Aug in Aug mit dem Bösen - Astrid Wagner - E-Book + Hörbuch

Aug in Aug mit dem Bösen E-Book und Hörbuch

Astrid Wagner

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Eine schöne, begabte junge Frau aus Amerika, die es zum Studium nach Wien verschlagen hat - dort erwartet sie ein grausames Schicksal. Ein liebenswürdiger, junger Mann, den sich jede Mutter als Schwiegersohn wünschen würde - bis er eine alte Frau brutal zu Tode quält. Eine aufopfernde Mutter - keiner versteht, warum sie ihr geliebtes Kind ersticht. Ein erfolgreicher Wirtschaftsanwalt - nur wenige kennen seine dunkle Seite. Als Strafverteidigerin sieht Astrid Wagner täglich dem Bösen ins Auge. In diesem Buch schildert sie einige ihrer erschütterndsten Fälle: tödliche Beziehungsdramen, aufwühlende Schicksale, aber auch stille Tragödien, manchmal mit skurrilen Wendungen. Die berühmte Strafverteidigerin Astrid Wagner gewährt Einblick in etliche ihrer spektakulärsten Fälle -und damit in Abgründe der menschlichen Seele.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 273

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 2 min

Sprecher:Peter Bocek
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Häupler - geboren 1943 in Wien, besuchte ab 1969 die Wiener Kunstschule (Akt bei Professor Fritz Martintz). Im gleichen Jahr begann er ein Studium an der Alliance Française (Paris). Seit 1975 lebt und arbeitet Häupler als freischaffender Künstler in seiner Heimatstadt Wien. Anlässlich der Jubiläumsaustellung der Kunstschule Wien bekam er im Jahr 1976 den Künstlerhaus-Preis verliehen.

„ Konfrontiert mit Bildern von Gerhard Häupler sehe ich vieles, was gern verdrängt wird, nicht nur von Akademien, auch von vielen Galerien und vielen, vielen Menschen. Darüber spricht man nicht.

Darüber schreibt man nicht .

Das malt man nicht. Das malt Gerhard Häupler".

Hermann Schürrer

INHALT

Die Amerikanerin

Hoffnungslos romantisch

Der Totmacher

Böse Stimmen

Kleiner Engel

Unschuldsvermutung

Die Violinistin

Negative Energie

Der gute Sohn

Overkill

Lebensbeichte

Eine Autofahrt durch die Wachau: Schlussgedanken

Die in diesem Buch geschilderten Fälle und Personen fiktionalisiert. Sie beruhen auf meinen langjährigen Erfahrungen als Strafverteidigerin. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dr. Astrid Wagner

Die Amerikanerin

Colorado, USA. Eine mächtige Gebirgskette durchzieht das Land: die Rocky Mountains. Atemberaubende Naturlandschaften, so weit das Auge reicht. Die Winter sind kalt und schneereich, in Colorado liegen Amerikas beliebteste Skiorte, allen voran das mondäne Aspen. Die Sommer sind heiß und trocken. Ein besonderes Naturschauspiel bietet jedoch der Herbst, der berühmte »indian summer«: Da erstrahlen die Wälder in rotgoldenen Farbtönen, die zu einem tiefblauen Himmel kontrastieren.

Im Westen des Landes, inmitten dieses noch intakten Stücks Natur, liegt eine jener Kleinstädte, wie sie typisch für dieses authentische Stück Nordamerika sind: Eingebettet in beeindruckende Bergkulissen, mit breit angelegten Straßen, auf denen Pickups, Chevrolets oder Jeeps verkehren, und Bewohnern, die Nachbarschaftshilfe noch groß schreiben und am Sonntag in die Kirche gehen. Das weiß getünchte Landhaus liegt in einem weitläufigen Park am Stadtrand, es wirkt repräsentativ und dennoch bodenständig: Hier haben Leonie und ihre vier Jahre ältere Schwester Amy eine unbekümmerte Kindheit verbracht. Der Vater Professor an einem College, die Mutter erfolgreiche Immobilienmaklerin. Sie liebten es, ihre Kinder zu ausgedehnten Wanderausflügen in die Berge mitzunehmen, und so wuchs Leonie zu einem bewegungsfreudigen Mädchen heran. Mit zehn Jahren bekam sie von ihren Eltern ein eigenes Reitpferd geschenkt: Als sie »Aaron« das erste Mal sah, war es um sie geschehen. Leonie war eine geschickte Reiterin, ihr schlanker, elastischer Körper schien wie geschaffen für diesen eleganten Sport. Doch Leonie hatte noch viele andere Begabungen: Sie war überaus musikalisch, spielte hervorragend Klavier. Und sie lernte mit Begeisterung Fremdsprachen, vor allem Spanisch, Französisch und Deutsch. Doch Leonies Eltern achteten nicht nur auf eine gute Ausbildung ihrer Töchter, sondern auch darauf, dass ihnen Werte wie Respekt vor dem Mitmenschen und soziale Verantwortung beigebracht wurden.

* * *

Leonie ist zwölf, als ihre Eltern sich scheiden lassen. Die Erwachsenen sind vernünftig genug, um ihre Konflikte nicht über ihre Kinder auszutragen: Amy und Leonie leben weiterhin bei der Mutter, doch der Kontakt zum Vater bleibt eng und intensiv. Man kann über alles vernünftig reden, war immer die Devise der Familie gewesen, und das hat sich nach der Trennung der Eltern nicht geändert.

Als Leonie in die Pubertät kommt, distanziert sie sich ein wenig von ihrer Mutter, der Karrierefrau, die materiellen Werten zuviel Bedeutung beimisst, wie Leonie es empfindet. Sie fühlt sich eher zum Vater hingezogen, dem sportlichen Freigeist. Er ist ihr vom Wesen her wohl viel ähnlicher als die Mutter, und er nimmt sie so an, wie sie eben ist: ein etwas eigenwilliges, aber unheimlich liebenswürdiges und durchaus selbstbewusstes junges Mädchen, das sich von niemandem etwas dreinreden lässt. Derartiges wäre ihm auch niemals eingefallen. Im Gegenteil, er unterstützt sie in ihrem unbändigen Willen, die weite Welt kennenzulernen, ermöglicht ihr Reisen bis nach Europa, vor allem nach Frankreich: Sie ist siebzehn, als sie dieses Land zum ersten Mal bereist und sich in seinen unvergleichlichen Charme verliebt.

* * *

Amy, die große Schwester, scheint hingegen eher nach ihrer Mutter zu geraten: Sie fühlt sich traditionellen Werten verpflichtet, absolviert eine Ausbildung als Immobilienverkäuferin. Als Leonie mit achtzehn die Schule abgeschlossen hat, ist Amy schon verheiratet und Mutter. Die vielseitig begabte Leonie jedoch will sich noch nicht festlegen, was ihre Zukunft betrifft: Nach ein paar Semestern Französisch und ein paar weiteren an der Musikhochschule, wo sie Klavier studiert, entschließt sich die inzwischen zweiundzwanzigjährige Leonie, an einer europäischen Universität zu inskribieren.

In Wien sucht ein junges Paar gerade ein Au-pair-Mädchen für seinen zweijährigen Sohn.

* * *

Gambia, Westafrika. Irgendein winziges Dorf, auf der Landkarte ist es nicht mal eingezeichnet. Die Bewohner sind Kleinbauern, sie fahren täglich zum nahegelegenen Markt, um dort ihre landwirtschaftlichen Produkte wie Mais, Maniok oder Erdnüsse zu verkaufen. Hier wächst ein Junge namens Abdou heran. Seine Familie besitzt ein kleines Stück Land, von dessen Ertrag sie einigermaßen leben kann. Abdou geht nicht zur Schule. Seine Arbeitskraft wird auf dem Feld benötigt, gemeinsam mit seinen Geschwistern muss er bei der Ernte helfen und zum Markt mitfahren. Als sein Vater stirbt, übernimmt sein großer Bruder die Rolle des Familienoberhaupts. Abdou ist zwanzig und beschließt, gegen Norden zu ziehen, nach Libyen. Dort werden Arbeitskräfte gebraucht, die Verdienstmöglichkeiten scheinen verlockend. Die Realität sieht anders aus: Hilfsarbeiten am Bau unter härtesten Bedingungen, mehr als zehn Stunden täglich, fast keine Arbeitspausen. Und nicht selten bleibt er aus, der versprochene Lohn. Doch Abdou hält ein ganzes Jahr durch, denn er hat ein Ziel vor Augen: das »goldene Europa«! Abdou glaubt an dieses Märchen, das die Schlepper unter den Arbeitern verbreiten. Eines Tages hat er genug zusammengespart, um sich die Überfahrt leisten zu können. Nach zwei Tagen auf hoher See strandet er mit rund achtzig anderen Männern in Sizilien. Sie wissen nicht, dass ihre Odyssee erst beginnt.

* * *

»Sie war nicht das, was man sich unter einer typischen Amerikanerin vorstellt«, wird Bernd H., der Wiener Unternehmer, bei dem Leonie als Au-pair-Mädchen gearbeitet hatte, der Kriminalpolizei später erklären. »Sie war vielseitig interessiert, vor allem an moderner Kunst und Theater, war unheimlich belesen und gebildet. Sie hatte etwas Französisches an sich. Das Wichtigste für mich war natürlich, dass sie so liebevoll und unbefangen mit Max, meinem Sohn, umgegangen ist. Der Kleine war richtig vernarrt in sie.«

Wien und sein etwas morbider Flair haben Leonie alsbald gefangen genommen. Nach den Ferien inskribiert sie an der altehrwürdigen Wiener Universität das Fach Germanistik.

* * *

»Leonie war ziemlich kompliziert, manche meinten: versponnen. Aber ich, ich bin auch kein einfacher Mensch. Ich habe sie verstanden, als einer der wenigen Menschen. Wir hatten eine sehr enge Beziehung. Wir waren wie Schwestern. Ich würde uns sogar als Seelenverwandte bezeichnen«, gibt Julia S. bei der Polizei zu Protokoll. Die Germanistikstudentin hatte Leonie vor rund über einen Sprachkurs kennengelernt und eine Zeit lang mit ihr zusammengewohnt. Die kleine Studentenwohnung liegt in einem schicken Bohéme-Viertel, in den Biedermeier-Häuschen befinden sich alternative Cafés und Kunstläden. Julia S. wirkt nachdenklich, als sie weiter zu Protokoll gibt: »Leonie hat mal gemeint, dass sie jung sterben würde. Da habe ich sie aber nicht ernst genommen. Solche Sätze passten eben zu ihr und ihrer ein wenig melancholischen Art, die Welt zu sehen. Leonie hat oft tagelang überhaupt nichts gegessen. Sie war extrem blass, hatte oft bläuliche Schatten unter den Augen. Sie kleidete sich gern in dunklen Farben, trug meist schwarze Jeans, manchmal aber auch raffiniert geschnittene Kleider, die zu ihrer zarten Figur passten. Sie posierte gerne für künstlerische Fotos, meist waren die in Schwarz-Weiß. Das brachte ihren makellosen Teint zur Geltung. Sie war etwas Besonderes, und sie gefiel den Männern. Doch ihr Beziehungsleben war kompliziert, um es mal so auszudrücken. Da war Dave, ihr amerikanischer Freund. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt. Und dann gab es den Nils. Er stammt aus Schweden und studiert an der Musik-Hochschule in Wien. Ich habe ihn ein paarmal gesehen, ein sympathischer Typ. Mit Nils hatte sie eine Art On-Off-Beziehung: Eine Zeit lang waren sie zusammen, haben viel gemeinsam unternommen. Aber dann wurde ihr die traute Zweisamkeit plötzlich zu eng, und sie ging auf Distanz. Ich glaube, dass sie sich unverstanden gefühlt hat, vor allem von den Männern. Obwohl Leonie einen großen Freundeskreis hatte, war sie im Grunde ihres Wesens einsam.«

Die Beamten befragen Julia auch zu Leonies sexuellen Vorlieben. Sie antwortet ein wenig kryptisch: »Die offene Beziehung mit Nils hat in Leonie wohl das Interesse an Polyamorie erweckt. Seit einigen Monaten hatte sie zu mehreren Männern sexuelle Kontakte. Ich habe mir so meine Gedanken gemacht, und wir haben auch darüber gesprochen. Leonie konnte nur schwer Gefühle zulassen. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich durch härteren Sex irgendwie bestrafen wollte.«

Nachdem Julia im Vorjahr ausgezogen war, blieben die beiden Mädchen über die sozialen Medien in losem Kontakt. Julia S.: »Ich habe mitbekommen, wie sehr ihr das mit den Flüchtlingen nahegegangen ist. Sie wollte unbedingt helfen. Sie hat ehrenamtlich bei der Flüchtlingsbetreuung mitgearbeitet, sich um die Kinder gekümmert und Spenden gesammelt. So war sie eben, sozial engagiert und unendlich hilfsbereit. Sie hätte am liebsten der ganzen Welt geholfen! Leider war sie auch ein wenig naiv, mit der Mitleidsmasche konnte man sie leicht um den Finger wickeln. Am 22. Dezember hat sie Folgendes auf Facebook gepostet: ›Gibt es hier jemanden, der Platz für einen Flüchtlingsfreund hat? Pascal aus Gambia, den ich vor zwei Dienstagen getroffen habe, wurde deportiert und ist wieder geheim nach Wien gekommen. Er versteckt sich in meinem Apartment. Die Polizei hat seine Greencard konfisziert und hat er nun keinen Ausweis …‹ Ich habe sie angerufen und sie hat mir über ihren neuesten ›Problemfall‹ berichtet. ›Er hat einen wahnsinnig gut gebauten Körper‹, erklärte sie mir so nebenbei. Ob sie mit ihm eine sexuelle Beziehung hatte, weiß ich freilich nicht. Wie ich erfuhr, lag ihr Problem darin, dass in wenigen Tagen, nämlich zu Weihnachten, Dave aus den USA auf Besuch kommen sollte. Offenbar wäre es diesem Dave nicht recht gewesen, einen Schwarzafrikaner mit ›wahnsinnig gut gebautem Körper‹ vorzufinden. Ich kann mir vorstellen, dass sie in einer verzwickten Lage war, es waren ja plötzlich drei Männer da: Nils, Pascal, und dann auch noch Dave. ›Oh Leonie, du bringst dich schon wieder in Schwierigkeiten‹, dachte ich bei mir, sagte aber nichts. Weil sie sich ohnehin nie etwas ausreden hätte lassen.«

* * *

»Ich habe Leonie vor drei Jahren in Schweden kennengelernt. Sie war damals als Urlauberin dort. Ich habe mich in sie verliebt, denn sie war ein ganz besonderer Mensch«, gibt Nils L. bei der Polizei zu Protokoll. Der groß gewachsene, vierundzwanzigjährige Musikstudent aus Schweden ist das, was man einen lässigen Typen nennt: Lange, blonde Haare, gepflegter Dreitagebart, besonnene Ausstrahlung. Er gehört wohl zu jenen Menschen, die Leonie am nächsten standen. »Leonie hatte eine interessante Art, die Welt zu sehen. Ich habe mit ihr stundenlang über Albert Camus oder Thomas Bernhard diskutiert, um dann spontan mit ihr Sex zu haben. Wegen Leonie bin ich nach Wien übersiedelt. Bald habe ich erkannt, dass sie viel Freiraum für sich braucht: ›Die Liebe ist ein Kind der Freiheit!‹ hat sie mir klar gemacht. Für mich war es am Anfang ganz schön schwierig, aber dann habe ich es akzeptiert …« Die Vernehmung muss für fünf Minuten unterbrochen werden, Nils ist in Tränen ausgebrochen. Nach einer Viertelstunde setzt er fort: »Leonie hat mir gegenüber nichts verheimlicht. Sie hat mir Pascal, den Flüchtling aus Gambia, vorgestellt. Sie hat ihn in ihrer Wohnung untergebracht, weil er illegal hier war. Wegen ihm waren wir auch bei einer Menschenrechtsanwältin. Und ich wusste auch, dass sie einen Freund in den USA hatte. Dave war zu Weihnachten in Wien. Wegen ihm musste sie Pascal kurzfristig woanders unterbringen. Nach Daves Abreise ist er wieder eingezogen, er hatte ja keine andere Bleibe. Wissen Sie, ich war für Leonie mehr als ein Freund. Ich war ihr engster Vertrauter, zu dem sie immer gekommen ist, wenn sie jemanden gebraucht hat. Weil ich sie als das akzeptiert habe, das sie war: Als Kind der Freiheit.

In den letzten Wochen ist sie ganz in ihrer neuen Aufgabe als Flüchtlingshelferin aufgegangen. Sie hat Freundschaften zu den Flüchtlingen geschlossen, sie auch in ihre Wohnung mitgenommen. Sie hat mir auch diesen jungen Afghanen und seinen kleinen Bruder vorgestellt. Liebenswürdige, sympathische Jungs waren das. Als ich Leonie das letzte Mal gesehen habe, hat sie die Bemerkung fallen lassen: ›Ich glaube, ich habe einen Liebhaber!‹ Dabei hat sie ein wenig schelmisch gelächelt. Komischerweise verspürte ich dabei so etwas wie Erleichterung: ›Junge, du bist ja gar nicht mehr eifersüchtig!‹, habe ich mir selbst gratuliert.«

* * *

Mansour S. heißt er, der junge »Liebhaber« aus Afghanistan. Ein hübscher Teenager, die Gesichtszüge noch jungenhaft, er wird einmal ein attraktiver Mann werden. Er ist erst vor rund drei Monaten nach Österreich gekommen und wohnt in einer Wiener Flüchtlingsunterkunft. Mansour ist dort der Einzige, der sich ein bisschen auf Englisch verständigen kann, und so kam er mit der freiwilligen Flüchtlingshelferin Leonie ins Gespräch. Die beiden tauschten Telefonnummern und befreundeten sich über die sozialen Medien. »Wir haben einander ein oder zwei Wochen lang geschrieben, und dann hat sie mich auf einen Kaffee eingeladen«, erklärt Mansour bei seiner polizeilichen Einvernahme, während er immer wieder in Weinkrämpfe ausbricht. »Wir haben uns in einem Lokal getroffen. Ich hatte mein Heft und einen Kugelschreiber dabei, und sie hat mir gleich ein paar deutsche Worte beigebracht. Es stellte sich heraus, dass sie sich für meine Sprache, Farsi, interessiert. Also haben wir ausgemacht, dass ich ihr Farsi beibringen würde, während sie mit mir Deutsch lernt. Wir haben uns dann regelmäßig getroffen, in Kaffeehäusern oder Bars. Eines Abends hat sie mich in ihre Wohnung mitgenommen. Wir sind am Küchentisch gesessen und haben ein bisschen Wein getrunken. Da hat sie spontan meine Hand genommen, sie geküsst und damit ihre Wange gestreichelt. Ich war nervös, denn ich war noch nie zuvor mit einer Frau intim gewesen. Sie hat begonnen, mich sanft zu streicheln, und dann ging alles von selber … Mehr will ich darüber nicht sprechen, es ist unsere Privatsache. Es war alles gut zwischen Leonie und mir. Ich bin sehr betroffen über das, was geschehen ist.«

»Erzählen Sie uns über den Abend des 23. Jänner«, hakt der Polizist nach.

»Es war ein Samstagabend, und Leonie hat ein Abendessen in ihrer Wohnung organisiert«, setzt Mansour S. fort. »Ich war mit ein paar Freunden aus der Flüchtlingsunterkunft dort. Auch ein Mann aus Schwarzafrika war dabei. Er war sehr schlank und hatte sehr dunkle Haut. Er nannte sich Pascal und kam aus Gambia, wie er mir erklärte. Wir haben unsere Telefonnummern ausgetauscht. Auf der Party gab es auch Alkohol, wir alle haben getrunken. Gegen zehn Uhr abends sind die Jungs aus Afghanistan nach Hause aufgebrochen. Ein bisschen später, gegen ein Uhr morgens, ist dann der Afrikaner gegangen. Er wollte in eine Disco, wie er uns erklärt hat. Leonie und ich sind noch eine Zeitlang bei gemütlichem Kerzenlicht gesessen und uns dann auf die breite Matratze am Boden gelegt. Wir hatten Sex. Irgendwann bin ich eingeschlafen.

Nach ein paar Stunden habe ich gehört, wie jemand die Wohnungseingangstüre aufsperrt. Auf der Uhr meines Handys habe ich gesehen, dass es zirka vier Uhr morgens war. Pascal ist ins Zimmer gekommen. Ich habe mich gewundert, dass er einen Schlüssel hat. Er hat zu uns hinübergeschaut und gesehen, wie ich meinen Arm um Leonie geschlungen hatte. Sie hat zu diesem Zeitpunkt tief geschlafen. Pascal hat sich dann auf die Couch gelegt, die auf der anderen Seite des Zimmers steht. Er hatte aber offenbar Probleme damit, einzuschlafen, denn ich habe gehört, wie er sich ständig hin und her gewälzt hat. Er ist auch ein paarmal aufgestanden und herumgegangen. Das ging bis sieben Uhr früh so, dann bin ich eingeschlafen.

So gegen neun Uhr morgens bin ich aufgewacht, kurz danach war auch Leonie wach. Wir haben gefrühstückt, während Pascal auf der Couch geschlafen hat. Leonie hat mir dann erklärt, dass sie den ganzen Tag über lernen müsse und sie mich daher erst am Abend anrufen würde. Gegen elf Uhr vormittags habe ich die Wohnung verlassen. Pascal hat noch immer geschlafen. Ich habe dann einen österreichischen Freund besucht. Er heißt Günther W. und gebe ich Ihnen seine Telefonnummer: 0676/(…). Danach gingen wir zu Frau L., die mit uns Deutsch gelernt hat, ich gebe Ihnen auch ihre Telefonnummer: 0664/(…)

Gegen Mittag habe ich erstmals versucht, Leonie anzurufen, aber sie hat nicht abgehoben. Kurz danach, nämlich um 12.46 Uhr, hat mein Handy geläutet: Es war Pascal. Ich habe abgehoben, mehrmals ›Hallo‹ in den Hörer gerufen, doch es hat sich niemand gemeldet. Dann habe ich nochmals versucht, Leonie anzurufen, aber sie hat wieder nicht abgehoben. Ich versuchte es mit Pascals Nummer, doch er hat ebenfalls nicht abgehoben. Wenige Minuten später kam ein erneuter Anruf von seinem Handy, und ich habe sofort abgehoben. Niemand hat sich gemeldet, doch ich konnte im Hintergrund ein tiefes Atmen hören. Ich vermute, dass es das Atmen von Leonie war. Dann wurde aufgelegt. Ich habe sofort wieder Pascals Nummer angewählt. Diesmal hat er abgehoben, sagte aber nur: ›Wrong number!‹ Dann hat er aufgelegt.

Bis zum Abend habe ich immer wieder versucht, Leonie zu erreichen. Ihr Handy war auch eingeschaltet, aber es hat niemand abgehoben. Zuletzt habe ich es um acht Uhr abends lange läuten lassen. Danach war ihr Telefon aus, es meldete sich sofort die Mobilbox.

Am Montag, den 25. Jänner um 11.03 Uhr hat mich Pascal angerufen. Da ich im Deutschkurs war, konnte ich nicht abheben. Ich habe ihn um 12.11 Uhr zurückgerufen: Er hat abgehoben, jedoch wieder nur gesagt: ›Wrong number!‹ Ich habe ihn dann den ganzen Tag über zu erreichen versucht, aber er hat nicht mehr abgehoben. Am Abend um 20.39 Uhr hat er mich dann angerufen und ›Mansour? Mansour?‹ in den Hörer geschrien. Dann hat er aufgelegt, um mich wenige Minuten später wieder anzurufen, diesmal brüllte er in den Hörer: ›Komm, komm!‹ Im Hintergrund war es sehr laut, sodass ich nicht verstehen konnte, wohin ich kommen sollte. Seitdem habe ich Pascal nicht mehr erreicht.«

* * *

»Meine Frau und ich hatten am 20. Jänner das letzte Mal persönlichen Kontakt zu Leonie. Da ist sie zu uns nach Hause gekommen und hat auf Max aufgepasst«, gibt der Unternehmer Bernd H. bei der Polizei zu Protokoll. »Bei diesem letzten Treffen war ausgemacht, dass sie am Montag, den 25.1. gegen 15 Uhr Max vom Kindergarten abholen und auf ihn aufpassen soll. Ich habe an diesem Tag gegen 12 Uhr mittags versucht, sie telefonisch zu erreichen, um sie zu fragen, ob sie auch am Mittwochabend Zeit für Max hätte. Es meldete sich sofort die Mobilbox. Am Nachmittag hat mich meine Frau angerufen und mir mitgeteilt, dass sie von der Logopädin informiert worden wäre, dass Max und Leonie nicht zum vereinbarten Termin erschienen wären. Meine Frau hat dann im Kindergarten nachgefragt und erfahren, dass Max gar nicht abgeholt wurde. Daraufhin hat meine Frau erfolglos versucht, Leonie am Handy zu erreichen. Dieses für sie völlig untypische, unverlässliche Verhalten hat meine Frau sehr beunruhigt. Sie hat über Facebook Nils L. kontaktiert, der sich gerade in Dänemark aufhielt. Abends ist sie dann bei Leonies Wohnung vorbeigefahren. Es war alles finster.«

Am Morgen des 26. Jänner um 9.05 Uhr erstattet Bernd H. Abgängigkeitsanzeige.

* * *

Mansour S. gibt, fortgesetzt einvernommen, an: »Am Dienstag, den 26. Jänner hat mich Leonies Freund Nils angerufen. Er kam gerade aus Dänemark zurück und machte sich Sorgen, weil er Leonie nicht mehr erreichen konnte. Wir fuhren zu ihrer Wohnung, läuteten Sturm, doch niemand öffnete. Wir haben die Nachbarn befragt, doch die wussten auch nichts. Dann haben wir die Lokale in der Umgebung abgesucht. Niemand wusste etwas über ihren Verbleib. Schlussendlich sind wir zur Polizei gegangen, um eine Vermisstenmeldung zu machen. Auf der Polizeiinspektion haben wir erfahren, dass der Unternehmer, für den Leonie arbeitet, schon eine Vermisstenmeldung gemacht hatte. Ich hatte das ungute Gefühl, dass dieser Pascal etwas mit Leonies Verschwinden zu tun haben könnte.«

* * *

Um 17.50 Uhr des 26. Jänner wird Leonies Wohnung von der Feuerwehr polizeilich geöffnet. Es ist stockdunkel. Die Beamten versuchen, Licht zu machen, doch abgesehen von der im Bad gibt es keine einzige Glühbirne in der Wohnung. Der Hausmeister hilft mit zwei Glühbirnen aus. Aus dem Anlassbericht des Wiener Landeskriminalamts: »In der Küche befinden sich mehrere heruntergebrannte Kerzen. Spuren eines Kampfes, wie verrückte Möbel udgl. konnten nicht festgestellt werden. In der gesamten Wohnung befinden sich an der Wand handgeschriebene Zettel in englischer Sprache. Der Inhalt der Postings ist unbekannt. Die Leiche der Leonie M. lag im Wohnzimmer, in Bauchlage auf einer Matratze am Boden. Der Kopf war mit einem umgestülpten Pullover und einem T-Shirt zugedeckt. Der Unterkörper der Leiche war nackt, der Oberkörper mit einem schwarzen T-Shirt und einem schwarzen BH bekleidet, an beiden Füßen befanden sich graue Socken. Neben dem rechten Fuß der Leiche lag die umgestülpte Jeanshose und, darin verwickelt, die Unterhose der Toten. Nach Entfernung des über dem Kopf befindlichen T-Shirts konnte bei der äußeren Besichtigung im Kopfbereich massiv gestocktes helles Blut, welches mit dem Kopfhaar verklebt war und sich auf der Matratze fortsetzte, festgestellt werden. Da die Leiche auf dem Gesicht lag, konnte die Ursache des massiven Blutverlustes ohne Lageveränderung nicht festgestellt werden. Da Fremdverschulden am Tod der M. Leonie nicht ausgeschlossen werden konnte und um ev. Spuren an der Leiche nicht zu vernichten, wurde die polizeiliche Kommission abgebrochen und die zentrale Tatortgruppe 3 verständigt. Diese kam zum Auffindungsort und übernahm die weitere Tatort/Spurensicherung.«

Wie sich bald herausstellt, fehlen auch einige von Leonies persönlichen Gegenständen: ihr Handy, ihr Mac-Book und ihre Geldbörse.

Die Staatsanwaltschaft ordnet die Obduktion an. Das gerichtsmedizinische Gutachten kommt zum Schluss, dass die 25-jährige Leonie M. »infolge Erstickens eines gewaltsamen Todes gestorben ist.« Auffallend: Die Tote weist keine Abwehrverletzungen auf …

* * *

»Kriminalrätsel um den Tod der schönen Studentin!« Die Medien sind voller Berichte über das schockierende Verbrechen. Erste Bilder der Toten werden veröffentlicht. Sie zeigen ein Mädchen von eigenwilliger Schönheit. Rötlich schimmerndes Haar, blasses Gesicht, und vor allem: große, auffallend helle Augen. Auf einigen der Bilder blickt sie mit hochgezogenen Brauen provokant in die Kamera. Man spürt ihren Hang zur Selbstdarstellung, aber auch Selbstironie. Auf keinem der Bilder lächelt sie.

Aufgrund der Medienberichte melden sich viele von Leonies Freunden bei der Polizei, um sachdienliche Hinweise zu geben. Viele erinnern sich jetzt an Leonies Facebook-Posting, in dem sie nach einem Platz für den »Flüchtlingsfreund aus Gambia« suchte, und fragen sich jetzt, ob ihr Tod damit zu tun haben könnte. Wie sich herausstellt, hatte sie einen großen, sehr bunten Bekanntenkreis. Ein schwuler Künstler ist dabei, in seiner Atelierwohnung hatte Leonie die ersten Monate in Wien verbracht: »Könnte Pascal bei dir wohnen?«, hatte sie ihn im Dezember angebettelt. Es wurde nichts daraus, der schwule Freund hatte inzwischen einen Lebenspartner und keinen Platz mehr. Eine von Leonies Freundinnen lebt in Paris, auch sie erhielt eine SMS: »Ich suche dringend einen Platz für einen ›ami sans papiers‹1 aus Gambia!« Andere von Leonies Freunden wissen jedoch zu berichten, dass Leonie offenbar zusehends Probleme mit ihrem »Flüchtlingsfreund« hatte: »Er kam aus einer anderen Kultur und gefiel ihm ihre freie Art zu leben nicht. Er kritisierte sie als ›ausschweifend‹ …«, gibt einer bei der Polizei zu Protokoll.

* * *

Pascal bleibt spurlos verschwunden. Was jedoch längst nicht bedeuten muss, dass er Leonies Mörder ist. Bei dem riesigen Freundeskreis der Amerikanerin kommen viele als Täter in Betracht. Die Männer und Burschen werden gefragt, ob sie mit der Abnahme eines Mundhöhlenabstrichs für eine DNA-Vergleichsuntersuchung einverstanden sind. Alle sind es. Auch jene Burschen, die von der Polizei besonders genau unter die Lupe genommen werden, weil sie am Abend des 23. Jänner zum Abendessen in Leonies Wohnung waren. Mansour wirkt extrem betroffen. Er scheint ernsthaft verliebt in Leonie gewesen zu sein. Sie war die erste Frau in seinem jungen Leben, mit der er eine sexuelle Beziehung hatte. Als dann irgendjemand über Facebook die Nachricht verbreitet, dass er »Leonies letzter Liebhaber« gewesen sei, werden wüste Drohungen und Beschimpfungen an seine Chronikseite gepostet: »Mörder!« Der verzweifelte Bursche zieht sich völlig zurück.

* * *

Die Wiener Staatsanwaltschaft hat jedoch einen anderen Verdächtigen im Visier: Am 31. Jänner wird Haftbefehl gegen einen vierundzwanzigjährigen Asylwerber namens Abdou I. erlassen. Den Zeugen Nils L. und Mansour S. waren Lichtbilder vorgehalten worden. Beide haben den Asylwerber »mit hoher Wahrscheinlichkeit« als jenen »Pascal« identifiziert, den Leonie in ihrer Wohnung aufgenommen hatte. Nils L. betont allerdings, dass er dem freundlichen Afrikaner so eine Tat »niemals zutrauen« würde. Dass er abgetaucht ist, spricht nicht unbedingt für seine Täterschaft, immerhin war er illegal im Land. Verdächtig ist jedoch, dass das aus der Wohnung entwendete Mobiltelefon des Opfers einige Stunden lang in denselben Sendebereichen innerhalb Wiens eingeloggt gewesen war wie jenes von Abdou I. Am 24. Jänner um 15.54 Uhr war Leonies Handy schließlich abgeschaltet worden. Aus der Rufdatenauswertung des Mobiltelefons des Verdächtigen ergibt sich, dass er sich vermutlich ins Ausland abgesetzt hat. Abdou I. wird europaweit zur Fahndung ausgeschrieben.

Seine Flucht währt nicht lange: Am 4. Februar kann er in einem italienischen Flüchtlingsquartier ausfindig gemacht und verhaftet werden. Da er sich einer freiwilligen Auslieferung nach Österreich widersetzt, muss erst einmal ein kompliziertes Auslieferungsverfahren in die Wege geleitet werden. Allerdings stimmt Abdou I. einem Mundhöhlenabstrich zwecks Entnahme von DNA zu. Am 21. März ist das Verfahren abgeschlossen, er wird von den italienischen Behörden der österreichischen Justiz übergeben.

* * *

Ich habe nie herausgefunden, wer mir den anonymen Brief geschrieben hat: »Bitte helfen Sie dem Abdou I.! Er ist ein armer Asylant! Sie sind eine Anwältin mit Herz!« Mir ist klar: Finanziell wird bei diesem Fall nichts herausspringen. Aber ich habe mich beileibe nicht des Geldes wegen dem Anwaltsberuf verschrieben. Der Fall interessiert mich: Vielleicht hat es wieder einmal einen Unschuldigen getroffen? Einen mittellosen Asylwerber, den man leicht etwas anhängen kann, weil er kein Geld für einen guten Verteidiger hat?

* * *

Zwei Tage später, im Halbgesperre der Justizanstalt. Er ist sehr dunkelhäutig und hat einen schlanken, feingliedrigen Körper. Die weite Jeanshose hängt lässig an seinen schmalen Hüften, auch das bunt bedruckte T-Shirt ist Größe X-Large. Seine Art, sich zu bewegen, ist überaus geschmeidig. Er erinnert mich an einen Panther in einem Käfig. Er lächelt mich an, es ist wohl aus Verlegenheit. Er spricht ein ganz passables Englisch, und nachdem ich mich vorgestellt habe, legt er los: Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, er macht so gut wie keine Pausen zwischen den Sätzen, und ich habe Mühe, seinen wilden Gedankensprüngen zu folgen. Immer wieder starte ich den Versuch, ein paar Fragen zu stellen, doch er antwortet stets ausweichend, um dann weit auszuholen. Ab und zu gelingt es mir, ihn zu unterbrechen, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren. So viel habe ich bei diesem ersten Haftbesuch aber herausgehört: Abdou I. fühlt sich völlig unschuldig. Er will zur Tatzeit nicht einmal in Österreich gewesen sein, die Polizei habe ihn doch schon im Dezember nach Italien abgeschoben! Leonie kenne er flüchtig, weil er ihr damals Drogen verkauft habe, und Sex mit ihr habe es nur ein einziges Mal gegeben – als Gegenleistung für die Drogen! Leonie, soviel habe er mitbekommen, habe viele Männer gehabt, die alle als Täter in Frage kämen! »Ich habe freiwillig den DNA-Test gemacht, denn ich weiß, dass ich es nicht war!«, erklärt er mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel mehr zulässt.

Nach unserem Gespräch unterschreibt er die Vollmacht. In Blockbuchstaben: Sein Name ist das einzige Wort, das er schreiben kann.

* * *

Das Erste, was zu tun ist: den Akt bestellen. Er ist rechtzeitig fertig, am Freitag, damit ich ihn übers Wochenende studieren kann. Es ist ein dicker Wälzer, aber so spannend, dass ich schon am Samstag damit fertig bin. Auch das DNA-Gutachten ist dabei – mit einem eindeutigen Ergebnis: »Am übermittelten Spurenmaterial wurden Spermaspuren von Abdou I. in der Vagina, am Rücken und im After nachgewiesen. Das Spurenverteilungsmuster der Spuren von Vagina, Rücken, After und Schrittbereich der beiden Slips lässt den Rückschluss auf einen Geschlechtsverkehr von Leonie M. mit Mansour N. und einen späteren Geschlechtsverkehr von Leonie M. mit Abdou I. zu.«

Als ich Abdou I. am Montag mit dem Gutachten konfrontiere, verdunkelt sich seine Miene. Er bleibt dabei: »Das kann nicht sein! Das ist eine Lüge! Ich war nicht in Österreich …«

* * *

»Wolof« heißt die Muttersprache meines Mandanten, sie wird im Senegal und in Gambia gesprochen. Es ist schwierig, in Wien einen Dolmetscher zu finden, der dieser Sprache mächtig ist. Schließlich finde ich eine junge Afrikanerin, die mich beim nächsten Haftbesuch begleitet. Insgeheim hoffe ich, dass mein Mandant sich ihr gegenüber öffnen wird. Vergeblich. Im Gegenteil, im Beisein dieser attraktiven Frau beharrt er umso hartnäckiger auf seiner Version, zur Tatzeit nicht in Österreich gewesen zu sein. Trotz des eindeutigen DNA-Treffers …

Wenig später liegt die Mordanklage vor. Als Motiv führt die Staatsanwältin »Eifersucht« an: ausgelöst dadurch, dass der Angeklagte Leonie M. in den Armen des jungen Afghanen vorgefunden habe.

* * *

»Ich war nicht in Wien, ich kann es nicht gewesen sein! Ich stamme aus Gambia, wir sind dort keine Terroristen!« Abdou I. rutscht unruhig auf dem Sessel hin und her, fuchtelt mit den Händen, redet wie ein Wasserfall. Er ist immer sehr aufgeregt, wenn er seine Unschuld beteuert. Nach einigen weiteren Haftbesuchen wird mir klar, dass ich mit ihm so nicht weiterkommen werde. Der DNA-Treffer ist eindeutig und wird nicht wegerklärt werden können. Doch das Motiv »Eifersucht« ist mehr als fragwürdig, und vor allem: Es ist für mich längst nicht erwiesen, dass Leonie S. vorsätzlich ermordet wurde – die Leiche wies überhaupt keine Abwehrverletzungen auf. Wurde die junge Frau in Wirklichkeit Opfer eines Sex-Unfalls? Viel mehr Hinweise als die kryptischen Angaben der Zeugin Julia S., wonach ihre Freundin Leonie sich durch härteren Sex möglicherweise bestrafen habe wollen, finde ich allerdings nicht im Akt.

* * *

Sex. Gerade bei diesem Thema fällt es mir sehr schwer, an meinen Mandanten heranzukommen. Er blockt. Schaut mir nicht in die Augen. Betont, niemals »harten« Sex praktiziert zu haben. Auch dann nicht, wenn eine Frau das ausdrücklich von ihm gewollt hätte. Unvermutet frage ich ihn, ob er denn gläubig sei – und habe offenbar so etwas wie einen »wunden Punkt« getroffen: Er richtet sich ruckartig auf und stößt ein kurzes Gebet in arabischer Sprache aus. Er ist also Moslem. Und hat offenbar große Probleme damit, sich dem Thema Sexualität unbefangen zu nähern.

Doch ich gebe nicht auf, sondern konsultiere einen Psychotherapeuten, der mich bei den folgenden Haftbesuchen begleitet. Ich lasse die beiden auch mal alleine. Abdou I. wird zusehends ruhiger. Geht er langsam in sich? Nachdem ich ihm vor Augen geführt habe, was ihm blühen könnte: eine lebenslange Haftstrafe für einen Mord, der womöglich keiner war?

* * *

Der Psychotherapeut ist heute noch davon überzeugt: Nach monatelanger Therapie in einem geschützten Rahmen wäre es ihm gelungen, meinen Mandanten zu knacken. Doch die Untersuchungshaft in einer österreichischen Justizanstalt ist kein geeigneter Ort für ein derart schwieriges psychotherapeutisches Unterfangen. Obwohl es ein paarmal den Anschein hat, dass Abdou I. dem Therapeuten etwas anvertrauen will, schreckt er im letzten Augenblick davor zurück. Um fast schon gebetsmühlenartig zu beteuern, dass er zur Tatzeit gar nicht in Wien gewesen sei. Ein Sex-Unfall oder dergleichen, damit kann er schon gar nichts anfangen: »Ich habe nur normalen Sex mit einer Frau, ich bin ganz soft …«

Seine Unschuldsbeteuerungen wirken so überzeugend, dass mir klar wird: Er ist wohl selbst davon überzeugt. Der Psychotherapeut kommt schließlich zum selben Ergebnis: Sollte Abdou I. tatsächlich etwas mit der Tat zu tun haben, dann hat er das so gründlich in sein Unbewusstes verdrängt, dass er sich an nichts mehr erinnern kann.

* * *

Im Frühjahr, rund ein halbes Jahr nach der Tat, findet die Hauptverhandlung vor einem Wiener Geschworenengericht statt.

Ich darf meinem Mandanten nicht in den Rücken fallen. Ich versuche daher, Widersprüche im DNA-Gutachten aufzuzeigen, konfrontiere die Gutachterin mit ausgefeilten Fragen. Es nützt nichts. Im Gegenteil, je länger ich sie befrage, desto sicherer werden ihre gutachterlichen Schlussfolgerungen: 1 zu 8 Milliarden sei die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung. »Haben Sie einen eineiigen Zwilling?«, fragt sie den Angeklagten. Der verneint.

Die Art meines Mandanten, den an ihn gestellten Fragen auszuweichen, nervt den Richter. »Kommen Sie mal her!«, winkt er ihn zum Richtertisch. »Kennen Sie diese Frau?« Abdou I. sieht erstmals Farbfotos des ermordeten Mädchens. Er verneint. »Auf diesen Bildern sieht sie halt nicht mehr so schön aus …«, bemerkt der Richter mit galliger Miene. Abdou I. sieht ihn verständnislos an. Der Richter zeigt ihm ein kleines Tattoo am Oberschenkel der Toten, der Angeklagte will es nicht erkennen: »Es war immer dunkel, wenn wir Sex hatten …« Der Richter klappt verärgert die Tatortmappe zu.

Und dann tischt mein Mandant dem Gericht auch noch überraschend drei Zeugen auf, die bestätigen könnten, dass er zur Tatzeit nicht in Wien gewesen sei. Freilich kennt er weder deren Adressen noch die vollen Namen. Nachdem Abdou I. über Befragen des Richters schließlich einräumen muss, im Grunde gar nicht zu wissen, wo er sich Ende Jänner tatsächlich aufgehalten habe – jedenfalls nicht in Wien, da sei er sich aber schon sicher –, weist das Gericht den Beweisantrag kurzerhand ab.

* * *

Da mir von vornherein klar war, dass die abstrusen Unschuldsbeteuerungen meines Mandanten nichts bringen werden, habe ich mir freilich eine Ersatz-Strategie überlegt: Erstens sei fraglich, so meine Argumentation im Gerichtssaal, dass hier überhaupt ein Mord geschehen ist. Alles deute vielmehr auf einen Unfall bei einem einvernehmlichen Ge