12,99 €
Onyeka, das Mädchen mit den Superhaaren – so eine Heldin gab's noch nie! Onyeka hat die wildesten Afro-Haare, die man sich vorstellen kann. Kaum zu bändigen und immer irgendwie im Weg, doch diese Haare verleihen ihr magische Superkräfte. Denn Onyeka ist eine Solari, ein Mädchen mit einer außergewöhnlichen Gabe, wie sie nur wenige Kinder besitzen. An der Academy of the Sun trifft sie andere Solari-Kinder, die wie sie mit Hilfe von Sonnenenergie-Hightech lernen müssen, ihre besonderen Kräfte zu beherrschen. Da wird ein Anschlag auf die Schule verübt - und die Angreifer stammen aus ihren eigenen Reihen! Nun heißt es für Onyeka und ihre Freunde plötzlich: jeder gegen jeden … Ein aufregend anderes Fantasyabenteuer - voller Power, Magie und einer Heldin, wie wir sie noch nie erlebt haben!
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Seitenzahl: 357
Tọlá Okogwu
Onyekas Superkraft
Unverkäufliches und unkorrigiertes Leseexemplar zu
ISBN 978-3-7373-4338-1, ca. 15,90 € (gebunden)
ISBN 978-3-7336-0571-1, ca. 12,99 € (E-Book)
Voraussichtlicher Erscheinungstermin: 28. Februar 2024
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Onyeka, das Mädchen mit den Superhaaren – so eine Heldin gab’s noch nie!
Onyeka hat die wildesten Afro-Haare, die man sich vorstellen kann. Kaum zu bändigen und immer irgendwie im Weg, doch diese Haare verleihen ihr magische Superkräfte. Denn Onyeka ist eine Solari, ein Mädchen mit einer außergewöhnlichen Gabe, wie sie nur wẸnige Kinder besitzen. An der Academy of the Sun trifft sie andere Solari-Kinder, die wie sie mit Hilfe von Sonnenenergie-Hightech lernen müssen, ihre besonderen Kräfte zu beherrschen. Da wird ein Anschlag auf die Schule verübt - und die Angreifer stammen aus ihren eigenen Reihen! Nun heißt es für Onyeka und ihre Freunde plötzlich: jeder gegen jeden …
Ein aufregend anderes Fantasyabenteuer - voller Power, Magie und einer Heldin, wie wir sie noch nie erlebt haben!
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Tọlá Okogwu ist Autorin, Journalistin und Haarpflegeberaterin. Sie wurde in Nigeria geboren und wuchs in London auf. Heute lebt Tọlá mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Kent.
[Widmung]
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Kapitel fünfunddreißig
Kapitel sechsunddreißig
Anmerkung der Autorin
Glossar
Nigerianisches Pidgin-Englisch
Häufige Wörter und Redewendungen:
Danksagung
Für Goziam … Ich werde mich immer für dich entscheiden.
»Onyeka!«
Ich zucke zusammen, und über meine Kopfhaut läuft ein Prickeln, als Cheyennes ungeduldige Stimme durch meine aufkommende Panik dringt.
»Jetzt komm endlich! Wenn’s geht, noch vor 2030.«
Die stickige Luft in der überheizten Umkleide wird noch wärmer, und der beißende Chlorgeruch brennt in meiner Nase. Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.
»Ich geh da nicht raus«, brumme ich die dicke Holztür an, die uns trennt.
Ein schnelles Trippeln, gefolgt von einem kräftigen Klopfen. »Das Schwimmbad macht zu, wenn das noch lange dauert«, erwidert Cheyenne mitleidlos. »Hast du sie an?«
Ich betrachte die Badekappe, die neben mir auf dem Boden liegt, wo ich sie hingepfeffert habe. Mum hat darauf bestanden, dass ich sie trage, obwohl ich wusste, dass das nur Probleme bringt.
»Sie passt nicht«, sage ich. »Ich hab’s versucht. Meine Haare sind einfach zu dick.«
Cheyenne macht ein Geräusch, das wie eine Mischung aus einem Seufzer und einem Knurren klingt … ein Kneufzer. »Kannst du sie nicht einfach weglassen?«
Ich schnaube. »Du weißt, wie Mum reagiert, wenn ich meine Haare offen trage oder nass mache.«
»Das merkt sie doch niemals«, entgegnet Cheyenne, auch wenn wir beide wissen, dass das gelogen ist. Mum merkt so was immer. Es ist ihre Superkraft.
»Ich geh da nicht raus«, wiederhole ich, allerdings mit einem verräterischen Zittern in der Stimme. Gegen Cheyenne habe ich keine Chance.
Cheyenne weiß das auch und stürzt sich darauf wie eine Gepardin aus einer dieser Tierdokus, die Mum so liebt. Die gucken wir immer zusammen, wenn Mum ausnahmsweise mal nicht arbeiten muss.
»Mach auf!«, brüllt Cheyenne. Schlagartig kehrt in der Umkleide Stille ein.
Mein Magen zieht sich zusammen. Ich hasse es, wenn sie das tut. Nur weil sie gern im Mittelpunkt steht, heißt das nicht, dass es mir ebenso geht. Die Wände der engen Kabine rücken näher. Mein Brustkorb verkrampft, und ich bekomme kaum noch Luft. Energiewellen jagen kribbelnd über meine Haut. Mühsam unterdrücke ich sie. Ich darf mich nicht aufregen. Sonst verliere ich die Beherrschung, und das darf auf keinen Fall passieren. Das ist Mums oberste Regel.
Ich erinnere mich daran, wie ich mich zum ersten Mal so gefühlt habe. Mum und ich standen Hand in Hand an einer Bushaltestellte, als eine Gruppe Kinder anfing, sich über meine Haare lustig zu machen. Mum ignorierte sie und beugte sich zu mir runter, als ob sie wusste, dass ich kurz vorm Ausflippen war. Sie lächelte sanft und erklärte mir, dass ich lernen musste, meine Gefühle zu kontrollieren, denn wenn ich ihnen jemals freien Lauf ließ, würden schlimme Dinge geschehen.
Das war bevor sie mir die Fibonacci-Folge beigebracht hat, die mir hilft, meine Emotionen in Schach zu halten. Das ist wohl irgendeine mathematische Zahlenfolge aus dem alten Indien, die irgendwer aus welchen Gründen auch immer stattdessen nach einem Italiener benannt hat. Aber sie funktioniert. Es ist schwierig auszuflippen, wenn man versucht, sich zu erinnern, welche Zahl als Nächstes kommt.
Ich schließe die Augen und fange an, in Gedanken die Zahlen aufzusagen, um mich zu beruhigen.
Null …
Eins …
In meiner Vorstellung fahre ich jede Zahl nach, gebe ihr eine Farbe, eine Textur, einen Geschmack.
Null ist blau mit ungeschliffenen Rändern und schmeckt nach Waffeln ohne Sirup.
Eins glänzt orange und hat den scharf-säuerlichen Geschmack von Essig.
Nach und nach nimmt das Prickeln unter meiner Haut ab. Um sicher zu sein, zähle ich trotzdem weiter.
Die nächste Eins ist braun und matschig, aber so köstlich wie die Donuts, die Mum mir nie erlaubt.
Zwei ist ein nebliges, dumpfes Grau. Total langweilig und normal.
An diesem Punkt entfalten die Zahlen ihre Wirkung, und mein Herzschlag verlangsamt sich. Gerade als ich aufhöre zu zählen, rappelt der Türknauf. Ich erschrecke fast zu Tode. Ich hatte Cheyenne ganz vergessen. Schnell entriegle ich die schwere Tür, und sie zwängt sich in ihrem blauen Badeanzug zu mir in die Kabine. Ihr Gesicht glänzt, und mir steigt der Duft von Kokosöl in die Nase. Sie benutzt immer viel zu viel. Sogar in den Haaren. Heute trägt Cheyenne sie als Afro-Puff, mit einem elastischen roten Haarband.
Es ist komisch, sie ohne die flauschigen Fuchsohren zu sehen, die sie sonst immer auf dem Kopf trägt. Cheyenne fährt total auf Amaya ab – ihre absolute Lieblings-Animefigur – und verkleidet sich gern als sie. Ich bin daran gewöhnt, bekomme aber oft mit, wie andere Leute sie komisch ansehen. Nicht, dass es Cheyenne interessieren würde, was irgendwer über sie denkt. Manchmal glaube ich, dass sie gern auffällt, weil sie dadurch alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Fast so, als wollte sie die Leute herausfordern, etwas über ihren Modegeschmack zu sagen. Ich bleibe lieber unsichtbar.
Cheyenne hat das Turner-Syndrom und muss spezielle Hormone nehmen, damit sie noch wächst. Ihr Mundwerk ist aber auch so schon groß genug. Ich habe mal gesehen, wie sie eine Elftklässlerin mit nur einem Satz zum Schweigen gebracht hat. Die hatte allerdings über meine Haare gelästert, also hatte sie es irgendwie verdient.
»Okay, wo ist sie?« Cheyennes dunkle Augen suchen die Kabine nach der Badekappe ab. »Na, so kann das ja nichts werden«, sagt sie. »Sie liegt auf dem Boden, du Dussel.«
Cheyenne ist älter als ich, aber sie tut gern so, als wären es Jahre, nicht bloß einige Monate. Sie hebt die Badekappe auf, und ihre Augen weiten sich begreifend. »Uff, deine Mum will dich wohl auf den Arm nehmen, was?«
»Schön wär’s«, antworte ich. »Sie findet das Ding süß.« Ich ahme Mums starken nigerianischen Akzent nach. Cheyenne lächelt, und ihre Augen funkeln amüsiert.
Ich lächle nicht. Mein Blick ist starr auf die glänzende Badekappe gerichtet, die von Cheyennes Mittelfinger baumelt. Das leuchtend weiße Latex ist mit feuerwehrroten Punkten bedeckt.
Cheyennes Gesicht zuckt, als würde sie mit aller Macht darum kämpfen, ernst zu bleiben. »Du weißt schon, wie du aussiehst, wenn du deine Haare da reinquetschst, oder?«
»Halt die Klappe«, ächze ich. Natürlich weiß ich das. Ich konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken. Ich werde aussehen wie Toad aus Super Mario.
Ihre Augen wandern zu den dichten Locken und Kringeln auf meinem Kopf, die immer aussehen, als würden sie dort oben einen Aufstand proben. Mum ist total überfordert damit, deswegen trage ich meine Haare selten offen. Sie haben schon mehr Kämme zerbrochen, mehr Föhne durchbrennen lassen und mehr Friseurinnen zum Weinen gebracht, als ich zählen kann … also hat sie vielleicht nicht ganz unrecht.
Glätten bringt nichts, Braids zu flechten auch nicht, und als es Mum mal gewagt hat, sie zu schneiden, sind sie danach nur noch dicker und üppiger nachgewachsen. Inzwischen hängen mir die Strähnen, die nicht stur hoch- oder abstehen, fast bis zum Po. Egal, welche Pflegeprodukte ich in ihnen verteile, sie fühlen sich immer trocken an, was die Situation auch nicht gerade besser macht. Aber die Farbe ist ziemlich cool. Sie sind tiefschwarz, und wenn das Licht genau im richtigen Winkel drauffällt, blitzen darin blaue Funken auf.
Cheyenne kann ihr Lachen nicht länger zurückhalten. »It’s a-me, Mario!«, gackert sie voller Schadenfreude.
Ich wünschte, ich könnte mitlachen, aber ich bin zu gestresst. Es war schwierig genug, Mum zu überreden, dass ich schwimmen gehen darf. Nun, da Ferien sind, bin ich tagsüber entweder bei Cheyenne zu Hause oder muss bei Mum im Salon bleiben, damit sie mich im Augen behalten kann. Ich hatte es bis zum letzten Moment aufgeschoben und gewartet, bis sie mit einer ihrer Kundinnen beschäftigt war, bevor ich den Versuch wagte.
»Mum, kann ich heute bitte schon früher gehen?«, fragte ich.
Ihre Hände erstarrten mitten in der Bewegung, und im Salon kehrte Stille ein. Ringsum verstummten sämtliche Gespräche, während alle angestrengt lauschten, wie Mum reagieren würde.
»Warum?«, entgegnete sie schließlich.
»Chey veranstaltet eine Poolparty zu ihrem Geburtstag«, antwortete ich. Wobei ich mir nicht die Mühe machte, zu erwähnen, dass es eine Party für zwei war. Als Cheyennes Name fiel, lächelte Mum, und in mir erwachte eine leise Hoffnung, auch wenn ich versuchte, mich nicht zu früh zu freuen. »Bitte, Mum«, bettelte ich laut. »Du lässt mich nie irgendwo hingehen.«
»Immer diese Übertreibungen«, erwiderte sie. »Gehst du etwa nicht zur Schule? Bilde ich mir nur ein, dass du sonntags in der Kirche neben mir sitzt?«
Ich habe gelernt, auf solche Fragen nicht zu antworten. Es gibt darauf keine richtige Antwort, daher schwieg ich.
»Wieso wollt ihr überhaupt ins Schwimmbad?«, fuhr sie fort. »Cheyenne kriegt ständig Ohrenentzündungen, und du kannst nicht mal richtig schwimmen.«
Den letzten Punkt ignorierte ich, denn sie hatte natürlich recht, und das hatte ich Cheyenne auch schon gesagt. Und das mit den Ohrenentzündungen stimmte eh. Durch das Turner-Syndrom ist Cheyenne ziemlich anfällig dafür.
»Chey hatte schon ewig keine mehr«, wandte ich ein. »Und ihre Mum hat nichts dagegen.«
Mum kräuselte die Lippen und ließ ein abfälliges Tsk hören. »Ich möchte nicht, dass du dich dort draußen rumtreibst. Mir sind da zu viele Fremde. Und du bist nicht wie die anderen.«
Nicht das schon wieder!
»Komisch, wenn ich hier im Salon bin, scheint dich das nicht zu stören«, murmelte ich vor mich hin. »Hier sind ständig fremde Leute!«
»Wie bitte, Onyekachi?«
Ich setzte ein unschuldiges Lächeln auf. Mum ist der einzige Mensch, der mich bei meinem vollen Namen nennt, und das bedeutet meistens Ärger.
»Komm schon, Tọ́pẹ́, gönn dem Kind mal etwas Spaß«, sagte Mrs. Mataka, die auf dem Weg zum Waschbecken an uns vorbeilief.
Gedämpftes Tuscheln breitete sich im Salon aus. Mum wirkte genervt. Sie hasst es beinahe so sehr, selbst aufzufallen, wie sie es hasst, wenn ich auffalle. Plötzlich glättete sich ihre Miene, und sie beugte sich dem Gruppendruck, vor dem sie mich andauernd warnt.
»Na schön«, sagte sie. Ich war geradezu sprachlos vor Erleichterung. Eigentlich hatte ich fest damit gerechnet, dass sie nein sagen würde.
»Aber du ziehst eine Badekappe an«, ergänzte Mum, und meine Erleichterung verpuffte schlagartig. »Ich habe keine Zeit, deine Haare hinterher zu waschen und zu föhnen.«
Dann fischte sie eine Badekappe aus einer ihrer Styling-Schubladen. Wer hat denn bitte eine Badekappe einfach so rumliegen?
Und deswegen stehe ich jetzt also hier und versuche, meine Haare in das hässliche Ding zu zwängen, während sich Cheyenne vor Lachen nicht mehr einkriegt. Es dauert eine Weile, bis sie endlich lange genug damit aufhört, dass ich zu Wort komme.
»Was soll ich machen?«, frage ich.
»Tut mir leid, aber du wirst sie wohl oder übel aufsetzen müssen …«
Sie bricht ab, als ich das Gesicht verziehe. Cheyenne sieht mir in die Augen, aber ganz ohne Neugier oder Mitleid. Nicht so wie die anderen. Für Cheyenne sind meine Haare einfach ein Teil von mir. Genau wie die Lücke zwischen meinen Schneidezähnen oder meine großen Füße. So wie ihre Vorliebe für flauschige Fuchsohren und Marmite, diesen ekligen englischen Brotaufstrich, zu ihr gehört. Ich wünschte, der Rest der Welt würde uns auch so sehen, statt immer nur auf das zu achten, was uns anders macht. Uns beide hat das jedenfalls überhaupt erst zusammengebracht.
Das und die Tatsache, dass sie die einzige andere Nigerianerin ist, die ich kenne. Mum spricht nie über Nigeria oder darüber, warum wir nicht mehr dort leben. Das wẸnige, was ich darüber weiß, wie das Land so reich und mächtig geworden ist, habe ich im Geschichtsunterricht gelernt. So ist das schon, seit ich denken kann.
Bevor sie im Salon angefangen hat, hat Mum in einer der Grundschulen hier in der Gegend die Toiletten geputzt. Damals war sie so dünn, dass ihre Secondhand-Klamotten wie Säcke an ihr hingen. Sie glaubt, ich könnte mich nicht mehr daran erinnern, doch das tue ich. Ich weiß auch noch, wie lange es gedauert hat, bis sie einen Salon gefunden hat, der bereit war, sie anzustellen und ihr den Lohn bar auszuzahlen. Und das, obwohl sie keinen britischen Pass hat.
»Alle werden mich anstarren«, sage ich zu Cheyenne und seufze.
Cheyenne zuckt mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«
Sie hat recht, es sollte mir egal sein. Ist es aber nicht.
Ich reiße ihr die Badekappe aus der Hand und knülle sie zusammen.
»Ja«, antworte ich.
Cheyenne zögert kurz, dann nimmt sie mir die Kappe aus der geballten Faust und streicht sie glatt. »Ich kapiere nicht, warum es dir so viel ausmacht, was andere über dich denken«, sagt sie. Mit ihren zierlichen Fingern hält sie mir die Badekappe hin. »Wieso sollten wir uns verbiegen, nur um irgendwo dazuzugehören?«
Aber genau das ist es, würde ich am liebsten schreien. Ich möchte einfach irgendwo dazugehören.
Ich schlucke meinen Frust runter, wo er sich zu all den anderen Gefühlen gesellt, die ich nicht haben darf. Wie zum Beispiel Neugier über meinen Vater oder Freude in der Schule. Und natürlich das beängstigendste von allen … die Hoffnung, dass sich die Dinge eines Tages ändern werden.
»Hör zu«, ergänzt Cheyenne nach einer kurzen Pause. »Heute ist mein Geburtstag, und deine Mum hat dir endlich mal erlaubt, woanders hinzugehen als immer nur in die Kirche. Das vergeuden wir jetzt nicht, weil du dich hier wie eine Heulsuse aufführen musst.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch, verwundert über ihren Tonfall. Aber sie hat ja recht, und ich möchte ihr den besonderen Tag wirklich nicht verderben. Also schnappe ich mir die potthässliche Kappe.
»Selber Heulsuse«, entgegne ich mit einem winzigen Lächeln.
»Wie bitte?«, kontert Cheyenne, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich kann dich unter deinem riesigen Pilzkopf nicht hören.«
Zügig gehen wir nach draußen in die Schwimmhalle – einen hell erleuchteten rechteckigen Raum, in dem es sogar noch wärmer ist als in der Umkleide. Es fühlt sich an, als würde sich die Badekappe auf meinem Kopf zusammenziehen.
In der Mitte der Halle befindet sich ein großes Schwimmbecken, in dem sich alle möglichen Leute tummeln, hauptsächlich Kids, die ihre Sommerferien gẸnießen. Manche planschen gelangweilt im Wasser, während die geübteren Schwimmer an ihnen vorbei ihre Bahnen ziehen. Der Rest hängt in kleinen Gruppen am Beckenrand und quatscht.
Natürlich entgehen mir die Blicke und das Kichern nicht, die meinem gigantischen Kopf folgen. Ein Mädchen drängt sich mit großen, staunenden Augen an mir vorbei, und ich beiße die Zähne zusammen, um mir nichts anmerken zu lassen. Es ist immer dasselbe. Ich habe wirklich schon alle Sprüche gehört, angefangen damit, dass ich wie ein Yeti aussehe, bis hin zu dem urkomischen Witz, dass ich wohl eine Harke brauche, um meine Haare zu kämmen.
Selbst die Erwachsenen, die es eigentlich besser wissen sollten, können sich nicht zurückhalten. Jedes Mal, wenn wir in den Laden gehen, um neue Haarpflegeprodukte zu kaufen, scharen sich Leute um Mum und bieten ihr an, mir die Haare zu machen. Als könnten sie es nicht fassen, dass ich aus gutem Grund so rumlaufe.
Das Schlimmste daran ist, zuzusehen, wie Mum versucht, sie zu ignorieren. Ihre ständigen Sorgen sind wie eine Decke, die uns beide einhüllt. Mum sagt, ich soll mich nicht ärgern oder es mir zu Herzen nehmen, wenn andere Müll über mich erzählen. Aber wenn ich sehe, wie traurig es sie macht, und daran denke, dass sie ganz allein damit klarkommen muss, werde ich wütend. Ich kann nicht anders. Dann wünsche ich mir immer, mein Vater wäre noch da. Mum meint, er hätte seine Gefühle auch immer total stark empfunden und sich davon mitreißen lassen, genau wie ich. Deswegen hat er sich den Trick mit der Fibonacci-Folge ausgedacht, den sie mir beigebracht hat – um zu verhindern, dass seine Gefühle ihn überwältigen.
Letztes Jahr hat Megan Gold behauptet, ich hätte ihr ein Bein gestellt. Hatte ich nicht. Meine Haare hatten sich im Klettverschluss an ihrem Rucksack verheddert. Ms. Mason, unsere Schulleiterin, glaubte mir nicht, und ich regte mich so darüber auf, dass ich beinahe meine Zahlen vergessen hätte. Als sie mir wieder einfielen, hatte sich das Kribbeln von meiner Kopfhaut schon bis in meinen Nacken ausgebreitet.
Ich wünschte, mein Vater wäre hier, damit ich ihn fragen könnte, wie er mit seinen Gefühlen zurechtkommt. Mum wäre wahrscheinlich auch glücklicher, wenn er bei uns wäre. Ich greife nach meiner Kette, einer weißen Kaurimuschel, die an einem dünnen Lederband um meinen Hals hängt. Sie hat meinem Vater gehört und ist die einzige greifbare Verbindung zu ihm, die ich besitze.
Cheyenne hustet laut und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Na los«, ruft sie. »Ich hab nur heute Geburtstag.«
Schweigend folge ich ihr. Hier sind zu viele Leute und nicht genügend Orte, an denen ich mich verstecken kann. Normalerweise hängen Cheyenne und ich bei ihr oder bei mir zu Hause rum und gucken unseren Lieblings-Anime. Ich mag alle Charaktere. In dieser Welt ist es cool, anders zu sein.
»Da drüben ist noch Platz.« Cheyenne zeigt auf eine Lücke am flachen Ende des Beckens.
»Chey, ich weiß wirklich nicht …«, wende ich ein, doch sie ist bereits auf und davon, und ich muss mich sputen, um mit ihr mitzuhalten.
»Entspann dich, Yeka«, ruft sie, obwohl sie weiß, dass ich diesen Spitznamen nicht mag. »Wenn du erst mal drin bist, willst du nie wieder raus.«
Am Beckenrand hole ich sie ein. »Aber wir können beide nicht gut schwimmen.«
»So ein Quatsch, natürlich kann ich schwimmen.« Cheyenne grinst.
Sie hat gerade erst ihr Seepferdchen gemacht. Ich weiß, sie ist total stolz und alles, aber ich halte eine Poolparty trotzdem für keine gute Idee.
Bevor ich noch etwas sagen kann, steigt sie ins Becken und stößt sich ab. Im Nu ist sie bis zum Hals im Wasser. Bei ihr sieht das so einfach aus.
Nervös fasse ich mir an den Kopf und ertaste den steifen Latex der Badekappe. Hauptsache, Mum ist zufrieden. Dann hole ich tief Luft und folge Cheyenne ins Becken.
Das Wasser ist bitterkalt und der Schock raubt mir den Atem. Wie kann es sein, dass die anderen nicht aussehen, als würden sie in einer Schüssel voller Eiswürfel schwimmen? Mit zusammengebissenen Zähnen wate ich vorwärts, bis ich hüfttief im Wasser stehe.
Cheyennes fieses Grinsen verrät mir, dass sie mich absichtlich nicht vorgewarnt hat. Okay, das schreit nach Rache. Lachend stürze ich mich auf sie und gebe ihr einen Schubs.
Überrascht stolpert sie rückwärts.
»Dafür bist du dran«, kräht sie vergnügt.
Ehe ich mich versehe, packt sie mich an den Schultern und drückt mich unter Wasser. Ich versuche, mich zu befreien, indem ich mich gegen ihr Gewicht stemme, bis mein Kopf durch die Wasseroberfläche bricht.
Cheyenne schnappt erschrocken nach Luft und ihre Miene erstarrt. »O nein, Yeka, das tut mir echt leid.«
Dicke Haarsträhnen ergießen sich über meine Schultern und treiben um mich herum im Wasser. Deswegen ist das Engegefühl auf meinem Kopf nicht mehr da.
Mit pochendem Herzen suche ich verzweifelt nach meiner Badekappe, während sich die Leute nach mir umdrehen. Als ich sie schließlich entdecke, ist sie bereits auf dem Weg ans tiefe Ende. Es ist fast schon beeindruckend, mit welcher Geschmeidigkeit sie sich zwischen den strampelnden Gliedmaßen hindurchschlängelt.
Mein Blick wandert zurück zu Cheyennes schuldbewusstem Gesicht. Sie hat es also auch gesehen. Zwischen uns dehnt sich betretenes Schweigen aus wie ein ausgeleiertes Gummiband. Dann huscht etwas über Cheyennes Gesicht, und ich sehe, wie ihre Augen zu meiner Badekappe hinüberzucken.
»Chey, warte«, rufe ich.
Zu spät. Bevor ich sie aufhalten kann, wirbelt Cheyenne herum, stößt sich ab und paddelt unbeholfen hinter der Kappe her. Doch sie ist zu langsam. Mit jedem Armzug, den sie macht, trägt die Strömung im Becken die Badekappe weiter von ihr weg.
Ich will ihr nachschreien, dass sie anhalten und zurückkommen soll, aber bei dem Gedanken, noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, bleiben mir die Worte im Hals stecken.
Dann hält Cheyenne tatsächlich an. Sie schaudert und fängt an, wie wild mit den Armen zu rudern. Da stimmt irgendwas nicht. Hektisch wende ich mich hin und her, um herauszufinden, ob irgendwer sonst etwas bemerkt hat, doch die Welt dreht sich unbehelligt weiter, als wäre nichts geschehen. Ich sehe gerade noch, wie ein letzter Ruck durch Cheyennes Körper geht, bevor sie lautlos in die Tiefe sinkt. Ein paar kleine Wellen bleiben an der Wasseroberfläche zurück, dann nichts mehr. Eine Sekunde verstreicht, und noch eine, während mein Herz wie wild gegen meinen Brustkorb hämmert.
Komm schon, Chey. Wo bist du?
Dann steigt etwas nach oben. Etwas Schmales, Rotes. Cheyennes Haarband treibt auf dem Wasser, und plötzlich begreife ich, dass das hier gerade wirklich passiert.
»Nein, nein, nein«, keuche ich tonlos. Panik steigt in mir auf.
Am liebsten würde ich davonlaufen und mich verstecken. Ich weiß, dass ich einen Rettungsschwimmer herbeirufen muss, aber die Angst hat mir die Stimme geraubt. Mein Blick wandert zurück zu Cheyennes Haarband, und mein Körper nimmt mir die Entscheidung ab. Instinktiv stoße ich mich ab. Meine Beine strampeln unrhythmisch durchs Wasser, als hätten sie ihren eigenen Kopf. Vielleicht haben sie das ja sogar. Vielleicht wissen sie irgendwie, dass sie zu Cheyenne müssen.
Als ich das Haarband erreiche, hole ich tief Luft und tauche unter. Dunkle Haare wabern um mich herum wie blauschwarze Tintenkringel im Wasser. Ich sehe nur noch unscharf. Eine unheimliche Stille umfängt mich, während von oben Bündel aus Licht das Wasser durchdringen. So gut ich kann, luge ich dazwischen hindurch und halte nach Cheyenne Ausschau. Erst kann ich nichts erkennen, doch dann bleibt mein Blick an einer kleinen dunklen Gestalt auf dem Boden des Beckens hängen.
Ich kämpfe mich nach unten, schlinge einen Arm um ihren zierlichen Körper und versuche dann, uns mit einem kräftigen Beinschlag zurück an die Oberfläche zu befördern. Aber ich bin zu erschöpft und Cheyennes zusätzliches Gewicht macht es nur noch schwerer. Nun scheint sich auch mein Körper daran zu erinnern, dass ich eigentlich gar nicht so gut schwimmen kann.
In meinem Kopf beginnt ein Prickeln, und Cheyenne droht mir aus dem Arm zu gleiten. Wir werden hier sterben, am Grund eines Schwimmbeckens, mitten in Woolwich. Panik macht sich in meinem Brustkorb breit, während ein schmerzhaftes Prickeln von meinem Körper Besitz ergreift. Ich versuche, mich so weit zu beruhigen, dass ich halbwegs nachdenken kann.
Null …, zähle ich in Gedanken.
Ich suche nach einer Farbe und einer Textur, aber alles, was ich sehe, ist blau, und alles, was ich fühle, ist nass.
Eins … Ich bemühe mich weiter, doch ich kann mich einfach nicht konzentrieren.
Wut kocht in mir hoch. Ich will nicht sterben. Ich will nicht, dass Mum ganz alleine ist!
Ich nehme noch einmal alle Kraft zusammen und versuche, an die Oberfläche zu schwimmen, aber meine Arme und Beine gehorchen mir nicht länger. Mein Körper verlangt brennend nach Sauerstoff. Plötzlich durchschießt ein steckender Schmerz meine Kopfhaut. Die Welt um mich herum verändert sich, als meine Haare sich zusammenfinden und um uns herum eine schützende Blase bilden. Staunend öffne ich den Mund, woraufhin das Wasser wie eine Flutwelle hereinschwappt.
Gerade als das Wasser beginnt, mir die Kehle hinabzuströmen, verfestigt sich die Blase um Cheyenne und mich zu einer Art riesigem Schutzschild. Einen Augenblick lang ist alles still und sonderbar und wunderschön. Dann setzen wir uns unvermittelt in Bewegung. Meine Haare tragen uns zügig aufwärts, zurück an die Oberfläche. Kaum dass mein Kopf aus dem Wasser hervorbricht, löst sich der Schutzschild aus Haaren auf, als sei alles nur ein Traum gewesen, und ich spüre, wie ein Arm an uns zieht. Mein Brustkorb bebt vor Anstrengung, während ich keuchend nach Luft schnappe. Wasser rinnt mir in die Augen, und aus der Nase und irgendjemand hebt uns aus dem Becken.
»O mein Gott, was ist passiert?«
Vor lauter Husten und Spucken nehme ich die aufgeregte Stimme des Bademeisters kaum wahr. Ich blicke mich nach Cheyenne um.
»Chey?«, flüstere ich.
Sie rührt sich nicht.
»Chey!«
Diesmal ist es ein Schrei, einer, der von irgendwo tief aus meinem Inneren kommt. Köpfe drehen sich in unsere Richtung, und eine ohrenbetäubende Stille kehrt ein. Das ganze Schwimmbad scheint innezuhalten. Um uns herum versammelt sich eine Menschenmenge wie hungrige Kinder vor einer Pommesbude. Weitere Bademeister eilen herbei, und ich beobachte wie gelähmt, wie Cheyenne von all den Körpern verschlungen wird. Schon bald kann ich sie nicht mehr sehen. Das Pochen in meinem Brustkorb setzt wieder ein, doch jetzt gesellt sich ein flaues Gefühl dazu, eine beklemmende Enge, die ich so noch nicht kannte. Zusammen mit dem gleichmäßigen Trommeln erzeugt das auf- und abflauende Krampfen in meinem Bauch einen schmerzhaften Rhythmus.
»Alles okay?« Ich drehe mich um und entdecke den Bademeister, der mich ganz merkwürdig ansieht. »Geht’s dir gut?«, erkundigt er sich noch einmal.
Am liebsten würde ich ihn anschreien. Was für eine bescheuerte Frage! »Wo bringen sie sie hin?«, frage ich stattdessen mit rauer Stimme.
Er runzelt die Stirn. Sein Blick klebt geradezu an meinen Haaren.
Was hat er für ein Problem?
»Wie hast du es geschafft, sie da rauszuholen?«, fragt er schließlich, ohne mir eine Antwort zu geben.
In seinem Tonfall schwingt deutliches Misstrauen mit. Ich schlucke. Keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich weiß es ja selbst nicht. Gerade schien es noch so, als wären Cheyenne und ich erledigt, und dann waren da plötzlich all die Haare.
Meine Haare!
Das flaue Gefühl in meinem Bauch wird stärker. Mit einer zitternden Hand greife ich mir an den Kopf, ertaste aber nur die gewohnten dicken Strähnen. Ich blicke zurück aufs Wasser. Ganz in der Nähe treiben ein dünnes rotes Haarband und daneben eine weiße Badekappe mit roten Punkten.
Ich spüre einen Kloß im Hals. Cheyenne wäre beinahe gestorben … und ich auch. Die Vorstellung ist einfach nur schrecklich, durch und durch verkehrt. Ich schlucke erneut, bemühe mich, die Spucke irgendwie an dem wachsenden Kloß in meinem Hals vorbeizuzwängen. Ich muss an etwas anderes denken. Vor meinem inneren Auge erscheint wieder diese schützende Blase aus Haaren, die uns gerettet hat. Aber das ergibt keinen Sinn.
Das kann nicht passiert sein … oder?
Das Taxi fährt davon. Ich stehe vor meinem Zuhause und starre hinauf. Im Licht der Dämmerung sieht es genauso aus wie immer – klein und traurig, umgeben von einem schmutzigen Holzzaun.
»Alles okay?«
Eine Stimme reißt mich aus meiner Benommenheit. Ich drehe mich um und entdecke Mrs. Campell, die sich an ihrem Einkaufstrolley festhält und mich aufmerksam mustert. Sie wohnt drei Häuser weiter, und ihre strahlend weißen Locken sind stets perfekt frisiert. Darunter blitzen mir ihre verblichenen braunen Augen lauernd entgegen.
Ich öffne den Mund, um ihr zu antworten, stocke aber, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerke. Ich muss einen ziemlich seltsamen Anblick abgeben, wie ich mit nassen Haaren, die wie Taue an mir herabhängen, mitten auf der Straße stehe. Ich versuche es erneut, doch sie kommt mir zuvor.
»Hab das mit deiner vorlauten kleinen Freundin gehört. Meine Nichte arbeitet im Schwimmbad«, sagt sie. Mrs. C wurde in Jamaika geboren und ihr Akzent tritt bis heute deutlich hervor, wenn sie die Chance auf brandheißen Klatsch wittert. »Ich hoffe, es geht ihr gut.«
Ihre Miene sagt das Gegenteil, und das flaue Gefühl in meinem Bauch wird stärker. Cheyenne ist bei Mrs. C unten durch, seit sie sie mal als alte Tratschtante bezeichnet hat und Mrs. C das mitbekommen hat. Dann wird mir noch etwas anderes klar. Wenn Mrs. C Bescheid weiß, dann Mum garantiert auch. Ich ignoriere meine Handflächen, die auf einmal ganz schwitzig werden, und ringe mir mühsam ein Lächeln ab.
»Chey geht’s prima«, krächze ich. Meine Stimme ist von dem vielen Wasser, das ich geschluckt habe, immer noch heiser. »Sie ist im Krankenhaus, aber ihr Dad hat mir geschrieben, dass sie bald entlassen wird.«
»Ach ja?« Ein missmutiger Ausdruck huscht über Mrs. Cs Gesicht, der sich jedoch schnell in ein hinterlistiges Lächeln verwandelt. »Dann lass ich dich mal in Ruhe. Willst dir ja sicher noch was überlegen, wie du deiner Mama das mit deinen Haaren erklärst.« Gackernd schlurft sie mit ihrem Trolley davon.
Mrs. C ist eine alte Tratschtante, aber sie hat recht. Was soll ich meiner Mum sagen? Wie erkläre ich ihr, dass meine Haare Cheyenne und mich irgendwie vor dem Ertrinken gerettet haben? Sie wird denken, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, genau wie der Chef vom Schwimmbad, als ich ihm erzählt habe, was passiert ist. Ich wollte Cheyenne ins Krankenhaus begleiten, doch sie haben mich nicht gelassen. Also bin ich mit dem Taxi nach Hause gefahren, aber nur, weil das Schwimmbad dafür bezahlt hat.
Ich drehe mich wieder zum Haus um. Die dunklen Fenster und zugezogenen Vorhänge verraten mir, dass ich schneller als Mum war, obwohl es schon fast sieben ist. Mum zieht die Vorhänge immer zu, wenn wir das Haus verlassen. Sie sagt, das ist sicherer so … als gäbe es bei uns irgendwas zu holen. Eigentlich sollte sie längst zurück sein. Ich werfe einen Blick auf mein Handy, um nachzusehen, ob sie mir vielleicht geschrieben hat, doch da ist bloß eine Benachrichtigung von YouTube. Mein Lieblingsaccount hat ein neues Video hochgeladen.
Ich zwinge mich, es zu ignorieren. CurlyUnicorn02 hat unglaublich tolle Haare und vermutlich wieder irgendein Tutorial gepostet, wie man seine Locken ganz leicht mit den Fingern in Form bringen kann oder wie man es schafft, dass sie nach dem Waschen auch ohne aufwendiges Föhnen perfekt aussehen, was bei mir nie im Leben funktioniert. Ich seufze und spüre, wie das Wasser aus meinen Haaren eine nasse Tropfspur auf meinem Rücken hinterlässt. Es besteht null Hoffnung, dass meine Locken jemals so perfekt aussehen wie ihre. Und dass sie jetzt achtlos an der Luft trocknen und sich dadurch zusammenziehen, macht es nur noch schlimmer. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie komplett verknotet sind.
In der Diele ist es still. Ich drücke auf den Lichtschalter, und der lange Flur, der zur Küche und zum Wohnzimmer führt, wird hell. Auf dem Boden liegen ein Haufen Briefe und eine Zeitung. Das Wort »Nigeria« in einer der Schlagzeilen sticht mir ins Auge und ich hebe die Zeitung auf. Mum lässt mich so was normalerweise nicht lesen.
Wie Nigeria heute bekannt gegeben hat, zeigen die im Lauf des vergangenen Jahrzehnts unternommenen Anstrengungen, die Bodenerosion im Norden des Landes aufzuhalten, erste Erfolge. Mit Hilfe einer Vielzahl von RegreẸning-Programmen wie dem Aufbau von Regenwassernutzungsanlagen oder Aufforstung und Baumerhaltung ist es gelungen, unverzichtbares Weideland zurückzugewinnen.
Das sind erfreuliche Nachrichten für diese wirtschaftsstarke Nation, deren Umwelt vor einigen Jahren schwere Schäden davongetragen hatte. Grund dafür war eine Verunreinigung der Wasserversorgung durch hohe Mengen an Trarium, die 2010 erstmals ans Licht kam, obschon niemand mit Gewissheit sagen kann, wie lange das Problem zu jenem Zeitpunkt bereits bestand. Als weltgrößter Erzeuger von Solarenergie war diese ökologische Katastrophe lange Zeit ein Schandfleck für die nigerianischen Nationalräte …
An der Stelle höre ich auf zu lesen. Ich verstehe nicht mal die Hälfte, und ich muss mich noch um meine Haare kümmern. Wenn ich Glück habe, schaffe ich es, sie zu einem unordentlichen Dutt zusammenzubinden, bevor Mum nach Hause kommt. Wobei meine Dutts sowieso immer unordentlich sind, wenn ich ehrlich bin.
»Mum?«, rufe ich, um ganz sicherzugehen.
Meine Stimme hallt durch den leeren Flur, aber niemand antwortet. Während ich die Treppe hinaufsteige, wird mein Blick von der nackten weißen Wand gegenüber angezogen. Kein einziges Bild hängt dort, anders als bei Cheyenne, wo jeder freie Zentimeter mit Familienfotos vollgestopft ist. Sie findet es furchtbar, aber ich mag es. Viel besser als unsere leeren Wände.
Ich stelle mir oft vor, wie die Wand wohl aussehen würde, wenn dort Fotos von Mum und mir hängen würden. Oder sogar das alte, verblichene von meinem Vater, von dem ich offiziell nichts weiß. Es ist ein bisschen so wie bei Vampiren, die nicht in den Spiegel gucken, weil niemand merken soll, dass sie darin nicht zu sehen sind. Ich glaube, Mum fürchtet, wenn wir unsere Familienfotos aufhängen, merkt irgendwer, dass darin auch etwas nicht zu sehen ist.
Ich eile den Rest der Treppe hinauf in mein Zimmer. Vor einer weiteren nackten Wand steht ein ungemachtes Bett. Daneben reihen sich eine hölzerne Kommode, eine kaputte Stehlampe und ein breiter, bodenlanger Spiegel. Mein Blick wandert zu dem Frisiertisch gegenüber und der Plastikbox mit den Haarpflegeprodukten. Ich besitze mindestens drei Shampoos, vier Haarmasken sowie haufenweise Leave-in-Conditioner, Lockenbutter, Lockencreme, Lockenspray und sogar ein Stylinggel für Babyhaar. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich damit soll.
Alle paar Monate bringt mir Mum irgendein neues Wundermittel mit, das verspricht, meine Haare zu bändigen oder zu reparieren. Ich finde nicht, dass an meinem Haar was zu reparieren wäre. Ja, es macht sein eigenes Ding, aber was mich viel mehr stört, ist die Art, wie alle Welt darauf reagiert. So wie ich das sehe, ist der Einzige, der bei Mums Krieg gegen meine Haare gewinnt, der Laden, in dem sie das ganze Pflegezeug kauft.
Mein Blick bleibt an einer der Lockencremes hängen. Ich will gerade danach greifen, als die Zimmertür mit einem lauten Knall auffliegt.
»Onyekachi Adéyẹmí Adérìnọ́lá!«
Ich springe vor Schreck fast an die Decke, als ich Mums Stimme höre. Diesmal benutzt sie alle meine Namen. Ich drehe mich zu ihr um. Mum steht in der Tür, ihre aufwendig befestigte Perücke ist verrutscht und ihr sonst so akkurat gezogener Mittelscheitel sitzt krumm und schief.
Ihre aufgebrachten braunen Augen blitzen mir aus einem Gesicht entgegen, das so finster ist, als würde ich in den Nachthimmel blicken … einen sehr, sehr wütenden und erschöpften Nachthimmel. Sie stapft auf mich zu und packt mich grob an den Schultern.
»Kí ló sẹlẹ̀?« Was ist passiert? Sie schüttelt mich so heftig, dass mein Kopf hin und her wackelt.
»Mum, hör auf. Du tust mir weh«, bitte ich kleinlaut.
Sie lässt mich auf der Stelle los und tritt einen Schritt zurück.
»Ich wusste, ich hätte dich nicht gehen lassen dürfen.«
Ich senke den Blick und schweige. Vielleicht gelingt es mir irgendwie, mich aus der Nummer rauszumogeln.
»Ich hab gedacht, ich hör nicht recht, als Mrs. Campbell mich angerufen hat«, fährt Mum fort. »Ich musste früher Feierabend machen und hab dich überall gesucht.« Mum geht um mich herum und nimmt jede Strähne peinlich genau in Augenschein. »Guck dir nur mal deine Haare an. Du siehst aus wie ein Ragamuffin. Bitte sag mir, dass du so nicht in Woolwich rumgelaufen bist.«
Nun schaue ich doch auf. Ich weiß nicht mal, was ein Ragamuffin überhaupt ist. »Chey ist im Wasser in Schwierigkeiten geraten«, erwidere ich leise.
Dadurch kommt sie kurz ins Stocken, allerdings gerade lange genug, um die Lippen zu kräuseln und ein besonders saftiges Tsk hervorzubringen.
»Bist du ein Wassermeister?«
Ich verdrehe die Augen. »Das heißt Bademeister, Mum.«
»Hab ich doch gesagt.« Sie umrundet mich erneut, legt den Fokus diesmal aber auf meinen Körper. »Bist du verletzt? Ist Cheyenne okay?« Ihr Tonfall wird schärfer, und ich verkneife mir ein Lächeln. Wenn Mum Angst hat, klingt sie verärgert. Die meisten Leute erkennen den Unterschied nicht, doch ich schon. Für mich klingt es nach Liebe.
»Es geht mir gut, Mum«, antworte ich.
Ihr entfährt ein leiser Seufzer. »Wie oft muss ich es dir noch sagen? Du bist nicht wie alle anderen. Du musst vorsichtig sein.«
Sie hält inne, dann streckt sie die Hand aus und umfasst zärtlich mein Gesicht. Die Wärme ihrer Berührung reicht jedoch nicht aus, um den Stich auszulöschen, den mir ihre Worte versetzt haben. Meine Hände ballen sich unwillkürlich zu festen, harten Fäusten.
»Ja, ich weiß«, erwidere ich. Ich bin auf einmal so müde.
Mum mit ihrem übertriebenen Beschützerinstinkt, dazu die Art, wie andere Menschen auf meine Haare reagieren: Die Botschaft ist angekommen, laut und deutlich. Man könnte glatt meinen, ich sei aus Zuckerwatte gemacht, so wie Mum sich andauernd aufführt. Dabei sind die Signale, die sie aussendet, derart widersprüchlich, dass mir manchmal regelrecht schwindelig wird. Es ist, als würde sie mich mit einer Hand wegstoßen und mit der anderen so fest an sich ziehen, dass ich kaum atmen kann.
»Kí ló sẹlẹ̀?«, fragt sie erneut, aber mit sanfterer Stimme.
Mein Inneres zieht sich zu einem Knoten zusammen, während ich nach Worten suche, mit denen ich erklären kann, was ich selbst nicht verstehe. Ich finde keine.
»Chey brauchte Hilfe«, sage ich schließlich schulterzuckend. »Also hab ich ihr geholfen.«
»Aber wie?«, bohrt Mum nach. »Du kannst ja selbst kaum schwimmen.«
»Meine Haare …«, setze ich an, bringe jedoch kaum mehr als ein schwaches Flüstern zustande.
Mums Hand gleitet von meinem Gesicht, und über ihre Lippen kommt ein dumpfes Grollen. »Was ist damit?«
Ihr Tonfall gibt mir den Rest. Eine scheußliche Mischung aus Verärgerung, Traurigkeit und einer seltsamen Angst, die ich bestimmt schon eine Million Mal von ihr gehört habe. Ich weiß nicht, ob sie immer so klang oder erst, seit mein Vater uns verlassen hat.
»Warum hasst du meine Haare so sehr?«, platzt es aus mir heraus. Ich versuche nicht mal zu verbergen, wie verletzt ich bin.
Mum reißt die Augen auf. »Ich … ich hasse sie nicht«, stammelt sie. »Sie machen es bloß schwerer, hier reinzupassen.«
Ich schnaube genervt. Ich kann nicht anders. »Warum gehen wir dann nicht einfach nach Nigeria zurück?«
»Du hast kein Recht, mich das zu fragen«, blafft Mum. »Warte, bis du erwachsen bist und deine eigenen schwierigen Entscheidungen treffen musst, dann verstehst du es vielleicht.«
Das schon wieder? Damit kommt sie jedes Mal, wenn ich sie etwas frage. »Vergiss es«, fauche ich und wende mich ab.
Mum erstarrt und verengt die Augen zu Schlitzen. Diesen Ton ist sie von mir nicht gewöhnt, und er gefällt ihr ganz und gar nicht. »Wie bitte?«
Ich weiche einen Schritt zurück, wodurch ich beinahe über den ausgetretenen Teppich hinter mir stolpere.
»Du willst nie über Nigeria reden«, krächze ich. Mein neu gewonnenes Selbstbewusstsein verpufft sofort wieder. »Bei dir ist alles ein Geheimnis, sogar mein eigener Vater.«
»Werd nicht frech«, erwidert sie streng. »Natürlich rede ich über ihn.«
»Wann denn?« Entnervt werfe ich die Hände in Luft. »Es ist, als würde es ihn gar nicht geben.«
Ein harter Zug tritt in ihr Gesicht, und der Knoten in meinem Bauch verwandelt sich in einen Felsbrocken.
»Das ist nicht fair, ọ́kọ́ mi.«
Normalerweise liebe ich es, wenn Mum diesen Kosenamen verwendet, doch diesmal zucke ich dabei zusammen. Wahrscheinlich reagiere ich über, aber ich kann nicht anders. All die Angst und Panik, die ich im Schwimmbad ausgestanden habe, brechen nun über mich herein. Ich spüre ein dumpfes Wummern im Kopf. Mir stockt der Atem, und ich bekomme kaum noch Luft.
»Ist er deswegen gegangen?«, flüstere ich. »Weil du so viele Geheimnisse vor ihm hattest?«
Mum schließt die Augen und ein schwer zu deutender Ausdruck huscht über ihr Gesicht. Als sie die Augen wieder aufschlägt, ist er verschwunden.
»Spielt es eine Rolle, warum er gegangen ist? Er ist nicht da.« Sie fährt sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Ich schon.«
Der Knoten in meinem Bauch zerschmilzt wie flüssige Lava, ein glühender Strom, der sich durch meine Eingeweide frisst und einen Weg nach draußen sucht. Ich fange an zu zählen, aber irgendetwas hält mich davon ab. Ein kleiner Funken, den ich so noch nicht kenne. Ich lasse ihn raus, und im nächsten Moment quellen die Worte aus mir hervor, ohne dass ich sie daran hindern kann.
»Ich wünschte, das wärst du nicht.«
Sie lässt die Schultern hängen. Ich sehe ihr an, wie sehr ich sie damit getroffen habe.
»Ich schätze, daran bin ich selber schuld. Weil ich zugelassen habe, dass du dir so ein Fantasiebild von deinem Vater machst«, sagt sie matt. »Ich wollte einfach, dass du was hast, woran du dich festhalten kannst. Ich weiß, wie schlimm du es hier findest.« Sie deutet mit einer vagen Handbewegung auf mein Zimmer. »Bei mir.«
Ihre Stimme bricht, und ich schäme mich in Grund und Boden. Mum kann schwierig sein, aber ich weiß, dass sie mich liebt, und sie ist wẸnigstens da. Mein Vater ist ein Fantasiebild. Ich habe keine Ahnung, wie er sich verhalten würde, wenn er jetzt hier wäre. Ich kann nicht wissen, ob er das riesengroße Loch füllen könnte, das zwischen mir und Mum klafft.
Die Wut fließt aus mir ab wie schmutziges Wasser aus einem Waschbecken, und ich merke schlagartig, wie erschöpft ich bin. Doch Mums Traurigkeit hängt als Echo im Raum und prallt von den Wänden um uns herum zurück. Diese Traurigkeit ist immer da, und ich bin einfach nicht genug, um sie zu vertreiben. Was dazu führt, dass ich mich hilflos und verloren fühle.
Mein Sichtfeld verschwimmt, und meine Kopfhaut beginnt zu prickeln, genau wie im Pool. Die Luft knistert, als pure Energie wie ein Stromstoß durch meine Adern jagt. Ich vibriere buchstäblich am ganzen Körper.
»Onyeka, alles okay?«
Mums Stimme dringt wie aus weiter Ferne durch das Tosen in meinen Ohren. Das Prickeln auf meiner Kopfhaut wird zu einem Brennen, und je mehr es weh tut, desto stärker wird auch die Energie. Es ist furchtbar – wie eine Million winzige Nadeln, die wieder und wieder auf mich einstechen. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, während ich verzweifelt versuche, den Schrei zu unterdrücken, der aus meiner Kehle aufsteigt. Der Schmerz gräbt sich bis in den letzten Winkel meines Körpers, als würde er mit Zähnen und Klauen nach einem Ausgang suchen. Dunkle Flecken erscheinen vor meinen Augen, und mir wird klar, dass ich kurz davor bin, das Bewusstsein zu verlieren.
Und dann hört es mit einem Schlag auf. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt.