Abschiedslied - Gabi Teresa Klohn - E-Book

Abschiedslied E-Book

Gabi Teresa Klohn

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Beschreibung

Greta lebt im Altersheim, mit ihrer zunehmenden Demenz wird sie freier und sanfter gegenüber sich selber und den anderen. Mit Inbrunst singt sie immer wieder ihr Lieblingslied «Die Gedanken sind frei». Tochter Teresa staunt und wundert sich über die veränderte Persönlichkeit und entdeckt völlig neue Seiten an ihrer Mutter. Durch Humor, Feinsinn und körperlicher Nähe werden ihre Begegnungen mehr und mehr für beide zur weiblichen Komplizenschaft und tiefer Verbundenheit. Ein lebendiges Porträt einer Familiengeschichte in der Nachkriegszeit. Aber vor allem eine bewegende Mutter-­Tochter-­Erzählung von der Vergangenheit ins Heute - eine weibliche Identitätssuche.

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Seitenzahl: 118

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Sieh, dass du Mensch bleibst. Menschsein ist von allem die Hauptsache. Und das heißt, fest und klar und heiter sein, ja heiter, trotz alledem.

Rosa Luxemburg

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Mutter in Weberbach

Wildmosers in Weberbach

Anderl

Kapitel 2

Greta bleibt zu Hause

Greta und Lorenz

Wildmoserfrauen

Beschwingte 60er Jahre in Weberbach

Kapitel 3

Die wilden 70er Jahre

Kapitel 4

Ausgeträumt in den 80er Jahren

Kapitel 5

Es geht weiter, immer weiter, aber anders

Abschied

Erinnerungen

Kapitel 1

»DIE GEDANKEN SIND FREI.« Meine Mutter sitzt auf ihrem Bett, ihre Beine baumeln herunter, zu kurz, um den Fußboden zu erreichen. Sie schwingt mit ihnen hin und her wie ein kleines Mädchen – ich stehe vor ihr und kämme behutsam und zärtlich ihr schlohweißes Haar, ihren Einheitsschnitt im Altersheim. Wir genießen es, das kurze, vertraute Berühren, die Nähe, die sie jetzt zulassen kann, die ich zulassen kann. Sich gegenseitig zu spüren.

Es klopft an der Tür, eine Pflegeschwester kommt energischen Schrittes ins Zimmer. »Gehen sie mit ihrer Mutter auf die Toilette, bevor sie zur Kaffeerunde kommen?«

»Wir brauchen noch gemeinsame Zeit, und, klar doch gehe ich mit meiner Mutter aufs Klo.«

Schnell verlässt sie das Zimmer wieder, die oder der Nächste wartet ja schon. Wir atmen auf, ich kämme ihr Haar weiter, sie singt ihr Lied mit klarer, klangvoller Stimme und Leidenschaft, »die Gedanken sind frei«, wobei sie vor »frei« innehält, um Luft zu holen, damit sie es mit voller Kraft und Inbrunst herausschmettern kann, nicht schrill, sondern vollmundig. Im Takt bewegt sie ihre Arme und Hände dazu, eine Dirigentin ihrer selbst – voll im Hier und Jetzt, im Augenblick. Ich bringe den Kamm ins Bad. Sie wiederholt den Liedanfang immer wieder. Ich komme zurück und setze mich auf den Sessel ihr gegenüber, betrachte sie, meine Mutter, in ihrem Tun, erstaunt, berührt, so frei habe ich sie selten erlebt. Sie hört auf zu singen, spricht mich an: »Sind die Gedanken frei?«

Perplex über die plötzliche Stille, über ihre eigene Frage, wartet sie auf meine Antwort. In welchen Sphären und Räumen bewegt sie sich – dieser vor mir sitzende Mensch?

»Ich glaube, Mama, dass du dich frei singst. Und endlich hast du Zeit dafür!«

»Ja, das stimmt.« Sie lächelt und singt weiter. Ihre eigene Zensur scheint sich immer mehr aufzuheben, die alten verinnerlichten Gedankenmuster – »Ich darf hier nicht faul rumsitzen und nur singen!«, oder »Ich habe so viel zu tun, ich muss das alles schaffen!« – werden aufgeweicht. Die kognitiven Verbindungen funktionieren so nicht mehr und machen Platz für ihre jetzigen Empfindungen und die Wiederentdeckung ihrer Sinne. Plötzlich wirft ihr Langzeitgedächtnis Erlebnisse in kurzen, prägnanten Sätzen aus, die ich so noch nie von ihr gehört habe – wie das Abspulen einer Filmrolle mit Sequenzen von Bildern, die angehalten und ausgespuckt werden und neue Dimensionen eröffnen. Freud lässt grüßen, die Verdrängungswiderstände weichen, ungefiltert werden Erinnerungen wach und neu ausgedrückt. Meine Mutter erlaubt sich nun die Muse des Nichtstuns – einfach nur Singen genügt. Die Schatten fliegen vorbei, und ihre jetzige Umwelt akzeptiert sie in ihrem Sosein.

»Was denken die anderen Leute dann.«

Wie oft habe ich diesen Satz von ihr gehört, wie hat er mich immer aufgeregt und wütend gemacht, diese Richtschnur, dieses gesellschaftliche Verpflichtungsgefühl, das ihr wichtiger war als die individuelle Freiheit als Person.

Die Wut meiner Mutter, ihr Zorn über ihre Krankheit – ihren »kaputten Löcherkopf«, wie sie ihn nannte, sind nun kein Thema mehr. Das Notizbuch mit ihren letzten Aufzeichnungen liegt seit einiger Zeit unbenutzt auf dem Tisch in der Ecke, in ihrem kleinen Reich, einem quadratischen Raum, gemütlich eingerichtet. Ein Bett, daneben das rollende Nachtkästchen, schräg gegenüber ein Stuhl, das alles war schon da. Der farbig bunte Sessel gegenüber dem Bett, der geparkte, gedrechselte Servierwagen, daneben die von ihr einstmals so geliebte Eichenkommode reihen sich hinter dem Tisch die Wand entlang. Diese persönlichen Möbelstücke, die sie nicht mehr als solche erkennt, sind hier nun unwichtig. Die Fensterfront zum Süden gibt den Blick frei in den begrünten Innengarten des Heims, die übrigen weißen Wände des Zimmers sind bestückt mit großen und kleinformatigen Familienfotos, gebannte Erinnerungen aus vergangenen Zeiten. Zum Ausgang ihres Zimmerreichs steht links der dunkelbraune Kleiderschrank, gegenüber ist die Tür zum ebenerdigen Bad mit Toilette. Meine Mutter singt und singt, sie nimmt sich diesen Raum, die Freiheit, dieses Lied so oft zu singen, wie sie es mag, es beruhigt sie wie ein Mantra, ein sich wiederholendes, vertrautes Klingen.

Warum hat sie sich gerade dieses Lied unter all den altbekannten Liedern ausgesucht, die sie vormittags bei der Singgruppe singen. Ich nehme sie an die Hand und führe sie ins Bad. Sie erledigt ihre Toilette selber und zieht anschließend ihre Windelhose hoch.

»Händewaschen nicht vergessen«, sage ich, wie sie es früher immer zu mir gesagt hat. Die Rollen haben sich vertauscht. Sie braucht jetzt Anleitung und Begleitung in ihrem Tun. Ich atme tief durch und ertappe mich bei dem Gedanken, dass alles wie eine Seifenblase zerbirst und wir beide auf die grüne Gartenbank im Hof ihres Hauses katapultiert werden, in der Sonne sitzen und lachen, und ihre Demenz wie weggeblasen ist. Ein Trugbild, ein Traum, der von der Wirklichkeit schon längst eingeholt ist. Gemeinsam verlassen wir ihr Reich, nicht ohne ihre inzwischen verbeulte rote Handtasche, die muss immer mit, wenn sie ausgeht. Diese Eigenart wird von allen hier respektiert. Mit ihrem speziellen Attribut in der Hand, hakt sie sich bei mir ein, und ich führe sie zu ihrer Tischrunde in die Küche, wo sie ihren Stammplatz hat und schon von den anderen Frauen erwartet wird. Auf dem Weg dorthin erzählt sie mir, sie fühle sich wohl mit denen, »denn da stimmt die Chemie!«

Dieser Ausspruch entspannt mich und erleichtert mir den Abschied, sie dort zurückzulassen.

Auf dem Rückweg in ihr Zimmer, um mein Gepäck abzuholen, setze ich mich an ihren Tisch und schlage ihr Notizbuch auf. Seite für Seite umblätternd, suche ich ihre Einträge, ihre zittrig flüssigen Aufzeichnungen in der gelernten Schönschrift, ab. Neugierig auf Entdeckungen – ein Zeichen, ein Wort, einen Gedanken, aber ich finde keinen neuen Eintrag. Ihre letzten Schriftzüge, die aufgelisteten Vornamen und Geburtsdaten ihrer zwei Schwestern, die ihres Mannes, der beiden gemeinsamen Kinder, und die ihrer zwei Enkelkinder, springen mich an wie Relikte, Zeugnisse des Bewahrens, des Festhaltenwollens ihrer vertrauten Menschen. Ich atme tief aus, blättere langsam weiter, es wiederholen sich x-mal meine Telefonnummer und die meiner Schwester, mehrmals leuchtet ihre eigene Girokontonummer der Sparkasse auf, die letzten Zahlen der Verbindung mit der realen Welt. Konzentriert sehe ich auf den Schriftzug, ihren eigenen Vornamen mit dem Geburtsdatum: Greta, 7. Februar 1928.

Es fällt mir schwer, diese, ihre langsame Verabschiedung zu akzeptieren. Was werden meine letzten Worte und Zahlen einmal sein, was bleibt übrig von diesem Menschsein? Ich schlage das Buch zu, spüre im Bauch meinem Ein- und Ausatmen nach, traurig und tief bewegt. Ich bewundere sie, meine Mutter, wie sie nun die letzten Kraftreserven entfaltet, wie sie mit Mut und Würde ihrem körperlichen und geistigen Verfall entgegentritt. Mein Blick fällt auf ein schwarzweißes, vergilbtes Foto, an der Wand gegenüber, auf dem sie mit geflochtenen Zöpfen und klarem Blick abgebildet ist, in einem leichten, ärmellosen Sommerkleid an einen Holzzaun lehnt und, barfuß im Gras, forsch in die Kamera blickt, wahrscheinlich 19 oder 20 Jahre alt. Klar war auch sie einmal ein junges Mädchen voller Träume und Sehnsüchte.

Wie und warum bist du geworden, die du warst und bist.

Mutter in Weberbach

DEINE JÜNGERE SCHWESTER LISA, die von allen in der Familie Liesel genannt wird, also meine Tante, erzählt mir über dich aus vergangenen Zeiten, dass du in deiner Jugend sehr wohl gesungen und getanzt hast, im Trachtenverein von Weberbach. Sogar öffentliche Auftritte gab es in der bayerischen Ortschaft und in der näheren Umgebung. Gespannt höre ich ihr zu. Wir sprechen über deine immer noch glasklare Stimme, die jeden Ton genau trifft, das habe ich so vorher nie gehört – und ich stelle mir dich vor, wie du dich aus dem vergilbten Foto mit deinem leichten Sommerkleid heraustanzt, dich im Kreise drehst, singst und lachst, wie deine Zöpfe dabei hin- und herschwingen.

Das war natürlich alles in der Nachkriegszeit, also um 1947 herum. Der Krieg war da endlich vorbei, und die in der Nazizeit verbotenen Vereine wurden wieder belebt. Nach deiner Heirat mit Lorenz in den 1950ern war aber Schluss mit Tanz und Gesang, denn verheiratete Frauen taten so etwas nicht. Deine Leidenschaft für das Tanzen wurde dann im gesellschaftlichen Rahmen bei den üblichen Feierlichkeiten in der Wirtschaft beim »Zieglerbräu« gezügelt.

Da ist es wieder, das enge Korsett, der eingeschränkte Verhaltenskodex und dein gewissenhaftes Einhalten des Verbots der Lust und Freude für Frauen. Was hat mich das immer wütend und zornig gemacht. Und deine Mutter, die Magda, im Hintergrund, »Da geht die Welt unter!«, hat das strikt eingefordert. Diese eingestanzten Regeln und Vorschriften, das »Des war halt scho immer so!«, wurden nicht hinterfragt. Die Empfindungslosigkeit und das Einstampfen der Gefühle und Sinne war die Norm, damit die Frauen überleben konnten. Sie kontrollierten sich gegenseitig, damit es stimmte mit der Moral in Weberbach.

Heimlich lief es natürlich anders ab, insbesondere für die Männer war die Lustpotenz nicht so leicht im Zaum beziehungsweise in der Hose zu halten. Die sogenannte Doppelmoral, ja, die gab es mehr oder weniger schon immer. Du, damals als junges Mädel, wusstest noch nichts von Ehebruch, Vergewaltigung, Fehlgeburten und Eileiterentzündung. Du träumtest von der romantischen Liebe auf immer und ewig, ein paar Kindern, und für den potenziellen Mann dafür, für diese Liebe, wolltest du dich aufbewahren. Also keine körperlichen Berührungen mit Männern vor der Ehe und somit auch die Möglichkeit eines unehelichen Kindes verhindern. Du warst nicht auffallend schön wie deine große Schwester Rosi, aber du hattest ein feingeschnittenes Profil, das von einer Brille mit wirklich dicken Gläsern, die deine Augen vergrößert wiedergaben, beeinträchtigt wurde, die Folge einer Masernkrankheit als Kind. Du überspieltest die Fast-Blindheit mit einer forschen, kühlen Art und gabst dich selbstbewusst und distanziert. Nachdem deine Zöpfe ab waren, hattest du die brünetten, feinen Haare immer in einem halblangen, zeitgemäßen Schnitt, und deine weiblich schlanke Erscheinung unterstrichst du mit unprätentiöser Kleidung. Mit deinen 19 Jahren warst du damals voller naiver Hoffnung auf eine glückliche Zukunft, denn der elende Krieg war ja überstanden. Du hattest es trotz Kriegswirren geschafft, die Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau in der nahen Stadt mit besten Noten abzuschließen, darum wurdest du auch von deinem Lehrherrn in das Geschäft, einem Großhandel für Lebensmittel, übernommen. Es war immer klar gewesen, dass du, wie deine zwei Schwestern, einen Acker für die Aussteuer zur Hochzeit bekommen würdest, und der einzige ältere Bruder sollte das Anwesen und den Hof mit der Landwirtschaft übernehmen. Du warst nun mal keine Bäuerin und wolltest auf keinen Fall einen Landwirt aus Weberbach heiraten und eine werden. Etliche Verehrer umschwirrten dich, am Sonntag beim Tanz im »Zieglerbräu« fehlte es nicht an Tanzpartnern, aber bei keinem funkte es so richtig bei dir, und trotzdem hast du es genossen, wenn die Tänzer die Tanzschritte beherrschten, dich gut führten und mit Schwung drehten, ohne dir auf die Füße zu treten. Es beunruhigte und belastete dich aber sehr, dass dein Bruder Anderl seit seinem ersten Kriegseinsatz in Sachsen vermisst war. Seine letzte Feldpost erreichte euch am 18. Januar 1945, und dann kam im März 1945 die offizielle Benachrichtigung durch das Kreiswehrersatzamt, dass Andreas Wildmoser, euer Anderl, seit seinem letzten Kriegseinsatz in der Nähe von Dresden verschollen war. Und jetzt, zwei Jahre später, gab es immer noch kein Lebenszeichen, nichts, nur sein letzter Brief erinnerte euch an ihn und wurde aufbewahrt wie ein kostbares Gut. Die Hoffnung starb zuletzt, und du wolltest den Gedanken einfach nicht zulassen, dass er tot war. Er würde noch auftauchen, ganz bestimmt, daran wolltest du einfach glauben, denn der ganze Ort wartete auf seine letzten 115 Soldaten, die immer noch in Kriegsgefangenschaft ausharrten oder als vermisst galten.

Wildmosers in Weberbach

DIE WILDMOSERS, also die Eltern meiner Mutter waren eigentlich keine einheimischen Weberbacher, und da achtete man schon drauf in diesem kleinen bayerischen Ort mit den paar tausend Einwohnern. Diese sogenannten »Zugezogenen« wurden ganz genau und mit einer gewissen Skepsis beobachtet, neugierig und misstrauisch zugleich. Die mussten sich erst noch beweisen, diese Fremden, wenn sie dazu gehören wollten. Wohnen taten sie ja recht herrschaftlich und zentral. Gleich die Straße vom Marktplatz hinunter hatten sie sich das große Giebelhaus mit seinen zahlreichen Fenstern und taubenblauen Fensterläden gekauft. Er, der Josef Wildmoser, ist dort mit seiner jungen Frau Magda, seinem »Pupperl«, nach der Heirat im Jahr 1921 eingezogen. War endlich auch Zeit geworden, mit seinen 32 Jahren.

Sie fielen auf, er, der Josef, hochgewachsen, eine elegante und schlanke Erscheinung, und sie, die 19jährige Magda, eine adrette und stattliche Wirtshaustochter aus einem Nachbarsort. Ein Heiratsvermittler hatte die Magda für den Josef ausgewählt, und der zögerte nicht lange, schaute kurz in die Wirtsküche, begutachtete sie, und gleich darauf stellte er den Heiratsantrag an ihren Vater. Dieser willigte ein, und Magda fügte sich. Innerhalb weniger Wochen wurde ein Heiratstermin festgelegt. So war das damals, vor hundert Jahren.