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In neuer Übersetzung von Nikolaus Stingl: «Absalom, Absalom!», der vielleicht berühmteste und beste Roman aus dem Faulkner'schen Mythos des Yoknapatawpha County in Mississippi. Aus der biblischen Geschichte von Absalom, in die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs versetzt, wird die Geschichte der Sutpens, die sich über mehr als ein Jahrhundert erstreckt. Thomas Sutpen stammt aus einer armen weißen Familie, heiratet auf Haiti die reiche Eulalia Bon und taucht 1833 plötzlich mit einem Haufen schwarzer Sklaven in Jefferson auf, wo er Land kauft, ein Herrenhaus errichtet, ein zweites Mal heiratet und gesellschaftliches Ansehen erwirbt. Er hat aus dieser Ehe zwei Kinder, Judith und Henry, aber er hat eben auch einen Sohn aus der ersten Ehe, Charles Bon, einen Studienfreund Henrys, der sich ahnungslos in Judith verliebt. Nach Ende des Bürgerkriegs, der die Liebenden für eine Weile trennt, kommt es zu einer fatalen Begegnung zwischen Charles und Henry, in deren Verlauf Henry seinen Halbbruder erschießt – nicht etwa wegen des drohenden Inzests, sondern wegen des möglichen «Negerbluts» in den Adern von Charles. Henry flieht und lässt seinen Vater ohne männlichen Erben zurück, womit der Niedergang der Familie Sutpen besiegelt scheint ... All das kommt bruchstückhaft vor die Augen des Lesers, mit großen Zeitsprüngen und einer Erzähltechnik, die den amerikanischen Roman revolutioniert und zahlreiche Schriftsteller weltweit beeinflusst hat. Es geht um Schuld und Schuldgefühle der Sklavenhaltergesellschaft, den unmöglichen Versuch, die Niederlage im Bürgerkrieg als notwendig zu erkennen, die Macht des Geldes und die Verwüstungen, die es anrichtet. Es ist ein phantastisches Zeitbild, heute so modern und aktuell wie damals.
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Seitenzahl: 669
William Faulkner
Absalom, Absalom!
Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Ihr Verlagsname
In neuer Übersetzung von Nikolaus Stingl: «Absalom, Absalom!», der vielleicht berühmteste und beste Roman aus dem Faulkner'schen Mythos des Yoknapatawpha County in Mississippi.
Aus der biblischen Geschichte von Absalom, in die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs versetzt, wird die Geschichte der Sutpens, die sich über mehr als ein Jahrhundert erstreckt.
Thomas Sutpen stammt aus einer armen weißen Familie, heiratet auf Haiti die reiche Eulalia Bon und taucht 1833 plötzlich mit einem Haufen schwarzer Sklaven in Jefferson auf, wo er Land kauft, ein Herrenhaus errichtet, ein zweites Mal heiratet und gesellschaftliches Ansehen erwirbt. Er hat aus dieser Ehe zwei Kinder, Judith und Henry, aber er hat eben auch einen Sohn aus der ersten Ehe, Charles Bon, einen Studienfreund Henrys, der sich ahnungslos in Judith verliebt. <br/>
Nach Ende des Bürgerkriegs, der die Liebenden für eine Weile trennt, kommt es zu einer fatalen Begegnung zwischen Charles und Henry, in deren Verlauf Henry seinen Halbbruder erschießt – nicht etwa wegen des drohenden Inzests, sondern wegen des möglichen «Negerbluts» in den Adern von Charles. Henry flieht und lässt seinen Vater ohne männlichen Erben zurück, womit der Niedergang der Familie Sutpen besiegelt scheint ... <br/><br/>
William Faulkner, am 25. September 1897 in Albany, Mississippi, als William Cuthbert Falkner geboren, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Neben seinem umfänglichen Werk, einer Chronik von Glanz und Verfall der Südstaaten, verfasste er Drehbücher, unter anderem zu Raymond Chandlers «The Big Sleep» und Ernest Hemingways «To Have and Have Not», beide unter der Regie von Howard Hawks. Faulkner wurde zweimal mit dem Pulitzer-Preis und dem O'Henry Award ausgezeichnet, erhielt den National Book Award und 1950 den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 6. Juli 1962.
Von kurz nach zwei Uhr bis fast zum Sonnenuntergang an jenem langen, stillen, heißen, müden, toten Septembernachmittag saßen sie in dem Raum, den Miss Coldfield immer noch das Büro nannte, weil ihr Vater ihn so genannt hatte – einem dämmerigen, heißen, stickigen Raum, dessen Fensterläden seit dreiundvierzig Sommern allesamt geschlossen und verriegelt waren, weil irgendwer in ihrer Jungmädchenzeit geglaubt hatte, dass Licht und bewegte Luft Hitze brächten und Dunkelheit stets kühler sei, und der (während die Sonne immer kräftiger auf jene Seite des Hauses schien) ein gelbes Streifenmuster voller Stäubchen bekam, die Quentin sich als Teilchen der toten, alten, getrockneten und von den Fensterläden abblätternden Farbe dachte, hereingeweht, wie etwa ein Windstoß sie hereingeweht haben könnte. An einem Spalier vor einem Fenster blühte zum zweiten Mal in diesem Sommer eine Glyzinie, in die sich ab und zu in wahllosem Schwall Spatzen setzten, die ein trockenes, lebhaftes, staubiges Geräusch machten, bevor sie wieder wegflogen: Und Quentin gegenüber, in dem ewigen Schwarz, das sie seit nunmehr dreiundvierzig Jahren trug, ob für Schwester, Vater oder Nichtehemann, wusste kein Mensch, Miss Coldfield, die kerzengerade auf dem harten Holzstuhl saß, der zu hoch für sie war, sodass ihre Beine gerade und starr, als hätte sie Schienbeine und Knöchel aus Eisen, daran herabhingen, ohne den Boden zu berühren, mit der Anmutung ohnmächtiger, statischer Wut wie Kinderfüße, und die mit jener grimmigen, verhärmten, fassungslosen Stimme sprach, bis sich endlich das Gehör abmeldete und kein Verlass mehr darauf war und der längst schon tote Gegenstand ihrer ohnmächtigen, aber unbezähmbaren Enttäuschung, wie durch empörte Rekapitulation heraufbeschworen, still, gleichgültig und harmlos aus dem abwartenden, träumerischen und siegreichen Staub erstand.
Ihre Stimme verstummte nicht, sie versickerte einfach. Dann war da nur noch das dämmerige, nach Sarg riechende Dunkel mit dem von der unbarmherzigen, stillen Septembersonne verdichteten, destillierten und hyperdestillierten süßen, zu süßen Duft der zweimal erblühten Glyzinie an der Außenwand, in das ab und zu, wie ein von einem müßigen Knaben mit einem biegsamen Stock geführter Streich, die laute Flatterwolke der Spatzen drang, und der ranzige Geruch von altem, schon lange mit Jungfräulichkeit bewehrtem Weiberfleisch, während das fahle, verhärmte Gesicht über dem zarten Dreieck aus Spitze an Handgelenken und Hals ihn von dem zu hohen Stuhl aus beobachtete, auf dem sie einem gekreuzigten Kind ähnelte; und die Stimme verstummte nicht, sondern versickerte immer wieder in den langen Abständen wie ein Bach, ein von einem trockenen Sandflecken zum nächsten laufendes Rinnsal, und das Gespenst sinnierte mit schemenhafter Sanftmut, als wäre es die Stimme, in der es herumspukte, wo ein Glücklicherer ein Haus gehabt hätte. Wie ein Donnerschlag aus der Stille brach er (Mann-Pferd-Dämon) herein über einen Schauplatz, so friedlich und gesittet wie ein Klassenzimmer-Aquarell, in Haaren, Kleidern und Bart noch einen schwachen Schwefelgestank, hinter ihm gruppiert seine Bande halbwilder Nigger wie Tiere, mühsam dazu abgerichtet, menschengleich aufrecht zu gehen, in wilden und ruhigen Haltungen, und unter ihnen, gefesselt, der französische Architekt mit seiner grimmigen, abgezehrten, zerrissenen Miene. Reglos, bärtig und mit erhobener Hand saß er da, der Reiter; hinter ihm drängten sich still die wilden Schwarzen und der gefangene Architekt, in den Händen in unblutigem Paradox die Schaufeln, Hacken und Äxte friedlicher Eroberung. Dann, längst nicht mehr verwundert, schien es Quentin, als sähe er ihnen dabei zu, wie sie die hundert Quadratmeilen beschaulicher, erstaunter Erde plötzlich überrannten, Haus und Gartenanlagen gewaltsam aus dem geräuschlosen Nichts zerrten, sie unter der reglos erhobenen, hohepriesterlichen Hand hinklatschten wie Karten auf einen Tisch und Sutpen’s Hundred schufen, ein Es werde Sutpen’s Hundred wie das Es werde Licht aus alter Zeit. Dann meldete sich das Gehör zurück, und nun war ihm, als lauschte er zwei getrennten Quentins – dem Quentin Compson, der sich im Süden, dem tiefen, seit 1865 toten und mit geschwätzigen, empörten, ratlosen Gespenstern bevölkerten Süden, auf Harvard vorbereitete und einem der Gespenster lauschte, lauschen musste, das sich geweigert hatte, noch länger als die meisten still zu liegen, und ihm von alten Gespensterzeiten erzählte; und dem Quentin Compson, der noch zu jung war, um schon verdientermaßen ein Gespenst zu sein, aber trotz alledem eines sein musste, weil er genau wie sie im tiefen Süden geboren und aufgewachsen war – und die beiden getrennten Quentins redeten nun im langen Schweigen von Nichtmenschen in Nichtsprache folgendermaßen miteinander: Es scheint, dass dieser Dämon – er hieß Sutpen – (Colonel Sutpen) – Colonel Sutpen. Der ohne Vorwarnung aus dem Nirgendwo mit einer Bande seltsamer Nigger über das Land herfiel und eine Plantage gründete – (Mit Gewalt eine Plantage aus dem Boden stampfte, sagt Miss Rosa Coldfield) – sie mit Gewalt aus dem Boden stampfte. Und ihre Schwester Ellen heiratete und einen Sohn und eine Tochter zeugte, die – (Ohne Sanftheit zeugte, sagt Miss Rosa Coldfield) – ohne Sanftheit. Die sein ganzer Stolz und der Schild und Trost seines Alters hätten sein sollen, nur – (Nur dass sie ihn vernichteten oder etwas dergleichen oder er sie vernichtete oder etwas dergleichen. Und starben) – und starben. Und niemand ihnen nachtrauerte, sagt Miss Rosa Coldfield – (Außer ihr) Ja, außer ihr. (Und Quentin Compson) Ja. Und Quentin Compson.
«Weil Sie weggehen, um in Harvard das College zu besuchen, wie ich höre», sagte sie. «Ich vermute also, Sie werden nie hierher zurückkommen und sich als Provinzanwalt in einer Kleinstadt wie Jefferson niederlassen, da die Leute im Norden schon dafür gesorgt haben, dass im Süden für einen jungen Mann wenig übrig geblieben ist. Vielleicht ergreifen Sie ja den Literatenberuf, wie es heutzutage so viele Herren und auch Damen aus dem Süden tun, und vielleicht werden Sie sich eines Tages an das hier erinnern und darüber schreiben. Sie werden dann wohl verheiratet sein, und vielleicht braucht Ihre Frau ein neues Kleid oder einen neuen Sessel für das Haus, dann können Sie das hier aufschreiben und den Zeitschriften anbieten. Vielleicht erinnern Sie sich dann ja sogar mit Freundlichkeit der alten Frau, die Sie gezwungen hat, einen ganzen Nachmittag lang im Haus zu sitzen und ihr zuzuhören, wie sie von Menschen und Ereignissen sprach, denen entgangen zu sein Sie sich glücklich schätzen dürfen, wo Sie doch lieber draußen gewesen wären, in Gesellschaft junger Freunde Ihres Alters.»
«Ja, Madam», sagte Quentin. Nur meint sie das nicht, dachte er. Es geht ihr darum, dass es erzählt wird. Es war damals noch früh. Er hatte noch das Briefchen in der Tasche, das er kurz vor Mittag aus der Hand eines kleinen Negerjungen empfangen hatte und in dem sie ihn bat, bei ihr vorzusprechen – die kuriose, förmlich-steife Bitte, die in Wirklichkeit eine Vorladung, fast wie aus einer anderen Welt, war – das eigenartig unzeitgemäße alte, gute Briefpapier, beschrieben in der ordentlichen, blassen, engen Schrift, der er, bedingt durch sein Erstaunen über die Bitte vonseiten einer Frau, die dreimal so alt war wie er und die er schon sein Leben lang kannte, ohne hundert Worte mit ihr gewechselt zu haben, bedingt vielleicht auch durch den Umstand, dass er erst zwanzig Jahre alt war, nicht ansah, dass sie eine kalte, unversöhnliche, ja skrupellose Wesensart offenbarte. Er leistete der Bitte gleich nach dem Mittagessen Folge, legte die halbe Meile zwischen seinem und ihrem Zuhause in der trockenen, staubigen Hitze des Septemberanfangs zu Fuß zurück und gelangte so in das Haus (auch das irgendwie kleiner wirkend, als es tatsächlich war – zweistöckig – ungestrichen und ein bisschen schäbig, doch mit einer Anmutung, einer Aura von grimmiger Ausdauer, als wäre es, wie sie, geschaffen worden, um in eine Welt hineinzupassen und sie zu ergänzen, die in jeder Hinsicht kleiner war als die, in der es sich befand), wo im Dämmer der abgedunkelten Diele, in der die Luft noch heißer war als draußen, als wäre darin wie in einem Grab das ganze Seufzen der schleppenden, hitzebedrückten Zeit gefangen, das sich in den dreiundvierzig Jahren angesammelt hatte, die kleine Gestalt in Schwarz, das nicht einmal raschelte, das fahle Dreieck aus Spitze an Handgelenken und Hals, und das trübe Gesicht, das ihn mit forschender, eindringlicher, angespannter Miene ansah, darauf warteten, ihn hereinzubitten.
Es geht ihr darum, dass es erzählt wird, dachte er, damit Menschen, die sie niemals sehen und deren Namen sie niemals hören wird und die niemals ihren Namen gehört noch ihr Gesicht gesehen haben, es lesen und endlich wissen werden, warum Gott uns den Krieg hat verlieren lassen: dass Er diesem Dämon nur durch das Blut unserer Männer und die Tränen unserer Frauen Einhalt gebieten und seinen Namen und sein Geschlecht vom Angesicht der Erde tilgen konnte. Dann kam er fast sofort zu dem Schluss, dass das weder der Grund war, weshalb sie das Briefchen geschickt, noch, weshalb sie es ihm geschickt hatte, denn wenn es ihr lediglich darum gegangen wäre, dass das Ganze erzählt, aufgeschrieben und sogar gedruckt wurde, hätte sie niemanden beiziehen müssen – eine Frau, die schon zu Jugendzeiten seines (Quentins) Vaters als lorbeerbekränzte Dichterin von Stadt und County Fuß gefasst (wenn auch noch nicht sich durchgesetzt) hatte, indem sie der strengen, spärlichen Leserschaft der County-Zeitung aus irgendeiner bitteren, unversöhnlichen Reserve von Unbeugsamkeit heraus Gedichte, Ode, Eloge und Epitaph lieferte; und diese kamen von einer Frau, zu deren Familiengeschichte während des Krieges, wie man in Stadt und County wusste, der Vater gehörte, der, ein Kriegsdienstverweigerer aus religiösen Gründen, auf dem Dachboden seines eigenen Hauses verhungert war, wo er sich vor den Männern des konföderierten Generalprofosen versteckte (manche sagten, verschanzte) und nachts heimlich von ebendieser Tochter mit Essen versorgt wurde, die damals gerade ihr erstes Buch zusammenstellte, in dem die uneinsichtigen Besiegten der verlorenen Sache Name für Name einbalsamiert wurden; und der Neffe, der vier Jahre lang in derselben Kompanie wie der Verlobte seiner Schwester diente und den Verlobten dann vor dem Tor des Hauses, in dem die Schwester am Vorabend der Hochzeit in ihrem Brautkleid wartete, erschoss, sodann floh und verschwand, kein Mensch wusste, wohin.
Es würden noch drei Stunden vergehen, bis er erfuhr, warum sie nach ihm geschickt hatte, denn diesen, den ersten Teil des Ganzen, kannte Quentin schon. Es war ein Teil seines zwanzigjährigen Erbes, das darin bestand, dass er die gleiche Luft geatmet und seinen Vater von dem Mann hatte reden hören; Teil auch des achtzigjährigen Erbes der Stadt – Jefferson –, bestehend aus der gleichen Luft, die der Mann selbst zwischen diesem Septembernachmittag im Jahre 1909 und jenem Sonntagmorgen im Juni 1833 geatmet hatte, als er aus einer undurchsichtigen Vergangenheit zum ersten Mal in die Stadt einritt, sein Land, kein Mensch wusste, wie, erwarb, offenbar aus nichts sein Haus, sein Anwesen baute, Ellen Coldfield heiratete, seine beiden Kinder zeugte – den Sohn, der die Tochter schon zur Witwe machte, bevor sie noch eine Braut gewesen war – und so den ihm bestimmten Weg bis zu seinem gewaltsamen (Miss Coldfield wenigstens hätte gesagt, gerechten) Ende beschritt. Damit war Quentin aufgewachsen; die bloßen Namen waren austauschbar und fast nicht zu zählen. Seine Kindheit war voll davon; sein Körper war geradezu ein leerer Saal, der von klangvollen, geschlagenen Namen widerhallte; er war kein Einzelwesen, keine Person, er war ein Gemeinwesen. Er war eine Kaserne voller verstockter, zurückblickender Gespenster, die sich noch immer, noch dreiundvierzig Jahre später, von dem Fieber erholten, das die Krankheit kuriert hatte, aus dem Fieber erwachten und gar nicht wussten, dass es das Fieber selbst und nicht die Krankheit gewesen war, wogegen sie angekämpft hatten, die mit verstockter Widerspenstigkeit rückwärts über das Fieber hinaus und mit echtem Bedauern in die Krankheit blickten, schwach vom Fieber, doch frei von der Krankheit, ohne auch nur zu ahnen, dass die Freiheit die der Ohnmacht war.
(«Aber warum will sie mir davon erzählen?», sagte er an jenem Abend zu seinem Vater, als er nach Hause zurückkehrte, nachdem sie ihn auf sein Versprechen hin, er werde mit dem Einspänner zu ihr zurückkehren, endlich hatte gehen lassen; «warum will sie mir davon erzählen? Was soll es mir, dass das Land oder die Erde oder was auch immer ihn schließlich satthatte, sich gegen ihn wandte und ihn vernichtete? Und was, wenn es auch ihre Familie vernichtete? Eines Tages wird es sich gegen uns alle wenden und uns vernichten, ob wir nun zufällig Sutpen oder Coldfield heißen oder nicht.»
«Ah», sagte Mr. Compson. «Vor Jahren haben wir im Süden unsere Frauen zu Damen gemacht. Dann kam der Krieg und machte die Damen zu Gespenstern. Was bleibt uns Gentlemen anderes übrig, als den Gespenstern zuzuhören?» Dann sagte er: «Möchtest du den eigentlichen Grund erfahren, weshalb sie sich für dich entschieden hat?» Sie saßen nach dem Abendessen auf der Veranda und warteten auf den Zeitpunkt, den Miss Coldfield für Quentins Besuch festgelegt hatte. «Weil sie jemanden braucht, der ihr folgt – einen Mann, einen Gentleman, aber einen, der noch so jung ist, dass er tut, was sie will, und zwar so, wie sie es will. Und sie hat sich für dich entschieden, weil dein Großvater der Einzige im County war, in dem Sutpen, wenn überhaupt, so etwas wie einen Freund sah, und wahrscheinlich glaubt sie, dass Sutpen deinem Großvater vielleicht etwas über sich selbst und sie erzählt hat, etwas über die Verlobung, die rückgängig gemacht, und das Eheversprechen, das nicht eingelöst wurde. Deinem Großvater vielleicht sogar den Grund genannt haben könnte, weshalb sie sich im letzten Moment geweigert hat, ihn zu heiraten. Und dass dein Großvater es mir und ich es dir erzählt haben könnte. Und deshalb wird die Affäre, ganz gleich was heute Abend dort draußen geschieht, in gewissem Sinne in der Familie und die Leiche (wenn es denn eine gibt) im Keller bleiben. Mag sein, dass sie glaubt, Sutpen hätte ohne die Freundschaft deines Großvaters niemals hier Fuß fassen und, wenn er niemals Fuß gefasst hätte, Ellen nicht heiraten können. Also meint sie vielleicht, dich träfe kraft Vererbung eine Teilschuld an dem, was ihr und ihrer Familie durch ihn widerfahren ist.»)
Was auch immer der Grund sein mochte, weshalb sie sich für ihn entschieden hatte, ob es dieser war oder nicht, es brauchte lange, dachte Quentin, ihn zur Sprache zu bringen. Unterdessen begann, wie in umgekehrtem Verhältnis zu der versickernden Stimme, das heraufbeschworene Gespenst des Mannes, dem sie nicht verzeihen und an dem sie sich nicht rächen konnte, eine beinahe solide, dauerhafte Beschaffenheit anzunehmen. Umgeben und umschlossen von seiner Ausdünstung von Hölle, seiner Aura von Nichtwiedergeburt, sinnierte er (sinnierte, dachte, schien Empfindungsvermögen zu besitzen, als wäre er, obwohl des Friedens beraubt – er, der gegen Erschöpfung ohnehin immun war –, den sie ihm verweigerte, gleichwohl unwiderruflich allem enthoben, was sie ihm an Schmerz und Schaden zufügen konnte) in jener friedfertigen, nun auch harmlosen und nicht einmal besonders aufmerksamen Weise – das Ungeheuer, aus dem sich, während Miss Coldfields Stimme fortfuhr, vor Quentins Augen die beiden Halb-Ungeheuerkinder herauslösten, worauf die drei einen schemenhaften Hintergrund für das vierte Ungeheuer bildeten. Das war die Mutter, die tote Schwester Ellen: diese tränenlose Niobe, die ihre Kinder von dem Dämon wie in einem Albtraum empfangen, sich schon zu Lebzeiten wie leblos bewegt und ohne zu weinen getrauert hatte und die nun eine Miene von stiller, unbewusster Trostlosigkeit trug, nicht als hätte sie die anderen überlebt oder wäre vor ihnen gestorben, sondern als hätte sie überhaupt nie gelebt. Quentin schien sie zu sehen, die vier, mit förmlicher, lebloser Schicklichkeit zur herkömmlichen Familiengruppe jener Zeit angeordnet, und sichtbar nun, wie man die verblassende, alte Photographie selbst gesehen hätte, die vergrößert hinter und über der Stimme an der Wand hing und deren Vorhandenseins sich die Besitzerin der Stimme gar nicht bewusst war, als hätte sie (Miss Coldfield) dieses Zimmer noch nie gesehen – ein Bild, eine Gruppe, die selbst für Quentin etwas Seltsames, Widersprüchliches und Bizarres hatte; etwas nicht ganz Verständliches und (selbst für einen Zwanzigjährigen) nicht ganz Stimmiges – eine Gruppe, deren letztes Mitglied seit fünfundzwanzig Jahren tot war und deren erstes, seit fünfzig Jahren tot, nun heraufbeschworen wurde aus dem stickigen Dämmer eines toten Hauses, zwischen dem grimmigen, unversöhnlichen Nichtverzeihen einer alten Frau und der widerspruchslosen Gereiztheit eines jungen Mannes von zwanzig, der sich selbst unter dem Klang der Stimme sagte: Vielleicht muss man jemanden schrecklich gut kennen, um ihn zu lieben, aber wenn man jemanden seit dreiundvierzig Jahren hasst, kennt man ihn ganz bestimmt schrecklich gut, also ist es dann ja vielleicht besser, ist es dann ja vielleicht ausgestanden, denn nach dreiundvierzig Jahren kann einen der Betreffende nicht mehr überraschen und weder sehr glücklich noch sehr zornig machen. Und vielleicht war es (die Stimme, das Reden, die ungläubige und unerträgliche Fassungslosigkeit) ja einmal ein lauter Aufschrei gewesen, dachte Quentin, vor langer Zeit, als sie ein Mädchen war – ein Aufschrei jungen, unbezähmbaren Nichtbedauerns, ein Aufschrei der Anklage gegen blinden Zufall und grausames Ereignis; aber nicht jetzt: Jetzt war da nur das einsame, um sein Recht gebrachte und seit dreiundvierzig Jahren mit der alten Kränkung bewehrte Altweiberfleisch, die alte Unversöhnlichkeit, empört und betrogen von dem endgültigen und vollständigen Affront, der Sutpens Tod war:
«Er war kein Gentleman. Nicht einmal ein Gentleman war er. Er kam hierher mit einem Pferd und zwei Pistolen und einem Namen, von dem niemand je gehört hatte, niemand mit Bestimmtheit wusste, ob es seiner war, so wenig übrigens wie von dem Pferd und auch von den Pistolen, auf der Suche nach irgendeinem Ort, wo er sich verstecken konnte, und Yoknapatawpha County war ihm zu Diensten. Achtbare Menschen suchte er, die die Gewähr eines Schutzwalls gegen die anderen, späteren Fremden boten, die ihn womöglich ihrerseits suchen kämen, und Jefferson war ihm gefällig. Dann brauchte er Achtbarkeit, den Schild einer tugendhaften Frau, um sich eine unangreifbare Position selbst gegen jene zu schaffen, die ihm Schutz gewährt hatten, wenn unvermeidlich Tag und Stunde kamen, da selbst sie sich voller Verachtung, Grauen und Empörung gegen ihn erheben mussten; und das bekam er von meinem und Ellens Vater. Oh, ich will hier keine Lanze für Ellen brechen: eine blinde, romantische Närrin, die sich allenfalls auf Jugend und Unerfahrenheit herausreden konnte; eine blinde, romantische Närrin und später dann eine blinde Frau, Mutter, Närrin, als sie weder Jugend noch Unerfahrenheit mehr hatte, auf die sie sich hätte herausreden können, als sie sterbend in jenem Haus lag, für das sie Stolz und Frieden eingetauscht hatte und in dem niemand war außer der Tochter, die schon gleichsam Witwe war, ohne jemals Braut gewesen zu sein, und drei Jahre später dann auch wirklich Witwe wurde, ohne irgendetwas gewesen zu sein, und dem Sohn, der das Dach verleugnet hatte, unter dem er zur Welt gekommen war und zu dem er nur noch ein einziges Mal zurückkehren sollte, bevor er endgültig, und zwar als Mörder und beinahe Brudermörder, verschwand; und er, der Unmensch, Schurke, Teufel, kämpfte in Virginia, wo die allerbesten Aussichten unter der Sonne bestanden, dass die Welt sich seiner entledigte, doch Ellen und ich wussten beide, dass er zurückkehren würde, dass jeder Mann in unseren Armeen würde fallen müssen, ehe Kugel oder Kartätsche ihn fände; und nur an mich, ein Kind, ein Kind wohlgemerkt, vier Jahre jünger als ebendie Nichte, die zu retten man mich bat, konnte Ellen sich wenden und sagen: ‹Beschütze sie. Beschütze wenigstens Judith.› Ja, eine blinde, romantische Närrin, die nicht einmal die hundert Quadratmeilen Plantage hatte, die offenbar unseren Vater bewegten, noch das große Haus und die Vorstellung, Tag und Nacht auf Sklaven herumtrampeln zu können, die ihre Tante, ich will nicht sagen bewegte, aber doch versöhnlicher stimmte. Nein: bloß das Gesicht eines Mannes, der es irgendwie verstand, sogar zu Pferde einherzustolzieren – eines Mannes, der, soviel irgendwer (darunter auch der Vater, der ihm seine Tochter zur Frau geben sollte) wusste, entweder keinerlei Vergangenheit hatte oder sie nicht zu offenbaren wagte – eines Mannes, der von nirgendwoher in die Stadt geritten kam, mit einem Pferd, zwei Pistolen, einer Horde wilder Tiere, die er eigenhändig erjagt hatte, weil er an gleich welchem heidnischen Ort, von dem er geflohen war, in noch stärkerer Angst als sogar sie gelebt hatte, und jenem französischen Architekten, der aussah, als wäre er seinerseits von den Negern erjagt und gefangen worden – eines Mannes, der hierher floh und sich versteckte, hinter Achtbarkeit verbarg, hinter jenen hundert Quadratmeilen Land, die er, kein Mensch weiß, wie, einem unwissenden Indianerstamm abschwatzte, und hinter einem Haus, so groß wie ein Gerichtsgebäude, in dem er drei Jahre lang ohne Fenster, Tür oder Bettstatt wohnte und das er trotzdem Sutpen’s Hundred nannte, als wäre es ein in ununterbrochener Generationenfolge von seinem Urgroßvater auf ihn gekommenes Königsgeschenk – ein Zuhause, eine Position: eine Ehefrau und eine Familie, die er, weil sie als Tarnung erforderlich waren, hinnahm, so wie er auch die Unbequemlichkeit, ja selbst den Schmerz der Stacheln und Dornen eines Gestrüpps hingenommen hätte, wenn ihm das Gestrüpp den Schutz hätte bieten können, den er suchte.
Nein: nicht einmal ein Gentleman. Und wenn er zehntausend Ellens geheiratet hätte, wäre er keiner geworden. Nicht dass er einer hätte sein oder auch nur für einen gehalten werden wollen. Nein. Das war nicht erforderlich, denn alles, was er brauchte, waren Ellens und unseres Vaters Namen auf einer amtlichen Eheerlaubnis (oder sonst einem Patent von Achtbarkeit), die die Leute betrachten und lesen konnten, so wie ihm auch die Unterschrift unseres Vaters (oder sonst eines achtbaren Mannes) auf einem Handwechsel recht gewesen wäre, weil unser Vater wusste, wer sein Vater in Tennessee war und wer sein Großvater in Virginia gewesen war, und weil die Menschen, unter denen wir lebten, wussten, dass wir es wussten, und wir wussten, dass sie wussten, dass wir es wussten, und wir wussten, dass sie uns geglaubt hätten, was die Frage anging, von wem und woher wir kamen, selbst wenn wir gelogen hätten, so wie jeder aufgrund des bloßen Umstandes, dass er offenbar gezwungen war, jede Auskunft zu verweigern, schon auf einen Blick hätte wissen können, dass er mit Gewissheit lügen würde, was die Frage anging, von wem und woher und weshalb er kam. Und der bloße Umstand, dass er sich dafür entscheiden musste, sich hinter Achtbarkeit zu verstecken, war (wenn es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte) Beweis genug, dass, wovor er geflohen war, irgendein Gegenteil von Achtbarkeit gewesen sein musste, zu finster, als dass man darüber hätte reden können. Weil er zu jung war. Er war erst fünfundzwanzig, und ein Mann von fünfundzwanzig nimmt nicht freiwillig die Strapaze und Entbehrung auf sich, bloß des Geldes wegen in einem neuen Staat jungfräuliches Land zu roden und eine Plantage aufzubauen; nicht ein junger Mann mit einer Vergangenheit, die er offenbar nicht zur Sprache bringen wollte, in Mississippi im Jahre 1833, mit einem Fluss voller Dampfschiffe, beladen mit betrunkenen Narren, die in Diamanten schwammen und ganz versessen darauf waren, ihre Baumwolle und ihre Sklaven zu verschleudern, noch bevor das Schiff New Orleans erreichte; – nicht, wo dieser Fluss nur einen strammen, nächtlichen Ritt entfernt lag und das einzige Ungemach oder Hindernis die anderen Schurken waren oder das Risiko, auf einer Sandbank und äußerstenfalls an einem Hanfstrick an Land gesetzt zu werden. Und er war kein nachgeborener Sohn, den man mit den überzähligen Negern aus irgendeinem alten, ruhigen Land wie Virginia oder Carolina ausgesandt hatte, damit er neuen Grund erwarb, weil ein Blick auf seine Neger verraten hätte, dass sie vielleicht aus einem viel älteren Land als Virginia oder Carolina gekommen sein mochten (und wahrscheinlich gekommen waren), aber nicht aus einem ruhigeren. Und jeder hätte schon mit einem Blick auf sein Gesicht wissen können, dass er den Fluss und sogar die Gewissheit des Hanfstricks dem Unternehmen, das er in Angriff nahm, selbst dann vorgezogen haben würde, wenn er gewusst hätte, dass er auf dem Land, das er gekauft hatte, Gold finden würde, das nur auf ihn wartete.
Nein. Ich will hier ebenso wenig eine Lanze für Ellen brechen wie für mich selbst. Für mich selbst sogar noch weniger, weil ich immerhin zwanzig Jahre hatte, in denen ich ihn beobachten konnte, Ellen dagegen nur fünf. Und sie sah ihn noch nicht einmal in diesen fünf Jahren, sondern hörte nur aus zweiter Hand, was er tat, und auch davon nur die Hälfte, denn die Hälfte von dem, was er in diesen fünf Jahren eigentlich tat, wusste kein Mensch, und vom Rest hätte kein Mensch seiner Ehefrau, geschweige denn einem jungen Mädchen, mehr als die Hälfte erzählt; er kam hierher und richtete ein Raritätenkabinett ein, das fünf Jahre lang Bestand hatte, und Jefferson lohnte ihm die gebotene Unterhaltung damit, dass es ihn wenigstens insoweit deckte, als es seinen Frauensleuten nicht erzählte, was er tat. Aber ich hatte ihn mein Leben lang beobachten können, da es meinem Leben offenbar aus Gründen, die preiszugeben der Himmel nicht für angebracht hielt, bestimmt war, an einem Aprilnachmittag vor dreiundvierzig Jahren zu enden, denn auch wer nur so wenig hätte, was er Leben nennen könnte, wie ich es bis zu dieser Zeit hatte, würde, was ich seither habe, nicht Leben nennen. Ich sah, was Ellen, meiner Schwester, widerfahren war. Ich sah sie beinahe als Einsiedlerin, erlebte mit, wie jene beiden dem Untergang geweihten Kinder groß wurden, die sie nicht retten konnte. Ich sah, welchen Preis sie für jenes Haus und jenen Stolz bezahlt hatte. Ich sah, wie jene Handwechsel auf Stolz, Zufriedenheit und Seelenruhe und worunter sie sonst noch ihre Unterschrift gesetzt hatte, als sie an jenem Abend in die Kirche trat, der Reihe nach fällig wurden. Ich sah, wie Judith ohne Sinn und Verstand, ohne den Schatten einer Rechtfertigung die Heirat verboten wurde; ich sah Ellen sterben, und nur an mich, ein Kind, konnte sie sich wenden und mich bitten, ihr übriggebliebenes Kind zu beschützen; ich sah Henry sein Zuhause und sein Geburtsrecht verleugnen und dann zurückkehren und den blutigen Leichnam des Liebsten seiner Schwester praktisch auf den Saum ihres Brautkleides schleudern; ich sah jenen Mann zurückkehren – Ursprung und Haupt des Bösen, das alle seine Opfer überdauert hatte –, Erzeuger zweier Kinder, die nicht nur einander und sein Geschlecht, sondern auch mein Geschlecht auslöschten, und dennoch gab ich ihm mein Jawort.
Nein, ich will hier keine Lanze für mich brechen. Ich mache nicht Jugend geltend, denn welches Geschöpf im Süden, ob Mann, Frau, Nigger oder Maultier, hätte seit 1861 Zeit oder Gelegenheit gehabt, nicht nur jung zu sein, sondern auch von jenen, die es gewesen waren, zu hören, wie das ist. Ich mache nicht räumliche Nähe geltend: den Umstand, dass ich, eine junge Frau im heiratsfähigen Alter, und zwar zu einer Zeit, da die meisten jungen Männer, die ich gewöhnlich gekannt hätte, in verlorenen Schlachten im Feld geblieben waren, dass ich zwei Jahre lang unter einem Dach mit ihm lebte. Ich mache nicht materielle Not geltend: den Umstand, dass ich, eine Waise, eine Frau und Arme, mich nicht um Schutz, sondern faktisch um Nahrung selbstverständlich an meine einzigen Angehörigen wandte: die Familie meiner toten Schwester: doch ich möchte den sehen, der mir einen Vorwurf macht, einer zwanzigjährigen Waisen, einer jungen, mittellosen Frau, die den Wunsch verspürt, nicht nur ihre Lage zu rechtfertigen, sondern auch die Ehre einer Familie zu verteidigen, deren Frauen man niemals den guten Ruf abgesprochen hat, indem sie in den ehrenhaften Heiratsantrag des Mannes einwilligte, von dessen Kost sich zu ernähren sie gezwungen war. Und am wenigsten mache ich mich selbst geltend: eine junge Frau, Überlebende eines Gemetzels, das ihr Eltern, Sicherheit und alles geraubt hatte, eine junge Frau, die alles, was Leben ihr bedeutete, rings um einige Figuren hatte zerfallen sehen, die zwar Menschengestalt, aber Namen und Statur von Helden hatten – eine junge Frau, sage ich, die in täglichen und stündlichen Kontakt mit einem dieser Männer geriet, der trotz allem, was er einmal gewesen sein, und trotz allem, was sie einmal von ihm geglaubt oder gar gewusst haben mochte, vier ehrenhafte Jahre lang für die Scholle und die Traditionen des Landes gekämpft hatte, in dem sie zur Welt gekommen war (und dieser Mann hätte, mochte er noch so ein Erzschurke sein, in ihren Augen schon durch bloße Gemeinschaft mit Helden Statur und Gestalt eines solchen besessen), und nun war auch er ein Überlebender desselben Gemetzels, in dem sie gelitten hatte, und entgegentreten konnte er dem, was die Zukunft für den Süden bereithielt, mit nichts als seinen bloßen Händen, dem Säbel, den er wenigstens nie übergeben hatte, und der lobenden Erwähnung für besondere Tapferkeit vonseiten seines besiegten Oberbefehlshabers. Oh, tapfer war er. Das habe ich nie bestritten. Aber dass unsere Sache, ja unser Leben, unsere Zukunftshoffnungen und unser vergangener Stolz mit solchen Männern als Stütze in die Waagschale geworfen wurden – Männern voller Tapferkeit und Stärke, aber ohne Mitleid oder Ehre. Ist es da ein Wunder, dass sich der Himmel von uns abgewandt hat?»
«Nein», sagte Quentin.
«Aber dass es ausgerechnet unser Vater sein musste, dass es von allen, die er kannte, von allen, die regelmäßig dorthin gingen, mit ihm tranken, hasardierten und ihm dabei zusahen, wie er mit diesen wilden Negern kämpfte, deren Töchter er womöglich beim Kartenspiel gewonnen hatte, ausgerechnet mein und Ellens Vater sein musste. Dass es unser Vater sein musste. Wie, auf welcher Grundlage, konnte er sich Papa genähert haben; was konnte es, außer der gewöhnlichen Höflichkeit von Menschen, die sich auf der Straße begegnen, zwischen einem Mann, der von nirgendwoher kam oder nicht zu sagen wagte, woher, und unserem Vater gegeben haben; was konnte es gegeben haben zwischen einem solchen Mann und Papa – einem Methodistensteward, einem Kaufmann, der nicht reich war, der nicht nur nichts unter der Sonne hätte tun können, um seine Geschicke oder Aussichten zu verbessern, sondern beim besten Willen auch nichts besessen oder auch nur auf der Straße gefunden haben konnte, was der andere hätte haben wollen – einem Mann, der weder Land noch Sklaven besaß bis auf die beiden Hausdiener, die er, sobald er sie bekommen, sie gekauft, auch schon freigelassen hatte, einem Mann, der weder trank noch jagte, noch hasardierte; – was konnte es gegeben haben zwischen Papa und einem Mann, der meiner sicheren Kenntnis nach nur dreimal in seinem Leben in Jefferson in einer Kirche war – nämlich das eine Mal, als er Ellen zum ersten Mal sah, das eine Mal, als sie die Trauung probten, und das eine Mal, als sie sie vollzogen; – einem Mann, dem jeder sofort ansah, dass er zwar im Augenblick offenbar kein Geld hatte, aber daran gewöhnt war, welches zu haben, und wieder welches zu besitzen gedachte und keinerlei Skrupel haben würde, was die Frage der Beschaffung anging – dass dieser Mann Ellen in einer Kirche entdeckte. In der Kirche wohlgemerkt, als lägen ein Verhängnis und ein Fluch auf dem Süden und auf unserer Familie, und Gott selbst sorgte dafür, dass es sich bis zur Neige, bis zum Letzten vollzog und erfüllte. Ja, ein Verhängnis und ein Fluch auf dem Süden und auf unserer Familie, so als hätte sich irgendeiner unserer Ahnen entschieden, sein Geschlecht in einem für Verhängnis präparierten und schon damit verfluchten Land zu gründen, auch wenn es nicht genau unsere Familie, die Vorfahren unseres Vaters gewesen waren, die den Fluch vor langen Jahren auf sich geladen und dann vom Himmel dazu gezwungen worden waren, sich in dem schon verfluchten Land, der schon verfluchten Zeit niederzulassen. Sodass selbst ich, ein Kind, noch zu jung, um mehr als das zu wissen, obwohl Ellen meine eigene Schwester und Henry und Judith mein eigener Neffe und meine eigene Nichte waren, selbst ich nicht dorthin gehen durfte, außer Papa oder meine Tante waren dabei, überhaupt nicht mit Henry und Judith spielen durfte, außer im Haus (und nicht etwa deshalb, weil ich vier Jahre jünger als Judith und sechs Jahre jünger als Henry war: wandte sich Ellen etwa nicht an mich, bevor sie starb, und sagte: ‹Beschütze sie›?) – selbst ich pflegte mich zu fragen, was unser Vater, bevor er unsere Mutter heiratete, oder sein Vater getan haben konnte, das Ellen und ich sühnen mussten, ohne dass eine von uns allein ausreichte; welches Verbrechen verübt worden war, das unsere Familie zu Werkzeugen der Vernichtung nicht nur jenes Mannes, sondern auch unserer selbst verfluchte.»
«Ja, Madam», sagte Quentin.
«Ja», sagte die Stimme hinter dem reglosen Dreieck aus trüber Spitze hervor; und nun schien es Quentin, als sähe er mit an, wie sich aus den sinnierenden, schicklichen Gespenstern die Gestalt eines kleinen Mädchens in den steifen Röcken und Rüschenhosen, den glatten, steifen, schicklichen Zöpfen der toten Zeit herauslöste. Sie schien hinter dem ordentlichen Lattenzaun eines kleinen, entschlossen bürgerlichen Gartens oder Rasens zu stehen, ja zu lauern und auf die wie immer geartete Schreckenswelt der stillen Dorfstraße mit jener Miene zu spät ins Leben ihrer Eltern geborener Kinder hinauszuschauen, die dazu verdammt sind, jedes menschliche Verhalten durch die komplizierten, überflüssigen Torheiten von Erwachsenen zu betrachten – eine kassandrahafte, humorlose, zutiefst und streng prophetische Miene, die in keinerlei Verhältnis zum wirklichen Alter selbst eines Kindes stand, das niemals jung gewesen war. «Weil ich zu spät geboren bin. Ich bin zweiundzwanzig Jahre zu spät geboren – ein Kind, für das sich dank zufällig mit angehörter Erwachsenengespräche die Gesichter meiner Schwester und ihrer Kinder den Gesichtern einer zwischen Abendessen und Zubettgehen erzählten Schreckensgeschichte angeähnelt hatten, lange bevor ich alt oder groß genug war, um mit ihnen spielen zu dürfen, an das sich jene Schwester jedoch am Ende, als sie im Sterben lag, da eines der Kinder verschwunden und dazu verdammt war, ein Mörder zu werden, und das andere dazu verdammt war, eine Witwe zu werden, bevor es noch Braut gewesen war, wenden und sagen musste: ‹Beschütze wenigstens sie. Wenigstens rette Judith.› Ein Kind, doch welcher einem Kind gewährte Instinkt hätte die Antwort geben können, die die reife Klugheit älterer Menschen offenbar nicht geben konnte: ‹Sie beschützen? Vor wem und vor was? Er hat ihnen bereits ihr Leben gegeben: Er muss ihnen keinen weiteren Schaden zufügen. Schutz brauchen sie nur vor sich selbst.›»
Es hätte später sein müssen, als es war; es hätte spät sein müssen, doch die gelben Streifen von in Sonnenlicht pulsierenden Stäubchen waren die ungreifbare Wand von Düsternis, die sie voneinander schied, nicht weiter hinaufgewandert; die Sonne schien sich kaum bewegt zu haben. Es (das Reden, das Erzählen) schien (ihm, Quentin) etwas von jener der Logik und Vernunft hohnsprechenden Eigenschaft eines Traums zu besitzen, der sich, wie der Schläfer weiß, als vollständige Stillgeburt in einer Sekunde ereignet haben muss, doch eben die Eigenschaft, auf die er angewiesen ist, um bei dem Träumer Leichtgläubigkeit – Grauen oder Freude oder Verblüffung – hervorzurufen (Wahrscheinlichkeit), hängt ebenso vollständig von einer förmlichen Anerkennung und Hinnahme verstrichener und noch verstreichender Zeit ab wie Musik oder eine gedruckte Erzählung. «Ja. Ich bin zu spät geboren worden. Ich war ein Kind, das diese drei Gesichter (und auch seines) so in Erinnerung behalten sollte, wie es sie zum ersten Mal an jenem ersten Sonntag in der Kutsche sah, als diese Stadt endlich gewahr wurde, dass er die Straße von Sutpen’s Hundred zur Kirche in eine Rennbahn verwandelt hatte. Ich war damals drei und hatte sie fraglos zuvor schon gesehen; es muss so gewesen sein. Aber ich erinnere mich nicht daran. Ich erinnere mich nicht daran, Ellen jemals vor diesem Sonntag gesehen zu haben. Es war, als dürfte die Schwester, die ich noch nie erblickt hatte, die schon vor meiner Geburt in die Festung eines Menschenfressers oder Dschinns verschwunden war, kraft Dispens für nur einen Tag in die Welt zurückkehren, die sie aufgegeben hatte, und ich, ein Kind von drei Jahren, wurde zu diesem Anlass früh geweckt und wie für Weihnachten, für einen noch ernsteren Anlass als Weihnachten, angekleidet und frisiert, da sich der Menschenfresser oder Dschinn jetzt endlich um der Frau und der Kinder willen bereitgefunden hatte, zur Kirche zu kommen, ihnen wenigstens erlaubte, in die Nähe des Heils zu gelangen, Ellen wenigstens eine Möglichkeit gab, mit ihm um diese Kinderseelen auf einem Schlachtfeld zu ringen, wo sie nicht nur vom Himmel, sondern auch von ihrer eigenen Familie und Menschen ihres Schlages unterstützt werden konnte; ja, wo er sogar sich selbst für den Moment der Erlösung unterwarf oder, wenn nicht das, sich für den Augenblick wenigstens ritterlich gab, wenn er auch unbekehrbar blieb. Damit rechnete ich. Das sah ich, während ich da vor der Kirche zwischen Papa und unserer Tante stand und auf das Eintreffen der Kutsche nach ihrer Zwölf-Meilen-Fahrt wartete. Zwar muss ich Ellen und die Kinder schon vorher gesehen haben, doch dieses Bild davon, wie ich sie zum ersten Mal sah, werde ich mit ins Grab nehmen: einen flüchtigen, wie die Vorderfront eines Wirbelsturms anmutenden Eindruck von der Kutsche und Ellens kreideweißem Gesicht, den beiden Miniatur-Replikaten seines Gesichts, die Ellen flankierten, auf dem Kutschbock Gesicht und Zähne des wilden Negers, der fuhr, und er, sein Gesicht genau wie das des Negers, bis auf die Zähne (dies fraglos wegen seines Bartes) – das alles in einem Donnern und Rasen von wildäugigen Pferden, Galopp und Staub.
Oh, es gab viele, die ihm dabei Vorschub leisteten, ihm dabei halfen, ein Rennen zu veranstalten; zehn Uhr am Sonntagmorgen, die Kutsche raste auf zwei Rädern bis direkt vor die Kirchentür, auf dem Bock in seinen christlichen Kleidern, einem leinenen Staubmantel und einem Zylinder, der wilde Neger, der genau wie ein dressierter Tiger anmutete, und ohne einen Tropfen Blut im Gesicht Ellen, die jene beiden Kinder festhielt, die nicht weinten und nicht festgehalten werden mussten, die ebenfalls vollkommen still zu beiden Seiten von ihr saßen, mit jenem für Kinder ungeheuerlichen Zug im Gesicht, den wir damals nicht ganz verstanden. O ja, es gab viele, die ihm dabei Vorschub und Beihilfe leisteten; nicht einmal er hätte ohne jemanden, gegen den er um die Wette fahren konnte, ein Pferderennen veranstalten können. Denn es war gar nicht die öffentliche Meinung, die ihm einen Riegel vorschob, nicht einmal die Männer, deren Frauen und Kinder vielleicht in Kutschen saßen und über den Haufen oder in Gräben hätten gefahren werden können: Es war der Geistliche, der im Namen der Frauen von Jefferson und Yoknapatawpha County sprach. Also hörte er selbst auf, zur Kirche zu kommen; nun saßen am Sonntagmorgen nur noch Ellen und die Kinder in der Kutsche, und damit wussten wir, dass wenigstens keine Wetten mehr abgeschlossen werden würden, da niemand sagen konnte, ob eigentlich ein Rennen stattfand oder nicht, da nun, wo sein Gesicht fehlte, nur das wilde, vollkommen unergründliche des Negers auftauchte, dessen Zähne leicht schimmerten, und wir nie wissen konnten, ob wir es mit einem Rennen oder einer Flucht zu tun hatten, und wenn sich Triumph zeigte, dann in dem Gesicht zwölf Meilen weit weg auf Sutpen’s Hundred, das man gar nicht sehen, das gar nicht anwesend sein musste. Nun war es der Neger, der beim Passieren einer anderen Kutsche auch zu deren Gespann sprach wie zu seinem eigenen – etwas ohne Worte, die er wahrscheinlich gar nicht brauchte, in jener Sprache, in der sie im Schlamm jenes Sumpfes schliefen, hierhergebracht aus welchem dunklen Sumpf auch immer, in dem er sie gefunden und hierhergebracht hatte: – der Staub, der Donner, die bis vor die Kirchentür rasende Kutsche, während Frauen und Kinder davor auseinanderstoben und schrien und Männer dem anderen Gespann ins Geschirr griffen. Und der Neger ließ Ellen und die Kinder an der Tür aussteigen, fuhr die Kutsche um die Kirche herum auf den Halteplatz und schlug die Pferde fürs Durchgehen; einmal wollte sogar irgendein Narr eingreifen, worauf der Neger sich mit erhobenem Stock gegen ihn wandte, ganz leicht die Zähne zeigte und sagte: ‹Der Herr sagt; ich mache. Sie sagen dem Herr.›
Ja. Vor sich; vor sich selbst. Und diesmal war es nicht einmal der Geistliche. Es war Ellen. Unsere Tante und unser Papa unterhielten sich, ich kam herein, und meine Tante sagte: ‹Geh hinaus, spielen›, und auch wenn ich durch die Tür hindurch gar nichts gehört hätte, ich hätte das Gespräch für sie wiederholen können: ‹Deine Tochter, deine eigene Tochter›, sagte meine Tante; und Papa: ‹Ja. Sie ist meine Tochter. Wenn sie möchte, dass ich eingreife, wird sie es mir selbst sagen.› Weil an diesem Sonntag, als Ellen und die Kinder aus der Eingangstür kamen, nicht die Kutsche auf sie wartete, sondern Ellens Phaeton mit der alten, lammfrommen Stute, den sie fuhr, und dem Stalljungen, den er anstelle des wilden Negers gekauft hatte. Und Judith warf einen einzigen Blick auf den Phaeton, wurde gewahr, was das bedeutete, und begann zu schreien, schrie und strampelte, während man sie ins Haus zurücktrug und zu Bett brachte. Nein, er war nicht anwesend. Ich behaupte auch nicht, hinter einem Fenstervorhang hätte ein triumphierendes Gesicht gelauert. Wahrscheinlich wäre er ebenso verblüfft gewesen wie wir, da uns allen nun aufging, dass wir es mit mehr zu tun hatten als mit dem Rappel oder gar der Hysterie eines Kindes: dass sein Gesicht die ganze Zeit in jener Kutsche gewesen war; dass es Judith, ein Mädchen von sechs Jahren, gewesen war, die den Neger angestachelt und ermächtigt hatte, das Gespann durchgehen zu lassen. Nicht Henry, wohlgemerkt; nicht der Junge, was empörend genug gewesen wäre; sondern Judith, das Mädchen. Sobald Papa und ich an jenem Nachmittag durch das Tor kamen und die Auffahrt in Richtung Haus hinauffuhren, konnte ich es spüren. Es war, als ob in der Stille und dem Frieden jenes Sonntagnachmittags die Schreie des Kindes noch existierten, fortbestünden, inzwischen nicht mehr als Laut, sondern als etwas, das die Haut, das die Haare auf dem Kopf wahrnehmen konnten. Ich fragte nicht sofort. Ich war damals erst vier; ich saß im Einspänner neben Papa, wie ich an jenem ersten Sonntag vor der Kirche zwischen ihm und unserer Tante gestanden hatte, als ich herausgeputzt worden war, um meine Schwester, meinen Neffen und meine Nichte zum ersten Mal zu sehen, und schaute auf das Haus (ich war natürlich schon vorher darin gewesen, aber selbst als ich es meiner Erinnerung nach zum ersten Mal erblickte, schien ich bereits zu wissen, wie es aussehen würde, so wie ich auch zu wissen schien, wie Ellen, Judith und Henry aussahen, als ich sie das eine Mal sah, das in meiner Erinnerung stets das erste Mal sein wird). Nein, nicht einmal dann fragte ich, sondern schaute auf das riesige, stille Haus und sagte: ‹In welchem Zimmer liegt Judith krank, Papa?›, mit jener stillen Fähigkeit des Kindes, das Unerklärliche hinzunehmen, obwohl ich heute weiß, dass ich mich schon damals fragte, was Judith sah, als sie zur Tür herauskam und den Phaeton statt der Kutsche, den zahmen Stalljungen statt des wilden Mannes vorfand; was sie in dem Phaeton erblickte, der für uns andere so harmlos aussah – oder schlimmer noch, was ihr fehlte, als sie den Phaeton sah und zu schreien anfing; ich erinnere mich noch an die vollkommene Stille in jenem Haus, als wir hineingingen, woran ich sofort merkte, dass er nicht da war, ohne zu wissen, dass er mit Wash Jones in der Weinlaube hockte und trank. Mir war nur klar, sobald Papa und ich über die Schwelle traten, dass er nicht da war: wie aus einer beinahe allwissenden Überzeugtheit heraus (mit derselben instinktiven Sicherheit, die mich in die Lage versetzte, Ellen zu sagen, dass Judith nicht vor ihm Schutz brauchte), dass er es nicht nötig hatte, dazubleiben und seinen Triumph mit anzusehen – und dass dies, verglichen mit dem, was noch kommen sollte, ein triviales Ereignis war, dem eigentlich auch wir nicht weitere Beachtung schenken mussten. Ja, dieses stille, verdunkelte Zimmer mit den geschlossenen Jalousien, wo eine Negerin mit einem Fächer neben dem Bett saß und Judiths weißes Gesicht unter einem Kampfertuch auf dem Kissen lag, schlafend, wie ich damals annahm: Möglicherweise war es Schlaf, oder man würde es so nennen: und Ellens Gesicht weiß und ruhig, und Papa sagte: ‹Geh Henry suchen und bitte ihn, mit dir zu spielen, Rosa›, und so stand ich direkt vor dieser stillen Tür in dem stillen oberen Flur, weil ich Angst davor hatte, selbst ihn zu verlassen, da ich die Samstagnachmittagsstille dieses Hauses lauter als Donner hören konnte, lauter sogar als Triumphgelächter.
‹Denk an die Kinder›, sagte Papa.
‹An sie denken?›, sagte Ellen. ‹Was tue ich denn sonst? Was tue ich denn sonst, wenn ich nachts wach liege, als an sie zu denken?› Weder Papa noch Ellen sprach vom Nach-Hause-Zurückkehren. Nein: Das alles ereignete sich, bevor es Mode wurde, seine Fehler dadurch zu beheben, dass man ihnen den Rücken zukehrte und davonlief. Da waren nur die beiden ruhigen Stimmen hinter der blanken Tür, die sich ebenso gut über etwas in einer Zeitschrift Gedrucktes hätten unterhalten können; und ich, ein Kind, stand dicht neben der Tür, weil ich Angst hatte, dort zu sein, aber noch mehr Angst wegzugehen, stand reglos neben der Tür, als versuchte ich mit dem dunklen Holz zu verschmelzen, unsichtbar zu werden wie ein Chamäleon, und lauschte dem lebendigen Wesen, dem Geist jenes Hauses, denn inzwischen war, ebenso wie von seinem, auch etwas von Ellens Leben und Atmen darin eingegangen, und es atmete in einem langen, unbestimmten Geräusch von Sieg und Verzweiflung, aber auch Triumph und Schrecken.
‹Liebst du denn diesen –›, sagte Papa.
‹Papa›, sagte Ellen. Mehr nicht. Aber ich konnte ihr Gesicht in diesem Moment so deutlich sehen, wie Papa es sehen konnte, und es trug denselben Ausdruck, den es an jenem ersten Sonntag und an den anderen in der Kutsche getragen hatte. Dann kam ein Diener und sagte, unser Einspänner sei bereit.
Ja. Vor sich selbst. Nicht vor ihm, nicht vor sonst wem, wie auch niemand sie hätte retten können, nicht einmal er selbst. Denn nun zeigte er uns, warum er diesem Triumph keine Beachtung hatte schenken müssen. Er zeigte es Ellen, das heißt: nicht ich. Ich war nicht da; inzwischen waren sechs Jahre verstrichen, in denen ich ihn kaum gesehen hatte. Unsere Tante war fort, und ich führte den Haushalt für Papa. Etwa einmal im Jahr fuhren Papa und ich zum Essen dorthin, und etwa vier Mal im Jahr kamen Ellen und die Kinder und verbrachten den Tag bei uns. Er nicht; soviel ich weiß, betrat er dieses Haus nie wieder, nachdem er und Ellen geheiratet hatten. Ich war damals jung; ich war sogar noch jung genug zu glauben, dass das vielleicht hartnäckigen Gewissensbissen, wenn nicht gar Reue, selbst bei ihm, zuzuschreiben wäre. Doch inzwischen weiß ich es besser. Inzwischen weiß ich, es lag schlicht daran, dass es bei Papa, nachdem dieser ihm durch seine Tochter zu Achtbarkeit verholfen hatte, nichts mehr für ihn zu holen gab, sodass ihn nicht einmal bloße Dankbarkeit, von der Wahrung des Scheins zu schweigen, hätte zwingen können, sein eigenes Vergnügen so weit hintanzustellen, dass er eine gemeinsame Mahlzeit mit der Familie seiner Frau einnahm. Also bekam ich sie kaum zu sehen. Inzwischen hatte ich keine Zeit mehr zum Spielen, selbst wenn ich je Lust dazu verspürt hätte. Ich hatte das Spielen nie gelernt und sah nun auch keinen Grund, es zu versuchen, selbst wenn ich Zeit gehabt hätte.
So ging es nun also sechs Jahre, obwohl es eigentlich kein Geheimnis für Ellen war, denn es war offenbar schon so gegangen, seit er den letzten Nagel in das Haus eingeschlagen hatte, und der einzige Unterschied zu seiner Junggesellenzeit bestand darin, dass sie die Gespanne, Reitpferde und Maultiere nun in dem Wäldchen hinter dem Stall anbanden und so vom Haus aus ungesehen über die Weide kamen. Es gab sie nämlich immer noch reichlich; es war, als hätte sich Gott oder der Teufel ebendiese Laster zunutze gemacht, um Zeugen für die Vollstreckung unseres Fluchs nicht nur aus Kreisen anständiger Leute, Leute unseres Schlages, beizubringen, sondern auch aus dem Abschaum und Gesindel, das sich dem Haus unter anderen Umständen nicht einmal von hinten hätte nähern dürfen. Ja, Ellen und die beiden Kinder allein in dem Haus, zwölf Meilen von der Stadt entfernt, und dort unten im Stall ein freigehaltenes Viereck aus Gesichtern im Laternenschein, die weißen auf drei Seiten, die schwarzen auf der vierten, und in der Mitte kämpften nackt zwei seiner wilden Neger, kämpften nicht, wie Weiße kämpfen, mit Regeln und Waffen, sondern wie Neger kämpfen, um einander rasch und schwer zu verletzen. Ellen wusste das oder meinte es zu wissen; das war es nicht. Sie nahm es hin – war nicht damit einverstanden, sondern nahm es hin –, als gäbe es bei jeder Schmach einen Punkt des Atemholens, an dem man sie beinahe mit Dankbarkeit hinnimmt, weil man sich sagen kann, Gott sei Dank ist das alles; wenigstens weiß ich nun alles – das dachte sie, daran klammerte sie sich noch in jener Nacht, als sie in den Stall lief und eben die Männer, die sich von hinten hereingeschlichen hatten, aus irgendeinem Restchen von Anstand heraus vor ihr zurückwichen, und Ellen sah nicht die beiden schwarzen Bestien, mit deren Anblick sie gerechnet hatte, sondern stattdessen einen Weißen und einen Schwarzen, beide nackt bis zur Taille und einander nach den Augen krallend, als hätte ihre Haut nicht nur die gleiche Farbe, sondern wäre auch mit Fell bedeckt. Ja. Wie es scheint, pflegte er bei bestimmten Gelegenheiten, vielleicht als großes Finale am Ende des Abends, des Spektakels, vielleicht auch aus bloßem, kaltem Vorbedacht, mit Blick auf den Erhalt von Überlegenheit, von Herrschaft, selbst mit einem der Neger in den Ring zu steigen. Ja. Das war es, was Ellen sah: ihren Mann, den Vater ihrer Kinder, wie er nackt und keuchend und bis zur Taille blutig dastand, während der Neger, der offensichtlich gerade niedergestreckt worden war, zu seinen Füßen lag, ebenfalls blutig, nur dass es bei dem Neger wie Fett oder Schweiß aussah – Ellen, die barhäuptig den Hügel vom Haus hinunterrannte und so gerade noch das Geräusch, das Geschrei hörte, es hörte, während sie noch durch die Dunkelheit rannte und bevor die Zuschauer wussten, dass sie da war, es hörte, noch ehe einem der Zuschauer einfiel zu sagen: ‹Es ist ein Pferd›, dann: ‹Es ist eine Frau›, dann: ‹Mein Gott, es ist ein Kind› – und sie rannte hinein, die Zuschauer wichen zurück, sodass sie Henry sah, der zwischen den Negern hervorgestürzt kam, die ihn festgehalten hatten, der schrie und sich übergab – hielt nicht inne, hatte keinen Blick für die Gesichter, die vor ihr zurückschraken, während sie sich in den Stalldreck kniete, um Henry aufzuheben, und auch für Henry hatte sie keinen Blick, sondern sie schaute zu ihm auf, wie er da stand, nun unter seinem Bart sogar die Zähne zeigte und ihm ein anderer Neger mit einem Jutesack das Blut vom Körper wischte. ‹Sie werden uns gewiss entschuldigen, meine Herren›, sagte Ellen. Aber sie machten sich schon davon, Nigger und Weiße, schlichen sich hinaus, wie sie sich hereingeschlichen hatten, und auch jetzt beachtete Ellen sie nicht, sondern kniete im Schmutz, während Henry sich weinend an sie klammerte, und immer noch stand er da, während ein dritter Nigger ihn zaghaft mit seinem Hemd oder seinem Rock anstupste, als wäre der Rock ein Stecken und er eine in einem Käfig eingesperrte Schlange. ‹Wo ist Judith, Thomas?›, sagte Ellen.
‹Judith?›, sagte er. Oh, er log nicht; sein eigener Triumph hatte ihn überholt; er hatte im Bösen noch mehr zuwege gebracht, als selbst er hätte hoffen können. ‹Judith? Ist sie nicht im Bett?›
‹Belüge mich nicht, Thomas›, sagte Ellen. ‹Ich kann verstehen, dass du Henry hierherbringst, damit er das sieht, dass du willst, dass Henry das sieht; ich werde versuchen, es zu verstehen; ja, ich werde mich dazu zwingen, es zu versuchen. Aber nicht Judith, Thomas. Nicht meine Kleine, Thomas.›
‹Ich erwarte nicht, dass du es verstehst», sagte er, ‹denn du bist eine Frau. Aber ich habe Judith nicht hierhergebracht. Ich würde sie nicht hierherbringen. Ich erwarte nicht, dass du das glaubst. Aber ich schwöre es.›
‹Ich wünschte, ich könnte dir glauben›, sagte Ellen. ‹Ich möchte dir glauben.› Dann begann sie zu rufen. ‹Judith!›, rief sie mit einer Stimme, die ruhig war und freundlich und voller Verzweiflung: ‹Judith, Schatz! Zeit zum Schlafengehen.›
Aber ich war nicht da. Diesmal war ich nicht da, um sie zu sehen, die beiden Sutpen-Gesichter – eines das von Judith und eines das des Negermädchens neben ihr –, wie sie durch die Luke des Heubodens herabschauten.»
Es war ein Sommer der Glyzinien. Die Dämmerung war von ihnen und vom Geruch der Zigarre seines Vaters erfüllt, als sie nach dem Abendessen auf der vorderen Veranda saßen, bis es für Quentin Zeit zum Aufbruch sein würde, während auf dem tiefen, üppigen Rasen vor der Veranda die Leuchtkäfer aufs Geratewohl sanft durcheinanderwehten und -wogten – dem Duft, dem Aroma, das Mr. Compsons Brief fünf Monate später vom Mississippi über den eiseskalten New-England-Schnee bis in Quentins Zimmer in Harvard tragen sollte. Es war auch ein Tag des Zuhörens – wobei er, was er 1909 hörte, zu hören bekam, weitgehend schon kannte, denn er atmete noch die gleiche Luft, in der er geboren war, in der die Kirchenglocken an jenem Sonntagmorgen im Jahre 1833 geläutet hatten (und er hörte sonntags sogar noch eine der ursprünglichen drei Glocken von demselben Turm, wo Nachfahren derselben Tauben stolzierten, gurrten oder kreisten, in kurzen Bögen, die sanften, fließenden Farbstrichen am sanften Sommerhimmel glichen); – einem Sonntagmorgen im Juni, an dem die Glocken friedlich, gebieterisch und ein wenig misstönend läuteten – die Konfessionen in Einklang, wenn auch nicht Wohlklang vereint – und die Damen und Kinder mit den Hausnegern, die Sonnenschirme und Fliegenwedel trugen, und sogar ein paar Männer (die Damen bewegten sich in Krinolinen zwischen den Miniatur-Tuchröcken kleiner Knaben und den Rüschenhosen kleiner Mädchen, in den Röcken der Zeit, wo Damen nicht gingen, sondern schwebten), und als die anderen Männer aufblickten, die auf der Veranda von Holston House saßen, die Füße auf dem Geländer, war da der Fremde. Er hatte den Platz schon halb überquert, als sie ihn sahen, auf einem großen, abgehetzten Rotschimmel, und Pferd und Reiter wirkten, als wären sie aus dem Nichts entstanden und schon in müdem Zuckeltrab im hellen, sommerlichen Sonntagssonnenschein abgesetzt worden – ein Gesicht und ein Pferd, das keiner von ihnen je zuvor gesehen, ein Name, den keiner von ihnen je gehört hatte, Herkunft und Absichten, über die manche nie etwas erfahren würden. Sodass der Name des Fremden (Jefferson war damals noch ein Dorf: Holston House, das Gerichtsgebäude, sechs Läden, eine Hufschmiede nebst Mietstall, ein von Herumtreibern und Hausierern frequentierter Saloon, drei Kirchen und vielleicht dreißig Wohnhäuser) zwischen den Stätten von Geschäftigkeit und Müßiggang in Strophe und Antistrophe hin- und herging: Sutpen. Sutpen. Sutpen. Sutpen.
Mehr sollte die Stadt fast einen Monat lang nicht von ihm erfahren. Er war offenbar aus dem Süden hierhergekommen – ein Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, wie man später herausfand, denn seinerzeit ließ sich sein Alter nicht schätzen, weil er aussah wie einer, der krank gewesen ist. Nicht wie einer, der friedlich im Krankenbett gelegen, sich erholt hat und sich nun mit so etwas wie zaghaftem, tastendem Erstaunen in einer Welt bewegt, die er schon aufgeben zu müssen geglaubt hat, sondern wie einer, der die Feuerprobe einer einsamen Erfahrung durchlebt hat, die mehr als nur ein Fieber gewesen ist, wie ein Entdeckungsreisender etwa, der nicht nur mit den normalen Strapazen des selbstgewählten Unternehmens hat fertigwerden müssen, sondern zusätzlich von der Erschwernis des unvorhergesehenen Fiebers eingeholt wurde und sich unter enormem, nicht so sehr körperlichem als vielmehr geistigem Kraftaufwand hindurchgekämpft hat, allein und ohne Beistand, und zwar nicht dank blindem, instinktivem Durchhalte- und Überlebenswillen, sondern um den materiellen Gewinn, um dessentwillen er sich ursprünglich auf das Spiel eingelassen hat, einzustreichen und bewusst zu genießen. Ein Mann von mächtiger Gestalt, nun aber bis fast zur Auszehrung abgemagert, mit einem kurzen rötlichen Bart, der wie eine Verkleidung wirkte und über dem seine fahlen Augen etwas zugleich Schwärmerisches und Wachsames, Mitleidloses und Ruhiges offenbarten, in einem Gesicht, das aussah, als wäre es aus Ton geformt worden und das Fieber der Seele oder der Umgebung hätte seine Farbe unter einer toten, undurchdringlichen und wie glasiert anmutenden Oberfläche tiefer eingebrannt, als die Sonne allein es vermocht hätte. Das war es, was man sah, doch es vergingen Jahre, ehe die Stadt erfuhr, dass das alles war, was er seinerzeit besaß – das kräftige, erschöpfte Pferd, die Kleider, die er am Leibe trug, eine kleine Satteltasche, kaum groß genug, um die Wäsche zum Wechseln und das Rasierzeug aufzunehmen, und die beiden Pistolen, von denen Miss Coldfield Quentin erzählte, deren Kolben so abgegriffen waren wie Hackenstiele und die er so präzise zu gebrauchen wusste wie Stricknadeln; später sah ihn Quentins Großvater in leichtem Galopp um ein Bäumchen reiten und aus zwanzig Fuß Entfernung beide Kugeln durch eine daran befestigte Spielkarte jagen. Er hatte ein Zimmer in Holston House, aber er trug den Schlüssel bei sich, und jeden Morgen vor Tagesanbruch fütterte und sattelte er das Pferd und ritt davon, doch wohin, bekam die Stadt ebenso wenig heraus, was wahrscheinlich daran lag, dass er die Vorführung seiner Schießkünste am dritten Tag nach seiner Ankunft gab. Man war also aufs Ausforschen angewiesen, wenn man herausfinden wollte, was es über ihn zu wissen gab, und das konnte zwangsläufig nur abends geschehen, an der Tafel des Holston House oder im Gesellschaftsraum, den er durchqueren musste, um in sein Zimmer zu gelangen und die Tür hinter sich abzuschließen, was er jedes Mal tat, sobald er mit Essen fertig war. Auch die Bar mündete in den Gesellschaftsraum und wäre der geeignete Ort gewesen, ihn anzusprechen oder gar auszufragen, nur suchte er sie niemals auf. Er trinke überhaupt nicht, sagte er ihnen. Er sagte nicht, er habe früher getrunken und es aufgegeben oder er habe niemals Alkohol zu sich genommen. Er sagte lediglich, er mache sich nichts daraus; selbst Quentins Großvater (auch er war damals noch ein junger Mann; bis er General Compson wurde, sollten noch Jahre vergehen) erfuhr erst Jahre später, dass Sutpen deshalb nicht trank, weil er nicht das Geld hatte, um für seinen Anteil aufzukommen oder die Höflichkeit zu erwidern; es war General Compson, der als Erster dahinterkam, dass es Sutpen damals nicht nur am Geld für Alkohol und Geselligkeit fehlte, sondern auch an der Zeit und Lust; dass er damals vollständig Sklave seiner heimlichen, wütenden Ungeduld war, seiner Überzeugung, die sich jener unlängst gemachten, wie auch immer gearteten Erfahrung – jenem geistigen oder körperlichen Fieber – verdankte, dass Eile geboten war, dass ihm die Zeit knapp wurde, und dass diese Überzeugung ihn die nächsten fünf Jahre antrieb – bis zu einem Zeitpunkt, der General Compsons Berechnung nach ungefähr neun Monate vor der Geburt seines Sohnes lag.