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Mit sinnlicher Leidenschaft entrollt Faulkner in diesem Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts drei Lebenswege in der weiten Landschaft des Mississippi: Lena Grove, eine junge Schwangere auf einer fremden Landstraße, sucht ihren Geliebten. Am Ende hat sich ihr Schicksal in der Begegnung mit einem anderen Mann erfüllt, aber das Chaos sündhafter Verstrickung entlässt sie wieder fast unberührt. Joe Christmas, ein Wanderarbeiter, der sich seiner Rassenzugehörigkeit nicht sicher ist, findet hingegen keinen anderen Ausweg aus seinem Dilemma, als selbst zum Mörder zu werden. Der Geistliche Gail Hightower durchschaut das Gewebe aus religiösem und rassischem Fanatismus, kann sich aber nicht aus seiner Verklärung der «glorreichen» Südstaatenvergangenheit befreien … Faulkners zwingende Modernität, sein multiperspektivischer, psychologischer Stil machten «Licht im August», 1932 geschrieben, bereits 1935 bei Rowohlt veröffentlicht, zu einem der wirkungsmächtigsten Romane des 20. Jahrhunderts – hierzulande vor allem nach dem Krieg, als er in einer rororo-Zeitungsausgabe einem breiten Publikum zugänglich wurde. Der Rowohlt Verlag legt Faulkners besten und bekanntesten Roman in einer zeitgemäßen Neuübersetzung von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel vor, versehen mit einem Nachwort von Paul Ingendaay.
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Seitenzahl: 800
William Faulkner
Roman
Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
Mit sinnlicher Leidenschaft entrollt Faulkner in diesem Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts drei Lebenswege in der weiten Landschaft des Mississippi: Lena Grove, eine junge Schwangere auf einer fremden Landstraße, sucht ihren Geliebten. Am Ende hat sich ihr Schicksal in der Begegnung mit einem anderen Mann erfüllt, aber das Chaos sündhafter Verstrickung entlässt sie wieder fast unberührt. Joe Christmas, ein Wanderarbeiter, der sich seiner Rassenzugehörigkeit nicht sicher ist, findet hingegen keinen anderen Ausweg aus seinem Dilemma, als selbst zum Mörder zu werden. Der Geistliche Gail Hightower durchschaut das Gewebe aus religiösem und rassischem Fanatismus, kann sich aber nicht aus seiner Verklärung der «glorreichen» Südstaatenvergangenheit befreien …
Faulkners zwingende Modernität, sein multiperspektivischer, psychologischer Stil machten «Licht im August», 1932 geschrieben, bereits 1935 bei Rowohlt veröffentlicht, zu einem der wirkungsmächtigsten Romane des 20. Jahrhunderts – hierzulande vor allem nach dem Krieg, als er in einer rororo-Zeitungsausgabe einem breiten Publikum zugänglich wurde.
Der Rowohlt Verlag legt Faulkners besten und bekanntesten Roman in einer zeitgemäßen Neuübersetzung von Helmut Frielinghaus und Susanne Höbel vor, versehen mit einem Nachwort von Paul Ingendaay.
William Faulkner, am 25. September 1897 in New Albany, Mississippi, als William Cuthbert Falkner geboren, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Neben seinem umfänglichen Werk, einer Chronik von Glanz und Verfall der Südstaaten, verfasste er Drehbücher, unter anderem zu Raymond Chandlers «The Big Sleep» und Ernest Hemingways «To Have and Have Not», beide unter der Regie von Howard Hawks. Faulkner wurde zweimal mit dem Pulitzer-Preis und dem O'Henry Award ausgezeichnet, erhielt den National Book Award und 1949 den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 6. Juli 1962.
Lena sitzt am Straßenrand und beobachtet, wie das Fuhrwerk den Hügel zu ihr heraufklettert, und sie denkt: ‹Ich komme aus Alabama: ein schönes Stück. Den ganzen Weg von Alabama her, zu Fuß. Ein schönes Stück.› Sie denkt Ich bin noch keinen ganzen Monat unterwegs und hab’s schon bis Mississippi geschafft, weiter weg von zu Hause, als ich je vorher gewesen bin. Ich bin jetzt weiter weg von Doane’s Mill, als ich seit meinem zwölften Lebensjahr gewesen bin
Nach Doane’s Mill war sie auch erst gekommen, als ihr Vater und ihre Mutter starben, auch wenn sie sechs- oder achtmal im Jahr am Samstag in die Stadt gefahren war, im Fuhrwerk, in einem Versandhauskleid, die bloßen Füße flach auf dem Wagenboden und die Schuhe, in ein Stück Papier gewickelt, neben sich auf der Bank. Erst kurz bevor das Fuhrwerk die Stadt erreichte, zog sie die Schuhe an. Als sie ein großes Mädchen geworden war, bat sie ihren Vater, am Stadtrand anzuhalten, dann stieg sie ab und ging zu Fuß weiter. Sie mochte ihrem Vater nicht sagen, warum sie lieber gehen statt fahren wollte. Er dachte, es hätte mit den glatten Straßen, den Gehwegen zu tun. Es war aber, weil sie glaubte, die Leute, die sie sahen und an denen sie vorbeikam, würden dann denken, sie lebte auch in der Stadt.
Als sie zwölf Jahre alt war, starben ihr Vater und ihre Mutter in ein und demselben Sommer, in einem Blockhaus mit drei Zimmern und einem Flur, ohne Fliegengitter, in einem Zimmer, das von einer insektenumschwirrten Petroleumlampe erleuchtet war, der nackte Fußboden von nackten Füßen blank poliert wie altes Silber. Sie war das jüngste der lebenden Kinder. Zuerst starb die Mutter. Sie sagte: «Kümmre dich um Pa.» Das tat Lena. Dann sagte eines Tages ihr Vater: «Geh du mit McKinley nach Doane’s Mill. Mach dich bereit, damit du bereit bist, wenn er kommt.» Dann starb er. McKinley, der Bruder, kam in einem Fuhrwerk. Sie begruben den Vater an einem Nachmittag in einem Hain hinter einer ländlichen Kirche und setzten ihm ein Grabmal aus Kiefernholz. Am nächsten Morgen ging sie für immer fort, auch wenn sie es damals womöglich nicht wusste, und fuhr mit McKinley im Fuhrwerk nach Doane’s Mill. Das Fuhrwerk war geliehen, und der Bruder hatte versprochen, es bis zum Einbruch der Dunkelheit zurückzubringen.
Der Bruder arbeitete in der Sägemühle. Alle Männer im Ort arbeiteten in der Mühle oder für die Mühle. Dort wurde Kiefernholz gesägt. Es gab die Mühle seit sieben Jahren, und in weiteren sieben Jahren würde sie den gesamten Kiefernbestand im Umkreis zerstört haben. Dann würden ein Teil der Maschinen und die meisten der Männer, die sie betrieben und die dank der Mühle und für die Mühle hier lebten, auf Güterwagen verladen und weggefahren werden. Ein Teil der Maschinen aber bliebe zurück, da man ja jederzeit neue auf Raten kaufen konnte – triste, starrende, reglose Räder, die auf zutiefst verwunderliche Art und Weise aus Haufen von Backsteinschutt und zottigem Unkraut emporragten, und ausgeweidete Dampfkessel, die ihre rostenden, rauchlosen Schlote mit sturer, verdutzter und verstörter Miene in die Luft reckten, auf einem mit Baumstümpfen übersäten Gelände von tiefer, friedlicher Trostlosigkeit, ungepflügt, unbestellt, das unter dem langen ruhigen Herbstregen und der galoppierenden Furie der Frühlingstagundnachtgleiche langsam ins Rutschen kam, die roten, schon verstopften Schluchten hinunter. Eines Tages würde das kleine Dorf, das selbst in seinen besten Zeiten keinen in den Jahrbüchern des Postministeriums verzeichneten Namen getragen hatte, nicht einmal mehr von den verstreuten, hakenwurmkranken Erben, die die Gebäude niederrissen und das Holz in Küchenherden und winterlichen Feuerstellen verfeuerten, erinnert werden.
Als Lena ankam, lebten dort vielleicht fünf Familien. Es gab ein Bahngleis und einen Haltepunkt, und einmal am Tag sauste ein gemischter Zug kreischend durch. Der Zug konnte mit einer roten Flagge angehalten werden, doch gewöhnlich tauchte er mit der Plötzlichkeit einer Erscheinung und dem Heulen einer Todesfee aus den verwüsteten Hügeln auf und fuhr quer durch den kleinen Ort, der, nicht einmal ein Dorf, wie die vergessene Holzperle einer zerrissenen Kette war. Der Bruder war zwanzig Jahre älter als Lena. Sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern, als sie kam, um nun bei ihm zu leben. Er wohnte in einer ungestrichenen Hütte mit vier Räumen, zusammen mit seiner von Mühsal und Kindbett verbrauchten Frau. Fast die Hälfte eines jeden Jahres lag die Schwägerin entweder im Wochenbett oder erholte sich davon. In dieser Zeit versah Lena alle Hausarbeit und versorgte die anderen Kinder. Später sagte sie sich: ‹Deshalb, glaube ich, hab ich selbst so schnell eins gekriegt.›
Sie schlief in einem hinten am Haus angebauten Raum. Er hatte ein Fenster, das sie im Dunkeln zu öffnen und wieder zu schließen lernte, ohne dass jemand es hörte, obwohl in dem angebauten Zimmer zuerst auch ihr ältester Neffe schlief, dann die beiden ältesten und schließlich alle drei. Sie wohnte schon acht Jahre dort, als sie das Fenster zum ersten Mal aufmachte. Sie hatte es noch kein Dutzend Mal aufgemacht, als sie feststellen musste, dass sie es besser niemals aufgemacht hätte. Sie sagte sich: ‹Ich hab aber auch ein Pech.›
Die Schwägerin erzählte es dem Bruder. Daraufhin bemerkte er, was ihm schon eine Zeitlang hätte auffallen sollen, ihre sich verändernde Gestalt. Er war ein harter Mann. Alles Sanfte und Zarte und Jugendliche (er war gerade erst vierzig) und fast alles andere, außer einer gewissen hartnäckigen und verzweifelten Standhaftigkeit und dem finsteren Erbe seines Familienstolzes, hatte die Arbeit aus ihm herausgeschwitzt. Er nannte sie eine Hure. Er beschuldigte den richtigen Mann (junge, noch unverheiratete Männer oder gar Sägemehl-Casanovas gab es noch weniger als Familien), aber sie wollte es nicht zugeben, obwohl der Mann schon sechs Monate zuvor weggegangen war. Sie sagte hartnäckig nur immer wieder: «Er will mich nachkommen lassen. Er hat gesagt, er lässt mich nachkommen»; unerschütterlich, mit Lammsgeduld, aus dem Vorrat langmütiger und standfester Treue schöpfend, worauf die Lucas Burches dieser Welt vertrauen und sich verlassen, obwohl sie gar nicht die Absicht haben, zugegen zu sein, wenn die Not es gebietet. Zwei Wochen darauf kletterte sie abermals durch das Fenster. Diesmal war es ein bisschen schwierig. ‹Wenn es vorher auch so schwer gewesen wäre, dann würde ich’s, nehme ich an, jetzt nicht tun›, dachte sie. Sie hätte zur Tür hinausgehen können, am helllichten Tage, niemand hätte sie aufgehalten. Vielleicht wusste sie das. Aber sie entschied sich, bei Nacht zu gehen, durch das Fenster. Sie hatte einen Palmblattfächer bei sich und ein kleines Bündel, ordentlich in einem Halstuch zusammengebunden. Es enthielt unter anderem fünfunddreißig Cent in Nickeln und Dimes. Ihre Schuhe waren von ihrem Bruder, der sie ihr gegeben hatte. Sie waren nur wenig getragen, da sie alle im Sommer keine Schuhe trugen. Als sie den Staub der Landstraße unter ihren Füßen spürte, zog sie die Schuhe aus und trug sie in der Hand.
So hat sie es jetzt seit fast vier Wochen gehalten. Die vier Wochen hinter ihr, das erinnerte schöne Stück Wegs, sind ein friedlicher Korridor, gepflastert mit unbeirrbarem und gelassenem Vertrauen und bevölkert von freundlichen, namenlosen Gesichtern und Stimmen: Lucas Burch? Ich weiß nicht. Ich kenne hier in der Gegend keinen, der so heißt. Die Straße hier? Die führt nach Pocahontas. Vielleicht ist er dort. Möglich ist es. Hier kommt ein Fuhrwerk, das fährt ein Stück des Weges. Es nimmt Sie sicher so weit mit; hinter ihr rollt jetzt eine lange, monotone Folge friedlicher, sich niemals wandelnder Wechsel ab, von Tageshelle zu Dunkelheit und von Dunkelheit wieder zu Tageshelle, durch die sie sich in immer gleichen, anonymen, bedächtigen Fuhrwerken wie durch eine Folge räderknarrender und schlappohriger Reinkarnationen bewegt hat – wie etwas, das auf immer, ohne voranzukommen, über eine Urne kriecht.
Das Fuhrwerk klettert den Hügel zu ihr herauf. Sie ist daran vorbeigegangen, ungefähr eine Meile weiter unten auf der Landstraße. Es stand am Straßenrand, die Maultiere schlafend im Geschirr, die Köpfe in die Richtung weisend, in die Lena ging. Sie sah es und sie sah die beiden Männer, die hinter einem Zaun bei einer Scheune hockten. Sie warf nur einen Blick auf den Wagen und die Männer: einen einzigen, alles umfassenden Blick, schnell, unschuldig und durchdringend. Sie blieb nicht stehen; höchstwahrscheinlich hatten die Männer hinter dem Zaun den Blick, der den Wagen und sie erfasst hatte, gar nicht bemerkt. Auch wandte sie sich nicht um. Sie schwand aus dem Blickfeld, ging langsam, die Schnürbänder an den Knöcheln gelockert, bis sie eine Meile weiter die Höhe des Hügels erreichte. Da setzte sie sich an den Grabenrand, die Füße im flachen Graben, und zog sich die Schuhe aus. Nach einer Weile hörte sie das Fuhrwerk. Sie hörte es eine Zeitlang. Dann kam es in Sicht, wie es den Hügel heraufkletterte.
Das scharfe und spröde Knacken und Klappern von verwittertem und ungeschmiertem Holz und Metall klingt schleppend und unheimlich: ein wiederholtes trockenes, träges Knallen, das eine halbe Meile weit quer durch die heiße unbewegte Kiefernduftstille des Augustnachmittags trägt. Obwohl die Maultiere in steter, nicht nachlassender Hypnose einhertrotten, scheint das Gefährt nicht voranzukommen. Es verharrt, so scheint es, immer und immerfort in der Schwebe, in mittlerer Entfernung, so geringfügig kommt es voran, wie eine schäbige Perle auf dem sanftroten Band der Straße. Das geht so weit, dass das Auge den Wagen beim Zuschauen aus dem Blick verliert, weil Sicht und Sinne sich schläfrig vermischen und verschmelzen, wie die Straße selbst, mit all den friedlichen und monotonen Wechseln zwischen Dunkel und Tageshelle, wie schon abgemessener Faden, der auf eine Spule gerollt wird. Sodass am Ende das Geräusch, gleichsam aus einer banalen und unwichtigen Region jenseits aller Entfernung, langsam und unheimlich und bar jeder Bedeutung hervortritt, als wäre es ein Geist, der eine halbe Meile vor seiner eigenen Gestalt daherreist. ‹So weit kann ich es hören, ehe ich’s sehen kann›, denkt Lena. Sie sieht sich selbst schon in Bewegung, wieder fahrend, denkt Dann ist es so, als wäre ich schon eine halbe Meile gefahren, bevor ich auch nur auf das Fuhrwerk gestiegen bin, bevor noch das Fuhrwerk zu der Stelle kam, wo ich gewartet hab, und wenn das Fuhrwerk dann wieder ohne mich weiterfährt, fährt es eine halbe Meile noch mit mir drin Sie wartet und sieht jetzt nicht einmal zu dem Fuhrwerk hin, während das Denken müßig und schnell und glatt dahineilt, angefüllt mit namenlosen freundlichen Gesichtern und Stimmen: Lucas Burch? In Pocahontas haben Sie es schon versucht, sagen Sie? Die Straße hier? Die führt nach Springvale. Warten Sie hier. Bald kommt ein Fuhrwerk hier durch, das nimmt Sie sicher, so weit es geht, mit Sie denkt: ‹Und falls es die ganze Strecke bis Jefferson fährt, dann fahre ich in Hörweite von Lucas Burch, bevor ich in seiner Sichtweite bin. Dann hört er das Fuhrwerk, aber er weiß es noch nicht. Also wird eine Person in seiner Hörweite sein, bevor sie in seine Sichtweite kommt. Und dann sieht er mich, und dann freut er sich. Und so werden zwei in seiner Sichtweite sein, ehe er sich noch erinnert.›
Während Armstid und Winterbottom an der schattigen Wand von Winterbottoms Stall hockten, sahen sie Lena auf der Straße vorübergehen. Sie sahen sofort, dass sie jung, schwanger und eine Fremde war. «Ich möchte wissen, wo sie den Bauch herhat», sagte Winterbottom.
«Ich möchte wissen, wie weit sie ihn zu Fuß getragen hat», sagte Armstid.
«Zu Besuch bei einem, weiter unten an der Straße, denke ich», sagte Winterbottom.
«Nein, das glaube ich nicht. Sonst hätte ich davon gehört. Und in meine Richtung ist es auch keiner. Das hätte ich auch gehört.»
«Ich nehme an, sie weiß, wohin sie will», sagte Winterbottom. «Jedenfalls geht sie so.»
«Jedenfalls kriegt sie Gesellschaft, ehe sie noch viel weiter kommt», sagte Armstid. Die Frau war inzwischen weitergegangen, langsam, mit ihrer schwellenden, unverkennbaren Bürde. Keiner von ihnen hatte bemerkt, wie ihr Blick sie beide flüchtig streifte, als sie in einem unförmigen Kleid von verschossenem Blau vorüberging, in der Hand einen Palmblattfächer und ein kleines Stoffbündel. «Sie kommt nicht aus der Gegend hier», sagte Armstid. «Sie hat einen Schritt, als ob sie schon eine gute Weile unterwegs ist und noch ein gutes Stück Weges vor sich hat.»
«Sie muss irgendwen hier in der Nähe besuchen», sagte Winterbottom.
«Davon hätte ich gehört», sagte Armstid. Die Frau ging weiter. Sie hatte sich nicht umgedreht. Sie ging die Straße hinauf, aus dem Blickfeld: geschwollen, langsam, bedächtig, uneilig und unermüdlich, so wie der voller werdende Nachmittag selbst. Sie entfernte sich auch aus ihren Reden, vielleicht auch aus ihren Gedanken. Denn nach einer Weile sagte Armstid das, weswegen er gekommen war. Er hatte schon zweimal den Weg gemacht, um es zu sagen, war in seinem Fuhrwerk die fünf Meilen hergekommen und hatte drei Stunden lang, immer wieder ausspuckend, im Schutz der schattigen Wand von Winterbottoms Scheune gehockt, mit der zeitlosen Uneiligkeit und Umschweifigkeit von Menschen seines Schlages. Es ging darum, Winterbottom ein Angebot für einen Kultivator zu machen, den Winterbottom verkaufen wollte. Endlich sah Armstid zur Sonne und bot den Preis, den zu bieten er drei Nächte zuvor, während er im Bett lag, beschlossen hatte. «Ich weiß von einem in Jefferson, den ich zu diesem Preis kaufen könnte», sagte er.
«Dann solltest du ihn lieber kaufen», sagte Winterbottom. «Hört sich gut an, das Angebot.»
«Klar», sagte Armstid. Er spuckte aus. Wieder sah er zur Sonne und erhob sich. «Na, ich glaube, ich sollte mich langsam auf den Rückweg machen.»
Er stieg auf sein Fuhrwerk und weckte die Maultiere. Das heißt, er setzte sie in Bewegung, denn nur ein Neger kann erkennen, ob ein Maultier wach ist oder schläft. Winterbottom kam mit bis an den Zaun und legte die Arme auf die oberste Latte. «Ja, Mann», sagte er. «Zu dem Preis würde ich den Kultivator kaufen, auf jeden Fall. Wenn du ihn nicht nimmst, müsste ich schön dumm sein, wenn ich nicht gute Lust hätte, ihn selbst zu nehmen, zu dem Preis. Ich nehme an, der Mann, dem er gehört, hat nicht zufällig ein Maultiergespann für ungefähr fünf Dollar zu verkaufen, oder?»
«Klar», sagte Armstid. Er fuhr an, und das Fuhrwerk fiel in sein langsames, Meilen verzehrendes Klappern. Auch er sieht sich nicht um. Anscheinend blickt er auch nicht nach vorn, denn er sieht die Frau, die am Straßenrand im Graben sitzt, erst, als das Fuhrwerk schon fast den Scheitelpunkt des Hügels erreicht hat. In dem Moment, da er das blaue Kleid erkennt, kann er nicht sagen, ob sie den Wagen überhaupt schon gesehen hat. Auch hätte niemand ihm ansehen können, dass er sie je zuvor gesehen hat, als sie jetzt, ohne den geringsten Anschein von Bewegung auf beiden Seiten, einander langsam näher kommen, während das Fuhrwerk unheimlich auf Lena zukriecht in seiner trägen, greifbaren Aura von Schläfrigkeit und rotem Staub, in der sich die steten Maultierhufe wie im Traum bewegen und das spärliche Klirren des Geschirrs und die geschmeidig hüpfenden Präriehasenohren den Rhythmus markieren und die Maultiere weder schlafen noch wach sind, als er sie anhält.
Unter einem Sonnenhut von verschossenem Blau, den inzwischen nicht nur Wasser und Seife ausgebleicht haben, sieht sie ruhig und freundlich zu ihm auf: jung, mit einem freundlich anzusehenden Gesicht, offen, freundlich und munter. Noch bewegt sie sich nicht. Unter dem verschossenen Kleid von dem gleichen ausgeblichenen Blau ist ihr Körper unförmig und reglos. Der Fächer und das Bündel liegen in ihrem Schoß. Sie trägt keine Strümpfe. Ihre bloßen Füße ruhen nebeneinander in dem flachen Graben. Das Paar staubiger, schwerer, männlich wirkender Schuhe daneben ist nicht unbeweglicher. In dem angehaltenen Wagen sitzt Armstid gebeugt, bleichäugig. Ihm fällt auf, dass der Rand des Fächers sauber von dem gleichen verschossenen Blau gesäumt ist, das der Sonnenhut und das Kleid aufweisen.
«Wie weit wollen Sie?», sagt er.
«Ich wollte noch ein Stück weiter kommen, bevor es dunkel wird», sagt sie. Sie steht auf und nimmt die Schuhe. Sie klettert langsam und bedächtig auf die Straße und nähert sich dem Fuhrwerk. Armstid steigt nicht ab, um ihr zu helfen. Er hält lediglich das Gespann still, als sie schwerfällig über das Rad hinaufklettert und die Schuhe unter die Bank stellt. Dann setzt sich das Fuhr-werk in Bewegung. «Ich danke Ihnen», sagt sie. «Es macht ganz schön müde, zu Fuß.»
Anscheinend hat Armstid sie nicht ein einziges Mal richtig angesehen. Doch ist ihm gleich aufgefallen, dass sie keinen Ehering trägt. Auch jetzt sieht er sie nicht an. Wieder fällt das Fuhrwerk in sein langsames Geklapper. «Von wo kommen Sie schon?», fragt er.
Sie stößt den Atem aus. Es ist weniger ein Seufzer als vielmehr ein friedliches Ausatmen, wie in friedlichem Erstaunen. «Ein ganz schönes Stück, wie’s jetzt aussieht. Ich komme von Alabama her.»
«Alabama? In Ihrem Zustand? Wo ist Ihre Familie?»
Auch sie sieht ihn nicht an. «Ich will sehen, dass ich ihn hier in der Gegend treffe. Vielleicht kennen Sie ihn. Er heißt Lucas Burch. Ein Stück weiter zurück haben mir Leute gesagt, dass er in Jefferson ist und in dem Hobelwerk arbeitet.»
«Lucas Burch.» Armstids Ton gleicht fast genau dem ihren. Sie sitzen Seite an Seite auf der Kutscherbank, die durchgesackt ist, weil die Federn gesprungen sind. Er sieht ihre Hände in ihrem Schoß und ihr Profil unter dem Sonnenhut, sieht es aus dem Augenwinkel. Sie scheint die Straße zu betrachten, wie sie sich zwischen den beweglichen Maultierohren entrollt. «Und Sie kommen den ganzen Weg hierher, zu Fuß, allein, um ihn zu suchen?»
Einen Moment lang antwortet sie nicht. Dann sagt sie: «Die Leute sind freundlich gewesen. Sie sind recht freundlich gewesen.»
«Die Frauensleute auch?» Aus dem Augenwinkel betrachtet er ihr Profil und denkt Ich weiß nicht, was Martha sagen wird denkt: ‹Ich glaube, ich weiß wohl, was Martha sagen wird. Ich nehme an, die Frauen sind wahrscheinlich gut, ohne dass sie sehr freundlich sind. Männer dagegen sind es vielleicht. Aber nur eine Frau, die selbst schlecht ist, wird sehr freundlich sein zu einer anderen Frau, die diese Freundlichkeit braucht›, denkt Ja, ich weiß. Ich weiß genau, was Martha sagen wird
Sie sitzt ein wenig vorgebeugt, ganz still, das Profil ganz still, ihre Wange. «Es ist schon seltsam», sagt sie.
«Dass Leute ein fremdes junges Mädchen auf der Straße gehen sehen, in Ihrem Zustand, und wissen, dass ihr Mann sie verlassen hat?» Sie rührt sich nicht. Das Fuhrwerk hat jetzt einen gewissen Rhythmus, das ungeschmierte, aufbegehrende Holz ist eins mit dem langsamen Nachmittag, der Landstraße, der Hitze. «Und Sie wollen ihn hier in der Gegend finden?»
Sie rührt sich nicht, offenbar betrachtet sie die langsame Straße zwischen den Ohren der Maultiere, die Entfernung, die vielleicht schon aus der Straße ausgeschnitten und festgelegt ist. «Ich glaube, ich werd ihn finden. So schwer wird das nicht sein. Er wird da sein, wo die meisten Menschen versammelt sind und wo gelacht und gescherzt wird. Dafür war er immer zu haben.»
Armstid knurrt, ein ungehaltenes, brüskes Geräusch. «Los, voran, ihr zwei», sagt er zu den Maultieren; zu sich sagt er, zwischen Denken und lautem Sprechen: ‹Ich nehme an, sie findet ihn. Ich nehme an, dem Burschen geht bald auf, was für einen schlimmen Fehler er gemacht hat, dass er diesseits von Arkansas geblieben ist, oder sogar von Texas.›
Die Sonne steht jetzt schräg, noch eine Stunde bleibt sie über dem Horizont, über der rasch hereinbrechenden Sommernacht. Der Weg biegt von der Straße ab, stiller noch als die Straße. «Da sind wir», sagt Armstid.
Sofort bewegt sich die Frau. Sie greift nach unten und nimmt die Schuhe; offenbar will sie das Fuhrwerk nicht aufhalten, bis sie sie angezogen hat. «Ich danke Ihnen herzlich», sagt sie. «Es war eine Hilfe.»
Das Fuhrwerk hält wieder an. Die Frau macht sich zum Absteigen bereit. «Selbst wenn Sie vor Sonnenuntergang bis zu Varners Laden kommen, haben Sie immer noch zwölf Meilen bis Jefferson», sagt Armstid.
Sie hält die Schuhe, das Bündel, den Fächer ungeschickt in einer Hand, damit sie die andere frei hat beim Herunterklettern. «Ich glaube, ich gehe besser weiter», sagt sie.
Armstid berührt sie nicht. «Sie kommen mit und bleiben die Nacht in meinem Haus», sagt er, «wo Frauensleute – wo eine Frau Ihnen helfen kann … wenn Sie – Jetzt kommen Sie schon. Morgen bringe ich Sie als Erstes zu Varners Laden, und da nimmt Sie wer in die Stadt mit. Bestimmt fährt irgendwer, am Samstag. Und über Nacht wird er sich ja nicht aus dem Staub machen. Falls er überhaupt in Jefferson ist, wird er auch morgen noch da sein.»
Sie sitzt ganz still, ihre Habseligkeiten in der Hand, bereit abzusteigen. Sie blickt geradeaus, dorthin, wo die Straße eine Kurve macht und entschwindet und von schrägen Schatten gequert wird. «Ich nehme an, ich hab noch ein paar Tage.»
«Klar. Sie haben noch viel Zeit. Nur dass Sie jetzt jeden Moment Gesellschaft kriegen können, die nicht laufen kann. Kommen Sie mit zu mir nach Hause.» Er setzt die Maultiere wieder in Bewegung, ohne auf eine Antwort zu warten. Das Fuhrwerk biegt in den Weg ein, den dunklen Fahrweg. Die Frau lehnt sich zurück, hält aber immer noch den Fächer, das Bündel, die Schuhe.
«Ich möchte nicht verpflichtet sein», sagt sie. «Ich möchte keine Ungelegenheiten machen.»
«Klar», sagt Armstid. «Kommen Sie nur mit mir.» Zum ersten Mal bewegen sich die Maultiere hurtig aus eigenem Antrieb. «Sie riechen den Mais», sagt Armstid und denkt: ‹Aber so geht das mit den Frauen. Sie sind die Ersten, die einer Schwester den Boden unter den Füßen wegziehen, und laufen selbst am Ende ohne Scham in aller Öffentlichkeit durchs Land, weil sie wissen, dass die Leute, die Mannsleute, sich um sie kümmern werden. Ihnen sind die Frauensleute gleichgültig. Und es war keine Frau, die sie in diesen Zustand gebracht hat, den sie nicht mal Unglück nennt. O ja. Da muss bloß eine von der Sorte heiraten oder, ohne verheiratet zu sein, ins Unglück geraten, und augenblicklich trennt sie sich von der weiblichen Rasse und Gattung und verbringt den Rest ihres Lebens mit dem Versuch, sich mit der Männerrasse zusammenzutun. Deshalb schnupfen sie Tabak und rauchen und wollen wählen.›
Als das Fuhrwerk am Haus vorbei und weiter zu den Stallungen fährt, sieht seine Frau von der Haustür aus zu. Er blickt nicht in diese Richtung, er braucht nicht hinzublicken, er weiß auch so, dass sie da sein wird, dass sie da ist. ‹Ja›, denkt er mit ironischem Bedauern, während er die Maultiere durchs offene Tor lenkt. ‹Ich weiß genau, was sie sagen wird. Ich glaube, ich weiß es genau.› Er hält den Wagen an. Er braucht nicht hinzublicken, er weiß auch so, dass seine Frau jetzt in der Küche ist: Sie guckt jetzt nicht, sie wartet nur ab. Er hält den Wagen an. «Gehen Sie schon rüber zum Haus», sagt er; er ist schon abgestiegen, und die Frau klettert jetzt mühsam herunter, mit dieser nach innen horchenden Bedächtigkeit. «Wenn Sie wen sehen, dann ist es Martha. Ich komme, wenn ich das Vieh gefüttert hab.» Er sieht ihr nicht nach, als sie den Hof überquert und zur Küche geht. Das braucht er gar nicht. Schritt für Schritt ist er bei ihr, betritt mit ihr die Küche und trifft auf die Frau, die jetzt genauso auf die Küchentür blickt, wie sie von der Haustür aus das vorbeifahrende Fuhrwerk beobachtet hat. ‹Ich glaube, ich weiß genau, was sie sagen wird›, denkt er.
Er nimmt die Maultiere aus dem Geschirr, gibt ihnen Wasser, führt sie in den Stall, füttert sie, und er lässt die Kühe von der Weide herein. Dann geht er zur Küche. Sie ist noch da, die graue Frau mit dem kalten, herben, reizbaren Gesicht, die in sechs Jahren fünf Kinder geboren und zu Männern und Frauen großgezogen hat. Sie ist nicht untätig. Er sieht sie nicht an. Er geht zum Ausguss, füllt einen Topf mit Wasser aus dem Eimer und krempelt sich die Ärmel auf. «Sie heißt Burch», sagt er. «So wenigstens heißt, wie sie sagt, der Bursche, dem sie hinterher ist. Lucas Burch. Jemand unterwegs hat ihr gesagt, dass er jetzt in Jefferson ist.» Er fängt an, sich zu waschen, mit dem Rücken zu ihr. «Sie ist den ganzen Weg von Alabama gekommen, allein und zu Fuß, sagt sie.»
Mrs. Armstid sieht sich nicht um. Sie macht sich am Tisch zu schaffen. «Sie wird ziemlich lange nicht mehr allein sein, eh sie Alabama wiedersieht», sagt sie.
«Oder auch eh sie diesen Burch sieht, nehm ich an.» Er ist emsig am Ausguss beschäftigt, mit Wasser und Seife. Und er spürt ihren Blick auf sich, auf seinem Hinterkopf, auf seinen Schultern in dem Hemd von schweißgeblichenem Blau. «Sie sagt, unten bei Samson hat ihr wer gesagt, ein Mann, der Burch heißt oder so, arbeitet im Hobelwerk in Jefferson.»
«Und sie denkt, dass sie ihn dort findet. Dass er schon auf sie wartet. Und das Haus eingerichtet hat und alles.»
Er hört ihrer Stimme nicht an, ob sie ihn jetzt beobachtet oder nicht. Er rubbelt sich mit einem aufgetrennten Mehlsack ab. «Vielleicht findet sie ihn. Wenn er vor ihr weglaufen wollte, dann hat er wahrscheinlich einen schlimmen Fehler begangen, dass er haltgemacht hat, ehe er den Mississippi zwischen sie und sich gelegt hat.» Und jetzt weiß er, dass sie ihn beobachtet: die graue Frau, nicht rundlich und nicht dünn, hart wie ein Mann, hart von der Arbeit, in einem praktischen grauen Kleid, das sie sich barsch und brüsk übergezogen hat, die Hände in die Hüften gestützt und ihr Gesicht wie das eines Generals, der in der Schlacht eine Niederlage erlitten hat.
«Ihr Männer», sagt sie.
«Was willst du da machen? Sie wegschicken? Soll sie in der Scheune schlafen?»
«Ihr Männer», sagt sie. «Ihr verdammten Männer.»
Sie gehen zusammen in die Küche, doch Mrs. Armstid geht voraus. Sie geht direkt zum Herd. Lena steht in der Tür. Ihr Kopf ist jetzt unbedeckt, ihr Haar glatt gekämmt. Selbst das blaue Kleid sieht erfrischt und ausgeruht aus. Sie sieht zu, wie Mrs. Armstid am Herd mit den eisernen Ringen klappert und mit dem heftigen Ungestüm eines Mannes die Holzscheite auflegt. «Ich würde gern helfen», sagt Lena.
Mrs. Armstid sieht sich nicht um. Sie klappert wild am Herd. «Bleiben Sie nur, wo Sie sind. Ruhen Sie jetzt Ihre Füße aus, dann legen Sie sich vielleicht nicht so schnell wieder auf den Rücken.»
«Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie mich helfen ließen.»
«Bleiben Sie nur, wo Sie sind. Ich mach das nun seit dreißig Jahren, dreimal am Tag. Die Zeiten, wo ich Hilfe dabei brauchte, sind vorbei.» Sie ist am Herd beschäftigt und dreht sich nicht um. «Armstid sagt, Sie heißen Burch.»
«Ja», sagt die andere. Ihre Stimme ist jetzt ganz ernst, ganz ruhig. Sie sitzt ganz still, die Hände regungslos im Schoß. Und Mrs. Armstid dreht sich noch immer nicht um. Sie ist noch immer am Herd beschäftigt. Er scheint ein Übermaß an Aufmerksamkeit zu verlangen, das in keinem Verhältnis zu der Entschlossenheit steht, mit der sie das Feuer gemacht hat. Er nimmt, so scheint es, ihre Aufmerksamkeit ebenso sehr gefangen, wie wenn es eine teure Uhr wäre.
«Heißen Sie schon Burch?», fragt Mrs. Armstid.
Die junge Frau antwortet nicht sogleich. Mrs. Armstid klappert jetzt nicht mehr am Herd, obwohl sie der jüngeren Frau noch immer den Rücken zugekehrt hat. Dann dreht sie sich um. Sie sehen einander an, plötzlich unverhohlen, beobachten einander: die junge Frau auf dem Stuhl, mit dem ordentlichen Haar und den untätigen Händen im Schoß, und die ältere am Herd, nun umgewandt, auch sie regungslos, mit einem wild geschlungenen Knoten grauen Haars unten am Schädel und einem Gesicht, das aus Sandstein gemeißelt sein könnte. Dann spricht die jüngere.
«Ich hab’s Ihnen falsch gesagt. Ich heiße noch nicht Burch. Ich heiße Lena Grove.»
Sie sehen einander an. Mrs. Armstids Stimme ist weder kalt noch warm. Sie ist gar nichts. «Und jetzt wollen Sie ihn finden, damit Ihr Name rechtzeitig Burch wird. Ist das so?»
Lena senkt jetzt den Blick, als betrachtete sie ihre Hände im Schoß. Ihre Stimme ist ruhig, beharrlich. Aber sie ist auch gelassen, heiter. «Ich glaube nicht, dass ich ein Versprechen von Lucas brauche. Das Unglück ist bloß gewesen, dass er fortgemusst hat. Sein Plan ist bloß nie richtig aufgegangen, dass er kommen und mich holen würde, wie er es vorhatte. Ich glaube, er und ich, wir brauchten uns kein Versprechen zu geben. An dem Abend damals, als er gemerkt hat, dass er gehen musste, hat er –»
«An welchem Abend? An dem Abend, als Sie ihm von dem Kleinen erzählt haben?»
Einen Augenblick lang antwortet die andere nicht. Ihr Gesicht ist so ruhig wie Stein, aber nicht hart. Die Beharrlichkeit hat etwas Weiches, eine nach innen gekehrte Helligkeit von ruhiger und gelassener Unvernunft und von Losgelöstheit. Mrs. Armstid beobachtet sie. Lena sieht die andere Frau nicht an, als sie spricht. «Er hatte schon vor langer Zeit erfahren, dass er vielleicht weggehen müsste. Er hat es mir bloß vorher nie erzählt, weil er nicht wollte, dass ich mir deswegen Sorgen machte. Als er das erste Mal erfuhr, dass er vielleicht weggehen müsste, wusste er, dass es dann auch besser war, wenn er ging, dass er schneller irgendwo vorankommen würde, wo der Vorarbeiter es nicht auf ihn abgesehen hatte. Aber er hat’s immer wieder hinausgeschoben. Aber als das hier passierte, da konnten wir’s nicht länger aufschieben. Der Vorarbeiter hatte es auf Lucas abgesehen, weil er ihn nicht leiden konnte, weil Lucas jung war und immer so lebenslustig, und der Vorarbeiter wollte die Arbeit, die Lucas machte, einem Cousin von sich geben. Aber er hatte mir das nicht sagen wollen, weil es mir nur Sorgen machen würde. Aber als das hier passierte, konnten wir nicht länger warten. Ich war diejenige, die gesagt hat, er soll gehen. Er hat gesagt, er würde bleiben, wenn ich es wollte, ob der Vorarbeiter ihn anständig behandelte oder nicht. Aber ich hab gesagt, er soll gehen. Er wollte nie gehen, auch da nicht. Aber ich hab gesagt, er soll gehen. Und er sollte mir Bescheid geben, wenn er so weit war, dass ich nachkommen konnte. Und dann sind seine Pläne bloß nie so aufgegangen, dass er mir rechtzeitig Bescheid geben konnte, wie er’s vorgehabt hat. Wenn ein junger Mann weggeht und unter Fremden ist, dann braucht er Zeit, bis er sich eingelebt hat. Er wusste ja nicht, als er ging, dass er mehr Zeit brauchen würde, um sich einzuleben, als er gedacht hatte. Besonders ein junger Mann, der so lebenslustig ist wie Lucas, der die Leute mag und sich vergnügt und den die Leute mögen. Er wusste nicht, dass es länger dauern würde, als er geplant hatte, jung wie er ist, und die Leute immer hinter ihm her, weil er gern lacht und Späße macht, er merkt überhaupt nicht, dass es ihn von der Arbeit ablenkt, denn er wollte nie anderer Leute Gefühle verletzen. Und ich wollte, dass er ein letztes Mal sein Vergnügen hatte, weil die Ehe für einen jungen Burschen, einen lebhaften jungen Burschen, etwas anderes ist als für eine Frau. Es braucht seine Zeit bei einem lebhaften jungen Mann. Finden Sie nicht auch?»
Mrs. Armstid antwortet nicht. Sie sieht die andere an, wie sie auf dem Stuhl sitzt, das Haar glatt, die Hände still im Schoß und das Gesicht weich und nachdenklich. «Es ist auch möglich, dass er mir schon die Nachricht geschickt hat, und sie ist unterwegs verlorengegangen. Es ist ein schönes Stück, sogar von hier nach Alabama, und ich hab’s noch nicht bis Jefferson geschafft. Ich hab ihm gesagt, ich würde nicht erwarten, dass er schreibt, denn er ist nicht geschickt im Briefeschreiben. ‹Schick mir einfach eine mündliche Nachricht, wenn du mich brauchen kannst›, hab ich zu ihm gesagt. ‹Ich warte hier.› Zuerst hab ich mir ein bisschen Sorgen gemacht, nachdem er gegangen war, weil mein Name noch nicht Burch war und weil mein Bruder und seine Leute Lucas nicht so gut kennen, wie ich ihn kannte. Wie sollten sie auch?» In ihr Gesicht tritt langsam ein Ausdruck weicher, heller Überraschung, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, von dem ihr nicht einmal bewusst gewesen war, dass sie es nicht wusste. «Das konnte man von denen ja auch nicht erwarten, nicht wahr? Aber er musste sich erst einleben; er war’s, der es sicher schwerer gehabt hat unter lauter Fremden, ich brauchte mich ja um nichts zu kümmern, außer dass ich warten musste, er dagegen hatte all die Sorgen und den Kummer. Aber nach einer Weile war ich, glaube ich, so sehr damit beschäftigt, dass das Kleine bald kommen würde, dass ich mir keine Sorgen mehr darüber machen konnte, wie ich hieß oder was die Leute dachten. Aber zwischen Lucas und mir braucht es keine Versprechungen. Vielleicht ist etwas Unerwartetes passiert, oder er hat mir sogar Nachricht geschickt, und sie ist verlorengegangen. Deshalb habe ich eines Tages einfach beschlossen, loszugehen und nicht länger zu warten.»
«Wie wussten Sie, welchen Weg Sie gehen mussten, als Sie losgegangen sind?»
Lena betrachtet ihre Hände. Sie bewegen sich jetzt, glätten angelegentlich und gedankenverloren eine Falte ihres Kleides. Es ist nicht Scheu, nicht Schüchternheit. Es ist offenbar ein nachdenklicher Reflex der Hand. «Ich hab einfach immer wieder gefragt. Bei einem lebhaften jungen Kerl wie Lucas, der die Leute schnell und mühelos kennenlernt, da wusste ich, dass sich überall, wo er gewesen ist, Leute an ihn erinnern würden. Also hab ich immer gefragt. Und die Leute waren recht freundlich. Und tatsächlich, vor zwei Tagen hab ich, ein Stück zurück an der Straße, gehört, dass er in Jefferson ist und im Hobelwerk arbeitet.»
Mrs. Armstid beobachtet das gesenkte Gesicht. Sie hat die Hände in die Hüften gestützt, und sie beobachtet die junge Frau mit einem Ausdruck kalter, unpersönlicher Verachtung. «Und Sie glauben, dass er da ist, wenn Sie dort ankommen. Vorausgesetzt, dass er überhaupt je da war. Dass er hört, Sie sind in derselben Stadt wie er, und dann bei Sonnenuntergang noch da ist.»
Lenas gesenktes Gesicht ist ernst, ruhig. Jetzt bewegt sich ihre Hand nicht mehr. Sie liegt ganz still im Schoß, als wäre sie dort gestorben. Ihre Stimme ist leise, ruhig, beharrlich. «Ich glaube, eine Familie sollte zusammen sein, wenn ein Kleines kommt. Besonders beim ersten. Ich nehme an, der Herr wird’s richten.»
«Und ich nehme an, das wird er auch müssen», sagt Mrs. Armstid heftig, barsch. Armstid liegt im Bett, den Kopf ein wenig aufgestützt, und sieht ihr über das Fußteil hinweg zu, wie sie sich, noch angezogen, in das Licht der Lampe auf der Kommode beugt und wild in einer Schublade kramt. Sie holt ein Metallkästchen heraus und öffnet es mit einem Schlüssel, den sie um den Hals trägt, und nimmt ein Stoffsäckchen heraus, macht es auf und bringt einen kleinen Porzellanhahn mit einem Schlitz im Rücken zum Vorschein. Münzen klimpern darin, als sie ihn bewegt und kopfüber hält und wild über der Kommode schüttelt, sodass die Münzen langsam, spärlich aus dem Schlitz fallen. Armstid liegt im Bett und beobachtet sie.
«Was hast du vor mit deinem Eiergeld, zu dieser nachtschlafenden Zeit?», fragt er.
«Ich nehme an, es ist meins und ich kann damit machen, was ich will.» Sie beugt sich unter die Lampe, ihr Gesicht ist herb, verbittert. «Gott weiß, dass ich die ganze Arbeit gemacht und sie versorgt hab. Du hast nie einen Finger krummgemacht.»
«Klar», sagt er. «Ich nehme an, kein Mensch in diesem Land macht dir die Hühner streitig, höchstens die Beutelratten und die Schlangen. Und deinen Sparhahn auch nicht», sagt er. Denn plötzlich bückt sie sich, reißt sich einen Schuh vom Fuß und versetzt der Porzellanspardose einen einzelnen heftigen Hieb. Vom Bett aus, halb liegend, beobachtet Armstid, wie sie die restlichen Münzen aus den Porzellanscherben klaubt und zu den anderen in das Säckchen tut und das Säckchen zuknotet und mit wilder Endgültigkeit dreimal oder viermal verknotet.
«Das gibst du ihr», sagt sie. «Und bei Sonnenaufgang spannst du an und bringst sie von hier weg. Bring sie ganz bis nach Jefferson, wenn du willst.»
«Ich denke, bei Varner findet sie wen, mit dem sie mitfahren kann», sagt er.
Mrs. Armstid stand vor Tag auf und bereitete das Frühstück. Es stand auf dem Tisch, als Armstid vom Melken reinkam. «Geh und sag ihr, sie soll kommen und essen», sagte Mrs. Armstid. Als er und Lena in die Küche kamen, war Mrs. Armstid nicht da. Lena ließ den Blick einmal durch den Raum schweifen, während sie noch in der Tür verharrte, ohne wirklich zu verharren, im Gesicht schon den vorgefassten Ausdruck eines Lächelns, dem eine Rede folgen sollte, eine vorbereitete Rede, wie Armstid wusste. Aber sie sagte nichts; das Verharren war weniger als ein Verharren.
«Also, essen wir und machen uns auf den Weg», sagte Armstid. «Sie haben noch ein gutes Stück vor sich.» Er beobachtete, wie sie aß, wieder mit dem ruhigen, von Herzen kommenden Anstand wie am Abend zuvor beim Nachtessen, nur dass da jetzt ein störender Anflug höflicher und fast gezierter Zurückhaltung war. Dann gab er ihr das verknotete Stoffsäckchen. Sie nahm es, ihr Gesicht wirkte erfreut, warm, wenn auch nicht sehr überrascht.
«Oh, das ist recht freundlich von ihr», sagte sie. «Aber ich werd’s nicht brauchen, ich bin jetzt schon so nah.»
«Ich glaube, es ist besser, Sie behalten’s. Ich glaube, Sie haben bemerkt, dass Martha sich nicht gern dreinreden lässt bei dem, was sie sich vorgenommen hat.»
«Es ist recht freundlich», sagte Lena. Sie band das Geldsäckchen in ihr Bündel und setzte sich den Sonnenhut auf. Das Fuhrwerk wartete. Als sie den Weg entlang am Haus vorbeifuhren, drehte sie sich um und blickte zurück. «Es war recht freundlich von Ihnen beiden», sagte sie.
«Das hat sie gemacht», sagte Armstid. «Ich glaube, ich hab keinen Anspruch auf Dank.»
«Jedenfalls war es recht freundlich. Sie müssen Ihr von mir Lebewohl sagen. Ich hatte gehofft, ich würde sie sehen, aber … »
«Klar», sagte Armstid. «Ich glaube, sie hatte zu tun oder so. Ich sag’s ihr.»
Im frühen Sonnenlicht fuhren sie bei dem Kaufladen vor, wo schon die Männer hockten, über die von Stiefelabsätzen zerkratzte Veranda spuckten und zusahen, wie Lena langsam und vorsichtig, das Bündel und den Fächer in der einen Hand, von der Sitzbank herabstieg. Wieder machte Armstid keine Anstalten, ihr zu helfen. Von der Bank herunter sagte er: «Das hier ist Miz Burch. Sie will nach Jefferson. Falls einer heute hinfährt, ist sie sicher dankbar, wenn sie mitfahren kann.»
Sie kam in den schweren, staubigen Schuhen auf dem Boden an. Heiter, friedlich sah sie zu ihm auf. «Es war recht freundlich von Ihnen», sagte sie.
«Klar», sagte Armstid. «Ich nehm an, Sie schaffen’s jetzt in die Stadt.» Er sah zu ihr hinunter. Dann beobachtete er eine, wie es schien, endlos lange Zeit seine Zunge dabei, wie sie nach Worten suchte, und das Denken war ruhig und rasch, die Gedanken flüchtig Ein Mann. Alle Männer. Er lässt hundert Gelegenheiten, Gutes zu tun, verstreichen, für eine Gelegenheit, sich einzumischen, wo Einmischung nicht erwünscht ist. Er übersieht, er verpasst Chancen, Gelegenheiten, zu Reichtum und Ruhm und Wohlstand zu kommen, und manche sogar auch, Böses zu tun. Aber eine Gelegenheit, sich einzumischen, entgeht ihm nie Dann fand seine Zunge Wörter, und er hörte sie, vielleicht mit dem gleichen Erstaunen wie Lena: «Bloß, ich würde mir nicht zu große Hoffnung machen … Hoffnung auf … », und dachte Sie hört nicht zu. Wenn sie sich Worte wie diese anhörte, würde sie nicht von diesem Wagen absteigen, mit diesem Bauch und diesem Fächer und dem kleinen Bündel, allein, und sich zu einem Ort aufmachen, den sie noch nie gesehen hat, und nach einem Mann suchen, den sie nie wieder sehen wird und den sie, was das betrifft, schon einmal zu oft gesehen hat «– sollten Sie wieder hier vorbeikommen, morgen, oder vielleicht schon heute Abend … »
«Ich glaube, ich komme jetzt zurecht», sagte sie. «Man hat mir gesagt, dass er dort ist.»
Er wendete das Fuhrwerk und fuhr zurück nach Hause; zusammengesunken, bleichäugig saß er auf der durchgesackten Bank und dachte: ‹Es hätte doch nichts genützt. Sie hätte nicht geglaubt, was zu sagen und zu hören gewesen wäre, so wenig, wie sie die Gedanken glauben würde, die um sie herum gedacht worden sind seit … Vier Wochen sind es jetzt, hat sie gesagt. Genauso wenig, wie sie es jetzt spürt oder glaubt. Wie sie da auf der obersten Stufe sitzt, die Hände im Schoß, und diese Kerle hocken da und spucken an ihr vorbei auf die Straße. Und sie wartet nicht einmal, bis sie fragen, sondern fängt gleich an zu erzählen. Erzählt denen aus freien Stücken von dem verdammten Kerl, als ob sie gar nichts Besonderes zu verbergen oder zu erzählen hätte, selbst wenn Jody Varner oder einer von denen ihr sagt, dass der Kerl im Hobelwerk in Jefferson Bunch heißt, und nicht Burch; und auch das beunruhigt sie nicht. Ich glaube, sie weiß noch mehr als Martha, so wie sie gestern Abend zu Martha gesagt hat, der Herr wird’s richten, dass das, was recht ist, auch geschieht.›
Ein, zwei Fragen genügten. Und Lena, die auf der obersten Stufe sitzt, den Fächer und das Bündel im Schoß, erzählt wieder ihre Geschichte, mit den geduldigen und durchsichtigen Wiederholungen eines Kindes, das lügt, und die Männer in ihren Overalls hocken da und hören still zu.
«Der Bursche heißt Bunch», sagt Varner. «Er arbeitet schon seit ungefähr sieben Jahren bei der Mühle. Woher wollen Sie wissen, dass Burch auch da ist?»
Sie blickt in die Ferne, die Landstraße hinauf, dahin, wo Jefferson liegt. Ihr Gesichtsausdruck ist ruhig, abwartend, ein wenig losgelöst, doch nicht verwirrt. «Ich glaube, dass er da ist. In dem Hobelwerk und so. Lucas mochte immer schon die Aufregung. Er hat das ruhige Leben nie gemocht. Deshalb hat’s ihm bei Doane’s Mill nie gefallen. Deshalb hat er – haben wir beschlossen, uns zu verändern: um des Geldes und der Aufregung willen.»
«Um des Geldes und der Aufregung willen», sagt Varner. «Lucas ist nicht der erste junge Spund, der die Arbeit, die er gelernt hat, hinwirft und der die, die darauf angewiesen sind, dass er die Arbeit tut, im Stich lässt, bloß um des Geldes und der Aufregung willen.»
Doch anscheinend hört sie nicht zu. Sie sitzt still auf der obersten Stufe und sieht die Straße hinauf, wo sie leer und ansteigend nach Jefferson hin abbiegt. Die an der Wand hockenden Männer betrachten ihr stilles, friedliches Gesicht, und sie denken, was Armstid gedacht hat und was Varner denkt: dass sie an einen Schurken denkt, der sie in ihrem Unglück sitzengelassen hat und den sie, wie sie glauben, nie wieder sehen wird, höchstens vielleicht seine vom Rennen schon brettflachen Rockschöße. ‹Aber vielleicht denkt sie auch an dieses Sloane’s oder Bone’s Mill›, denkt Varner. ‹Selbst ein dummes Mädchen braucht, glaube ich, nicht den ganzen Weg bis nach Mississippi zu kommen, um herauszufinden, dass es dort, wo sie herkommt, egal wo das war, auch nicht so furchtbar viel anders oder schlechter gewesen ist als da, wo sie jetzt ist. Selbst wenn sie dort einen Bruder hatte, der dagegen war, dass seine Schwester sich nachts rumtreibt›, und denkt Ich hätte es wie der Bruder gehalten; der Vater hätte es auch so gemacht. Sie hat keine Mutter, denn Vaterblut hasst mit Liebe und Stolz, aber Mutterblut mit Hass liebt und schläft bei
Doch sie denkt an nichts dergleichen. Sie denkt an die Münzen, die in das Bündel unter ihren Händen geknotet sind. Sie erinnert sich an das Frühstück und denkt, dass sie jetzt, in diesem Moment, in den Laden treten und sich Käse und Cracker kaufen kann, und sogar Sardinen, wenn sie will. Bei Armstid hatte sie nur eine Tasse Kaffee getrunken und ein Stück Maisbrot gegessen, sonst nichts, obwohl Armstid sie gedrängt hatte. ‹Ich hab höflich gegessen›, denkt sie, die Hände auf dem Bündel, wo sie die versteckten Münzen weiß, und erinnert sich an die eine Tasse Kaffee, den sittsam bescheidenen Brocken fremden Brots; sie denkt mit heiterem Stolz: ‹Wie eine Lady hab ich gegessen. Wie eine Lady auf Reisen. Aber jetzt kann ich mir sogar Sardinen kaufen, falls ich das will.›
So scheint sie über die ansteigende Straße hinweg nachzusinnen, während die bedächtig ausspuckenden, hockenden Männer sie verstohlen beobachten und glauben, dass sie an den Mann denkt und an die nahende Krise, während sie in Wirklichkeit einen kleinen Kampf mit der vorausschauenden Vorsicht der alten Erde ausficht, von der und mit der und auf der sie lebt. Diesmal gewinnt sie. Sie steht auf und geht, ein bisschen unbeholfen, ein bisschen vorsichtig, an der Batterie der Männeraugen vorbei und betritt den Laden, und der Verkäufer folgt ihr. ‹Ja, das mach ich jetzt›, denkt sie, als sie schon den Käse und die Cracker bestellt, ‹das mach ich jetzt›, und mit lauter Stimme sagt sie: «Und eine Dose Sardinen.» Sie spricht es Saurdienen aus. «Für einen Nickel.»
«Wir haben keine Sardinen für einen Nickel», sagt der Verkäufer. «Sardinen kosten fünfzehn Cent.» Auch er sagt Saurdienen.
Sie überlegt. «Was haben Sie denn in Dosen für einen Nickel?»
«Da haben wir nichts außer Schuhwichse. Ich glaube nicht, dass Sie das wollen. Nicht zum Essen, jedenfalls.»
«Ich glaube, dann nehme ich die für fünfzehn Cent.» Sie knüpft ihr Bündel auf und dann das zugeknotete Säckchen. Es dauert eine Weile, bis sie die Knoten gelöst hat. Aber sie knüpft sie geduldig auf, einen nach dem andern, bezahlt und knotet das Säckchen und das Bündel wieder zu und nimmt sich, was sie gekauft hat. Als sie auf die Veranda tritt, steht unten an den Stufen ein Fuhrwerk. Auf der Kutscherbank sitzt ein Mann.
«Der Wagen da fährt in die Stadt», sagen sie zu ihr. «Er nimmt sie mit.»
Ihr Gesicht erwacht, heiter, langsam, warm. «Oh, Sie sind recht freundlich.»
Das Fuhrwerk bewegt sich langsam, stetig, als wäre es hier, in der sonnenbeschienenen Einsamkeit der riesigen Weite, außerhalb von aller Zeit und aller Hast. Von Varners Laden bis nach Jefferson sind es zwölf Meilen. «Wir kommen doch vor der Mittagszeit an?», sagt sie.
Der Fahrer spuckt aus. «Könnte sein», sagt er.
Offenbar hat er sie überhaupt nicht angesehen, auch nicht, als sie aufgestiegen ist. Offenbar hat auch sie ihn überhaupt nicht angesehen. Sie sieht ihn auch jetzt nicht an. «Ich glaube, Sie fahren ganz schön schnell nach Jefferson.»
Er sagt: «Kann sein.» Der Wagen fährt knarrend weiter. Felder und Gehölze scheinen in einer unausweichlichen mittleren Entfernung zu hängen, statisch und fließend zugleich, schnell, wie Trugbilder. Trotzdem lässt der Wagen sie hinter sich.
«Ich nehme an, Sie kennen keinen in Jefferson, der Lucas Burch heißt.»
«Burch?»
«Ich will ihn dort treffen. Er arbeitet im Hobelwerk.»
«Nein», sagt der Kutscher. «Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Kann aber sein, dass es eine ganze Menge Leute in Jefferson gibt, die ich nicht kenne. Kann gut sein, dass er da ist.»
«Ich muss sagen, ich hoffe es. Das Reisen wird recht mühsam.»
Der Fahrer sieht sie nicht an. «Von wo kommen Sie schon, auf der Suche nach ihm?»
«Von Alabama. Das ist ein ganz schönes Stück.»
Er sieht sie nicht an. Seine Stimme klingt beiläufig. «Wieso haben Ihre Leute Sie gehen lassen, in Ihrem Zustand?»
«Meine Leute sind tot. Ich lebe bei meinem Bruder. Ich hab einfach beschlossen, ich gehe los.»
«Ich verstehe. Er hat Ihnen Nachricht geschickt, Sie sollen nach Jefferson kommen.»
Sie antwortet nicht. Er kann ihr ruhiges Profil unter dem Sonnenhut sehen. Der Wagen fährt weiter, langsam, zeitlos. Die roten, uneiligen Meilen entrollen sich unter dem gleichmäßigen Trott der Maultiere, unter dem Knarren und Klappern der Räder. Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel, der Schatten des Sonnenhuts fällt jetzt auf ihren Schoß. «Ich glaube, es ist Zeit zu essen», sagt sie. Er beobachtet aus dem Augenwinkel, wie sie den Käse und die Cracker und die Sardinen auspackt und ihm davon anbietet.
«Ich mach mir nichts draus», sagt er.
«Es wäre nett, wenn Sie mithalten würden.»
«Ich mach mir nichts draus. Aber essen Sie nur.»
Sie fängt an zu essen. Sie isst langsam, gleichmäßig, leckt sich das dicke Sardinenöl von den Fingern, langsam und mit ungeschmälertem Genuss. Dann hört sie auf, nicht abrupt, doch ganz und gar, hält mitten im Kauen inne, einen angebissenen Cracker in der Hand, das Gesicht ein wenig gesenkt und die Augen ausdruckslos, als hörte sie etwas in großer Entfernung oder so nah, dass es etwas in ihr drin sein muss. Alle Farbe ist ihr aus dem Gesicht gewichen, das volle, gesunde Rot, und sie sitzt ganz still, hört und spürt die unversöhnliche, alte Erde, doch ohne Furcht oder Erschrecken. ‹Es sind Zwillinge, mindestens›, sagt sie zu sich, ohne die Lippen zu bewegen, lautlos. Dann vergeht der Krampf. Sie isst weiter. Das Fuhrwerk hat nicht angehalten; die Zeit hat nicht angehalten. Das Fuhrwerk kommt oben auf dem letzten Hügel an, und sie sehen Rauch.
«Jefferson», sagt der Kutscher.
«Also, ich muss schon sagen», sagt sie. «Wir sind schon fast da, nicht?»
Jetzt ist es der Mann, der nicht hört. Er blickt nach vorn, über das Tal hinweg zu der Stadt auf dem gegenüberliegenden Kamm. Ihr Blick folgt seiner ausgestreckten Peitsche, und sie sieht zwei Rauchsäulen: die eine dicht und schwer von brennender Kohle über einem hohen Schlot, die andere eine hohe gelbe Säule, die anscheinend in einiger Entfernung von der Stadt aus einer Ansammlung von Bäumen aufsteigt.
«Da brennt ein Haus», sagt der Kutscher. «Sehen Sie?»
Doch jetzt wiederum scheint sie nicht zuzuhören, nichts zu hören. «Meine Güte», sagt sie, «da bin ich noch keine vier Wochen unterwegs, und jetzt bin ich schon in Jefferson. Meine Güte. Man kommt doch ganz schön rum.»
Das weiß Byron Bunch: Es war an einem Freitagmorgen vor drei Jahren. Und die Gruppe Männer, die im Hobelschuppen arbeiteten, blickten auf und sahen den Fremden, er stand da und beobachtete sie. Sie wussten nicht, wie lange er schon so dagestanden hatte. Er sah aus wie ein Tramp und auch wieder nicht wie ein Tramp. Seine Schuhe waren staubig, und auch seine Hose war verschmutzt. Aber sie war aus gutem Serge, mit scharfen Bügelfalten, und sein Hemd war zwar verschmutzt, aber es war ein weißes Hemd, und er trug einen Schlips und einen steifkrempigen Strohhut, der ganz neu war und in einem arroganten, nichts Gutes verheißenden Winkel über seinem ruhigen Gesicht saß. Er sah nicht wie ein professioneller Wanderarbeiter in seinen professionellen Lumpen aus, doch war etwas eindeutig Wurzelloses an ihm, als wäre keine Stadt, ob groß oder klein, die seine, und keine Straße, kein Gemäuer, kein Eckchen Erde sein Zuhause. Und als trüge er dieses Wissen immer mit sich herum wie ein Banner, rücksichtslos, einsam und fast stolz. «Als wäre er», sagten die Männer später, «gerade für eine Weile auf einem Tiefpunkt, beabsichtigte aber nicht, da unten zu verharren, ohne dass es ihn groß kümmerte, wie er wieder nach oben kam.» Er war jung. Und Byron beobachtete ihn, wie er da stand und die Männer in ihren schweißfleckigen Overalls betrachtete, eine Zigarette im Mundwinkel, das Gesicht finster und still vor Verachtung, auf der einen Seite ein wenig nach unten gezogen, wegen des Rauchs. Nach einer Weile spuckte er die Zigarette weg, ohne sie mit der Hand berührt zu haben, drehte sich um und ging zum Büro, während die Männer in ihren verblichenen und von der Arbeit verschmutzten Overalls sozusagen mit verdutzter Empörung auf seinen Rücken starrten. «Wir sollten ihn mal durch die Hobelmaschine laufen lassen», sagte der Vorarbeiter. «Dann würde ihm diese Miene vielleicht vergehen.»
Sie wussten nicht, wer er war. Keiner von ihnen hatte ihn zuvor gesehen. «Nur dass es ziemlich riskant ist, sich mit so einem Blick in der Öffentlichkeit zu zeigen», sagte einer. «Wenn er sich nicht vorsieht, könnte er einem begegnen, dem das nicht passt.» Damit entließen sie ihn, wenigstens aus ihrem Gespräch. Sie machten sich wieder an ihre Arbeit inmitten der surrenden und quietschenden Treibriemen und Wellen. Doch keine zehn Minuten später kam der Aufseher herein und hinter ihm der Fremde.
«Geben Sie dem Mann was zu tun», sagte der Aufseher zu dem Vorarbeiter. «Er sagt, er kann mit einer Schaufel umgehen, immerhin. Sie können ihn am Sägemehlhaufen beschäftigen.»
Die anderen hatten ihre Arbeit nicht unterbrochen, aber es war nicht einer im Schuppen, der den Fremden in seiner verschmutzten Stadtkleidung, mit seinem finsteren, unerträglichen Gesicht und seiner ganzen, Kälte und stille Verachtung ausdrückenden Haltung, nicht abermals beobachtete. Der Vorarbeiter sah ihn kurz an, und sein Blick war so kalt wie der des anderen. «Will er in dieser Kleidung arbeiten?»
«Das ist seine Sache», sagte der Aufseher. «Ich stelle nicht seine Kleidung ein.»
«Gut, mir soll’s egal sein, was er anhat, wenn’s Ihnen recht ist und ihm», sagte der Vorarbeiter. «Also gut, Mister», sagte er. «Holen Sie sich da unten eine Schaufel und helfen Sie den Leuten, das Sägemehl wegzuschaufeln.»
Der Neue drehte sich ohne ein Wort um. Die anderen beobachteten, wie er zu dem Sägemehlhaufen hinunterging und verschwand und mit einer Schaufel wieder erschien und sich an die Arbeit machte. Der Vorarbeiter und der Aufseher sprachen an der Tür miteinander. Sie trennten sich, und der Vorarbeiter kam zurück. «Er heißt Christmas», sagte er.
«Wie heißt er?», fragte einer.
«Christmas.»
«Ist er Ausländer?»
«Hast du schon mal von einem Weißen gehört, der Christmas heißt?», fragte der Vorarbeiter.
«Ich hab überhaupt noch nie von einem gehört, der so heißt», sagte der andere.
Und das war das erste Mal, wie Byron sich jetzt erinnerte, dass er darüber nachgedacht hatte, wie der Name eines Menschen, der ja doch einfach nur der Klang sein soll, der anzeigt, wer er ist, irgendwie auch verheißen kann, was er tun wird, sofern andere Menschen die Bedeutung nur rechtzeitig enträtseln. Ihm schien, dass keiner von ihnen den Fremden genauer angesehen hatte bis zu dem Moment, als sie seinen Namen hörten. Doch kaum dass sie ihn gehört hatten, war es, als wäre da etwas in dem Klang, das ihnen mitteilen wollte, was sie zu erwarten hatten; als trüge er sein eigenes, unausweichliches Warnsystem mit sich herum, so wie eine Blume ihren Geruch oder eine Klapperschlange ihre Klapper. Nur dass keiner von ihnen genügend Gespür hatte, es zu erkennen. Sie glaubten einfach, dass er ein Fremder sei, und während sie ihn an jenem Freitag für den Rest des Tages beobachteten, wie er mit Schlips und Strohhut und in der gebügelten Hose seine Arbeit tat, sagten sie sich, das sei wohl die Art und Weise, wie Männer in seinem Land arbeiteten; obwohl andere auch sagten: «Heute Abend wechselt er die Kleidung. Wenn er morgen früh zur Arbeit kommt, hat er nicht mehr diese Sonntagssachen an.»
Es wurde Samstagmorgen. Als kurz bevor die Dampfpfeife ertönte, die Letzten eintrafen, fragten sie schon: «Hat er – Wo –» Die anderen deuteten mit dem Zeigefinger. Der Neue stand allein unten am Sägemehlhaufen. Er hatte die Schaufel bei sich, stand in denselben Sachen wie tags zuvor da, mit dem arroganten Hut, und rauchte eine Zigarette. «Er war da, als wir kamen», sagte der Erste. «Stand einfach so da. Als wäre er gar nicht im Bett gewesen.»
Er sprach mit keinem von ihnen, kein Wort. Und keiner von ihnen machte den Versuch, mit ihm zu sprechen. Aber sie alle nahmen ihn wahr, seinen festen Rücken (er arbeitete recht ordentlich, mit einer irgendwie nichts Gutes verheißenden, verhaltenen Stetigkeit), die Arme. Es wurde Mittag. Sie hatten sich an diesem Tag, mit Ausnahme von Byron, kein Essen mitgebracht, und sie sammelten ihre Sachen zusammen und schickten sich an zu gehen und würden erst am Montag wiederkommen. Byron ging mit seinem Henkelmann allein zum Pumpenhaus, wo sie gewöhnlich aßen, und setzte sich hin. Aus irgendeinem Grunde blickte er auf. Nicht weit von ihm lehnte der Fremde an einem Pfosten und rauchte. Byron wusste, dass der andere schon da gewesen war, als er den Raum betrat, und jetzt nicht daran dachte wegzugehen. Oder, schlimmer noch, er war absichtlich hereingekommen und übersah Byron jetzt, als wäre er nur ein weiterer Pfosten. «Machen Sie nicht Schluss?», fragte Byron.
Der andere stieß den Rauch aus. Dann sah er Byron an. Sein Gesicht war hager, das Fleisch hatte die gleichmäßige Färbung von mattem Pergament. Nicht die Haut: das Fleisch selbst, als wäre der Schädel in stiller und tödlicher Regelmäßigkeit geformt und dann in einem glutheißen Ofen gebrannt worden. «Wie viel zahlen die hier für Überstunden?», fragte er. Und da wusste Byron Bescheid. Da wusste er, warum der andere in Sonntagskleidern arbeitete, warum er keinen Lunch mitgebracht hatte, weder am Vortag noch heute, warum er nicht mit den anderen mittags weggegangen war. Er wusste es so gut, als hätte ihm der Mann gesagt, dass er keinen Nickel in der Tasche hatte und dass er, aller Wahrscheinlichkeit nach, die letzten zwei, drei Tage von Zigaretten gelebt hatte. Fast gleichzeitig mit dem Gedanken hielt Byron ihm seinen Henkelmann hin, die Geste ein Reflex wie der Gedanke. Denn schon bevor die Geste ausgeführt war, drehte der Mann, ohne seine lässige und verächtliche Haltung aufzugeben, sein Gesicht, warf durch den herabsinkenden Zigarettenrauch einen Blick auf das dargereichte Gefäß. «Ich hab keinen Hunger. Behalten Sie Ihren Dreck.»
Es wurde Montagmorgen, und Byron sah, dass er recht behielt. Der Mann kam in einem neuen Overall und mit Essen in einer Papiertüte zur Arbeit. Doch hockte er sich mittags zum Essen nicht zu ihnen ins Pumpenhaus, und noch immer trug er diesen Gesichtsausdruck zur Schau. «Soll er dabei bleiben», sagte der Vorarbeiter. «Simms hat so wenig sein Gesicht eingestellt wie seine Klamotten.»
Simms hatte auch nicht die Zunge des Fremden eingestellt, dachte Byron. Wenigstens schien Christmas das zu denken, und entsprechend handelte er. Selbst nach sechs Monaten hatte er noch immer keinem etwas zu sagen. Niemand wusste, was er zwischen den Stunden im Hobelwerk tat. Hin und wieder begegnete einer seiner Arbeitskollegen ihm nach dem Abendessen auf dem Platz unten in der Stadt, und dann war es so, als hätte Christmas den anderen nie gesehen. Dann trug er den neuen Hut und die gebügelte Hose, und die Zigarette klebte ihm im Mundwinkel, und der Rauch hing ihm spöttisch vorm Gesicht. Niemand wusste, wo er wohnte, wo er nachts schlief, außer dass hin und wieder jemand ihn sah, wie er auf einem Pfad ging, der am Rande der Stadt durch ein Gehölz führte, als wohnte er vielleicht dort draußen irgendwo.