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Abschiede gehören zu unserem Alltag und sind Teil des Lebens – von früher Kindheit bis zum "letzten Abschied". Heute scheinen Abschiede auch gesellschaftlich noch aktueller, noch brennender. Gut damit umzugehen wird daher noch wichtiger. Wir müssen Abschied nehmen von scheinbaren Sicherheiten, ob in der Kirchenkrise, dem Klimawandel oder der drohenden Kriegsgefahr. Es stehen Abschiede von Gewissheiten an, die lähmen und persönlichen und gesellschaftlichen Fortschritt verhindern. Der neue Bestseller von Anselm Grün führt uns ein in die Kunst des Abschiednehmens als Loslassen und Weitergehen. Er zeigt, dass das nicht nur belastend, sondern auch befreiend sein kann. Er beschreibt, wie wir mit schmerzhaften Trennungen in einer Beziehung oder mit dem Scheitern von Lebensträumen umgehen können. Zugleich spürt er der Dynamik und dem Zauber nach, der in der Kraft von Neuaufbrüchen steckt. Anselm Grün, der auch von eigenen Abschieden erzählt, richtet seine besondere Perspektive auf die Chancen: Abschiedlich leben heißt, auf den Ruf des Lebens achten und so seinen eigenen, richtigen und guten Weg finden. Ein wichtiges Buch über ein zentrales Lebensmotiv und über Lebenskunst in schwierigen Zeiten.
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Seitenzahl: 271
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E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-03400-8
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82830-0
Inhalt
Unsere Abschiede – Einführung
Abschiede gehören zum Leben – vom Anfang bis zum Ende
Was die Mönche bewegte: Abschied von der Welt – Loslassen des Ego
Wenn Situationen eintreten, die alles verändern
Klimakrise und Coronaschock: Verlorene Sicherheiten, notwendige Abschiede, heilsame Konsequenzen
Die Drohung eines Krieges: Mit Angst und Ohnmacht umgehen und Frieden suchen
Migration, Vertreibung, Flucht – unterwegs in eine neue Zukunft
Sich dem Leben stellen – durchkreuzte Pläne und ungeplante Umwege nach Schicksalsschlägen
Wenn der Druck zu groß wird – Im Loslassen das eigene Maß, die eigene Mitte finden
Gekränkt, verletzt, traumatisiert – Wie Opfern das Weiterleben und die Versöhnung gelingen kann
Wenn Beziehungen sich wandeln oder zerbrechen
Familie: Bindung leben und sich selber finden als Weg für Kinder und Eltern
Scheiden tut weh: Wie Trennung gelingen kann, wenn Beziehungen auseinandergehen
Auch wenn Beziehungen sich wandeln – die Hoffnung auf Liebe nicht aufgeben
Reißleine ziehen, um neue Freiheit zu gewinnen – Abschied von toxischen Beziehungen
Mitten im Leben – schmerzliche Verluste verkraften
Abschied von Macht, Loslassen von Rollen, Verschmerzen von Zugehörigkeit: Im Aufhören zu neuer Lebendigkeit kommen
Weg damit? Abschied von Dingen und von Besitz kann man einüben
Wenn alte ideelle Orientierungen nicht mehr tragen
Abschied von Lebensträumen und Zielen – Offenheit für Neues
Sich nicht nur an Vorbildern orientieren, sondern selber authentisch werden
Abschied von alten Gottesbildern: Unterwegs zum Geheimnis unseres Lebens
Abschied von Kirchenbildern: Von abgelebten Traditionen hin zu einer lebendigen Glaubensgemeinschaft
Wenn Kirchen abgerissen oder umgewidmet werden – Räume spiritueller Erfahrung schaffen
Dem letzten Abschied entgegengehen
Älterwerden und Alter – Abschied von Fähigkeiten und Erleben neuer Freiheit
Erfahrung von Minderung und Schwäche – und Hoffnung auf Vollendung
Wenn es ans Sterben geht: Warum Abschiede wichtig sind, was sie schwierig macht und wie sie gelingen
In der Trauer um den Tod geliebter Menschen – Rituale, die tragen
Damit unser Leben Frucht bringt: Biblische Orientierungen
Im Angesicht des Todes: Spirituelle Meister als Wegweiser ins Leben
Abschiedlich leben: Zehn Haltungen
1. Unterscheiden lernen und den Blick für das Wesentliche schärfen
2. Sich von der Illusion der Leidfreiheit lösen und Leidenden mit Empathie begegnen
3. Ungewissheiten aushalten, aber mit Vertrauen ins Leben aufbrechen
4. Gewohnheiten hinterfragen und Veränderungen wagen
5. Haben, als hätte man nicht – und auch im Verzicht innere Freiheit erfahren
6. Im Umgang mit Menschen: Loslassen lernen, aber auch Verbindlichkeit leben
7. Erfahrungen nicht verdrängen, sondern loslassen, aber Erinnerungen integrieren
8. Abschied von der Selbstbezogenheit, Bewusstsein eines Lebens in Verbundenheit
9. Zeitkultur als Lebenskultur: Die Kunst des Anfangens, des Beendens und der Unterbrechung
10. Endlich leben – dankbar für das Geschenk des Lebens
Tor zu einer neuen Freiheit – Schluss
Literatur
Über den Autor
Unsere Abschiede Einführung
Abschiede gehören zum Leben – vom Anfang bis zum Ende
Abschiede gehören zu unserem Leben, auch zur Normalität unseres Alltags. Wir verabschieden am Morgen die Kinder, die in die Schule müssen. Wir verabschieden uns vom Partner, wenn wir zur Arbeit gehen. Am Abend verabschieden wir uns von den Arbeitskolleginnen. Wir verabschieden uns von den Nachbarn und Bekannten, wenn wir in eine andere Stadt ziehen. Und wenn wir uns von Freunden verabschieden, verabreden wir ein Wiedersehen und freuen uns schon auf das nächste Treffen. Die Söhne und Töchter verabschieden sich, wenn sie erwachsen werden und aus dem elterlichen Haus ausziehen. Sogar von Dingen verabschieden wir uns, die entweder kaputt gegangen sind oder die wir nicht mehr brauchen können. Und wir verabschieden uns von lieben Menschen, wenn sie sterben. Das ist, anders als alle vorläufigen Abschiede, etwas Letztes, Endgültiges.
Abschiede haben etwas Alltägliches. Sie können aber auch Grenzerfahrungen sein: am Anfang und bis zum Ende. Mit der Geburt fängt es an, also mit der Trennung des Neugeborenen von der Symbiose mit der Mutter, die ihm neun Monate Heimat geboten hat. Mit der Entbindung und Abnabelung beginnt in unserem eigenen Leben etwas Neues. Und es geht bis zum „letzten Abschied“. Der Tod, der uns allen sicher bevorsteht, tritt oft genug ein, ohne dass wir darauf vorbereitet wären, und von ihm wissen wir nicht, was uns hinter seiner dunklen Tür erwartet. In der Zwischenzeit erfahren wir oft genug, dass Leben und Sterben zusammengehören. Denn noch im Sterben ist Leben. Und Leben ist in seinem ständigen Wandel immer auch von einem Sterben bestimmt: Stirb und Werde, Abschiednehmen und Weitergehen – das ist das Lebensgesetz.
„Hilft nicht. Es muss gegangen sein.“
Abschiede haben immer ein Doppelgesicht. Das eine Gesicht blickt zurück, das andere nach vorne. Es geht ums Weggehen und darum, sich neu einzubinden und zu „verorten“ – wie das den Flüchtlingen abverlangt ist, die in der letzten Zeit zu uns kamen. Und es geht immer auch um Zeit, um Vergangenheit und Zukunft: Es gibt ein Davor und ein Danach. Und die oft genug nur schmerzhaft erlebte Gegenwart, den Moment der Trennung. Abschied kann einen „Zwischenraum“ eröffnen – vor der nächsten Begegnung. Oder aber es wird Schluss gemacht, was ein Aus, ein definitives Ende bedeutet – und einen neuen Anfang, eine neue Hoffnung: Tor in neue Welten.
Im Abschied liegt auch die Verheißung von etwas Neuem. So gilt es, durch den Schmerz des Abschieds hindurchzugehen, damit das Leben sich erneuert. Wer keinen Abschied wagt, der bleibt in etwas hängen, was ihn in der Vergangenheit festhält.
Und es geht bei Abschieden auch in anderer Hinsicht um ein Zweifaches. Da sind diejenigen, die Abschied nehmen und aufbrechen, vielleicht zu neuen Ufern. Und es gibt diejenigen, die bleiben – nicht nur im Todesfall: die Hinterbliebenen, die Zurückgelassenen. Die Asylbewerber zum Beispiel, die nach einer gefährlichen Flucht hier bei uns auf dem Klostergelände leben, haben ihre Angehörigen, ein soziales Umfeld und manche Hoffnungen in der alten Heimat zurückgelassen. Und auch die Pflegehelferinnen aus Polen, die heute in vielen Familien alten Menschen helfen, haben zu Hause fast immer ihre Kinder, ihre eigenen Eltern.
Abschiede sind auch Wendepunkte: Wer sich verabschiedet, dreht sich um und geht in eine andere Richtung weiter. Sein Leben nimmt eine andere Wendung. Es geht auch bei unseren Ablösungen und Trennungen ja immer um ein Beziehungsgeschehen – ob eine alte Beziehung nun beendet oder eine neue angezielt wird. Auch wenn eine Bindung gelöst wird, setzt das die frühere Verbindung voraus, es bestätigt sie gerade. Eine Tür kann sich schließen. Eine Tür kann sich auftun. Leben geht weiter. Und auch wer sich verabschiedet, hat einen neuen Weg vor sich, auch wenn der nicht leichtfällt. Hilde Domin hat das in ihrem Gedicht „Die schwersten Wege“ in die Worte gekleidet: „Stehenbleiben und sich umdrehn / Hilft nicht. Es muss gegangen sein.“
Ganz unterschiedliche Emotionen
Es gibt, entsprechend, eine ganze Skala von Emotionen, die sich damit verbinden, je nachdem, um welche Abschiede es sich handelt: Das Gefühl von Erleichterung und Hoffnung ist da genauso möglich wie Wehmut und Sehnsucht, Melancholie oder Trauer. Schon die uralten Geschichten der Bibel kennen das: Die ersten Menschen wurden aus dem Paradies vertrieben. Dieser unwiederbringliche Verlust des Idealzustandes ist etwas ganz anderes als der hoffnungsfrohe Aufbruch eines unterdrückten Volkes und sein „Exodus“ in die ersehnte Freiheit, auch wenn man dabei auf „Fleischtöpfe“ verzichten muss. Paradies und Exodus: Beides Abschiede. Beides Sehnsuchtsziele.
Und es ist natürlich etwas anderes, ob jemand aus seinem Beruf gemobbt wird und mit einem knappen Brief von seiner Kündigung erfährt oder beim Ausscheiden aus dem Amt mit einem großen Zapfenstreich öffentlich geehrt wird. So wie ein feuchtfröhlicher Junggesellenabschied ja auch nichts gemein hat mit einer stillen Trauerfeier. Oder nehmen wir einen Umzug als Beispiel: Wer sich aus einer studentischen Wohngemeinschaft endlich in die eigene Wohnung verabschieden kann, freut sich. Aber später im Leben, wenn man aus den privaten und vertrauten vier Wänden in ein Pflegeheim zieht, kann ein Umzug sehr schwerfallen. Es gibt eben ganz unterschiedliche Abschiede: aufgezwungene, aufgenötigte und leichte, freiwillige, abrupt-plötzliche und schleichende, die man kaum wahrnimmt, vorübergehende und dauernde, gelungene und verunglückte, würdige und unwürdige, heilsame und kränkende, leichtfüßige und holpernde, herzzerreißende. Solche mit einem nur leicht wehmütigen „Sag beim Abschied leise Servus“ am Ende. Aber immer auch solche, die man mit einem befreienden Aufatmen begrüßt: Endlich!
Es gibt ganz unterschiedliche Abschiede: aufgezwungene, aufgenötigte und leichte, freiwillige, abrupt-plötzliche und schleichende, die man kaum wahrnimmt, vorübergehende und dauernde, gelungene und verunglückte, würdige und unwürdige, heilsame und kränkende, leichtfüßige und holpernde, herzzerreißende.
Alles ändert sich gerade
Abschiede ändern sich, gerade in einer Zeit der globalen Mobilität und der permanenten technischen Erreichbarkeit durch das Internet. Wer früher ins Ausland auswanderte, war oft für Jahre unerreichbar. Heute sind Distanzen über Kontinente hinweg kein Problem mehr. Schüler, die ein Auslandsjahr machen, haben die technische Möglichkeit, in Bild und Ton ihren Eltern nahe zu sein, ob sie nun vorübergehend in Australien leben oder sich in Südamerika aufhalten. Aber wenn sich ein Mann von der Freundin (oder umgekehrt) einfach durch einen Klick per WhatsApp trennt, gehört auch das zur neuen Zeit – und ist umso schmerzlicher für den so „abservierten“ Menschen. Und ganz allgemein: Die globalisierte Welt, die sich so rasant verändert, hat mehr Nähe ermöglicht und Erreichbarkeit produziert. Aber auch die Auswirkungen eines Krieges, Fluchtbewegungen, Migrationen und millionenfacher Verlust von Heimat gehören zu den Erfahrungen unserer Gegenwart.
Nicht nur als Einzelne sind wir betroffen. Gerade heute machen wir die Erfahrung, dass sich vieles ändert, was nicht allein in unserer Hand liegt. Es geht plötzlich alle an. Gewohnte Sicherheiten brechen in vielen Bereichen weg und „Normalität“ scheint es nicht mehr zu geben. Angst und Ohnmacht sind die Folge. Der Mut, Altgewohntes bewusst loszulassen, und die Kraft, aktiv weiterzugehen, sind dann in vielfacher Hinsicht gefordert. Nicht nur die Kirchen sind in diesen Umbruch hineingezogen und weithin verunsichert. Koordinaten unserer ganzen Gesellschaft ändern sich zudem mit den rasanten Umbrüchen. Da sind nicht nur Kriege, die uns bedrohlich näher rücken. Wir sind tiefgreifend in Mitleidenschaft gezogen auch von einer Klimakatastrophe, die das Leben auf der Erde insgesamt gefährdet. Wir spüren die Folgen eines plötzlichen Pandemieausbruchs, die unsere Vorstellung von Normalität verändert haben. Das ist etwas anderes, als wenn individuelle Beziehungen sich verändern und abbrechen oder mitten im Leben Verluste zu verkraften sind. Aber auch solche Umbrüche von außen stellen uns vor die Aufgabe, manches loszulassen, trotz allem Mut zu fassen und zu vertrauen, dass sich neue Wege für eine gelingende Zukunft auftun.
Abschiednehmen kann ein kraftvollerund positiver Akt sein, wenn in wennin einer festgefahrenen Lebenssituationeine bewusste Entscheidung getroffenund ein neues Ziel ins Auge gefasst wird.
„Abschiednehmen ist die schlimmste Erfahrung, das allerschlimmste Wort für mich“, so hat mir jemand gesagt, dessen Frau vor kurzem gestorben war. Und so ist es, wenn man sich von Schönem, von lebendig Gelebtem, von Vertrautem und Beglückendem trennen muss. Aber Abschiednehmen kann auch ein kraftvoller und positiver Akt sein, wenn in einer festgefahrenen Lebenssituation eine bewusste Entscheidung getroffen und ein neues Ziel ins Auge gefasst wird. Es ist nur erleichternd, wenn jemand eine unwürdige Arbeit hinter sich lassen kann, einengende Verpflichtungen oder ungewählte Belastungen abschüttelt, oder sich endlich aus einer nur schwierigen Beziehung befreit: „Nie wieder!“
„Weggehen können. Und doch sein wie ein Baum“: Was die Künstler sehen
Wenn die Erfahrung des Nichtdauerhaften, die Erfahrung von Veränderbarkeit und Flüchtigkeit so zentral zum Leben gehört, ist es wichtig, davon zu erzählen, es im Bewusstsein zu halten und in der Erinnerung aufzubewahren. Kein Wunder also: Das Thema taucht bei vielen Dichtern und Schriftstellern auf, als menschliche Grunderfahrung, aber auch als Herausforderung: „Man muss weggehen können. Und doch sein wie ein Baum“, heißt es zum Beispiel, wiederum bei der exilerfahrenen Hilde Domin, in dem Gedicht „Ziehende Landschaft“. Peter Schünemann hat in dem Lesebuch „Lauter Abschiede“ lyrische, erzählende Prosa, Briefe von Dichtern aus vielen Jahrhunderten zum Thema gesammelt: Abschied von der Kindheit oder von einer Zeit, die unwiederbringlich vorbei ist, Abschied beim Erlöschen einer Liebe, beim Verlust von Heimat, beim Tod, bei der Zerstörung in Kriegen. In seinem Vorwort meint er, dass „große Literatur, genau gelesen, immer eine vom Abschied ist, Zeugnis der schmerzlichsten Erfahrung überhaupt“. (Schünemann 12) Wir können solche Texte nicht lesen, ohne mit unseren eigenen Abschiedserfahrungen in Berührung zu kommen. Die Dichter geben uns Worte in die Hand, mit denen wir individuelle und persönliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen können. Auch wenn diese Texte oft sehr traurig und niederdrückend sind, so leuchtet in ihnen doch schon das „Licht in der Nacht“ auf, „das über der gebrochenen Linie des Abschiedshorizontes liegt“ (ebd. 16).
Kunst bringt uns mit eigenen Erfahrungen von Abschied in Berührung. Wenn wir uns diesen schmerzlichen Erfahrungen stellen, dann wächst in uns die Hoffnung, dass wir nicht darin stecken bleiben, sondern immer wieder einen neuen Aufbruch wagen.
„Fern kann er nicht mehr sein/ der Tod“, so beginnt ein Gedicht, das Reiner Kunze zu seinem eigenen 85. Geburtstag geschrieben hat: Darin die Zeilen: „Doch sag ich, ehe ich´s/nicht mehr vermag:/ Lebt wohl!/Verneigt vor alten Bäumen euch/ und grüßt mir alles Schöne“. Nicht nur Schönheit, Natur und Lebenszustimmung, sondern auch Vergänglichkeit sind hier angesprochen. Wesentlich ist auch die Aufforderung, den Abschied bewusst zu gestalten: Verneigung – das ist ein bewusstes Ritual.
Lebensjubel, aber auch Schmerz: „Seufzen, Tränen, Kummer, Not“ – wie es in einer Bachkantate heißt –, aber auch Trost – gerade auch in der Musik, der vergänglichsten aller Künste, sind sie hörbar gestaltet. Die großen Werke von Bach, Schubert, Schumann, Mozart oder Mahler zeugen davon. Berühmtes Beispiel eines schmerzhaften Abschieds, der den Sänger immer mehr in die Verzweiflung und Traurigkeit treibt, ist die „Winterreise“. Der Text ist von Wilhelm Müller, den Franz Schubert meisterhaft vertont hat.
Schon im ersten Lied wird dieser Schmerz des Abschieds besungen: „Fremd bin ich eingezogen,/ Fremd zieh ich wieder aus./ Der Mai war mir gewogen/ Mit manchem Blumenstrauß./ Das Mädchen sprach von Liebe,/ Die Mutter gar von Eh’– Nun ist die Welt so trübe,/ Der Weg gehüllt in Schnee.“ Der Abschied von der Geliebten führt hier in trostlose Kälte und in die Fremde. Wir spüren die Verzweiflung des Abschiednehmenden, den Schmerz des Abschiednehmens, der hier nicht zu einem neuen Anfang führt, sondern in eine dauernde Traurigkeit und Einsamkeit. Doch gerade dadurch bringt uns die „Winterreise“ mit eigenen Erfahrungen von Abschied in Berührung. Wenn wir uns diesen schmerzlichen Erfahrungen stellen, dann wächst in uns die Hoffnung, dass wir nicht darin stecken bleiben, sondern immer wieder einen neuen Aufbruch wagen.
Auch in populären Liedern oder Schlagern findet das Thema seinen Ausdruck. So fügt sich auch das wohl berühmteste Lied des Sängerpoeten Reinhard Mey „Gute Nacht, Freunde“ gut in unseren Zusammenhang, gerade weil es so alltäglich lapidar daherkommt und doch auf ebenso typische wie sanfte Weise den Nerv der Dinge berührt: „Es wird Zeit für mich zu geh´n/ Was ich noch zu sagen hätte/ Dauert eine Zigarette/ und ein letztes Glas im Steh ´n.“
Die Dichter geben uns Worte in die Hand, mit denen wir individuelle und persönliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen können. Auch wenn diese Texte oft sehr traurig und niederdrückend sind, so leuchtet in ihnen doch schon das „Licht in der Nacht“ auf.
Auch wenn das Rauchen nicht mehr zu den heute normalen Gepflogenheiten gehört – es ist auch hier ein Zeichen, dass man bei Abschieden gerne auf Rituale zurückgreift, um Dinge auszudrücken, die einem auf dem Herzen liegen. Die Lakonie wird verstärkt durch dieses leichte Verzögern, das aber auch etwas Wichtiges hervorhebt und verstärkt. Bei Reinhard Mey ist es der Dank: Der Dank für den gemeinsam verbrachten Tag, für die Nacht unter dem Dach und für den Platz am Tisch der Freunde, für jedes Glas, das man ihm anbot – und auch „Für den Teller, den ihr mir zu den euren stellt/ Als sei selbstverständlicher nichts auf der Welt.“
Abschiedlich leben heißt: Neues wachsen lassen
Ob Dank – oder Wehmut: Abschiede sind Merkmale des Lebens, im Großen und im Kleinen. Rainer Maria Rilke hat es im Schlussvers seiner achten Duineser Elegie so formuliert: „So leben wir und nehmen immer Abschied.“ Abschied, so vielfältig er uns begegnet, bleibt immer zentrales, herausforderndes Lebensthema.
Da ist die Frage, wie uns die Abschiede gelingen und wie wir im Bewusstsein leben können, dass wir uns immer wieder verabschieden müssen. Wie beeinflusst das Wissen um die vielen Abschiede unser Leben im Hier und Jetzt? Abschiede, die uns oft unvermittelt, unvorbereitet und keineswegs immer gelassen treffen.
Hermann Hesse schreibt in seinem berühmten „Stufengedicht“: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,/An keinem wie an einer Heimat hängen.“ Das kann für Betroffene provozierend wirken. Kann Abschiednehmen denn auch als Voraussetzung für ein gutes Leben gesehen werden? Als Impuls, unser Leben zu ändern, neu auszurichten? Das ist die zentrale Frage, die ich in diesem Buch bedenken möchte, indem ich viele Bereiche des Lebens betrachte, Erfahrungen des Abschieds in der Lebensgeschichte von Menschen anschaue und indem ich versuche, achtsam zu sein auf das, was das überhaupt ist: das Geheimnis des Abschieds.
Es gilt also, genau hinzusehen und die richtige Perspektive zu gewinnen: Was macht das mit uns? Wie verwandeln uns solche Verlusterfahrungen? Und wie gehen wir weiter? Im Abschied liegt auch die Verheißung von etwas Neuem. So gilt es, durch den Schmerz des Abschieds hindurchzugehen, damit das Leben sich erneuert. Wer keinen Abschied wagt, der bleibt in etwas hängen, was ihn in der Vergangenheit festhält. Er ist unfähig, weiterzugehen, Neues in seinem Leben wachsen zu lassen und neue Räume zu erkunden.
Menschen werden dieses Buch auf dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Erfahrungen lesen und sich durch ganz unterschiedliche Situationen angesprochen fühlen. Ich werde daher in diesem Buch auch viele Beispiele erzählen. Denn konkrete Abschiedserfahrungen zu hören und unmittelbar wahrzunehmen, wie andere Menschen damit umgehen, das berührt unser Herz oft mehr als theoretische Erklärungen. Einen großen Raum werden auch Erfahrungen einnehmen, die mit Tod und Sterben zusammenhängen. Denn diesen Abschied haben viele von uns schon bei lieben Menschen erlebt und er steht uns allen selber bevor, wenn wir selber sterben werden. Wie können wir uns auf diese Abschiede vorbereiten? Und was wird uns erwarten, wenn wir durch dieses letzte Tor gehen?
Zuletzt möchte ich all die Erfahrungen, die in diesem Buch zur Sprache kommen, zusammenfassen in konkreten Haltungen, die man einüben kann und die ein abschiedliches Leben prägen. Das heißt keineswegs, in bestimmten Situationen den Schmerz zu leugnen. Der kann schwer sein, sehr schwer sogar. Es meint auch nicht, einen Grauschleier über das Dasein zu legen oder gar in Depression zu verfallen. Im Gegenteil: Gemeint ist eine Kultur guten Lebens, das um seine Endlichkeit und Begrenztheit weiß. Aber gerade deswegen auch um seine Kostbarkeit. Und das dafür dankbar ist.
Was die Mönche bewegte: Abschied von der Welt – Loslassen des Ego
Ein Blick auf die spirituelle Tradition
Mein Blick auf das Leben und das Thema „Abschied“ ist auch geprägt durch den Umgang mit einer spirituellen Tradition. Denn was Abschied bedeutet, können wir auch von den frühen Mönchen lernen, die im 3. und 4. Jahrhundert bewusst Abschied genommen haben von der Welt und von einer Kirche, die für sie ihren ursprünglichen Schwung verloren hatte. Ihre Erfahrung zeigt mir, und kann uns allen zeigen, wie Abschiednehmen Aufbruch zu neuer Lebendigkeit wird, ja zu neuer Freiheit führen kann. Wir folgen ja auch heute Idealen und versuchen, unser Leben so zu gestalten, wie es diesen Idealen entspricht. Wir lesen Bücher spiritueller Autoren, vertiefen uns in philosophische Werke. Wir haben unsere Lieblingsautoren. Und wir sind heimisch geworden in unserem Glauben und in der Gemeinschaft der Kirche. Doch oft genug verlangt das Leben auch von uns, dass wir Abschied nehmen von früheren Vorbildern, von eingespielten Gewohnheiten, von vertrauten Idealen und Bildern. Wenn alte Orientierungen nicht mehr tragen, ist es wichtig, nach neuen Ausschau zu halten. Der Blick in die Geschichte des Mönchtums zeigt mir eine Perspektive, die – bei allen Unterschieden – auch heute bedenkenswert ist.
Ein Blick auf die Erfahrung der Mönchezeigt mir und kann uns allen zeigen,wie Abschiednehmen Aufbruch zu neuerLebendigkeit wird, ja zu neuer Freiheitführen kann.
Die Mönche sind aus der Welt ausgewandert, um in der Wüste allein Gott zu suchen. Ihr Abschied von der Welt ist prägend geworden für das geistliche Leben vieler Menschen. Sich auf den Weg zu Gott machen bedeutet für uns heute natürlich nicht unbedingt, wie die Mönche aus der Welt auszuwandern. Aber es verlangt einen inneren Abschied von der Welt. Paulus drückt das so aus: „Ich will mich allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.“ (Gal 6,14) Das bedeutet, dass er sich nicht mehr von Maßstäben her definiert, die den Wert des Menschen nach seiner äußeren Anerkennung, nach seinen Erfolgen und nach seiner Geltung in der Gesellschaft messen. Die Begegnung mit Jesus Christus hat ihm eine ganz neue Qualität des Lebens ermöglicht.
Die zentrale Frage: Wie erlangen wir Freiheit und Erfüllung?
Diese Haltung hat in der Geschichte des Christentums immer wieder eine spirituelle Spur hinterlassen: In den Kantaten von Johann Sebastian Bach etwa wird immer wieder der Abschied von der Welt thematisiert. In der Kantate „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget“ (BWV 64) singt der Sopran: „Was die Welt in sich hält, muss als wie ein Rauch vergehen. Aber was mir Jesus gibt und was meine Seele liebt, bleibet fest und ewig stehen.“ Bach hat diese Arie in einer fröhlichen Melodie komponiert. Für ihn ist dieser Abschied von der Welt nicht etwas Trauriges und Bedrückendes, sondern er führt zur inneren Freiheit und Freude.
Im Hintergrund steht nach wie vor diese Frage: Wie erlangen wir in diesem Leben Freiheit und Erfüllung? Die frühen Mönche sprechen vom Sterben nicht nur als dem Tod am Ende des Lebens, sondern von einem Leben, das ein ständiges Sterben, ein ständiges Abschiednehmen von der Welt ist. Dieses Abschiednehmen von der Welt führt aber zu einer größeren inneren Freiheit. So heißt es in einem Väterspruch: Ein Bruder fragte den Altvater Moses: „Ich sehe eine Aufgabe vor mir und kann sie nicht erfüllen.“ Da sagte ihm der Alte: „Wenn du nicht ein Leichnam wirst wie die Begrabenen, kannst du sie nicht bewältigen.“ (Apo 505) Die Vorstellung, begraben zu sein, befreit uns von allem Druck, uns beweisen zu müssen, die Aufgabe perfekt lösen zu müssen, vor den Menschen gut dazustehen. Die Vorstellung, der Welt zu sterben, befreit uns zu innerer Gelassenheit und Fröhlichkeit.
Darum geht es: Freiwerden vom Ego
Von Abba Makarios dem Großen wird erzählt, dass er einem jungen Mönch, der ihn danach gefragt hat, wie sein Leben gelingen könne, die Aufgabe gestellt hat, die Toten auf dem Friedhof zuerst zu verhöhnen und dann zu loben. Als der junge Mönch vom Friedhof zurückkam, sagte ihm Makarios: „Du weißt, wie sehr du sie geschmäht hast, und sie antworteten dir nicht – und wieviel du sie gelobt hast, und sie haben nichts zu dir gesagt. So musst auch du sein, wenn du das Heil erlangen willst. Werde ein Leichnam, beachte weder das Unrecht der Menschen, noch ihr Lob – wie die Toten, und du wirst gerettet werden!“ (Apo 476)
Der Welt sterben meint, sich weder von Lob noch von Tadel her zu definieren, sondern allein von Gott her. Das ist auch das, was die Buddhisten den Ich-Tod nennen. Man soll das Ego sterben lassen. Allerdings geht es nicht darum, das Ich zu töten. Denn es ist ja auch eine wichtige Quelle von Energie. Aber es geht darum, vom Ich frei zu werden, nicht anzuhaften am Ego, wie die Buddhisten sagen. Der „Abschied von der Welt“ – so verstanden – führt uns zu einem Leben in innerer Freiheit und Gelassenheit. Die Haltung der Gelassenheit, zu der uns Meister Eckhart einlädt, kann den Abschied erträglicher machen. Gelassenheit hat ja immer mit Lassen und Loslassen zu tun. Wir lassen das Alte, um uns auf Neues einzulassen. Und Neues kommt immer auf uns zu, oft genug unerwartet und mit einer Kraft, die alles Bisherige in Frage stellt.
Der Welt sterben meint, sich wedervon Lob noch von Tadel herzu definieren, sondern allein vonGott her.
Klimakrise und Coronaschock: Verlorene Sicherheiten, notwendige Abschiede, heilsame Konsequenzen
„Die Welt eine Wolke, ohne Regeln“
„Abschiede“, so heißt ein 2020 entstandener Text des niederländischen Autors Cees Nootebom. Er nennt ihn „Gedicht aus der Zeit des Virus“. Darin ruft er „die Warnung, die niemand hören wollte, immer/ dasselbe“ in Erinnerung. Wir haben nicht wahrnehmen wollen, was uns jetzt bedroht. Der Dichter findet ein eindringliches Bild für unsere Situation: „Die Welt eine Wolke/ ohne Regeln“: Alles unübersichtlich und instabil also, so wie die Natur selbst? Und die Zukunft so nebulös wie die Antwort auf eine Frage nach den Aussichten? Das Gedicht jedenfalls stellt die Frage: „Das Ende vom Ende, was könnte das sein?“
Was könnte dieses „Ende vom Ende“ denn sein? Könnte das, wovon wir uns verabschieden müssen, auch der Anfang von etwas Neuem werden?
Zum einen ist klar: Die Natur ist eine Wirklichkeit, die wir neu sehen müssen und nicht beliebig manipulieren können. Sie zeigt uns Grenzen auf, innerhalb derer wir mit ihr umgehen müssen. Wir müssen uns verabschieden von der Illusion, sie beliebig für unsere Zwecke ausnutzen oder sie auch nur kontrollieren zu können. Wir wissen nicht, ob und wann eine neue Pandemie auftreten wird. Und wir haben keine Ahnung, was an Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen oder Tornados auf uns zukommen kann und wie weit der Klimawandel unsere Lebensgrundlagen beeinträchtigen oder zerstören wird.
Ein Damoklesschwert
Der Klimawandel hängt wie ein Damoklesschwert über uns. Die Bewegung „Fridays for Future“ hat viele Menschen aufgerüttelt. Es gibt junge Menschen, die in Panik geraten, wenn sie an ihre Zukunft denken, und die eine große Wut auf die gegenwärtig handelnde Generation haben. Da ist der Ausspruch eines 17-Jährigen, Mitglied einer Aktivistengemeinschaft der Umweltschutzbewegung, die sich „Aufstand der letzten Generation“ nennt: „Wer jetzt noch Hoffnung hat, ist zynisch.“ Ein anderer junger Mensch sagt bei einer Umfrage: „Hauptsächlich ältere, jedoch demografisch stärkere Generationen zerstörten und zerstören meine Perspektiven, auf einer gesunden Erde und in einer friedlichen Gesellschaft zu leben.“ Ältere Menschen dagegen fragen nicht weniger angstvoll: „Was kommt auf unsere Kinder zu? Wie werden meine Enkelkinder (4 und 2 Jahre) in 20 Jahren (über)leben?“
Wir haben unseren Lebensstil mit all den positiven Möglichkeiten genossen und gemeint, wir hätten einen Anspruch darauf. Davon gilt es Abschied zu nehmen.
Wir haben schon in den letzten Jahren erlebt, dass trockene und heiße Sommer Menschen und Natur belastet haben und dass es auch bei uns im Frühjahr und Herbst weniger geregnet hat. Obwohl es Warnungen gab (der Bericht des „Club of Rome“ ist vor über 50 Jahren erschienen): Wir haben Jahrzehnte in dem blinden Glauben gelebt, dass ständiges wirtschaftliches Wachstum und steigender Wohlstand möglich sind. Von dieser Vorstellung müssen wir uns verabschieden, weil sie die natürliche Begrenztheit unseres Planeten außer Acht lässt. Wissenschaftliche Studien zum Klimawandel haben die Grenzen des Wachstums berechnet und gezeigt: Wenn wir so weitermachen wie bisher, erwartet uns bis 2100 eine Welt, die im Schnitt um 3–4 Grad heißer sein wird. Das hätte apokalyptisch anmutende Folgen: Anstieg des Meeresspiegels, Dürrekatastrophen, Wassermangel, extreme Stürme. Wissenschaftler beschreiben die katastrophalen Folgen, die ein nicht mehr umkehrbares „Kippen“ des Klimas für das Leben unseres Planeten haben wird. Wir können uns gegen alles versichern. Doch wenn der Klimawandel ganze Küstenstreifen im steigenden Meereswasser untergehen lässt, wenn meterhohe Wellen in hoher Stundengeschwindigkeit ganze Häuser wegreißen und Ortschaften zerstören, wie das 2021 im Ahrtal geschah, und im Jahr 2022 in Australien, wo weite Landstriche verwüstet wurden, dann gilt es nicht nur in unserem Teil der Welt für viele Menschen, Abschied von der Heimat zu nehmen oder künftig beliebte Urlaubsorte zu streichen. Dann geht es weltweit auch an die Lebensgrundlagen vieler Menschen. Natürlich: Es gab auch früher schon Hungerzeiten. Im 19. Jahrhundert führten diese viele Menschen dazu, auszuwandern. Wir in Europa wissen heute allerdings nicht, wohin wir auswandern könnten. Denn überall ist die Welt unsicher. Ja, anderswo ist es offensichtlich noch schlimmer. Schließlich flüchten so viele Menschen nach Europa, weil sie hier für sich eher eine gute Zukunft erwarten. Wir müssen uns also jetzt Gedanken machen, Phantasie einsetzen und Pläne entwickeln, die über die Gegenwart hinausreichen. Wir müssen vorstellbar machen, wie wir unseren Planeten, das gemeinsame Haus Erde, auch für künftige Generationen intakt, bewohnbar und lebenswert erhalten. Die Vision des Milliardärs Elon Musk, auf den Mars auszuwandern, um dort das Weiterleben zu ermöglichen, ist jedenfalls für mich keine Vision, die wir weiter verfolgen sollten.
Wir haben die Natur nicht im Griff
Auch die Pandemie hat unser Leben erschüttert: Wir waren überzeugt, dass Epidemien wie Pest oder Cholera der Vergangenheit angehören und große Gesundheitskrisen zumindest in unseren Wohlstandsländern unwahrscheinlich sind. Dann hat die Pandemie die ganze Welt über Jahre in Atem gehalten und uns drastisch vor Augen geführt, wie labil und gefährdet generell unser Leben ist, auch hierzulande. Wir haben die Natur eben generell nicht im Griff. Das Virus hat nicht an einer Staatsgrenze Halt gemacht und die Gesundheit der Menschen weltweit bedroht. Als im April 2020 Militärlastwagen die Särge von Covid-19-Opfern durch das nächtliche Bergamo transportierten, wurde vielen erstmals klar: Der Tod, den wir so gerne verdrängen, ist in unserer Gesellschaft immer gegenwärtig. Die Pandemie hat uns während der Quarantäne in der Bewegungsfreiheit und in den sozialen Kontakten eingeschränkt und die Vereinzelung schmerzhaft spürbar gemacht. Sie hat uns auch gezwungen, von alten Gewohnheiten Abschied zu nehmen: nicht nur von der Gewohnheit, im Urlaub in ferne Länder zu reisen, oder von der selbstverständlichen Gewohnheit, jederzeit mit anderen in ein Restaurant zu gehen, ein Konzert oder eine Opernaufführung zu besuchen. Sie hat gezeigt, dass wir nicht einfach so weiterleben können. Auch sie hat Fragen nach unseren Werten und unserem Lebensstil gestellt. Wir haben unseren Lebensstil mit all den positiven Möglichkeiten genossen und gemeint, wir hätten einen Anspruch darauf. Die Krise fordert Konsequenzen auch für unseren Alltag: wie wir uns ernähren, wie wir wohnen, wie wir unsere Mobilität künftig leben.
Wir dürfen nicht in Ohnmacht verharren. Wir müssen überlegen, wie eine Transformation unseres Lebens aussehen kann, damit Hoffnung möglich bleibt, und wie wir diese Umgestaltung bewerkstelligen.
Wovon werden wir uns definitiv verabschieden müssen? Sicher nicht nur von der Idee, alles sei selbstverständlich. Sondern auch von der Illusion, wir hätten unser Leben immer im Griff und könnten die Welt insgesamt kontrollieren. Auch der typische „Macher“ muss Abschied nehmen von seinen Allmachtsphantasien und sich bescheiden mit seiner begrenzten Fähigkeit, die Welt zu gestalten. Er muss diese bei aller Begrenztheit aber bewusst und gezielt einsetzen. Was wir alle lernen müssen: Die Unsicherheit auszuhalten gehört wesentlich zu unserem Menschsein.
Anfragen an den Lebensstil jedes Einzelnen
Natürlich muss sich im Großen, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, viel ändern. Aber das Verabschieden liebgewordener Gewohnheiten tut auch dem Einzelnen weh. Etwa wenn unser Mobilitätsverhalten in Frage gestellt wird: Ist es zu vertreten, dass wir so viele Flüge unternehmen, immer weitere Fernreisen planen oder überall mit dem Auto hinfahren? Können wir unseren Fleischkonsum angesichts des Klimawandels noch vertreten? Heute haben wir ein neues Bewusstsein dafür bekommen, wie weit unser eigener Lebensstil zum Klimawandel beiträgt. Man spricht vom ökologischen Fußabdruck und meint damit die Auswirkungen unseres Handelns auf das Klima. Das betrifft alle unsere Lebensvollzüge, unsere Essgewohnheiten, den Wasserverbrauch beim Duschen, beim Gießen des Rasens, unseren Energieverbrauch beim Heizen, beim Betreiben elektrischer Geräte, beim Verkehr, egal ob Auto, Flugzeug oder Zug. Wir spüren, dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Manchen macht das Angst, dass sie sich von liebgewordenen Gewohnheiten verabschieden sollen. Andere wiederum befürchten, dass uns vor lauter Moralisieren das Leben vergällt wird, wenn jeder Schritt, den wir tun, von Umweltmoralisten begutachtet wird. Es braucht ein bewusstes und zugleich freies Umgehen mit unserem Lebensstil. Vieles ist verzichtbar. Das einzusehen, spart auch Lebensenergie. Gewohnheiten nur so weiterzuführen wie bisher, ohne unser Verhalten zu prüfen, das gehört jedenfalls einer Vergangenheit an, von der wir uns verabschieden müssen.
Moralische Appelle reichen nicht
Wir dürfen nicht nur auf die Krisen starren. Wir müssen gleichzeitig überlegen, wie eine Umgestaltung unseres Lebens aussehen kann, damit Hoffnung möglich bleibt, damit sich Tore in eine bessere Zukunft auftun und unsere Welt auch für unsere Nachkommen gesichert und lebenswert sein kann. Dazu gehört, dass wir positive Auswirkungen wahrnehmen: Uns ist deutlich geworden, wie gut uns auch die Entschleunigung tut, wie wertvoll menschliche Nähe ist und wie wichtig unmittelbare soziale Kontakte sind. Es hat sich gezeigt, wie viel verzichtbar ist: dass Videokonferenzen etwa aufwendige Dienstreisen unnötig machen können. Und eine Untersuchung hat ergeben, dass der weltweite CO2-Emissionsausstoß im ersten Jahr der Pandemie weltweit und auf das ganze Jahr gerechnet um 7 % reduziert wurde, weil es weniger Verkehr und weniger Produktion gab: Das ist in etwa der Wert, den wir jährlich bräuchten, um das Klima