Achtsam sprechen – kraftvoll schweigen - Anselm Grün - E-Book

Achtsam sprechen – kraftvoll schweigen E-Book

Anselm Grün

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Beschreibung

Wir sagen viel – aber reden wir wirklich miteinander? Kommen unsere Worte noch aus dem Herzen? Dem allgemein beklagten Verfall der Gesprächskultur setzt Anselm Grün in diesem Buch biblisch und psychologisch fundierte Überlegungen zum Thema Gespräch und Sprache entgegen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Achtsamkeit für Sprache und eine hohe Sensibilität für die Macht und Wirkung von Worten. Daraus entwickelt er einen neuen Ansatz, um zum echten Gespräch zurückzukehren.

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Seitenzahl: 189

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023

ISBN 978-3-7365-9013-7

Neuausgabe des 2013 erschienenen gleichnamigen Titels.

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0598-8

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: wunderlichundweigand

Portraitfoto Pater Anselm Grün: © Hsin-Ju Wu

www.vier-tuerme-verlag.de

Anselm Grün

Achtsam sprechen – kraftvoll schweigen

Für eine neue Gesprächskultur

Vier-Türme-Verlag

Inhalt
Einleitung »Wir können nicht nicht kommunizieren«
Muttersprache – Vaterland
Die Sprache im Lukasevangelium
Die Sprache bei Johannes
Sprechen – sagen – reden
Sprechen und Hören
Sprache und Glauben
Die religiöse Sprache
Die Körpersprache
Die Sprache in der Liturgie
Sprache und Schreiben
Das Reden über andere – öffentliche Sprache
Sprechen und Handeln
Sprache und Protest
Einige Regeln der Kommunikation
Reden und Schweigen
Sprache und Macht
Die zu seltenen Worte, die von Herzen kommen
Wirkworte – wandelnde Worte
Worte und Gebet
Schlussgedanken »Die Sprache spricht«
Quellen und Hinweise zum Weiterlesen

Einleitung»Wir können nicht nicht kommunizieren«

»Wir können nicht nicht kommunizieren« – diese bekannte Aussage des österreichischen Psychologen Paul Watzlawik beschreibt unser menschliches Leben als ständige Kommunikation. Ständig sind wir im Gespräch. Selbst wenn wir schweigen, sprechen wir. Wir drücken etwas mit unserer Körperhaltung aus. Wir sind im Austausch miteinander.

Im Gespräch wollen wir uns dem anderen gegenüber verständlich machen und auch von ihm verstanden werden. Und wir möchten am Leben des anderen teilhaben. Und doch kommen meine Worte beim anderen oft anders an, als ich sie gemeint habe. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Gespräch gelingt. In Familien, in Gemeinschaften, in Firmen herrscht oft Sprachlosigkeit. Und viele Gespräche misslingen.

Heute werden viele Rhetorikkurse angeboten. Gerade bei Führungskräften in den Unternehmen sind solche Kurse beliebt. Denn Führungskräfte spüren, wie wichtig es ist, das in einer guten Sprache zum Ausdruck zu bringen, was sie ihren Mitarbeitern oder Kunden vermitteln wollen. Doch oft werden bei solchen Rhetorikkursen nur Techniken gelernt, wie ich effektiver und gefälliger sprechen kann. Die Sprache wird als Werkzeug benutzt, um eine bessere Wirkung zu erzielen.

Mir geht es in diesem Buch nicht um Effektivität oder um eine bessere Wirkung auf andere durch eine gefälligere Sprache. Mir geht es vielmehr darum, erst einmal dem Geheimnis der Sprache nachzuspüren. Wir sprechen jeden Tag miteinander. Aber was geschieht, wenn wir miteinander sprechen? Was drückt Sprache aus? Was bewirkt sie? Und was ist ihr Geheimnis?

Wenn ich Bücher über Sprache lese, geht es mir oft so, dass ich dann meine eigene Sprache kontrollieren möchte oder aber ängstlich darauf schaue, wo ich diesen oder jenen Fehler beim Sprechen mache. Doch auch darum geht es mir in diesem Buch nicht. Ich möchte kein schlechtes Gewissen erzeugen. Ich möchte nicht anklagen und anmahnen, weil jemand eine unbedachtsame Sprache spricht.

Ich möchte vielmehr meine eigene Sensibilität und die der Leser und Leserinnen für das Geheimnis der Sprache schärfen. Ich möchte Lust darauf machen, mit der eigenen Sprache achtsamer umzugehen.

Seit jeher haben Philosophen, Theologen und Dichter über die Sprache nachgedacht. Und sie sind alle zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Es gibt keine Einheitssprache, die wir perfekt lernen könnten. Und es gibt in diesem Buch auch keine Regeln, die wir beim Sprechen einhalten sollten. Dieses Buch möchte die Augen und die Ohren öffnen für das, was im Sprechen und Hören und Lesen geschieht. Was macht die Sprache mit mir und was mache ich mit der Sprache? Wo hat die Sprache mich schon beschenkt? In welcher Sprache fühle ich mich daheim, fühle ich mich angenommen und verstanden? Und welche Sprache regt mich auf, ärgert mich, macht mich unruhig?

Die Sprache ermöglicht das Gespräch. Schon für die griechischen Philosophen war das Gespräch eine wichtige Quelle der Erkenntnis. Sie haben das Gespräch als den Ort geschätzt, an dem Menschen sich begegnen und an dem sie sich gegenseitig anregen, das Geheimnis des Menschseins immer tiefer zu erkennen.

Diese griechische Gesprächskultur hat vor allem der Evangelist Lukas in seinem Evangelium und auch in der Apostelgeschichte im Blick gehabt. Jesus vermittelt bei ihm die wichtigsten Botschaften in Gesprächen – vor allem in Gesprächen, die bei einer Mahlzeit stattfinden.

Das Symposium, das gemeinsame Mahl, verbunden mit tiefen Gesprächen, prägte die griechische Denk- und Sprechkultur. Und wir spüren, dass wir etwas von dieser Kultur auch für uns heute wieder brauchen: sowohl für die Gespräche in der Familie, in der Kirche, in der Klostergemeinschaft, in der Firma als auch für die öffentlichen Gespräche in Rundfunk und Fernsehen.

Heute beobachten wir oft einen Verfall der Gesprächskultur. In Talkshows wird aneinander vorbeigeredet. Da dient das Gespräch nicht der gegenseitigen Wertschätzung und dem gemeinsamen Ringen um die Wahrheit, sondern eher der Sensation und dem Ohrenkitzel der Zuschauer und Zuhörer. Politiker führen keinen Dialog mehr, sondern benutzen das Forum des Parlaments oder auch die Medien dazu, ihre eigene Position wirkungsvoll darzustellen und den politischen Gegner lächerlich zu machen. Da ist kein Hören und Zuhören und wirkliches Sprechen mehr zu beobachten. Da entsteht kein Gespräch, wir müssen uns nur ein ständiges Gerede anhören.

In vielen Bereichen versucht man, eine neue Gesprächskultur zu entwickeln. Man spricht von »Gewaltfreier Kommunikation«, mit der Marshall B. Rosenberg beim Versöhnungsprozess zwischen zerstrittenen Gruppen gute Erfahrungen machen konnte. Firmen geben viel Geld aus, um durch Seminare ihre Gesprächskultur zu verbessern. Die Kirche hat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil immer wieder versucht, Gesprächsforen zu schaffen, um einen guten Dialog zwischen Bischöfen und Priestern und Laien zu ermöglichen. Auch als Antwort auf die Missbrauchsdebatte wurde der Ruf nach offener Kommunikation in der Kirche wieder lauter. Und in zahlreichen Diözesen wurde ein Prozess des Dialogs begonnen. Bei all diesen Versuchen ist viel guter Wille vorhanden. Doch manchmal gelingt das Gespräch trotzdem nicht so, wie man es erwartet. Manchmal werden Erwartungen an das Gespräch geknüpft, die ein wirkliches Aufeinander-Eingehen und Aufeinander-Zugehen erschweren.

In diesem Buch möchte ich darüber nachdenken, was ein wirkliches Gespräch ausmacht. Und ich möchte mir Gedanken über die Sprache machen, die wir sprechen. Denn bevor ein Gespräch gelingen kann, braucht es die Achtsamkeit für die Sprache. So möchte ich über das Geheimnis der Sprache nachdenken.

»Deine Sprache verrät dich ja« (Matthäus 26,73), sagt die Magd zu Petrus. Unsere Sprache, die wir sprechen, verrät unsere innere Einstellung, sie verrät auch unsere unterdrückten Bedürfnisse und unsere verdrängten Aggressionen. Daher ist es gut, die Voraussetzungen des Sprechens in den Blick zu nehmen und die innere Haltung zu bedenken, die sich in der Sprache ausdrückt.

Die Sprache prägt eine Zeit und eine Gesellschaft. Germanisten stellen heute einen Sprachverfall und ein mangelndes Verständnis für die Sprache fest. Als die Bayerische Akademie der Schönen Künste im Jahr 1959 eine Vortragsreihe über »Die Sprache« hielt, meinte der Grafiker und Bühnenbildner Emil Preetorius in seiner Eröffnungsansprache, dass die von der Grammatik ausgehende Kritik am Sprachverfall noch nicht das eigentliche Wesen der Sprache treffe. Es gehe vielmehr darum – wie der Schriftsteller Günter Eich, den Preetorius jetzt zitiert –, die Welt als Sprache zu sehen: »Als die eigentliche Sprache erscheint mir diejenige, in der das Wort und das Ding zusammenfallen« (Preetorius 10).

Das ist das eigentliche Problem: dass die Sprache, die wir heute sprechen, oft nicht mehr die Dinge zur Wirklichkeit werden lässt, sondern irgendetwas über die Dinge sagt, ohne dass die Dinge zur Sprache kommen. Wenn ich im Zug fahre und aufmerksam den Gesprächen folge, die um mich herum geführt werden, dann erschrecke ich manchmal über die Banalität der Sprache. Es werden viele Worte gemacht. Aber es wird nicht wirklich etwas ausgesagt. Die Welt bringt sich in diesen Worten nicht zur Sprache.

Manchmal fällt mir natürlich auch die Unfähigkeit auf, ganze Sätze zu sprechen. Da werden nur Satzfetzen hin und her geworfen. Aber es ist kein Gespräch. Es entsteht keine Gemeinschaft des Sprechens. Die Sprache verbindet nicht, sondern verweist nur auf die Vereinsamung und das Unbehaustsein der Menschen. Die Menschen sind nicht mehr in der Sprache zu Hause.

Oft höre ich auch Menschenverachtung heraus, wenn über andere geredet wird. Ausländer, die gut Deutsch gelernt haben, tun sich schwer, dieser Sprache zu folgen. Es ist nicht die Sprache, die sie gelernt haben. Es ist nicht die Sprache deutscher Dichter und Denker, sondern eine banale Sprache. Die Sprache verrät uns. Sie verrät die Banalisierung unseres Denkens.

Dolf Sternberger hat die Sprache des Dritten Reiches untersucht und dort das Verräterische der Sprache entdeckt. Im Dritten Reich häuften sich »Be-Worte« wie: befehlen, behandeln, bestimmen, beherrschen, bekämpfen, befallen, beaufsichtigen, bedauern, behaupten, beschimpfen. Die Vorsilbe »be-« drückt oft einen Zugriff oder einen Eingriff aus und hat etwas Gewalttätiges und Autoritäres an sich.

Allerdings hat »be-« manchmal auch eine positive Bedeutung wie in: begeistern, besänftigen, beleuchten, bekleiden. Dann drückt es die Zuwendung einer Fähigkeit aus. Aber im Dritten Reich wurden die aggressiveren Formen der Be-Worte bevorzugt. Dolf Sternberger musste bei der Neuherausgabe seines Buches »Aus dem Wörterbuch eines Unmenschen« feststellen, dass sich die Sprache im Jahr 1960 kaum geändert hat und dass sich die Sprache des »Unmenschen« in den Behörden weiter verbreitet hat.

Ein slowenischer Priester, der während der kommunistischen Zeit in Deutschland gelebt und gearbeitet hat, stellte bei seiner Rückkehr nach Slowenien nach der Wende fest, dass die Kommunisten die Sprache verändert hatten. Er begegnet in seinem Land einer anderen Sprache als der, die gesprochen wurde, als er vor den Kommunisten nach Deutschland geflohen war. Die Leute im Land haben es gar nicht gemerkt, aber unmerklich hat sich die menschenverachtende Philosophie der Kommunisten immer mehr in der Sprache widergespiegelt.

Bei einem Besuch in der Ukraine durfte ich vor der Stadtverwaltung von Lemberg (Lviv) einen Vortrag über »Führen mit Werten« halten. Da ging ich auch auf die Sprache ein. Beim Gespräch mit einem Verantwortlichen in der Verwaltung erzählte mir dieser dann, dass er sich darum bemühe, die Sprache seiner Angestellten zu verändern. Denn in der kommunistischen Zeit behandelten die Angestellten einer Behörde die Bittsteller immer als Eindringlinge, die zurückgewiesen und zurechtgestutzt werden mussten. Die Feindseligkeit den Bittstellern gegenüber drückte sich in einer aggressiven und menschenverachtenden Sprache aus.

Es ist nicht so einfach, die Sprache einer Behörde zu verändern. Das geht nicht über Erlasse, dass bestimmte Worte nicht mehr benutzt werden dürften, sondern es braucht ein Bewusstwerden, was wir mit unserer Sprache in den Herzen der Menschen bewirken. Aber die Veränderung der Sprache einer Behörde schafft auch ein neues Klima in einer Stadt, in einem Land. Über die Sprache geschieht die Verwandlung eines Menschen. Indem wir lernen, anders zu sprechen, werden wir anders.

Natürlich kann dieses andere Sprechen nicht rein äußerlich eingeübt werden, es muss Ausdruck unseres anderen Denkens sein. Denken und Sprechen beeinflussen sich gegenseitig.

Ich möchte in diesem Buch auf das Phänomen von Sprache und Gespräch von verschiedenen Gesichtspunkten aus eingehen. Dabei habe ich nicht den Anspruch, die philosophischen und theologischen Geheimnisse der Sprache darzulegen. Ich möchte mehr beobachtend auf das Phänomen der Sprache eingehen, von der Bibel aus, aber auch von konkreten Beobachtungen bei der heutigen Sprache. Dabei gehe ich subjektiv vor. Ich greife das heraus, was mich persönlich interessiert, was mich innerlich bewegt – in der Hoffnung, dass dies auch die Leser und Leserinnen berührt. Dabei lasse ich mich von dem Gespräch anregen, das wir in einem kleinen Kreis geführt haben. Eine Lektorin, ein Pastoralreferent, ein Wirtschaftsmediator, ein Novizenmeister, ein Student, eine Buchhändlerin und Mitarbeiter des Verlages sprachen über das, was uns zur Sprache und zum Gespräch einfällt. Es entstand ein Gespräch, aus dem ich erfrischt herausging.

Bei Gerede werde ich müde, ein Gespräch erfrischt. So hoffe ich, dass auch Sie, liebe Leser und liebe Leserinnen, beim Lesen dieses Buches nicht müde werden, sondern erfrischt sind, weil sie mit dem eigenen Herzen und den eigenen Erfahrungen von Sprache und Gespräch in Berührung kommen.

Muttersprache – Vaterland

Es ist kein Zufall, dass die deutsche Sprache von der »Muttersprache« und vom »Vaterland« spricht. Mit dem Begriff des »Vaterlandes« assoziieren wir eher den Besitz. Der Vater besitzt das Land. Das Vaterland gehört uns. Es ist der Raum, den wir bewohnen, aber auch das Land, das wir bearbeiten, das uns die Früchte der Erde spendet. Das Vaterland verteidigt man gegen seine Feinde. Es ist ein Besitz, den man schützen und verteidigen muss.

Die Muttersprache muss man nicht verteidigen. Sie ist der Schoß, der uns Geborgenheit schenkt. Die Muttersprache kann uns kein Feind nehmen – höchstens wenn er sie verfälscht und wir es gar nicht bemerken. Die Muttersprache bedarf der Pflege und der Achtsamkeit. Und es braucht eine Beziehung zur Muttersprache, damit ich aus dem mütterlichen Brunnen meiner Sprache trinken kann.

So wie die Mutter für das Kind da ist, so ist in der Mutter immer schon die Muttersprache da: »Und das Kind wächst in sie hinein; es eignet sich die Muttersprache an. Das Kind ist spielend mit der Aneignung der Sprache beschäftigt. Spielend ahmt es die Wörter und ihren Zusammenhang nach und ahmt damit zugleich vor, was es später sprechen wird. Es prägt in Gedächtnis und Erinnerung ein, was selbst schon ein Gedachtes und Erinnertes ist. Denn die Sprache, das Wort, das wir sprechen, ist ein Gedachtes und Erinnertes, das immer wiederkehrt« (Jünger 55).

Das Erlernen der Muttersprache ist für das Kind nicht etwas rein Äußerliches. Das Kind »wächst in das Verstehen der Sprachgemeinschaft hinein und beginnt sich darin selbst zu verstehen. Es findet die Sprache nicht nur als etwas Äußeres, Außer-ihm-Liegendes vor, es entfaltet in ihr sein eigenes inneres Leben, seine Lebendigkeit, die aus der Zugehörigkeit kommt« (Jünger 57). In der Muttersprache wächst das Kind heran und findet immer mehr zu sich und seiner Identität. Es versteht sich immer schon in seiner Sprache.

Die Sprache selbst hat etwas Mütterliches. Sie bewertet nicht, sondern sie bringt zur Sprache, was ist. Und die Sprache nährt. Sie lässt den Menschen wachsen. Sie schenkt ihm Geborgenheit und Heimat. Die Mutter spricht das Kind an. Die ersten Worte, die das Kind immer wieder hört, prägen das Gemüt eines Kindes. Dabei sind es nicht nur die Worte, die gesprochen werden, sondern die Art und Weise, wie sie ausgesprochen werden.

Doch die Muttersprache ist nicht nur die Sprache, die die Mutter zu uns gesprochen hat, sondern die Sprache selbst wird zur Mutter, die sich uns zuwendet, die uns tröstet, die uns ermutigt und die uns auf all das Schöne unseres Lebens hinweist.

Wenn Menschen in ihren Heimatort kommen, dann tönt ihnen sofort der eigenartige Klang entgegen, in dem man dort spricht. Das gilt für den Dialekt, aber auch für die ganze Sprachmelodie. Die neue Hochschätzung des Dialektes, die wir heute beobachten, entspricht dieser Sehnsucht nach der Sprache als Heimat. Im Dialekt kann man normalerweise keine theoretischen Diskussionen führen.

Dialekt ist Ansprache und Zusprache. Durch ihn fühle ich mich als Person angesprochen und es wird mir etwas zugesprochen. Es wird mir die Liebe zugesprochen, aber auch die Weisheit, die die Menschen dieses Ortes in ihrer Sprache verdichtet haben. Dialekt kommt von Dialog. Der Dialekt ist eine dialogische Sprache, eine Sprache, in der man miteinander ins Gespräch kommt.

Der Dialekt ist immer auch eine bildhafte Sprache. Und eine bildhafte Sprache drückt nur positive Sachverhalte aus. Sie kann einen Sachverhalt gar nicht verneinen. Das Nichteintreffen eines Ereignisses kann man gar nicht bildhaft darstellen (vgl. Watzlawick 56). Der Dialekt ist demnach eine bejahende Sprache, eine Sprache, die wie die Mutter das Leben hegt und pflegt und es nicht – wie manche Rationalisten – verneint und in Frage stellt. Die Muttersprache ist eine nährende Sprache, eine vertrauensvolle Sprache, die uns ins Leben einführt.

Über die Sprache als Heimat hat vor allem die jüdische Dichterin Hilde Domin geschrieben. Heimat ist für sie das Unverlierbare. Und das ist eben die Sprache: »Für mich ist die Sprache das Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hatte. Das letzte, unabnehmbare Zuhause. Nur das Aufhören der Person (der Gehirntod) kann sie mir wegnehmen. Also die deutsche Sprache. In den anderen Sprachen, die ich spreche, bin ich zu Gast. Gern und dankbar zu Gast. Die deutsche Sprache war der Halt, ihr verdanken wir, dass wir die Identität mit uns selbst bewahren konnten. Der Sprache wegen bin ich auch zurückgekommen« (Domin 14).

Der Zustand im Exil war für Hilde Domin »unheimlich«. Dort hatte sie zwar die Sprache als Heimat. Aber sie konnte sich in der Muttersprache nicht mit den Menschen in ihrem Exil verständigen. Sie musste eine andere Sprache lernen. Umgekehrt war es für sie aufregend, »wieder nachhause zu kommen. In das Land der Geburt, wo die Menschen deutsch reden« (Domin 14). Als sie von Heimat sprach, reagierten deutsche Schriftstellerkollegen mit Befremden. Doch Domin hält fest: »Wir leben ja in einer Krise der Zugehörigkeiten. Auch in einer Sprach- und Sprechkrise. Der Kommunikationskrise, der Identitätskrise. In der Nicht-Heimat« (Domin 16).

Wer sich seiner Sprache nicht bewusst ist, findet seine Identität nicht. Sprache ist ein wichtiger Ort der Identitätsfindung. Und die Sprache ist der Ort der Zugehörigkeit. Wenn ich die gleiche Sprache spreche, gehöre ich zu den Menschen, die mich hören und die ich höre.

Die äußere Heimat kann man einem Menschen rauben, die sprachliche Heimat nicht: »Die Sprache, in der ich die Welt gewissenhaft benenne, gewissenhaft mitteilbar mache (und auch so mitteile, dass ich gehört werde), die kann nicht wegnehmbar sein, sie ist die äußerste Zuflucht. Dieses Zuhause verteidige ich bis zu meinem letzten Atemzug. Wie früher ein Bauer seine Scholle. Ich kann gar nicht anders« (Domin 16). Es ist ein schönes Bild, das Hilde Domin hier für die Sprache gebraucht. Sie ist Zuflucht für den Menschen. Wenn ihm alles genommen wird, die Sprache kann ihm nicht genommen werden – erst im Tod. Selbst wenn er nach außen verstummt, hat er die innere Sprache, in der er sich mit seiner Seele unterhalten kann und in der er etwas von Heimat mitten in der Heimatlosigkeit erfahren kann.

Die Sprache ist für Hilde Domin die Aneignung der Welt durch Sprache. Ich höre nicht nur auf die Welt. Im Sprechen über die Welt wird mir die Welt zum Eigentum. Ich eigne sie mir an. Ich nehme sie in Besitz. Sie gehört mir. Die Sprache bringt mich in Beziehung zur Welt und zu den Menschen, die mir zuhören. In der Sprache finde ich Gehör. Indem ich meine Erfahrungen mit der Welt mitteile, werde ich von anderen gehört. Und so gehört die Welt dem Sprechenden und dem Hörenden.

Wir spüren es selbst, was uns die Muttersprache bedeutet, wenn wir in einem fremden Land auf einmal die vertrauten Laute unserer Muttersprache hören. Wenn uns ein Deutscher im Ausland anspricht, fühlen wir uns sofort zu Hause. Und wir merken gleich, aus welcher Region des deutschen Sprachraums er kommt. Seine Sprache verrät ihn. Und wenn wir nach einem langen Aufenthalt in der Fremde wieder nach Hause kommen, erleben wir die Muttersprache auch als Heimat – als etwas, was uns Geborgenheit schenkt, was uns nährt und was unsere Seele auch behütet und schützt – und als »äußerste Zuflucht«, wie Hilde Domin das ausdrückt.

Die Sprache im Lukasevangelium

Der Evangelist Lukas war in griechischer Philosophie und Rhetorik ausgebildet. Das merkt man seiner gebildeten und schönen Sprache an. Er gilt in der Tradition als Arzt und Maler. Beide Bilder sagen etwas über seine Sprache aus.

Lukas spricht eine heilende Sprache. Lukas moralisiert nicht, er stellt auch keine dogmatischen Thesen auf. Er erzählt. Erzählung war die erste Form der Therapie. Indem ich eine Erzählung lese oder höre, werde ich verwandelt, es kommt etwas in mir in Bewegung, es geschieht in mir ein Prozess der Umkehr, ohne dass ich dazu moralisierend gedrängt werde. In der Erzählung finde ich mich selbst wieder.

Mit dieser heilenden Wirkung der Sprache steht Lukas in der Tradition der griechischen Philosophen. Plutarch berichtet etwa von Antiphon, dem Heiler: »Während er sich noch mit Poetik befasste, erfand er eine Kunst der Befreiung von Schmerz, ähnlich wie für jene, die krank sind, eine ärztliche Behandlung besteht. In Korinth wurde ihm ein Haus neben der Agora zugewiesen, auf dem er ein Schild anbrachte, wonach er Kranke durch Worte heilen konnte« (zit. n. Watzlawick 12).

Lukas hat mit seinem Evangelium ein Buch geschrieben, das Menschen lesen können, die an inneren und äußeren Krankheiten leiden, um so die heilende und tröstende Kraft der Worte an sich selbst zu erfahren. Lukas schreibt so von Jesus, dass die Leser und Leserinnen seine Wirkung als Arzt und Heiland an sich spüren. Das ist eine meisterliche Fähigkeit. Lukas hat sie von Platon gelernt, der »als der Vater der Katharsis, also der Seelenläuterung und Überzeugung durch Sprache« (Watzlawick 13) gilt.

Und die Sprache des Lukas ist eine malende Sprache. Lukas malt im Schreiben seines Evangeliums ein Bild von Jesus. Und er malt so, dass die Leser durch sein Gemälde verwandelt werden.

Der Würzburger evangelische Theologe Klaas Huizing meint, bei einer Erzählung des Lukasevangeliums gehe es einem wie Rilke beim Anblick des archaischen Torsos Apollos: »Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.« In den Bildern, die Lukas in seinem Evangelium und in der Apostelgeschichte malt, sehen wir uns selbst. Und die Bilder schauen auf uns. Das verwandelt uns. Lukas moralisiert nicht und fordert mich nicht auf, mein Leben zu ändern. Aber indem er faszinierende Geschichten erzählt, geschieht Verwandlung und eine Veränderung meines Lebens und meiner Lebenseinstellung.

Diese Bilder, die Lukas malt, kann man immer wieder anschauen, um ihre verwandelnde Wirkung zu erfahren. Dabei setzt Lukas wie die Griechen auf die Schönheit. Für die Griechen ist alles, was ist, schön. Und die Sprache hat die Aufgabe, der Schönheit der Dinge gerecht zu werden und die Menschen durch die Schönheit mit ihrer eigenen inneren Schönheit – mit dem göttlichen Glanz in sich – in Berührung zu bringen.

Wenn der Mensch mit seiner ursprünglichen Schönheit in Berührung kommt, dann wird er heil und ganz, gut und schön. Das Schöne ist für Platon immer auch »das Rechte, Geziemende, Gute, dem Wesen Angemessene, das, worin es seine Integrität, seine Gesundheit, sein Heilsein besitzt.« Lukas hat seine Heilungsgeschichten auch so geschrieben, dass die Menschen in ihre ursprüngliche Schönheit hineingehoben werden. Durch seine schöne Sprache wird das, was Jesus an den Kranken tut, für den Leser erfahrbar. Der Leser kommt mit seiner eigenen Schönheit, mit seinem ursprünglichen Glanz in Berührung.

Und die Sprache des Lukas ist eine emotionale Sprache. Er benennt nicht die Gefühle, sondern er drückt mit seiner Sprache die Gefühle aus. Man spürt an seiner Sprache, dass er sich in die Menschen hineinfühlt, von denen er schreibt, und dass er sich mit seiner Sprache dem jeweiligen Geschehen anpasst. Zugleich spürt man, dass er die Menschen liebt und mit Respekt von ihnen erzählt. Auch das ist ein Wesen von guter Sprache.