Von Gipfeln und Tälern des Lebens - Anselm Grün - E-Book

Von Gipfeln und Tälern des Lebens E-Book

Anselm Grün

4,8

Beschreibung

Seit Jahrzehnten verbringt Pater Anselm seine Urlaube meist im Kreis seiner Familie in den Bergen. In diesem Buch spricht er über diese bislang weitgehend unbekannte Seite seines Lebens und eine Leidenschaft, die er mit vielen teilt: das Wandern. Eine längere Wanderung wird für ihn zum Gleichnis für unseren Lebensweg: sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen und daran wachsen, seine Kräfte erproben, neue Ziele in den Blick nehmen, Gemeinschaft finden, Einsamkeit entdecken. An Grenzen kommen und irgendwann merken, dass es nicht mehr weitergeht. Gipfelerlebnisse und Talsohlen, beschwerliche Aufstiege und wehmütige Abschiede. Was treibt unsere Seele im Laufe des Lebens um? Pater Anselm macht Mut, neu aufzubrechen, um dem Ziel unserer Sehnsucht näherzukommen.

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Inhalt

Einleitung

1 – Bevor ich losgehe

Die Route planen

Wage-Mut

Zögern vor dem Aufbruch

Weggefährten

2 – Auf gehts!

Aufbrechen

Innehalten

Das Ziel in den Blick nehmen

Schritt für Schritt

Pause – Brotzeit – Rast

Zur Quelle finden

Sich wieder aufmachen

Gratwanderung – Grenzerfahrungen

3 – Oben angekommen!

Gipfelerfahrung

Klar sehen

Der Verheißung trauen

Der Berg der Versuchung

4 – Zurück ins Tal

Absteigen

Umkehren

An die eigenen Grenzen kommen

Flucht vor sich selbst

Gefahren auf dem Weg

Allein unterwegs

5 – Biblische Bilder

„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen“

„In diesen Tagen ging er auf einen Berg, um zu beten“

„Stell dich auf den Berg vor den Herrn“

„Dann tragen die Berge Frieden für das Volk und die Höhen Gerechtigkeit“

„Sein heiliger Berg ragt herrlich empor, er ist die Freude der ganzen Welt“

Aufstieg zum Berg Karmel

6 –Ein Blick zurück – Dankbarkeit

Literatur

Vita

Einleitung

Seit meiner Jugend faszinieren mich die Berge. Mit meinem Vater sind wir bereits als Kinder dorthin gefahren. Und seither wandere ich fast jedes Jahr mit meinen Geschwistern in den Bergen. Zum ersten Mal erlebte ich das Faszinierende der Berge als junger Ministrant mit zehn Jahren, als unser Kaplan mit uns und den älteren Jugendlichen ein Zeltlager in Hinterriss, einem kleinen Ort im Karwendelgebirge, veranstaltete. Dort gingen wir als Kinder zusammen mit den Jugendlichen auf manchen Gipfel. Es war anstrengend, aber es hat uns zugleich in besonderer Weise angesprochen. Wir waren stolz, wenn wir oben auf dem Gipfel standen und die Aussicht genießen konnten.

Das Karwendelgebirge mit seinen felsigen Bergen hatte zuvor in mir immer das Gefühl ausgelöst: Auf diese Berge kann man unmöglich steigen, die sind nur für Kletterprofis. Doch dann gingen wir markierte Pfade, die uns langsam, aber sicher auf den Gipfel führten. Es waren keine allzu schweren Wege, nur gegen Ende galt es, etwas zu klettern. Aber die älteren Jugendlichen halfen uns, indem sie uns die Hände entgegenstreckten, damit wir die steileren Felsen überwinden konnten. Es war eine wichtige Erfahrung und Erkenntnis für mich, die ich damals mit zehn Jahren machte: Wenn man einen hohen Berg vor sich sieht, meint man, man würde es nicht schaffen, ihn zu erklimmen. Doch wenn ich Schritt für Schritt gehe, wenn ich mir kleine Zwischenziele setze, dann gelange ich letztlich zum Gipfel.

Übertragen auf andere Lebensbereiche bedeutet dies für mich: Ich darf nicht sofort auf das Ganze einer Arbeit schauen und mir von der Größe der Aufgabe Angst machen lassen. Sonst würde ich nie den Anstieg wagen. Aber wenn ich mit dem Aufstieg beginne und mich von anderen mitnehmen lasse, dann wird das scheinbar Unmögliche auf einmal möglich.

Als ich sechzehn Jahre alt war, unternahm ich mit zwei meiner Brüder und zwei Vettern Radtouren in die Alpen. Wir nahmen alles mit, was wir brauchten: ein einfaches Zelt, Schlafsäcke und einige Konservendosen, und suchten uns im Pitztal, im Ahrntal oder im Silvrettagebirge einen Zeltplatz. Auch das war eine wichtige Erkenntnis für mein Leben. Wenn ich etwas wage, muss ich mich zuerst hinsetzen und überlegen, was nötig ist. Welchen Proviant muss ich mitnehmen? Was brauche ich auf jeden Fall? Worauf kann ich verzichten?

Die Planung der Fahrt wurde so auch zu einer Lehrstunde für das Leben.

Wir machten uns immer in den großen Ferien auf den Weg. Danach begann dann ein neuer Abschnitt, ein neues Schuljahr. Immer wieder stellte sich dann die Frage: Was brauche ich für das nächste Schuljahr, um es gut zu bewältigen? Welche Kenntnisse muss ich vertiefen, welchen Stoff muss ich vielleicht noch nachholen? Wo soll ich mit alldem anfangen? Welche Schwerpunkte will ich setzen?

Wenn wir an unserem Zielort mitten in den Bergen ankamen und einen Platz gefunden hatten, an dem wir uns mit unserem Zelt niederlassen konnten, haben wir dort zuerst eine Feuerstelle eingerichtet: aus Steinen einen Ring gelegt und einen größeren Ast gesucht, an dem wir mit Draht unseren Kochtopf befestigen konnten. Dazu haben wir mit zwei Astgabeln eine Aufhängung gebaut. Am offenen Feuer haben wir dann abends oder zum Mittagessen unsere einfachen Gerichte gekocht: Knödel mit Gulasch, Nudeln mit Tomatensoße und ähnliche Dinge.

Wir lebten damals äußerst sparsam, außer Brot und Butter kauften wir uns unterwegs nichts. Als junge Menschen hatten wir morgens einen Riesenhunger, täglich brauchten wir ein neues Brot.

Nach dem Frühstück sind wir dann in die Berge losgezogen. Wir hatten damals fast unerschöpfliche Kräfte. Wir sind einfach schnurstracks den Berg hinaufgestiegen, alles schien uns leicht. Wir spürten die Mühe des Aufstiegs kaum und auf dem Rückweg ins Tal sind wir mit großen Schritten gelaufen. Ganz stolz waren wir, als wir auf unserem ersten Dreitausender standen: dem Fundusfeiler im Pitztal. Wir genossen den Blick auf die Pitztaler und Ötztaler Alpen und hatten, während wir in die Weite schauten, den Ehrgeiz, auf unserer Karte jeden Gipfel zu identifizieren.

Vier Rad- und Bergtouren haben wir in diesen Jahren gemeinsam unternommen. Danach habe ich mich entschieden, ins Kloster Münsterschwarzach einzutreten, und habe einige Jahre pausieren müssen, bis ich nach der Priesterweihe mit meinen Brüdern Konrad und Michael, meinen Vettern, Pater Udo und Bernhard und meiner jüngsten Schwester Elisabeth die erste Wanderung durch die Dolomiten gewagt habe. Gemeinsam sind wir von Hütte zu Hütte gewandert, alles Notwendige hatten wir in unseren Rucksäcken verstaut. Das war eine neue Erfahrung. Auf dem Fahrrad kann ich noch eher etwas mitnehmen, was nicht unbedingt lebensnotwendig ist. Wenn ich jedoch den Rucksack selbst trage, muss ich genau überlegen, was alles hineingehört.

Durch das Leben gehen wir zu Fuß. Da fahren wir nicht mit dem Auto oder Fahrrad. Daher braucht es ein gutes Sichten dessen, was in den Rucksack unseres Lebens gehört. Ich kann nicht alles auf meinem Weg mitnehmen, sondern nur das, was ich wirklich brauche, um auf meinem Weg voranzukommen.

Schon als Jugendlicher habe ich das Bergsteigen als Einübung in Disziplin verstanden. Es war ein Symbol dafür, dass ich das Leben selbst in die Hand nehme und es gestalte, dass ich mir Ziele setze und sie auch erreiche. Was ich als Jugendlicher instinktiv spürte, das habe ich später bei Viktor E. Frankl, dem Wiener Psychotherapeuten und begeisterten Alpinisten, nachgelesen. Er hat in einem Vortrag einmal gesagt, der Alpinist „konkurriert und rivalisiert nur mit einem, und das ist er selbst. Er verlangt etwas von sich, er fordert etwas von sich“1. Er spricht weiter davon, dass der Mensch die innere Spannung braucht, zwischen sich und einem Ziel, das er sich setzt.

Wenn wir uns beim Bergsteigen ein Ziel setzen, so erzeugen wir eine gesunde Spannung in uns, die uns guttut. Wenn wir uns permanent unterfordern, zieht oftmals das Gefühl der Sinnlosigkeit in unser Leben ein. Ziellosigkeit verhindert, dass wir die Kräfte wirklich entfalten können, die in uns stecken. Allerdings muss das Ziel angemessen gesetzt werden. Wenn wir uns zu hohe Ziele setzen, überfordern wir uns. Wenn wir uns jedoch nichts zutrauen, verliert die Lebensreise an Kraft. Das Ziel verleiht unserem Wandern eine innere Dynamik, die uns guttut.

Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich das Wandern als Bild für meinen Weg als Mensch. Jeder Abschnitt hat dabei einen anderen Charakter. Jetzt, mit über siebzig Jahren, habe ich nicht mehr den Ehrgeiz, die höchsten Gipfel in kürzester Zeit zu besteigen. Es reicht mir, auf einer Höhe zu bleiben, ich freue mich an dem, was ich unterwegs an Schönheiten entdecken kann. An den farbenfrohen Wiesenblumen, dem Schatten eines Baumes am Wegrand, der kühlen Quelle, an der wir rasten. Ich muss keinen Gipfel mehr erreichen, ich habe mich damit ausgesöhnt, meine Grenzen zu akzeptieren. Aber trotzdem zieht es mich immer noch in die Berge. Und ab und zu kann ich doch noch einen Gipfel erklimmen.

Das Wandern in den Bergen übt nach wie vor seine Faszination auf mich aus. Hier teste ich immer wieder meine Grenzen aus. Ich traue mir noch etwas zu. Das hält mich gesund.

In diesem Buch möchte ich das Wandern in den Bergen als Bild für unseren Lebensweg meditieren. Das Wandern ist für mich zum Gleichnis geworden, zum Gleichnis für das Leben. Beim Wandern wie im Leben geht es immer wieder darum, sich neuen Herausforderungen zu stellen, sich und seine Kräfte zu erproben, an den Aufgaben zu wachsen.

Wir kommen unterwegs immer wieder an unsere Grenzen, wir merken manchmal, dass der Weg nicht weitergeht. Dann muss man sich neu orientieren. Zum Leben gehören Gipfelerlebnisse und Talsohlen, beschwerliche Aufstiege und wehmütige Abschiede. Wandern kann ich alleine, dann werde ich mit mir selbst konfrontiert. Aber ich wandere auch gerne in Gemeinschaft, gerade mit meinen Geschwistern. Es tut gut, miteinander unterwegs zu sein, sich gegenseitig zu stützen, zu ermutigen oder einfach ins Gespräch zu kommen.

Wandernd haben schon die griechischen Philosophen ihre wichtigsten Ideen entwickelt. Und so ist das Wandern immer auch inspirierend. Oft kommen mir beim Wandern neue Ideen, die ich dann gerne irgendwann einmal aufschreibe. Aber ich benutze die Zeit des Wanderns nie, um Gedanken zu notieren. Ich führe kein Tagebuch. Und während des Urlaubs verzichte ich auf jedes Schreiben. Da überlasse ich mich nur dem Gehen und Schauen, den Gesprächen und dem Innehalten.

Von den Ideen, die mir beim Wandern gekommen sind, möchte ich in diesem Buch erzählen. Und ich möchte am Ende auch die Bibel befragen, was sie zum Weg und zum Geheimnis des Berges zu sagen hat. Die biblischen Gedanken sollen die eigenen Erlebnisse ergänzen und uns nochmals die Augen öffnen für das, was beim Wandern, beim Besteigen von Gipfeln und dem Durchschreiten von Tälern geschieht.

Ich widme dieses Buch meinen Geschwistern, mit denen ich die meisten Erfahrungen beim Wandern machen durfte. Uns allen ist es zum Symbol für unser Leben geworden. Und in den letzten Jahren werden uns auch unsere Grenzen immer mehr bewusst. Bei der Planung der Touren sind wir bescheidener geworden. Trotzdem trauen wir uns noch das zu, worauf wir Lust haben. Und wir spüren: Jedes Jahr werden wir andere Erfahrungen mit dem Wandern machen. Wir wollen uns, solange uns die Füße tragen, diesen Erfahrungen immer wieder neu aussetzen, weil sie uns im Laufe der Jahre so wertvoll geworden sind, dass wir auch weiter wandernd uns wandeln wollen.

1 Viktor E. Frankl, Bergerlebnis und Sinnerfahrung, Innsbruck 1993, S. 11.

KAPITEL 1Bevor ich losgehe

Die Route planen

Mein Bruder Konrad ist immer für die Planung unserer Touren und die Wanderrouten zuständig. Vor jedem Urlaub besorgt er sich die nötigen Karten. Das ist ein schönes Bild dafür, dass man sich auch im Leben erst einmal gründlich orientieren und vorbereiten muss, um abzuschätzen, wie der Weg verläuft, ob man die nötigen Voraussetzungen und die Kraft dafür hat – damit es am Ende schön werden kann. Wo und wie soll ich beginnen? Wohin wird mich der Weg führen? Welche Herausforderungen warten auf mich? Habe ich die nötige Ausdauer dafür? An welchen Punkten kann ich mich unterwegs orientieren?

Wenn man in den Bergen wandern will, muss man den Wetterbericht im Auge haben. Was ist die Vorhersage für die nächsten Stunden? Soll es regnen, gewittern oder sogar schneien? Dann kann es schnell gefährlich werden.

Das gilt auch für mein Leben: Natürlich können wir nicht alles vorhersagen – und es kann uns auch keiner sagen, wie es zukünftig aussehen wird. Aber mit manchem kann man rechnen, wenn man die Zeichen zu deuten weiß. Dann können wir uns besser vorbereiten auf die Stürme des Lebens, auf die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Kann ich ihnen standhalten? Wenn man es umgehen kann ist es gut, nicht sehenden Auges in ein Unwetter hineinzumarschieren. Und wenn absehbar ist, dass ein sonniger Abschnitt vor uns liegt, sollen wir fröhlich aufbrechen und das Leben in vollen Zügen genießen. Und wer weiß, dass auf Regen immer wieder Sonne folgt, dass es jemand gut mit uns meint, der kann voller Zuversicht und Vertrauen seinen Weg gehen.

Bevor wir gemeinsam ins Gebirge fahren, hat Konrad zu Hause schon die verschiedenen Wege, die es sich zu gehen lohnt, ausfindig gemacht. Am Vorabend einer geplanten Wanderung beratschlagen wir dann, welchen Weg wir am folgenden Morgen gemeinsam gehen sollen. Mein Bruder Michael bringt seine Erfahrungen von zahlreichen Touren ein. Gabi, seine Frau, ist Geografin. Sie beurteilt die Routen immer danach, ob sie geologisch interessant sind und ob sie etwas besonders Schönes am Wegrand bieten. Agnes, die Frau von Konrad, beurteilt die Routen eher mit Blick auf ihre eigene Leistungsfähigkeit. Sie stammt aus dem Hunsrück und ist das erste Mal nach ihrer Hochzeit mit Konrad in den Alpen gewandert.

Ich selbst schaue auf beides: auf meine Leistungsfähigkeit, aber auch auf den Reiz der Route, den ich aus den Schilderungen meiner Brüder heraushöre. Meine jüngste Schwester Elisabeth ist mit allem einverstanden, was wir planen. Sie ist als Jüngste auch die Fitteste. Sie läuft jeden Tag. Und so freut sie sich auf jede Tour.

Die erste Wegstrecke sollte nicht zu beschwerlich sein. Wir wollen langsam anfangen und nicht die langen und anstrengenden Routen gleich zu Beginn wagen. Zuerst müssen wir uns einlaufen. Außerdem gilt es immer, das Wetter im Blick zu haben. Wir hören deshalb vorab grundsätzlich den Wetterbericht, auch wenn wir uns darauf nicht immer hundertprozentig verlassen können. Dann einigen wir uns auf eine Tour, die wir uns zutrauen.

Eine wesentliche Frage im Vorfeld ist auch: Sind alle gesund oder hat jemand irgendwelche Beschwerden? Es geht nicht nur darum, die eigenen Kräfte gut einzuschätzen, sondern auch Rücksicht zu nehmen auf die der anderen.

Auch das ist ein Bild für unser Leben: In der Familie können wir nicht nur auf unsere eigene Kraft schauen. Es gilt immer auch, die Kondition zu berücksichtigen, die der Partner oder die Kinder mitbringen. Dabei ist beides wichtig. Einerseits ehrlich zu sich selbst zu sein: Was traue ich mir zu? Was möchte ich gerne? Wohin geht meine Leidenschaft? Andererseits muss es aber auch ein gemeinsamer Entscheidungsprozess sein. Ich kann nicht einfach meine Meinung durchsetzen. Zudem gilt es zu erspüren, was für die anderen möglich ist und worauf sie Lust haben. Dann müssen wir uns gemeinsam entscheiden. Dabei braucht es beides: die Klarheit zu sagen, was ich möchte, und zugleich die Bereitschaft, von meinen eigenen Wünschen zurückzutreten und mich auf die der anderen einzulassen. Wenn ich nur nachgebe und am nächsten Tag missmutig den Weg mitgehe, für den sich die Mehrheit entschieden hat, dann werde ich nicht nur die Stimmung in der Gruppe trüben, sondern mir auch selbst keinen Gefallen tun. Es ist wichtig, dass ich flexibel bin, dass ich mich mit ganzem Herzen auf den Wunsch der Mehrheit einlassen kann. Wenn ich am nächsten Tag den anderen nur Vorhaltungen mache, den Weg kritisiere und schildere, wie schön der von mir gewählte gewesen wäre, dann kann niemand in der Gruppe den Tag genießen.

Sich für einen Weg zu entscheiden, bedeutet immer auch, sich gegen einen anderen zu entscheiden. Zwar können wir diesen vielleicht an einem anderen Tag gehen. Aber manchmal wird die Entscheidung für den einen Weg den anderen auch ausschließen. Mit dieser Begrenzung muss ich leben. Das gilt auch für das Leben an sich. Wir können nicht alle Möglichkeiten auf einmal leben. Wir müssen uns immer für einen Weg entscheiden. Und die Entscheidung engt ein. Sie ist mit einem Abschiednehmen von den anderen Wegen und Möglichkeiten verbunden.

Aber nur, wenn ich diese Entscheidung bewusst treffe, kann ich mich ganz auf den gewählten Weg einlassen. Und dann wird dieser für mich zu einem tiefen Erlebnis. Wenn ich unterwegs der anderen Möglichkeit nachtrauere und immer wieder davon spreche, wie es wohl jetzt wäre, wenn wir den anderen Weg genommen hätten, werde ich keine guten Erfahrungen dort machen, wo ich jetzt gerade unterwegs bin.

In der Begleitung anderer erlebe ich viele Menschen, die sich nicht entscheiden können. Sie wollen oft alles auf einmal. Aber jede „Wanderung“ erfüllt nur ganz bestimmte Erwartungen und nicht alle meine Sehnsüchte. Oder aber sie überlegen viel zu lange, was die Vorteile oder Nachteile dieses oder jenes Weges sind. Die Entscheidung kann man nicht rein rational treffen. Man muss sich irgendwann für einen Weg entscheiden. Ich kann diesen aber nur dann mit aller Kraft gehen, wenn ich den anderen Wegen nicht nachtrauere.

Ein Beispiel: Zu mir kam eine Studentin, die sich für ein Medizinstudium entschieden hatte. Bei jeder Schwierigkeit, die auftrat, trauerte sie darüber, dass sie sich nicht stattdessen für das Musikstudium eingeschrieben hatte.

Einen Weg zu gehen, heißt immer auch, Abschied zu nehmen von einem anderen. Dieser wäre sicher auch schön geworden. Aber ich kann nur einen Weg gehen. Etwas eine Weile zu betrauern, um es zu verabschieden, kann helfen.

Aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben. Der Studentin, von der ich erzählt habe, nahm das permanente Kreisen um die ewig gleichen Gedanken alle Energie für ihr Studium.

Ähnliches erlebe ich bei alten Menschen, die den Lebenswegen nachtrauern, die ungelebt geblieben sind. Sie werfen sich vor, dass sie den falschen Weg gewählt haben. Sie malen sich aus, wie der andere Weg gewesen wäre oder dass sie damit in ihrem Leben weitergekommen wären. Doch solche Überlegungen sind Energieverschwendung. Sie rauben uns die Energie, die notwendig ist, um den Weg, den wir gewählt haben, gut weiterzugehen. Nur wenn ich den anderen Weg innerlich verabschiedet und betrauert habe, kann ich mich ganz auf den ausgewählten Weg einlassen und ihn genießen. Dann werde ich auf diesem wichtige Erfahrungen machen, auch wenn es manchmal beschwerlich ist und manches Unvorhergesehene mir auf diesem Weg begegnen wird.

Wage-Mut