nicht geteilt: »Auf keinen Fall. Das passt nicht zu ihm.« Vielmehr befürchtete seine Ex-Frau etwas anderes: »Ich mache mir große Sorgen um ihn. Martin leidet unter starken Depressionen. Ich befürchte, dass er sich etwas angetan hat.«

Doch niemand kam auf die Idee, in den Krankenhäusern der Stadt anzurufen. Dass Martin B. verhaftet wurde, ist einem aufmerksamen Krankenpfleger zu verdanken: Als er in der Zeitung das Foto des Mordverdächtigen sah, erkannte er jenen Mann wieder, der tags zuvor in bewusstlosem Zustand ins Spital eingeliefert worden war. Diagnose bei der Aufnahme: »Vergiftung durch Benzodiazepine, Neuroleptika, Opiate, Morphine.2 Alkoholvergiftung. Vermutlich Suizidversuch.« Der Pfleger informierte seine Vorgesetzten, die umgehend die Polizei verständigten. Kurz vor Mitternacht wird Martin B. für verhaftet erklärt. Die Festnahme kann ihm infolge seines Zustands – er hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt – vorläufig nicht zur Kenntnis gebracht werden.

Beim Weiterlesen stelle ich fest, dass keiner der von der Polizei einvernommenen Zeugen Schlechtes über diesen Mann zu berichten weiß. Auch nicht die Mutter von Lisa S., jener 54-jährigen Frau, die wenige Tage zuvor von der Mutter meines Mandanten in dessen Wohnung aufgefunden worden war. Tot, mit zwei Messern im Brustkorb. Die Mutter von Lisa S. gibt zu Protokoll, dass es in der Beziehung zwischen ihrer Tochter und Martin »niemals Gewalt« gegeben hätte. »Niemals« habe sie »dem Martin eine derartige Tat zugetraut, niemals!« … Ein »vorbildliches Paar« seien sie gewesen, sie hätten »einander respektiert«, ist in anderen Zeugenaussagen zu lesen. »Zärtlich« sei dieser Martin B. gewesen, geradezu »anlehnungsbedürftig«, heißt es. Aber auch »introvertiert«. Und immer wieder habe er unter »depressiven Phasen« gelitten.

Dann stoße ich auf die Bilder in der Tatortmappe. Sie lassen auf eine Gewalteruption ungeahnten Ausmaßes schließen. Wie passt das zu diesem von den Zeugen als sanftmütig beschriebenen Menschen?

Ich beschließe, mir selbst ein Bild zu machen. Die Tatwohnung ist inzwischen freigegeben, ein Kriminalist händigt mir die Wohnungsschlüssel aus.

Die Wohnung wirkt noch kleiner, als es die Bilder in der Tatortmappe vermuten haben lassen, es sind wohl nicht mal 25 Quadratmeter. Mein Mandant hat sie modern und platzsparend eingerichtet. Ein paar bunte Poster, ein selbst gezimmertes Stockbett, schräg gegenüber ein Hochtisch mit zwei Barhockern neben der Küchenzeile. Mein Blick fällt auf die oberhalb des Abwaschbeckens angebrachte schwarze Magnetwand, an der einige Küchenmesser haften. Zwei davon hat Martin B. in der Tatnacht heruntergerissen. Ich nehme eines der Messer von der Wand und gehe hinüber zum Stockbett. Es sind nur drei Schritte. Die untere Matratze, auf der das Opfer gelegen hat, ist weg. Als ich nähertrete, erkenne ich nur ein paar feine Blutspritzer an der Wand. Unvorstellbar, dass hier vor wenigen Wochen ein Mensch mit fünfzehn Messerstic hen getötet worden ist.

In der untersten Lade des Ikea-Regals finde ich einen zerfledderten Akt mit der Aufschrift »Betreff: Minderjähriger Martin B.«. Es ist der »Akt der gerichtlichen Erziehungshilfe«. Wie ich inzwischen weiß, ist Martin B. in Heimen aufgewachsen. Der sogenannte »Heimkinderskandal« war erst vor wenigen Jahren publik geworden: Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein waren Kinder in diesen Institutionen brutalen Erziehungsmethoden und sexuellem Missbrauch unterworfen gewesen. Ich frage mich, wie sehr diese Kindheit Martin B. geprägt hat. Er hat mir erlaubt, den Akt zu lesen.

Aus dem Akt der gerichtlichen Erziehungshilfe

Betreff: Minderjähriger B., Martin

Situationsbericht an die Kinderübernahmestelle – Anstaltenreferat – 1090 Wien, Lustkandlgasse

Die beiden obgenannten Minderjährigen befinden sich im Rahmen der gerichtlichen Erziehungshilfe in Gemeindepflege.

Die Mutter ist laut Zentralem Melderegister unbekannt abgemeldet. Der Vater ist unbekannten Aufenthalts.

Die Großmutter, Frau Adelheid P., wohnt (…) in einer Zimmer-Küche-Altwohnung, die einfach möbliert, aber sauber gehalten ist. Die Großmutter hat zu den Kindern immer guten Kontakt und möchte sie in den Ferien bei sich auf Urlaub haben, eine ständige Betreuung kann sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr übernehmen.

Bei einem Hausbesuch bei der Großmutter wurden die Eltern der Kinder, die angeblich nur zu Besuch dort waren, angetroffen, und sie gaben an, eine Wohnung (…) derzeit zu adaptieren und bis Weihnachten dort zu wohnen und polizeilich gemeldet zu sein. Dies bleibt jedoch abzuwarten. Es erweckt ha3 den Eindruck, daß die Großmutter vom Vater, der gewalttätig ist, eingeschüchtert wurde, seine wahre Tätigkeit und seinen Aufenthaltsort bekanntzugeben.

* * *

Dass ich mich der Strafverteidigung verschrieben habe, liegt auch daran, dass mich das Menschliche und dessen Abgründe schon immer beschäftigt haben. Die Frage nach der Schuld und dem Umgang damit. Die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat. Und jetzt, bei meinem neuen Fall, stelle ich mir immer wieder die Frage: Wie passt diese Tat zu einem Menschen, der von den Zeugen als sensibel und liebesbedürftig beschrieben wird?

Am Anfang ist ein Gespräch mit ihm kaum möglich. Martin B. schweigt die meiste Zeit über, doch ein Blick in seine dunklen Augen sagt alles: Warum habe ich überlebt? Wenn er spricht, dann mit leiser Stimme. Als ich ihn auf das Tatgeschehen anspreche, senkt er verschämt den Blick. Ich spüre, dass sich in diesem Menschen gewaltige Emotionen aufgestaut haben. Etwas, das sich seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten angesammelt hat, ganz tief in einem dunklen Winkel seiner Seele. Und das von dort endlich herauswill.

Ich besorge mir ein dickes DIN-A4-Spiralheft. Nicht um die Fakten zur Tat zu notieren, denn die stehen seit seinem Geständnis ohnedies fest. Wie diese aber später im Prozess gewürdigt werden, wird vielleicht auch von der Lebensgeschichte meines Mandanten abhängen. Dieses Spiralheft, es wird den Anfang bilden für meine spätere Verteidigungsstrategie. Und für diese Geschichte, die ich ab jetzt abwechselnd aus meiner Perspektive sowie jener des Martin B. erzählen will.

Martin B.:

Wir lebten in einem kleinen Häuschen am Stadtrand von Wien. Damals war diese Gegend noch recht ländlich, zwischen den einzelnen Häusern lagen Felder und Wiesen. Wir, das waren meine Eltern, meine Großeltern, mein um ein Jahr älterer Halbbruder und ich. Es war die Oma, die sich um uns Kinder gekümmert hat. Ich kann mich noch gut an sie erinnern: eine hagere, weißhaarige Frau, die immer eine Schürze trug und fast nie lächelte. Wir Kinder bekamen ihre Strenge oft zu spüren: mit einem Teppichklopfer, mit dem sie uns schlug, wenn wir was ausgefressen hatten. Oma hatte immer alle Hände voll zu tun. Vor allem mit unserem Opa, der ein Pflegefall war. Dabei muss er einmal ein sehr tüchtiger Mann gewesen sein, denn er hat das Haus nach dem Krieg selbst erbaut. Baumeister soll er gewesen sein, hat mein Vater großspurig erzählt, aber vielleicht war er auch nur Maurer. Ich erinnere mich nur schemenhaft an ihn, er war bettlägerig und konnte kaum noch sprechen. Meine Eltern? Die waren »erziehungsinsuffizient«, wie in den Akten der Jugendfürsorge nachzulesen ist. Mein Vater verbüßte immer wieder Haftstrafen. Anstatt arbeiten zu gehen wie andere Väter, verbrachte er seine Zeit lieber in Spielhallen und Wirtshäusern. Er sprach exzessiv dem Alkohol zu. Wie auch meine Mutter gerne über den Durst getrunken hat. Sie soll, zumindest habe ich das in den Akten nachgelesen, als »Geheimprostituierte« in einschlägigen Lokalen gearbeitet haben. Aber vielleicht war sie dort ja wirklich nur Kellnerin, wie sie immer beteuerte. Ich weiß nicht viel von ihrer Herkunft, ihre eigenen Eltern sind früh versto rben.

Irgendwann wurde meiner Oma alles zu viel. Sie wandte sich an die Fürsorge. Mit vier Jahren kam ich ins Wiener Zentralkinderheim. Ich erinnere mich an viele lange Gänge. Grauweiße, kahle Wände. Gitterbetten. Mir war ständig kalt. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, kann ich sie noch spüren: Die Angst. Den Schmerz. Das Heimweh. Damals konnte ich diese Gefühle nicht benennen, doch an diesem Ort haben sie alles durchdrungen. Ich weinte viel, am Anfang. Dann lernte ich, meine Tränen zu unterdrücken, um den Schlägen der Erzieherinnen zu entgehen. Keine Einzige von ihn en ist mir in Erinnerung geblieben.

Nach einigen Monaten starb mein Opa, und wir kamen zurück nach Hause. Zuerst freute ich mich riesig! Doch die Oma hatte sich verändert. Ein harter Zug hatte sich in ihr Gesicht eingegraben, und ich habe sie nie wieder lächeln gesehen. Sie ging oft fort. Auf den Friedhof, zum Opa, wie sie uns sagte. Wir Kinder waren uns oft selbst überlassen. Anstatt in die Schule zu gehen, trieben wir allerlei Unfug. Eines Tages schlichen wir uns in den Keller. Stockfinster war es da unten, und wir waren zu klein, um den Lichtschalter zu erreichen. Also machte ich mit Zündhölzern und Papier Licht, und da wurde es gleich ganz besonders hell … Das war ein Aufsehen, als die Feuerwehr kam! Ein dicker Schlauch wurde ins Haus geleitet, alle Scheiben im Erdgeschoss wurden eingeschlagen, und dann kamen schwarze Rauchwolken aus den Fenstern heraus. Zum Glü ck wurde niemand verletzt.

Wenn mein Vater zu Hause war, gab es ständig Streit. Schließlich gelang ihm das, was er angestrebt hatte: Er brachte meine Oma dazu, auf die von ihr geerbte Haushälfte zu verzichten. Danach ging es mit unserer Familie rapide bergab. Denn mein Vater war nicht nur Alkoholiker, sondern auch Spieler. Er häufte Schulden über Schulden an und verpfändete sein Haus. An ein »Saugerl«, wie man in Wien die Leute nennt, die Wucherkredite vergeben. An den verlor er das Haus am Sch luss auch. Wir mussten weg.

Uns Kindern sagte man nichts. Eines Tages holte ein großer Kombi-Wagen mich und meinen Bruder von der Schule ab. »Wir machen einen Ausflug«, hieß es. Doch der Wagen brachte uns an den kalten Ort mit den langen Gängen. »Obdachlosigkeit« ist als Überstellungsgrund in den Akten nachzulesen. Ich war sechs.

* * *

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir im Wiener Zentralkinderheim waren, es waren wohl nur ein paar Wochen. Das Heim, in das man mich und meinen Bruder dann gebracht hat, lag in einem kleinen Dorf außerhalb Wiens und wurde von Nonnen geführt. Dort waren Buben untergebracht, welche die Fürsorge aus zerrütteten Familien herausgeholt hatte. Die schwarze Tracht der Nonnen wirkte streng, und ihre Erziehungsmethoden waren das auch. Dreimal Rosenkranz-Beten stand an der Tagesordnung, und da musste es mucksmäuschenstill sein. Wer sich etwas zuschulden kommen ließ, musste seine Hose herunterziehen und die Schläge aufs nackte Hinterteil laut mitzählen. Wer beim Essen redete, dem wurde mit dem Löffel auf den Mund geschlagen. Besonders hart waren die Strafen, wenn man im Schlafsaal nachts lärmte: Der Übeltäter wurde gepackt und in eine Wanne mit eiskaltem Wasser getaucht.

Nach einem Wochenende zu Hause beschwerte sich meine Mutter beim Jugendamt, weil mein Bruder ein blaues Auge hatte. Eine Schwester habe ihn gegen die Armatur der Dusche gestoßen, hat er erzählt. Ich weiß bis heute nicht, welche Nonne er gemeint hatte, vielleicht war es diejenige, die uns Buben so gerne beim Duschen zusah. Ich habe ihre vom Dampf angelaufenen Brillengläser noch heute vor mir. Die Heimleitung hat alles abgestritten und den Bruder als Lügner hingestellt. Vielleicht waren die geistlichen Schwestern einfach nur überfordert mit den »asozialen Gschrappn«, wie unsereins oft genannt wurde.

Ich wurde zum Bettnässer. Als Strafe wurde ich so fest verhaut, dass ich rote Striemen hatte. Viel schlimmer war aber die Demütigung: Man legte demonstrativ eine riesige Gummimatte unter mein Leintuch. Ich schämte mich so!

Manchmal, wenn Geld für den Bus da war, durften wir am Wochenende nach Wien fahren. Inzwischen lebten die Erwachsenen, also meine Eltern und die Oma, in einer Zimmer-Küche-Wohnung im 10. Bezirk. Mit neun habe ich dann eine kleine Halbschwester bekommen. Es war natürlich viel zu beengt für so viele Leute, und wir schliefen in Campingbetten. Tagsüber wollten meine Eltern ihre Ruhe von den »Gschrappn«, und so tollten wir Kinder meistens auf der Straße herum. Es gab eine liebe Nachbarin, der wir leidtaten. Sie kümmerte sich ein bisschen um uns, machte uns sogar Essen. Denn die Oma war inzwischen zu einer gebückten alten Frau geworden, die die meiste Zeit stumm auf der Küchenbank kauerte. Sie hatte keine Chance mehr gegen ihren gewalttätigen Sohn, meinen Vater. Der nahm ihr das ganze Geld weg. So wurde meine Oma, die eine bescheidene, aber doch ausreichende Pension hatte, zur »Mistkübelstierlerin«, wie sie mein Vater verächtlich nannte. Sie wurde immer wunderlicher, murmelte nur mehr in sich hinein. Eines Tages war sie weg. Viel später erfuhr ich, dass man sie in die Psychiatrie verbracht hatte. Was dort aus ihr geworden ist, weiß ich nicht.

Astrid Wagner:

Mein neuer Klient hat Vertrauen zu mir gefasst. Ich bin froh, dass er immer noch in der Inquisitenstation des Krankenhauses ist, denn hier spricht es sich leichter als in der hektischen Atmosphäre der Vernehmungszone der Justizanstalt Wien-Josefstadt, wo sogar wir Anwälte durch eine doppelte Glasscheibe von unseren Klienten getrennt sind.

Oft schweigt er nur, doch sein Gesicht sagt alles über seinen Gemütszustand. Er gilt als suizidgefährdet und bekommt starke Psychopharmaka. An anderen Tagen ist es, als ob sich bei ihm eine Schleuse geöffnet habe und sein Innerstes aus ihm herausbricht. Mein Spiralheft füllt sich langsam mit seiner Geschichte.

Auch über Lisa spricht er. »Sie war so lebensfroh …« In diesen Momenten kann ich nicht viel mehr tun, als meine Hand auf seine Schulter legen und ihm ein Taschentuch reichen. Lisa ist tot. Durch seine Hand. Ob er je mit seiner Schuld leben wird können?

Martin B.:

Schläge waren bei uns zu Hause an der Tagesordnung. Die Mutter verprügelte uns, wenn sie betrunken war. Sie selbst bekam noch brutalere Schläge ab, von meinem Vater. Vor allem dann, wenn er einen Rausch hatte, und das war oft der Fal l.

Doch wenn mein Vater gut aufgelegt war, hat er mit uns Kindern auch mal gescherzt. In diesen Momenten war ich stolz auf ihn. Er war mein Vater, und mein Vorbild. Wenn ich einmal so groß und stark wie er sein würde, dann würde ich von niemandem mehr Prügel bekommen. Dann würde ich es den anderen zeigen! Auch den Nonnen im Heim, die mich schlugen un d demütigten …

Trotz dieser Zustände und ihrer eigenen elenden Lage hat meine Mutter nach der Geburt unserer Schwester einen »Rappel« bekommen und wollte »auf Familie« machen. Nachdem ihr mein Bruder wieder einmal von den Schlägen im Heim berichtet hatte, hat sie beim Jugendamt vorgesprochen. Dort hat man entschieden, uns aus dem Heim nach Hause zu entlassen. Doch das ist nicht lange gut gegangen.

* * *

Mein Vater war nicht nur ein Säufer und gewalttätig, er war auch ein Weiberheld. Er sah gut aus, war groß und hatte ein kantiges Männergesicht. Obwohl sie nichts als Schläge von ihm bekam, war meine Mutter furchtbar eifersüchtig. Wahrscheinlich war sie ihm hörig. Sie hat mich sogar auf die Straße geschickt, damit ich ihm nachspioniere. Eines Tages hat mein Vater sie endgültig verlassen und ist zu seiner »Neuen« gezogen. Die Stimmungslage meiner Mutter schwankte zwischen Verzweiflung und rasender Wut. Ich war zwölf, als sich diese Wut vor meinen Augen mit ungeheurer Wucht entladen hat.

Ich weiß noch, dass es ein trüber, kalter Wintertag war, als mein Vater unerwartet bei der Tür hereingekommen ist. Er hat meine Mutter keines Blickes gewürdigt und begonnen, sich über dem Waschbecken zu rasieren. Er war gut gelaunt, hat ein fröhliches Liedchen gesummt. Meine Mutter hat geschimpft, getobt, an ihm gezerrt. Zuerst hat er provokant sein Liedchen weitergesummt, aber als sie mit ihrem Gezeter nicht aufhörte, hat er sie brutal weggetreten. Was dann geschehen ist, habe ich nur bruchstückhaft in Erinnerung: Das verzerrte Gesicht meiner Mutter. Das Messer in ihrer Hand. Das Brüllen des Vaters, der auf dem Boden liegt. Der große Blutfleck auf seinem Hemd. Mein Bruder rennt zur Wohnungstüre. Ich laufe ihm nach, hinaus ins Stiegenhaus. Wir schlagen an die Türen der Nachbarwohnungen. Irgendwann sind Polizisten da. Sie stürmen in unsere Wohnung …

Meine Mutter hatte meinem Vater mit einem Küchenmesser einen Lungenstich verpasst. Er wurde von der Rettung abtransportiert, sie von der Polizei verhaftet. Und wir Kinder sind wieder ins Heim gekommen.

Ein paar Monate später bin ich dann das erste Mal in meinem Leben vor Gericht gestanden: Als Kronzeuge im Prozess gegen meine Mutter wegen versuchten Mordes. Da saß sie neben mir auf der Anklagebank. Weinte sie, oder blickte sie starr zu Boden? Ich weiß es nicht, denn ich wagte nicht, sie anzusehen. Ich war so aufgeregt, dass ich fast kein Wort herausbrachte. Nicht einmal weinen konnte ich4. Auch später nicht. Ich habe das, was an diesem Wintertag zwischen meinen Eltern geschehen ist, einfach ausgeblendet. Der Richter war ein älterer, väterlicher Herr. Er hatte wohl Mitleid mit uns und gestand meiner Mutter zu, in einer psychischen Ausnahmesituation gehandelt zu haben. Sie bekam nur eine geringe Strafe, und nach einem Jahr wurde sie aus der Haft entlassen.

Astrid Wagner:

Nach rund sechs Wochen wird Martin B. in die Justizanstalt Wien-Josefstadt verlegt. Ein heillos überfülltes Gefängnis. Die Menschen liegen zu viert in engen Hafträumen, die für zwei Häftlinge vorgesehen sind. In den Vier-Mann-Zellen liegen dafür acht oder mehr Leute. Dreiundzwanzig Stunden lang. Nur eine Stunde lang dürfen sie im Hof ihre Runden drehen. Den Kampf gegen die Kakerlaken hat man längst aufgegeben, sie nisten in Kästen, krabbeln in Essenspakete und Schuhe.

Österreicher gehören hier längst zur Minderheit, was etwa dazu geführt hat, dass die »häf ’ntypischen« Kartenspiele, mit denen sich die Häftlinge früher die Zeit vertrieben haben, allmählich verschwinden. Der häufigen, aber unbedachten Bemerkung »Geschieht ihnen recht, es sind ja Verbrecher!« sei entgegengehalten: In diesem Gefängnis sitzen überwiegend Menschen, die noch gar nicht verurteilt sind. Nicht nur einmal habe ich erreichen können, dass mein Klient freigesprochen wurde – nachdem er Monate unschuldig in Untersuchungshaft verbracht hat. Das Gesetz sieht nur eine geringe Haftentsch ädigung vor.

Viele meiner Klienten jammern über diese Haftbedingungen. Nicht so Martin B. Er nimmt das hin, was er nicht ändern kann. Es hat wohl mit seiner Sozialisierung in Kinderheimen zu tun.

Martin B.:

»Jeder von uns hat einen Traum«, hat unsere Klassenlehrerin einmal erklärt. Ich bin schon immer einer gewesen, der sich gerne in Tagträume geflüchtet hat. Der Satz unserer Lehrerin ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe mich gefragt, was denn mein Traum im Leben sei. Ich habe mir ausgemalt, viel zu reisen, und dennoch habe ich mich nach einem kleinen Nest gesehnt, in das ich mich zurückziehen könnte. Ich habe mir vorgenommen, eines Tages einen Campingbus zu besitzen. Mit dem würde ich dann die Welt bereisen, und zugleich würde er mir ein Zuhause bieten.

Die Realität sah freilich anders aus. Mein Zuhause war inzwischen das Kinderheim Wien-Hütteldorf mit angeschlossener Heimschule. Doch mein Freiheitsdrang wurde immer stärker. Immer öfter bin ich ausgerissen. Habe mich tagelang, ja wochenlang auf der Straße herumgetrieben. In U-Bahn-Stationen und Stiegenhäusern übernachtet. Ich war immer auf der Flucht vor der Polizei, denn man hätte mich als »entwichenen Zögling« jederzeit aufgegriffen und ins Heim zurückgebracht. Deshalb habe ich großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt, um nur ja nicht aufzufallen. Ich habe Lebensmittel in Supermärkten gestohlen, und was sich sonst so ergeben hat. Die paar Schilling, die ich eingesteckt hatte, habe ich in den Waschsalon investiert. Ich bin mit nacktem Oberkörper auf der Bank gesessen, während mein Leibchen in einer der riesigen Waschtrommeln gewaschen wurde. Meine längste »Entweichung« aus dem Heim hat zwei Monate gedauert.

* * *

Eines Tages hat mir dann ein anderer Bursch gezeigt, wo und wie man zu Geld kommt. Ganz einfach, ganz schnell, und ohne zu stehlen. Mit dreizehn war ich ein zarter, geschmeidiger Bursche. Weiche, fast mädchenhafte Gesichtszüge, glatte Haut. Das hat den älteren Herren gefallen. Sie haben uns in den Toilettenanlagen bei der U-Bahn-Station am Karlsplatz angesprochen. Plötzlich hatte ich unglaublich viel Geld in den Tas chen.

Meine Eltern hatten sich inzwischen getrennt. Meine Mutter war ausgezogen, doch ich habe die Verbindung zu meinem Vater aufrechterhalten. Er war und blieb mein Vater, trotz allem, was vorgefallen war. Einmal hat er die vielen Hundert-Schilling-Scheine in meiner Hosentasche gesehen. Er hat nicht gefragt, woher das Geld stammt. Er hat mir einen der Sch eine weggenommen, um sich Zigaretten zu kaufen.

Ich habe gut verdient mit den älteren Herren.

Und dann geschah das, worüber ich geschwiegen habe. Jahrzehntelang. Sein Gesicht ist ausgelöscht. Er hatte mich am Karlsplatz angesprochen. Ich bin mit ihm zu seiner Wohnung gefahren. Was dort geschehen ist, habe ich tief in mein Unbewusstes verdrängt. Wenn ich die Augen schließe, ist er noch da: Der scharfe Schmerz. Die Angst. Die Schuld. Die Scham. Als der Perverse mit mir fertig war, hat er mich aus seiner Wohnung geworfen. Ich habe gekotzt, als ob ich das Erlebte aus meinem Körper würgen könnte. Habe mich in einem Keller verkrochen, nichts gegessen, wollte niemanden sehen. Ich weiß nicht, wie lange das so gegangen ist, es waren wohl Tage. Irgendwann hat mich die Polizei aufgegriffen und ins Heim zurückgebracht. Das Geschehene blieb mein »schmutziges Geheimnis«, das ich niemandem anvertraute. Erst vor wenigen Jahren, als es mir wieder einmal besonders dreckig ging, habe ich meine Scham überwunden und einer Ärztin davon erzählt. Sie hat es notiert und mir Antidepressiva verschrieben.