Adolescentia Aeterna - Bettina Kiraly - E-Book

Adolescentia Aeterna E-Book

Bettina Kiraly

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Beschreibung

Die Themensuche für ihre Abschlussarbeit treibt die 28-jährige Eva noch in den Wahnsinn. Mit keiner Sekte ist ihr Professor einverstanden. Bei ihren Recherchen stößt die Wienerin jedoch plötzlich auf „Adolescentia Aeterna“, eine uralte Bruderschaft, deren Mitglieder angeblich Jahrhunderte alt sind. Ihre Faszination ist entfacht. Doch nur ein geheimnisvoller Fremder, kann ihr Informationen über die „Ewige Jugend“ liefern. Auch wenn sie weiß, dass sie sich vor ihm lieber in Acht nehmen sollte, zieht seine dunkle Seele sie an. Als er sie schließlich in die Geheimnisse der Bruderschaft einweiht, will sie ihm nicht glauben. Aber kann sie ihrem Schicksal wirklich entfliehen?

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Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Epilog

Endnoten

Stopp, geh noch nicht!

Bettina Kiraly
Adolescentia Aeterna
Die Entdeckung
Eisermann Verlag

Adolescentia Aeterna 1 – Die Entdeckung E-Book-Ausgabe  04/2019 Copyright ©2019 by Eisermann Verlag, Bremen Umschlaggestaltung: Britt Toth Satz: André Piotrowski Lektorat: Sarah Strehle Korrektur: André Piotrowski http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-96173-186-2

Prolog

Wien, Jänner 1991

Der weitläufige Raum war durchflutet von anrüchigem rotem Licht, das ein riesiger Kristalllüster spendete. Die glatte Oberfläche der antiken Mahagonischränke glänzte. Der Geruch nach Massageöl erfüllte die Luft genauso wie der Duft der zahlreichen, im Raum verteilten Kerzen.

Ein höchst erregtes Pärchen rekelte sich in einem Ohrensessel mit geschnitzten, goldüberzogenen Lehnen. Die beiden versuchten, sich mit einfallsreichen Zärtlichkeiten gegenseitig zu übertreffen. Während der Mann mit der Zunge die Kontur des Kinns der Frau nachfuhr, knetete die Hand der Frau den Hintern des Mannes durch die Anzughose.

»Lukas«, seufzte die Frau, als ihr Partner sanft zubiss. Sie kicherte, während er Brustwarzenklemmen hervorzog und provokant vor ihrem Gesicht baumeln ließ.

Keine fünf Schritte weiter rieben sich auf einem Diwan zwei Frauen gegenseitig mit einer klaren, glänzenden Flüssigkeit ein. Die Hand der blonden Frau strich über den nackten Oberkörper der braunhaarigen Schönheit und verweilte dann auf ihren Brüsten. Als ein Daumen vorwitzig über die Brustwarze strich, bog die Braunhaarige stöhnend den Rücken durch.

Zwei Männer beobachteten die Frauen von ihren Sesseln aus und unterhielten sich leise. Hinter ihnen tanzten zu leisen Jazzklängen einige Pärchen, die nichts am Leib trugen außer zarten Dessous.

Zwischen den verschlungenen, sich stimulierenden Paaren lief ein Mann umher, der das Treiben mit missbilligenden Blicken bedachte. »Eine Enttäuschung«, murmelte er. »Nichts, was ich nicht bereits viele Male gesehen hätte.« Die Düsternis, die seine Seele in Klammergriff hielt, verwandelte sich langsam in Dunkelheit. In absolute Schwärze.

»Der Abend ist noch jung, Bruder!«, meinte sein Begleiter. »Wenn wir die ersten Rituale durchgeführt haben, wirst du die Macht spüren.«

Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Es werden dennoch die alten Rituale sein.«

»Dann ist es an der Zeit, Grenzen zu überschreiten.«

Der Älteste blickte den anderen mit seinen nahezu schwarzen Augen an »Ich bin es müde, Manus. Man sollte meinen, ich wüsste dieses Leben zu schätzen. Aber tatsächlich bin ich des Ganzen überdrüssig.«

»Niemand verlangt, dass du die Freuden des Lebens jederzeit zu genießen weißt. Schließlich bist du der Älteste.«

»Deshalb ist es meine Pflicht, euch ein gutes Vorbild zu sein.«

»Du solltest dich zwei, drei Jahre zurückziehen. Danach fühlst du dich sicher wieder gestärkt.«

Er seufzte, fuhr sich durch das kurz geschnittene, schwarze Haar. »Zwei, drei Jahre werden nicht reichen«, flüsterte er. Dann schüttelte er den Kopf. »Verzeih, Bruder. Ich sollte dir mit meiner schlechten Laune nicht den Abend verderben.«

»Als deine rechte Hand werde ich gerne …«

Der Älteste hob abwehrend eine Hand. Dieser reizbare, nörgelnde Charakterzug war neu. Und darüber hinaus furchtbar blamabel. »Am besten vergessen wir dieses Gespräch. Ich komme schon darüber hinweg.«

»Du solltest deine Kräfte sammeln.«

»Das hat noch Zeit«, antwortete der Älteste hastig.

»Im letzten Jahrzehnt hast du dich für keine entschieden. Wir wissen nicht, welche Auswirkungen das auf dich haben kann.«

Der Älteste wusste, worauf Manus hinauswollte. Sein Körper dürstete nach der Einen. Auch er hatte das Gefühl, seine an Depression grenzende Niedergeschlagenheit könnte mit seiner Enthaltsamkeit zusammenhängen. Er befürchtete nur, er war bereits zu tief in das dunkle Loch gefallen, um allein einen Weg zurück ins Licht zu finden.

Bevor er diese unangenehme Wahrheit aussprechen konnte, erregte ein Aufruhr in der Nähe seine Aufmerksamkeit. Eine Frau schrie mit sich überschlagender Stimme um Hilfe.

Mit Manus an seiner Seite eilte der Älteste in Richtung der Schreie. Auf dem Ohrensessel hielt Lukas die Frau fest, während er in sie stieß. In Raserei und viel zu grob. Lukas’ Gesicht war verzerrt, leuchtete von einer überwältigenden Macht, die tief in seinem Inneren entsprang. Die Frau wand sich schreiend unter ihm.

»Er hat es noch immer nicht im Griff«, murmelte der Älteste. Er winkte Sebastianus und Claudius zu sich heran. »Bringt ihn weg.«

Die beiden Brüder zogen Lukas von der Frau. Aleksander, der ebenfalls neben sie getreten war, legte beschützend einen Arm um die weinende, zitternde Frau. Er sprach beruhigend auf sie ein, während er sie nach nebenan geleitete.

»Es war zu früh für ihn«, meinte der Älteste mit Bedauern in der Stimme. »Er war nicht bereit.«

Manus legte eine Hand auf seinen Arm. »Wir haben einen neuen Bruder gebraucht, nachdem Livius … uns verlassen hat. … Einundzwanzig Brüder … Wir hatten keine andere Wahl.«

Lukas’ Gesicht war immer noch von Leidenschaft verzerrt. Er stieß Verwünschungen aus, während Claudius und Sebastianus ihn an den Oberarmen gepackt hielten, damit er nicht zu der verängstigten Frau gelangen konnte.

»Ihm war nicht klar, worauf er sich einlässt.« Der Älteste schüttelte den Kopf. »Lukas hätte eine Wahl haben sollen.«

»Er würde sich immer wieder für dieses Leben entscheiden, Bruder. Trotz seines ungezügelten Wesens liebt er es. Oder vielleicht gerade deshalb. Weil er seine geheimen Wünsche hier ausleben kann.«

Der Älteste war sich all dieser Dinge bewusst. Dennoch bereute er seine Entscheidung, Lukas vor fünf Jahren als neuen Bruder aufzunehmen. Damit hatte der Älteste die Verantwortung für das Verhalten eines Mannes übernommen, das er nicht kontrollieren konnte.

Zuletzt waren ihm viele Fehler unterlaufen.

Ein Teil von ihm schämte sich seiner momentanen Schwäche. Seine Sehnsucht nach einem normalen Leben, die ihn so angreifbar machte. Die Schwärze seiner Seele war ein Produkt seiner Ausschweifungen. Sie war entstanden, weil es für ihn nichts Unerlaubtes, nichts Unmögliches, keine Zurückhaltung, keine Einschränkungen, keine Grenzen, aber auch keine Herausforderungen gab.

Im Augenblick fühlte all das sich nicht richtig an.

Es war notwendig, etwas zu ändern.

Es war an der Zeit, sich vorzubereiten.

Und dann wäre er endlich wieder der Alte.

1. Kapitel

Wien, Mai 2012

»Ich suche immer noch nach einem Thema, mit dem dieser Idiot einverstanden ist. Aber eher finde ich eine Albinoschildkröte auf der Kärntner Straße«, verkündete Eva.

»Was ist denn das Problem deines Professors?«, fragte Mimi mit einem Funkeln in den blauen Augen. »Ich dachte, man kann sich das Thema seiner Dissertation selbst aussuchen?«

»Die Professoren haben Mitspracherecht, damit es sich die Studierenden nicht zu leicht machen.«

Mimi schnaubte. »Du hast ja nicht vor, aus einem Sachbuch abzuschreiben. Du willst lediglich dieses schreckliche Soziologiestudium abschließen.«

»Professor Anson hat gemeint, er stelle hohe Erwartungen an mich.«

»Deswegen muss er dich aber nicht so quälen, dass du deine Freunde vernachlässigst.«

»Du übertreibst.«

»Vielleicht. Aber du wirkst total verkrampft. Du durchforschst schon seit Tagen das Internet, Bibliotheken und Fachliteratur. Du hast nicht einmal mehr Zeit für deinen Sport.«

Eva zuckte mit den Schultern. »Sag das nicht mir.«

»Eigentlich bist du an deiner Situation selbst schuld«, meinte Mimi. »Ich verstehe sowieso nicht, weshalb du dir das alles antust. Du hattest bereits einen Job und hast gutes Geld verdient.«

Ich will aber mehr, dachte Eva. Auf der Liste der Topverkäufer im Immobilienbüro einmal ganz oben stehen, statt nur die Verträge aufsetzen. Das ist mein Traum.

Eva seufzte und holte sich Milch für ihren Kaffee aus dem Kühlschrank. »Du weißt, meine Mutter hat sich immer gewünscht, dass ich etwas aus meinem Leben mache.«

»Deine Arbeit wurde in dem Immobilienbüro geschätzt. Nur weil deine Mutter glaubt, ein Studium sei überlebenswichtig … Nur weil sie vor zwei Jahren gestorben ist …« Mimi schüttelte den Kopf.

Dabei handelte es sich lediglich um einen Teil der Wahrheit. Evas Mutter hatte sie – geschwächt und ausgemergelt von der Chemotherapie und verwirrt von den Nebenwirkungen der Tabletten – auf ihr neues Ziel eingeschworen: Eva müsse an die Uni, um ihr Schicksal zu erfüllen, um mit dem erworbenen Wissen der Vorhersehung nachkommen zu können – was auch immer das bedeuten sollte. Und dann hatte sie noch etwas von einem Mann fantasiert, der ihre Bestimmung sei.

Doch das würde sie Mimi auf keinen Fall sagen. Ihre beste Freundin würde auf diese Aussagen mit Begeisterung anspringen und sich daran festkrallen wie eine heiratswillige Frau an den Arm eines reichen, gut aussehenden Junggesellen.

Manchmal stellte Eva sich die Frage, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn ihr Vater ihre Mutter nicht verlassen hätte. War ihre Trennung der Grund, weshalb er aus Evas Leben verschwunden war? Ihre Mutter hatte diese Vermutung niemals bestätigt.

Immer noch trieb sie der Wunsch ihrer Mutter an. Ohne deren drängende Bitte hätte Eva das Studium längst hingeschmissen. Und diese verdammte Dissertation würde sie auch noch fertigkriegen. Aufgeben so kurz vor dem Ziel kam nicht infrage.

»Meine Entscheidung steht fest. Du kannst dir die Mühe sparen«, beendete Eva das Thema.

»Aber du in dieser kleinen Wohnung? Du wolltest in eine größere umziehen.«

»Das war, bevor ich meine Stunden reduzieren musste. Ich hab vorher schon nicht viel verdient.« Ihr Blick wanderte von den abgenutzten Küchenfronten zu dem wackligen kleinen Tisch.

Ihre Freundin blieb hartnäckig. »Wir könnten immer noch gemeinsam eine WG in einer größeren Wohnung gründen«, schlug sie vor.

»Meine Wohnsituation hat im Augenblick keine Priorität. Wenn ich einen Doktortitel vorweisen kann und einen adäquaten Arbeitsplatz gefunden habe, suche ich mir einen riesigen Palast.« Eine WG war ohnehin keine gute Idee. Eva war davon überzeugt, dass sie – mit ihrer investigativ veranlagten Freundin in eine Wohnung gesperrt – diese irgendwann zum Teufel wünschen würde.

Nun war es an Mimi zu stöhnen. »Dann lass uns zu deinem eigentlichen Problem zurückkehren: Was sind die Anforderungen an dein Dissertationsthema?«

»Professor Anson will die Studie und Analyse einer Sekte. Sie muss nicht mehr existieren, aber sie soll alt sein, über Jahrzehnte hinweg bestanden haben … Allerdings ist er mit den allseits bekannten Sekten nicht einverstanden.«

»Gibt es überhaupt eine große Auswahl? Wie viele Sekten existieren in Österreich?«

Eva zuckte mit den Schultern. »Die Definition von ›Sekte‹ ist in Österreich sehr vage. Ob es sich bei einer Gruppierung um eine handelt, wird von Fall zu Fall beurteilt, um Pauschalisierungen zu vermeiden. Professor Anson kann also entscheiden, ob er eine von mir gefundene Gemeinschaft als Sekte bezeichnet und somit für meine Dissertation als geeignet einstuft.«

Mimi verdrehte die Augen. »Und was hast du jetzt vor?«

»Recherchieren«, grummelte Eva. »Als hätte ich es damit nicht bereits mehrere Male versucht! Bislang hat Anson jeden meiner Vorschläge abgelehnt. Nein, abgeschmettert! Zehn an der Zahl!«

Mimi tätschelte ihren Unterarm. »Du findest schon einen Ausweg.«

»Wenn ich wenigstens so strahlend blond wie du wäre, könnte ich ihn mit meinem Aussehen um den Finger wickeln.«

»Steht er denn auf blonde Frauen?«

Eva lachte trocken auf. »Ich scheine ihn jedenfalls nicht zu interessieren.«

»Dabei beneide ich dich um dein Haar, Eva. Es hat so einen wunderschönen rötlichen Schimmer.«

»Der ist nur bei gewissem Lichteinfall zu erkennen«, erklärte Eva und griff nach einer von Mimis Haarsträhnen. »Dein glattes Haar wirkt auf Männer viel anziehender.«

»Aber deine Locken sehen immer perfekt aus. Du musst sie nicht stundenlang mit dem Glätteisen bearbeiten, um den Effekt einer Frisur zu erzielen.«

Eva ließ sich auf das leicht zu durchschauende Spielchen ein. »Dafür besitzt du wunderschöne Haut. Ich liebe deine Sommersprossen, Mimi.«

»Und ich hasse sie. Du musst die Sonne nicht meiden.«

»Dafür habe ich andere Probleme. Egal wie lange ich mich bräunen lasse, meine Hautfarbe ändert sich niemals.«

»Vornehme Blässe, nennt man das«, schmetterte Mimi die Beschwerde ab. »Außerdem fällt mir noch einer deiner Vorzüge ein: Ich beneide dich um dein Hinterteil.«

Eva blickte hinter sich und zog die Nase kraus, während sie das Objekt ihrer Unterhaltung betrachtete. »Mein Po ist wirklich perfekt. Schön fest. Nicht zu klein und nicht zu groß.« Als sie aufblickte, bemerkte sie Mimis Grinsen.

Auch Eva lächelte. »Ein wahrer Prachtarsch!«, fügte sie hinzu. Dann brach sie gemeinsam mit Mimi in Gelächter aus.

»Dein armseliger Versuch hat gefruchtet: Du hast mich aufgemuntert«, gab Eva zu. »Was würde nur aus mir werden, wenn ich eine Freundin hätte, die so langweilig wäre wie ich selbst?«

»Ich bin auf der Suche nach Informationen über Sekten geringen Bekanntheitsgrades«, erklärte Eva eine Stunde später der jungen Frau hinter dem Bibliothekstresen.

Die Bibliothekarin, deren attraktives Äußeres nicht im Geringsten dem Klischee einer alten Jungfer entsprach, zog die Augenbrauen hoch. »Sie waren schon öfter hier, nicht wahr?«

»Leider habe ich nicht gefunden, was ich benötige.«

Die andere schien zu überlegen. »Ich habe Ihnen alle Informationen ausgehändigt.«

»Vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Die Sekte muss auch gar nicht aktiv sein.«

»Sie haben alle Namen von mir erhalten.« Die Bibliothekarin zuckte mit den Schultern.

»Bitte, ich bin wirklich verzweifelt auf der Suche nach einer … ausgefallenen Sekte.«

»Na ja, möglicherweise …«

»Möglicherweise?«, hakte Eva sofort nach.

Ihr Gegenüber biss sich auf die Lippe. »Es existierte angeblich eine Gruppe. Gegründet irgendwann vor dem fünfzehnten Jahrhundert. Ich weiß nicht, ob ich sie als Sekte bezeichnen würde … Mitglieder waren, soweit ich weiß, nur Männer … Es gab diese Verbindung mindestens ein paar Jahrhunderte.«

»Perfekt!«, rief Eva. »Das klingt genau nach dem richtigen Studienobjekt.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Studienobjekt? Sie wollten sich doch bloß über Sekten informieren.«

»Nein. Ich muss meine Dissertation zu diesem Thema verfassen.«

»Ich weiß nicht …«

Eva hatte den Eindruck, als würde die Bibliothekarin ihre Andeutungen bereuen. Warum war die Frau überhaupt so spät mit der Information herausgerückt? »Bitte!«

»Ich weiß nicht, ob Sie die Richtige sind.«

»Was genau meinen Sie damit?«

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Es gibt nicht viele Menschen, die über Ewige Jugend Bescheid wissen. Es fällt mir schwer zu entscheiden, ob Sie diese Information erhalten dürfen.«

Na, super. Ewige Jugend. Das klang nach einer Gruppe vergnügungssüchtiger Tattergreise. Und was sollte die Behauptung bedeuten, dass Eva das alles vielleicht nicht wissen durfte? Wollte die Bibliothekarin sie veräppeln? »Ich verspreche, ich werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen. Geben Sie mir einfach nur die Daten.«

»Es existiert ein Buch aus dem fünfzehnten Jahrhundert über Ewige Jugend sowie ein Anhang aus dem letzten Jahrhundert.« Die Augen der Bibliothekarin begannen zu glänzen, als würde sie sich an etwas Aufregendes erinnern. »Doch der Titel ist derzeit … hm … von einem Kunden ausgeliehen.«

Eva runzelte die Stirn. »Sie wissen nicht zufällig, wann dieser Kunde das Buch zurückgeben möchte?«, erkundigte sie sich ohne große Hoffnung.

»Um ehrlich zu sein … das Buch ist überfällig. Ich könnte … ja … ich könnte den Kunden anrufen und ihn auffordern, das Buch zurückzubringen.«

Täuschte Eva sich oder wirkte die junge Frau von dieser Vorstellung mehr als begeistert? »Das wäre großartig!«

»Das mache ich gerne für Sie. Geben Sie mir einfach Ihre Telefonnummer und ich melde mich bei Ihnen, sobald ich Näheres weiß.«

»Danke!« Eva konnte ihr Glück nicht fassen. »Vielen Dank. Dann komme ich vorbei, sobald das Buch da ist!«

2. Kapitel

»Komm her, Kleine«, forderte er die Brünette auf und unterdrückte einen genervten Tonfall. Die Frau wirkte von der Einrichtung seiner Wohnung und besonders von seinem riesigen, in Schwarz gehaltenen Himmelbett eingeschüchtert. Dabei hatte er sein Spielzeug noch gar nicht ausgepackt!

Die Brünette nahm mit unentschlossenem Gesichtsausdruck auf dem Bett Platz, auf dem er es sich bereits bequem gemacht hatte.

Wenn sie tatsächlich einen Rückzieher machen wollte, würde er sie nicht daran hindern. Wenn sie jedoch nur leise Zweifel hegte, dann würde er ihr diese nehmen.

»Hast du es dir anders überlegt?«, erkundigte er sich, die Stimme dunkel.

Als sie ihn ansah, änderte sich ihre Miene. Sie schien erwartungsvoll. »Nein, Gebieter«, verkündete sie.

»Dann lass mich nicht mehr warten.«

Langsam sank sie zurück, ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. »Ich mach so etwas eigentlich nicht oft … Mit fremden Männern mitgehen, meine ich.«

»Natürlich.« Es war ihm egal. Er fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen und konzentrierte sich auf die Macht. Dieses überwältigende, kraftvolle Gefühl, das von seinem Herzen ausging. Während er eine Verbindung zu der Macht herstellte, zapfte er sie an. Ein sanftes Pulsieren in Orange und Rot, das vor seinem inneren Auge entstand. Die Farben begannen sich zu drehen, weiteten sich aus, bis der Sog aus seinem Körper trat. Die Macht überzeugte sie wortlos.

»Ich bin keine Schlampe. Aber du …« Die Frau lächelte. »Du sprichst mich an.«

»Sehr schmeichelhaft, wirklich.« Er unterbrach den Augenkontakt. »Und jetzt lass uns Spaß haben.«

Sie presste ihren Mund auf seinen. Der Älteste schmeckte den Alkohol auf ihrer Zunge. Das Begehren schoss durch seinen Unterleib. Er benötigte keine ausufernde Stimulation, um mit einer Fremden zu schlafen. Seit Jahren phasenweise mit mehreren täglich. Obwohl es manchmal langweilig war und nur der Befriedigung der Bedürfnisse der Macht diente.

Sein Hemd hatte er bereits abgelegt. Jetzt setzte er sich auf, um seine Hose abzustreifen, und wandte ihr dabei seinen Rücken zu.

Er erkannte den Moment, an dem sie seine Tätowierung entdeckte, an dem Geräusch, mit dem sie die Luft einsog. Als ihre Fingerspitzen den Umriss des geschlechtslosen Wesens nachzeichneten, das aus dem in seine Haut gestochenen Meer aufstieg, zuckte er unwillkürlich zusammen. Er hatte sich für ein symbolisches Motiv bei seinem Körperschmuck entschieden. Der wiedergeborene Sünder entstieg dem Taufwasser, um sein Leben fortan einem neuen Zweck zu widmen.

»Wie … außergewöhnlich.«

»Es ist nicht schlimm, wenn du es als verstörend bezeichnest. Hauptsache, du hast deswegen keine Angst vor mir.«

»Die habe ich nicht«, versicherte sie.

Er nickte und ließ Hose und Socken auf den Boden fallen. Dann legte er sich an ihre Seite. »Du hast zu viel an, Kleine.«

Die Brünette kicherte und zog sich mit einer fließenden Bewegung das Kleid über den Kopf. Sie schüttelte ihre Mähne. »Besser?«

»Geht so«, meinte er und küsste sie. Sie begann ihn zu nerven. Dann knabberte er an ihrem Kinn, ließ seine Zähne zu ihrer Schulter wandern. Als er zubiss, stöhnte sie in einer Mischung aus Schmerz und Lust.

Ihre Reaktion berauschte ihn. Er ließ sich Zeit, genoss das erste Aufflammen, die erste Spirale der Macht, die sich von seinem Herzen aus in seinen ganzen Körper ausbreiten würde. Bald schon.

Er bemühte sich halbherzig, sie zum Höhepunkt zu bringen. Er war nicht gerade für seine Geduld im Bett bekannt. Doch es war wichtig, dass sie engagiert bei der Sache blieb.

Seine Finger nestelten am Verschluss ihres BHs. Er liebkoste die Haut darunter, leckte über ihre rechte Brustwarze, während er die linke umfasste. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte er an der rosigen Knospe.

»Du raubst mir den Verstand«, flüsterte sie.

»Wie sollst du mich nennen?« Um sie zu bestrafen, biss er sanft zu, ließ sie seine Kraft spüren.

»Gebieter«, kicherte sie.

Sein Biss wurde fester, bis ihr Stöhnen zu einem Wimmern wurde.

Es ging zu langsam.

Es reichte nicht.

»Mehr, mehr!«, brüllte das rasende Monster, das sein Herz zu zerreißen drohte. Wenn er es losließe, würde es ihn in einen Rausch versetzen. Er würde sich ähnlich rücksichtslos benehmen wie Lukas. Seine Fähigkeiten, die mit der Macht einhergingen, verringerten sich mit jedem Jahr. Er drohte die Kontrolle über seine Kräfte zu verlieren. Dass es ihm so schwerfiel, das Monster in Schach zu halten, zeigte deutlich, dass er sich vorbereiten musste.

Er griff nach ihrem Höschen und riss es entzwei. Die Frau schrie auf. Er zog einen Mundwinkel hoch und warf den Stoff zur Seite.

»Doch ängstlich?«, erkundigte er sich. Seine Hand verschwand zwischen ihren Schenkeln, sein Finger glitt in sie. Vermutlich schockierte er sie. Na, wenn schon! Sie war bereit.

Auf der Kommode neben dem Bett wartete eine Packung Kondome. Er nahm eines zur Hand und streifte es sich über. Seine Brüder und er mussten sich schützen. Besonders in der heutigen Zeit.

»Ich habe geahnt, dass sich hinter deiner kühlen Fassade ungezähmte Leidenschaft verbirgt. Heute Nacht bist du mein Gebieter«, flüsterte sie.

Aber nur, weil sie hoffte, etwas von ihm zu erhalten!

Mit einem Knurren drehte er sie auf den Rücken und legte sich auf sie. »Dann lass mich dich besitzen.« Vielleicht würde das das Monster besänftigen.

Ihre Hand auf der Stelle über seinem Herzen stoppte ihn.

»Was noch?«, stieß er hervor.

»Du … du hast mir etwas versprochen.«

Seine Augen wurden zu Schlitzen. Jetzt schon reagierte sie ungeduldig? Die jungen Mädchen von heute ließen sich von der Aussicht auf ein Abenteuer viel zu leicht verführen. Seufzend rollte er sich von ihr und öffnete eine Lade der Kommode.

Der Älteste ließ die Phiole im Licht des Kristalllüsters funkeln. Oben und unten war das kleine Behältnis von einem zarten Gespinst aus Silberfäden eingefasst. Das doppelte, ineinander verschlungene A schimmerte vor der bernsteinfarbenen Flüssigkeit im Inneren.

Ihre Finger wollten nach dem Behältnis greifen, doch er hielt es außerhalb ihrer Reichweite. »Nur ein Tropfen«, stellte er klar.

Unter ihrem begierigen Blick öffnete er die Phiole, steckte eine Pipette in die Flüssigkeit und gab einen Tropfen des kostbaren Inhalts in ein Glas Weißwein. Augenblicklich veränderte sich die goldgelbe Farbe zu einem dunklen Braun. Ein wirbelnder Nebel entstand und füllte das Glas bis zum Rand.

»Trink langsam«, befahl er, als er die Gier in ihren Augen bemerkte.

Die Brünette nahm das Glas entgegen. »Und das lässt mich tatsächlich jünger erscheinen?«

»Vorübergehend.«

Trotz seiner Aufforderung stürzte sie den Wein hastig hinunter. Sie stellte das Glas beiseite und betastete dann sofort ihr Gesicht, als erwarte sie, bereits eine Veränderung zu spüren. Wie naiv!

»Jetzt komm wieder her«, verlangte er. Er griff nach ihr, krallte seine Hand in das Haar in ihrem Nacken, um sie näher zu ziehen. Während er seinen Mund auf ihren presste, drückte er sie auf die Matratze zurück.

Genug geduldet. Er teilte ihre Schenkel und zwängte sich dazwischen. Als er sich in sie schob, warf er den Kopf in den Nacken. Seine Stöße brachten sie zum Stöhnen. Um möglichst tief in ihren heißen Schoß eindringen zu können, packte er sie an den Hüften und hob sie hoch. Verzweifelt ersehnte er das Erwachen der Macht. Weshalb ließ es so lange auf sich warten?

Seine wilde Leidenschaft schien der Frau zu gefallen, denn sie gab kleine, anfeuernde Laute von sich. Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie wirkte entrückt, als hätte sie in ihre persönliche Version des Himmels geblickt. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihre Haut erstrahlte. Die Flüssigkeit aus der Phiole zeigte ihre Wirkung.

Der Älteste verfluchte das Timing. Es wäre besser gewesen, wenn der Zauber erst nach ihrem Höhepunkt gewirkt hätte.

Überwältigt von dem unerwartet einsetzenden Rausch bog sie ihren Rücken durch. Beinahe wäre er abgeworfen worden. Ein Wimmern löste sich von ihren Lippen. In immer kürzeren Abständen. Lauter werdend. Bis sie einen nicht endenden Schrei von sich gab.

Der Älteste sah sich außerstande, von ihr zu lassen. Er wartete immer noch auf das Einsetzen der Macht. Vielleicht, nachdem er gekommen war. In der nächsten Sekunde. Gleich. Sofort. Nur noch …

Er stieß weiter in sie. »Mehr!«, rief das Monster, bis er mit einem Aufstöhnen kam.

Endlich fühlte auch er die Hitze der Macht in seinem Inneren. Er schloss die Augen. Einen Moment lang war er unaufmerksam, gefangen in seinem Höhepunkt und dem Glühen der Macht.

Die Brünette schrie auf und wand sich hin und her. Ihr Körper kam mit dem Rausch der Macht nicht zurecht. Die Kraft tobte zweifelsohne wie ein Tornado in ihrem Inneren, sodass die Frau von krampfartigen Zuckungen gepeinigt wurde. Sie versetzte ihm einen Stoß. Beinahe wäre der Älteste aus dem Bett gefallen. Er verhinderte den Sturz, indem er sich in das Laken krallte.

Dann prallte er mit dem Kopf auf die Kommode. Ein dumpfes Geräusch. Schmerz explodierte hinter seiner Stirn. Fluchend griff er nach der schmerzenden Stelle und fühlte Blut an seiner Hand.

Das würde eine hässliche Narbe hinterlassen. Kinder auf Drogen brachten nur Probleme.

»Ich brauche deine Hilfe, Manus.« Der Älteste blickte seufzend von den neunzehn Brüdern zu seinem Freund. Es handelte sich um einen normalen samstäglichen Spätnachmittag im Privatsalon. Sie plauderten und tauschten sich aus, bevor sie sich wieder trennen und ihren unterschiedlichen Abendaktivitäten nachgehen würden.

»Was immer du benötigst, Bruder«, verkündete Manus. Sein dunkelbrauner Pferdeschwanz wippte, als er neben dem Ältesten auf dem Sofa Platz nahm.

Der Älteste trommelte mit den Fingern auf die Lehne. »Es ist wieder einmal so weit.«

»Schon?«

Als der Älteste ungeduldig die Augen zusammenkniff, rutschte Manus ein Stück von ihm weg und fragte: »Verzeih … Wir sprechen doch von der Einen?«

»Ja, von der Einen dieses Jahrzehnts.« Der Älteste beobachtete seine Brüder. Diese ahnungslosen Wesen, die von ihm abhängig waren und jetzt noch unbeschwert miteinander lachten, tranken und rauchten.

»Es ist nur … das letzte Mal ist nur drei Jahre her«, bemerkte Manus.

»Die Vorbereitung wird mehr Zeit in Anspruch nehmen. Die jungen Frauen … sie reichen nicht mehr. Die enthaltsame Zeit während des Umwerbens der Einen wird anstrengend. Zuvor brauche ich mehr von der Macht. … Ich benötige von Mal zu Mal mehr.«

»Du hast deine Position inzwischen schon sehr lange inne.«

»Das ist es nicht. Nicht allein … Bald wirst du meine Rolle übernehmen müssen.«

Manus schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun. Ich will diese Bürde nicht.«

»Du kennst die Regeln.«

»Ich werde es nicht tun, wenn es für dich so … endgültige Folgen hat.«

Der Älteste lächelte bedauernd. »Mach dir deswegen keine Gedanken, Bruder. Es wird nicht mehr lange dauern, bis andere es von dir fordern werden.«

»Weshalb?«

Er musste es gestehen. Er musste es aussprechen. »Ich fühle nichts mehr.«

»Nichts?« Manus’ Stimme war das Entsetzen anzuhören.

»Nicht nichts … nur zu wenig.«

Die Unterhaltung lockte einen weiteren Zuhörer an. Damian, der dritte in der Reihe der einundzwanzig Brüder, trat zu ihnen. »Diese Entwicklung ist beunruhigend.«

»Mir ist bewusst, dass meine Verantwortung für euch …«

»Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet«, unterbrach Damian. »Du hast nicht nur Manus das Leben gerettet, als Antonius an diesem einen schicksalhaften Abend die Kontrolle verloren hat. Hättest du damals nicht die Führung von Adolescentia Aeterna übernommen, wären die meisten von uns nicht mehr hier. Wenn wir helfen können, werden wir es also tun.«

Er nickte mit Erleichterung im Herzen, als ihm klar wurde, dass sie die Schuld nicht bei ihm suchten. Er selbst befürchtete, sein Blut wäre langsam verwässert. Mit jedem Blutaustausch unbrauchbarer geworden. In den Aufzeichnungen waren Probleme wie die seinen nicht notiert.

Als er sich erhob und ruhig in die Runde blickte, kamen die anderen Brüder nach und nach zu der kleinen Gruppe hinzu. Er sah jedem der zwanzig in die Augen. »Früher oder später kann ich nicht mehr verhindern, dass es zu Ende geht. Manus …«

Der Genannte schüttelte neuerlich den Kopf. »Niemals! Ich werde niemals versuchen, dich zu ersetzen.«

»Dann soll es so sein. Wir werden die Bruderschaft weiterführen wie bisher.« Doch die Konsequenzen waren absehbar. Einer von ihnen würde ihn verraten, sobald sich die ersten Anzeichen bemerkbar machten. Egal welchen Schwur sie nun leisteten, ein Judas würde ihn verraten. »Es steht euch jederzeit frei, euch anderswo ein neues Leben aufzubauen.«

»Wir werden dich nicht verlassen«, verkündete Elias, der fast ebenso lange den Weg mit ihm beschritt wie Manus. »Egal was passiert. Ich spreche für uns alle: Wir sind eine Familie und bleiben es bis zu unserem Ende.«

»Ich danke euch.« Der Älteste seufzte. »Lasst uns alles tun, damit ich mich vorbereiten kann. Es wird nicht leicht werden.«

»Ein Fest«, murmelte Damian. »Schaffen wir etwas Unvergessliches.«

Manus lachte. »Natürlich. Wir bringen so viele zu dir, wie du brauchst. Du musst dich nicht mehr mit der Jagd aufhalten.«

»Wirklich schade! Dabei spiele ich so gerne.« Der Älteste lächelte.

Und ganz würde er sich dieses Vergnügen auch nicht nehmen lassen.

3. Kapitel

Wien, Juni 2012

Mimi schlängelte sich durch die Menschentraube, die sich vor dem Bartresen gebildet hatte. Sie hielt zwei Gläser hoch über den Kopf, um nichts zu verschütten. Mit einem breiten Grinsen stellte sie die Getränke vor Eva auf den Stehtisch.

»Danke!«, schrie Eva. Der Geräuschpegel in der dunklen, nur von Lichtblitzen erhellten Tanzbar ließ ein Gespräch in normaler Lautstärke nicht zu.

»Den Club gibt es schon seit Jahren, aber seit Enrico Quasselini das Lokal für seine Geburtstagsfeier genutzt hat, geben sich die Leute die Klinke in die Hand.«

Eva nickte nur. Von der Decke über die Wände bis hin zur Einrichtung war alles in Schwarz gehalten. Und dann noch dieser Name: AA Dark Passion.

AA! Ein Rechtschreibfehler bei der Firmengründung oder ein Zeichen, dass jemand zwanghaft kreativ sein wollte? Den Laden hatte Mimi ausgesucht, er entsprach genau ihrem Stil. Evas eher nicht.

Mimi hatte sich in einen Minirock und High Heels gezwängt. Gott sei Dank hatte Eva sich für ein für ihre Begriffe gewagtes Kleid entschieden. Der Stoff umschmeichelte ihren Körper vorteilhaft, und der Saum des Rockteils endete sogar eine Handbreit über dem Knie. Sonst hätte sie sich an der Seite ihrer Freundin wie Aschenputtel vor dem Besuch der Fee gefühlt.

»Ich bin froh, dass du uns heute Abend begleitet hast«, erklärte Mimi.

»Wo ist Ellen eigentlich abgeblieben?«

Mimi grinste und deutete auf eine Stelle in der Nähe des Bartresens. »Sie hat eine neue Freundin gefunden.«

Evas Blick folgte dem Fingerzeig der anderen, und sie entdeckte Ellens roten Wuschelkopf. Anscheinend flirtete sie in ihrem sexy Fummel heftig mit einer attraktiven Fremden. Eva verdrehte die Augen. Die Dritte im Kreise der Freundinnen stand in ihrem Eroberungsverhalten Mimis Jagd auf weibliche Beute in nichts nach. Zumindest war Mimi ebenso umtriebig gewesen wie Ellen, bevor sie Sascha kennengelernt hatte.

»Kommt Marianne noch?«, erkundigte Eva sich.

»Sie hat sich gewunden und wieder mal die Großmutter-Karte gezogen. Als wenn wir nicht wüssten, dass sie ihrer Oma nicht das Händchen halten muss. Die alte Dame ist rüstig genug, um einen Halbmarathon zu laufen.«

Jetzt wandte sich Ellens Rotschopf zu ihnen um. Die Mädels winkten sich lächelnd zu. Dann widmete Ellen sich wieder der fremden Frau.

Mimi seufzte. »Ziemlich cooler Laden, oder?.«

»Wenn es nur nicht so laut wäre!«, meinte Eva, nachdem sie einen Schluck von ihrem Drink genommen hatte. »Sollten wir nicht lieber woandershin gehen?«

»Ich will aber tanzen! Also versuch dich zu amüsieren«, bat ihre Freundin.

»Eigentlich sollte ich am Schreibtisch sitzen. Ich hab noch so viel zu recherchieren.«

Mimi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das kannst du auch noch morgen. Samstagabend soll man nicht grübelnd daheim sitzen. Lass uns Spaß haben.«

Vermutlich hatte Mimi recht. Eva gönnte sich viel zu selten Ablenkung. Sie sollte das Leben genießen, bevor es an ihr vorbeigerauscht war. Also lächelte sie. »Lass uns austrinken, und dann geht es ab auf die Tanzfläche!«

Ein Anlass für Mimi, die Caipirinha in einem Zug hinunterzustürzen. »Ich bin startklar!«

Eva genoss es, ihren Körper im Rhythmus des dumpfen Basses herumzuwirbeln. Sie schloss die Augen und horchte auf die Vibrationen, die ihr Herz zum Schwingen brachten. Nicht ganz so gut wie Sport, aber sie konnte dennoch ein paar Kalorien abtrainieren.

Erst viel später suchte Eva sich mit Mimi neuerlich einen Stehplatz in der Nähe der Theke.

»Was gibt es Neues an der Dissertationsfront?«

»Gute Nachrichten«, antwortete Eva und berichtete dann von dem Gespräch mit der Bibliothekarin am Tag zuvor. »Übermorgen kann ich das Buch abholen. Ich hoffe, Professor Anson lässt sich auf das Thema ein.«

»Weiß er schon davon?«

Eva nickte und räusperte sich. Ihr Hals kratzte, weil sie so laut sprechen musste. »Er hat positiv reagiert auf das wenige, was ich ihm mitteilen konnte.«

»Hast du schon versucht, online etwas über diese Bruderschaft herauszufinden?«

Wieder nickte sie. »Allerdings ist die Suchanfrage ›Ewige Jugend‹ und ›Verbindung‹ viel zu ergiebig. Mit dem zusätzlichen Stichwort ›Sekte‹ war ich auch nicht erfolgreich.«

Genau genommen hatte sie bei der ersten Suche ungefähr 516 000 Ergebnisse und bei der zweiten über 37 200 Ergebnisse erhalten. Sie war jedoch auf eine Sekte gestoßen, die der Meinung war, Außerirdische hätten das menschliche Leben geschaffen. Da sich unter den Mitgliedern der Sekte auch Frauen befanden, handelte es sich wahrscheinlich nicht um ihre Sekte. Trotzdem hatte sie beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Strange.«

»Stimmt. Und dann noch Ewige Jugend! Ich sollte dankbar sein, vielleicht eine passende Sekte gefunden zu haben. Aber wenn ich das schon höre! Ich denke ständig an alte Tattergreise, die sich mit jungen Mädels umgeben, um sich irgendwie jung zu fühlen. Das Hugh-Heffner-Syndrom.«

Ihre Freundin grinste anzüglich. »Ein knackiges Motto wie das deiner Bruderschaft lockt vermutlich zahlungskräftiges Frischfleisch an.«

»Klar, damit sie ihre Botox-Partys feiern können.«

Mimis Augen begannen zu leuchten. »Wenn du einen Kontakt herstellen könntest … Vielleicht findest du in den Unterlagen geheime Rituale, die noch funktionieren. Ich meine, wenn wir mal älter aussehen, als wir uns fühlen …«

»Kommt nicht infrage!«, rief Eva. »Wir altern in Würde. Es gibt nichts Schlimmeres als diese sechzigjährigen Frauen, die mit hochgetackerter Stirnpartie Treppen runterstolpern, weil sie ihre Brille nicht tragen wollen.«

»Ich brauche meine Brille nur zum Lesen!«

Eva lachte. »Das habe ich damit nicht gemeint.«

»Du wolltest sticheln, gib es zu«, maulte Mimi.

»Mimi! Selbst wenn du hundert Jahre alt werden solltest, siehst du noch besser aus als der Durchschnitt.«

Ihre Freundin wirkte besänftigt. »Trotzdem kann es nicht schaden, wenn wir uns ein paar Gedanken machen, wie wir im Notfall unser Aussehen pimpen können.«

»Ich fürchte mich nicht vor Stützstrumpfhosen und Haushaltskitteln, wenn ich Enkelkinder auf dem Schoß sitzen habe.«

»Dann mach dich lieber auf die Suche nach deinem Mister Right, bevor die linke Seite deines Bettes so angestaubt ist wie deine Ansichten.«

»Ich habe noch jede Menge Zeit«, meinte Eva.

»Du könntest trotzdem mal einem Mann eine Chance geben.« Mimi sah sich aufmerksam um. »Gibt es hier niemanden, der dir gefällt?«

Mit einem tiefen Seufzen folgte Eva dem Blick ihrer Freundin. Der Großteil der Männer gehörten zur Sorte lässiger Fußwipper und zeigte wenig Bewegungsfreude. Die epileptisch zappelnden Männer auf der kleinen, schwarzen Tanzfläche brachten sie höchstens zum Lachen. »Ich glaube, da ist nichts für mich dabei. Außerdem starren die meisten Kerle dich an.«

Wie um diese Einschätzung zu bekräftigen, trat plötzlich ein Mann mit einer geschmeidigen Bewegung neben Mimi. »Hallo! Ich habe Ihre Freundin und Sie noch nie hier gesehen.«

Eva seufzte. Der plumpste Anmachspruch von allen. Seltsam, dass der Kerl sie ganz altmodisch mit Sie ansprach. Eva hätte ihn auf Anfang 30 geschätzt. Kein Alter, in dem man in dieser Umgebung auf Förmlichkeiten Wert legte.

Obwohl er eigentlich dem falschen Geschlecht angehörte, klimperte Mimi mit den Augen. Eva seufzte neuerlich. »Mimi ist in festen Händen«, kürzte sie ab. »Tut mir leid.«

Das breite Grinsen des Fremden irritierte sie. Sie würdigte ihn eines genaueren Blickes. Der Mann war attraktiv. Wirklich attraktiv. Und verwirrend.

Alles an ihm war schwarz: seine Haare, seine Augen, seine Kleidung und seltsamerweise auch seine Ausstrahlung. Er passte in die dunkle Umgebung.

»Was denn?«, fragte sie ihn.

»Wenn ich Interesse an einem netten, unbedeutenden Plausch mit Ihrer Freundin hätte, wäre mein Herz gebrochen. Aber da ich aus einem anderen Grund an Ihren Tisch gekommen bin, enttäuscht mich Ihre Kühle doch etwas.«

»Tut mir leid, ich verstehe nicht …«

»Sie waren mein Ziel. Ich wollte SIE zu einem Drink einladen.«

Eva blieb der Mund offen stehen. Sehr undamenhaft. Hastig schloss sie ihn wieder. »Dann hätten Sie nicht Mimi ansprechen sollen.«

Sein Lächeln war so anziehend, dass es ihr Herz aus dem Takt brachte. »Ein grober Patzer, da haben Sie wohl recht. Ich denke außerdem, dass Sie eine nettere Art der Vorstellung verdient haben.«

Sie starrte in diese schwarzen Augen, die nichts über seine Gedanken preisgaben. »Weshalb sagen Sie so etwas?«

Wieder ein geheimnisvolles, umwerfendes Lächeln. »Ich habe Sie durchschaut.«

»Wie kommen Sie auf diese Idee?« Ihr Magen flatterte, obwohl sein Verhalten sie verärgerte. Er ließ sie anscheinend gerne zappeln.

»Ich habe Sie beobachtet.«

Wenn sie ihn noch länger ansah, würde ihr Gehirn schmelzen. Mitsamt ihren guten Vorsätzen, sich von Männern, die ihrem Herzen gefährlich werden konnten, fernzuhalten. »Das klingt beängstigend.«

»Ich bin kein Stalker. Als Besitzer dieses Lokals gehört es zu meinen Aufgaben, für die Zufriedenheit der Gäste zu sorgen.«

Clubbesitzer. Alleine diese Information hätte ihn für Eva weniger anziehend machen sollen. Aber das geschah nicht. »Sie scheinen sympathisch und nicht auf den Mund gefallen. Weshalb versprühen Sie Ihren Charme nicht an einem anderen Tisch?«

»Diese Möglichkeit hat plötzlich ihren Reiz verloren«, erwiderte er.

Verflucht! Sie wollte ihm glauben. Während sie sich unterhielten, hatte sie den Eindruck, die Geräusche ringsum würden leiser. Seine Stimme hypnotisierte sie. »Was kann ich tun, um Ihnen die Entscheidung für eine andere Frau leichter zu machen?«

»Nichts«, gestand er. »Geben Sie mir die Gelegenheit, mehr über Sie zu erfahren. Während ich das versuche, können Sie mich so oft beleidigen, wie Sie wollen.«

Eva runzelte die Stirn. Mit jeder Sekunde, die sie mit ihm sprach, schien es in dem Raum wärmer zu werden.

»Geben Sie sich einen Ruck«, bat er. »Sie gehen kein Risiko ein. Schließlich sind Sie doch ohnehin der Meinung, dass ich Sie langweilig finden werde.«

»Ich bin NICHT langweilig«, widersprach sie automatisch.

Neben sich hörte sie ein Kichern. Mimi. Eva hatte ihre Freundin ganz vergessen. Die Verräterin fiel ihr in den Rücken.

»Es würde mich beruhigen, wenn Sie auf meine Freundin aufpassen könnten«, flötete Mimi. »Ich muss kurz weg und will nicht, dass sie sich langweilt.«

»Diesen Gefallen tue ich Ihnen gerne«, antwortete der Mann, der für Eva ein Rätsel darstellte, ohne den Blick von Eva abzuwenden. »Das Wohlergehen Ihrer Freundin hat für mich oberste Priorität.«

»Mimi!«, empörte sich Eva. Doch statt Eva auf dem Schlachtfeld beizustehen, vergnügte Mimi sich Sekunden später mit zwei fremden Männern auf der Tanzfläche.

Der Mann neben Eva gab jemandem ein Zeichen.

Sie vermied es, ihre Augen zu seinem Gesicht zu heben. »Man sollte dieser Frau nicht vertrauen«, stellte sie fest.

»Das sagen viele auch über mich.«

Nun blickte sie doch hoch. Ein Fehler. Sie entdeckte Glut in seinen Augen und fragte sich, wie es wohl wäre, sich daran zu wärmen. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, woran das liegen könnte«, murmelte sie.

Zwei Gläser wurden von einem Kellner auf dem Stehtisch abgestellt. Bei einem der Drinks handelte es sich um Malibu Orange, dem Getränk, das Eva zuvor gewählt hatte.

»An Ihrer Art, sich vorhin beim Tanzen zu bewegen, erkennt man, dass Sie eine leidenschaftliche Frau sind«, meinte er. »Sie scheinen sich gerne körperlich zu betätigen.«

Das war ja wohl unverschämt direkt. Aber sie ließ sich von ihm nicht provozieren. »Als sportlich würde ich mich definitiv bezeichnen.«

Er lachte. »Und wie sieht es mit Ihrer Abenteuerlust aus? Ich könnte Ihnen mein ganz persönliches Wien bei Nacht zeigen.«

»Danke für das Angebot, aber nein, danke.«

»Sie haben doch keine Angst vor Gefahr?«

»Zu Ihrer Information: Das war wieder ein plumper Anmachspruch. Und zu Ihrer Frage: Ich bin kein Drückeberger, aber ich bin auch nicht gerade auf der Suche nach Risiko. Sie hingegen …«

»Ja?« Er hob eine Augenbraue.

Auch wenn sein Gesicht nichts von seinen Gedanken verriet, spürte sie, dass etwas in seinem Inneren aufbrach. Ein machtvolles Vibrieren ging von ihm aus, das er zu Beginn eingeschlossen gehalten hatte. Als würde er versuchen, sie zu hypnotisieren.

Sie wusste, was er hören wollte. Sie ahnte, worauf diese Konversation hinauslaufen würde. Und sie sprach dennoch weiter. »Sie wirken, als wüssten Sie das Leben mit all seinen Ausschweifungen zu genießen.«

»An meiner Seite könnten Sie einige dieser Annehmlichkeiten kennenlernen.«

Enttäuscht runzelte sie die Stirn. Sie hasste Männer, die plump und direkt auf die Jagd gingen. »Danke für dieses überaus freundliche Angebot, aber Abenteuer haben keinen Vorrang in meinem Leben.«

»Wenn ich durch Ihre wunderschönen Augen in Ihre tiefgründige Seele blicke, dann lese ich darin etwas anderes. Ich sehe die Sehnsucht nach einem Rausch von Gefühlen.«

Alles, wonach sie sich im Augenblick sehnte, war es, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Wie hatte es passieren können, dass ihr dieser Fremde innerhalb von fünf Minuten unter die Haut kroch und in ihr Gehirn vordrang?

Eine kleine Narbe oberhalb seiner rechten Augenbraue lenkte sie kurzzeitig ab. Sie unterstrich sein gefährliches Aussehen. Seine Augen fixierten sie mit einer Intensität, die beinahe unangenehm war. Als wollte er sie mit einem Zauber belegen.

Ihr trockener Mund versuchte eine Antwort zu formulieren. Nicht leicht bei einem leer gefegten Kopf. »Sie täuschen sich mit Ihrer Einschätzung. Ärgern Sie sich nicht. Vermutlich spiegelt sich der Glanz der Lichter in meinen Pupillen.«

»Machen Sie sich ruhig etwas vor«, verkündete er mit einem Lächeln, verführerisch und samtig wie Seide. »Ich habe Sie durchschaut.«

Seine Lippen wirkten weich und einladend. Wahrscheinlich konnte er gut küssen. Nein, es handelte sich bei ihm sicher um einen ausgezeichneten Küsser. Die Frauen prügelten sich vermutlich darum, ihm beim Üben helfen zu dürfen. »Unmöglich!«

»Ich sehe Ihr wundervolles Haar im Schein eines Kaminfeuers glänzen. Der Mund …« Er beugte sich näher. Trotz des Lärms rundherum senkte er die Stimme. »… der Mund Ihres Geliebten, der Ihren liebkost, bis Sie vergessen zu atmen …«

Sie stolperte zurück. »Es handelt sich eindeutig um einen Lesefehler.« Die Bilder, die seine lebhafte Schilderung in ihrer Fantasie wachriefen, waren verführerischer als eine Tasse heiße Schokolade nach einem langen Spaziergang im Schnee. Wie konnte er es wagen?!

»Dann Sie und Ihr Angebeteter bei einem romantischen Frühstück am Strand, während im Hintergrund die Sonne aufgeht …«

»Wieder falsch! Eindeutig nicht Ihr Tag!«

Sein Lächeln gefror. Er wirkte überrascht. »Das tut mir leid. Ich muss wohl meine Fremdsprachenkenntnisse aufpolieren«, meinte er dann. Eine neue Art von Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ihr Körper spricht eindeutig keine Sprache, die ich bisher gehört habe. Ich entschuldige mich bei Ihnen für meine Unverfrorenheit. Vielleicht entspringt die Sehnsucht in Ihren Augen einer anderen Ursache.«

»So wird es sein.«

»Ich musste es trotzdem versuchen. Lassen Sie mich noch einen Anlauf nehmen?«

Sie sollte Nein sagen. Sie sollte möglichst viel Abstand zwischen sich und diesen geheimnisvollen, anziehenden Mann bringen. Sie sollte ihn sofort wieder vergessen.

Stattdessen nickte sie.

»Dann verraten Sie mir als nächsten Schritt, wie Sie heißen«, bat er.

»Keine Namen.«

»Wie soll ich Sie dann nennen?«

Sie stellte fest, dass er genervt klang. Gut. »Heute Abend sind Sie Adam und ich Eva.«

»Die ersten Liebenden auf dieser Erde. Eine schöne Idee.«

Die Eva jetzt bereute. »Bilden Sie sich nichts darauf ein!«

»Wie könnte ich, nach all der Ablehnung, die mir von Ihnen entgegenschlägt?«

»Ich fürchte, diese Art von Wortgefecht wird mir zu anstrengend. Mein Sarkasmusmuskel ist nicht gut trainiert.«

»Wie schön zu hören. Dann können wir uns endlich ohne Maske kennenlernen.«

Sie runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie darauf, ich würde darauf noch Wert legen?«

»Die Amazone ist zurück«, sagte er lachend. »Das ging schnell.«

»Verzeihung. Sie … Ihre Überlegenheit … Ihr Selbstbewusstsein … das ist neu für mich.«

»Sind die Männer, die Sie sonst ansprechen, so wenig souverän?«

»An der Uni gibt es keine Männer wie Sie.«

Er wirkte interessiert. »Sie studieren?«

»Man sieht es mir nicht an der Nasenspitze an, ich weiß.«

»Das wollte ich damit …«

Sie unterbrach ihn. Ausreden fand sie anstrengend. »Noch dazu habe ich ein Fach belegt, das es mir leichter machen sollte, mit Menschen wie Ihnen zu reden. Zumindest war das die Absicht meiner Mutter.« Halt! Sie verriet zu viel.

»Was studieren Sie?«

»Soziologie. Witzig, nicht wahr?«

»Ich wüsste nicht, was daran amüsant sein sollte«, meinte er.

»Hören Sie. Sie scheinen nett zu sein. Direkt, aber nett. Ich bin allerdings nicht die Richtige für einen Mann wie Sie.« Er war sicherlich nicht auf der Suche nach einer Beziehung.

»Was genau verstehen Sie unter ›Männern wie mir‹?«, erkundigte er sich und klang verärgert.

»Attraktive, selbstbewusste Männer, die sich ihrer Wirkung bewusst sind«, gestand sie. Sie musste ihm deutlich machen, dass seine Versuche zwecklos waren. »Ich hingegen bin unscheinbar …«

»Blödsinn!«

Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. »Erlauben Sie mal! Sie wissen nichts über mich.«

»Ich weiß genug. Sie wurden verletzt. Deshalb halten Sie jeden auf Abstand, der Ihre Welt ins Wanken geraten lassen könnte. Sie haben eine viel zu schlechte Meinung von sich und verstecken sich hinter Ihrer Freundin …«

»Sie haben kein Recht, sich ein Urteil über mich zu erlauben!«, schrie sie. Seine Analyse war lächerlich und allgemeingültig wie diese oberflächlichen Wochenhoroskope. Ihr wurde bewusst, dass es sich um die seltsamste Unterhaltung handelte, die sie jemals geführt hatte. Und das noch dazu in einem mit Menschen überfüllten Raum.

»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, behauptete er, und auch wenn es für sie entschuldigend klang, hielt sie ihn mit ihrer Hand auf Abstand.

»Das Ganze ist die Aufregung nicht wert«, sagte Eva. »Sie waren auf der Suche nach einem netten, kleinen Abenteuer, das ich Ihnen nicht bieten werde. Ende der Geschichte.«

»Was sagt Ihnen, dass ich einer DIESER Männer bin?«

»Nun …« Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. »Das ist doch offensichtlich.«

»Für wen? Für eine Frau, die Angst vor Abenteuer und Leidenschaft hat?«

»Nein, ich …«

»Sie sind feige, meine liebe Eva … Eva! Der Name passt nicht zu Ihnen. Eva hat gewagt, von verbotenen Früchten zu kosten.« Eine Strähne seines schwarzen, kinnlangen Haares schob sich vor sein rechtes Auge, und seine Wangen röteten sich. Das Blitzen seiner Augen strafte den regungslosen Gesichtsausdruck Lüge. Weshalb regte ihn dieses Thema nur so auf?

»Sind Sie Adrenalinjunkie?«, fragte sie ihn. »Sind Sie enttäuscht, dass ich Ihre Sucht nach ›verbotenen Früchten‹ nicht teile?«

»Wie bitte?«

Jetzt hatte sie ihn verärgert. »SIE haben doch von Abenteuern gefaselt.«

»Ich sprach in erster Linie von Leidenschaft. Vom Reiz, den es ausübt, einmal die Vorsicht fahren zu lassen …«

Eva lachte. »Und das soll ich bei einem Wildfremden riskieren?«

Seine Wut schien zu verrauchen. »Vielleicht ist es dafür heute Abend zu früh.«

»Dann sind wir endlich einmal einer Meinung.«

»Mein unorthodoxes Vorgehen hat dennoch gefruchtet. Die Verführungsmasche, die Provokation … ich habe dadurch einige Dinge über Sie erfahren.«

Ihr wurde klar, dass das stimmte. Gegen ihren Willen hatte sie ihm Dinge verraten, die sie einer neuen Bekanntschaft niemals mitgeteilt hätte. »Sie haben mich hereingelegt?« Oder wollte er sie bloß von seinem Versagen beim Flirten ablenken? Egal. »Eins zu null für Sie.«

»Könnten Sie es riskieren, den Schutzwall um Ihr Herz für mich ein wenig herunterzulassen?«

Sie überlegte, ihm diese Chance einzuräumen. Sie überlegte wirklich. Aber trotzdem … Männer wie er – auch wenn er diesen Ausdruck offensichtlich hasste – ließen sich nicht ernsthaft auf eine Beziehung ein. Nicht wenn sie dank ihres Aussehens so viele Frauen haben konnten, wie sie wollten.

Der Fremde hob seine Hand zu ihrem Gesicht. Eva zuckte erschrocken zurück. Als er reglos abwartete, entspannte sie sich. Seine Fingerspitzen strichen über ihre Wange. Die Berührung verursachte ein warmes Prickeln. Irritiert von so viel Nähe, griff sie nach seiner Hand, um sie wegzuschieben. Seltsamerweise war sie nicht mehr in der Lage, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, als sie in seine Augen sah.

Schweigend standen sie sich gegenüber. Ihre Hand lag an seiner. Evas Augen versanken in der bodenlosen Tiefe seines Blicks. Ihr Brustkorb wurde schmerzhaft zusammengedrückt, bis sie mit einem zittrigen Laut nach Luft schnappte. Eva war unendlich froh über die Lautstärke und das flackernde Licht in dem Lokal, die ihre Reaktion hoffentlich verbargen.

»Nein.« Mit übermenschlicher Kraftanstrengung schaffte sie es, die Berührung zu unterbrechen. »Nein, das Risiko ist zu groß. Tut mir leid.« Gott, wie leid es ihr tat, dass der Mut sie verließ.

»Doch zu feige? Schade.« Er lächelte. »Vermutlich hätte ich mich nicht mit Ihnen streiten sollen.«

»Für einen geübten Verführer schlagen Sie sich furchtbar schlecht.«

»Dem muss ich leider zustimmen«, gab er zu. »Üblicherweise habe ich meine Emotionen besser im Griff. Vielleicht, wenn Sie mir noch einmal eine Chance …«

Sie schüttelte den Kopf. Noch einmal? »Ich bin nicht die Richtige.«

»Ob das zutrifft, kann ich selbst beurteilen. Alles, was Sie interessieren müsste, ist die Frage, ob ICH der Richtige für SIE sein könnte.«

Sein attraktives Äußeres, das sie ansprach; die Dunkelheit seiner Seele, die sie magisch anzog; seine Schlagfertigkeit, die ihre Lebendigkeit weckte; sein ruhiges Selbstbewusstsein, das einen starken Reiz auf sie ausübte …

Ihre Augen wurden riesengroß. »Führen Sie mich nicht in Versuchung.«

Mit einer raschen Bewegung wandte sie sich um und schlängelte sich an den umstehenden Menschen vorbei. Ihr Blick suchte Mimi oder Ellen in der Menge, doch sie konnte ihre Freundinnen nicht entdecken. Um zu verhindern, dass sie umdrehte und nun ihrerseits den Unbekannten um eine zweite Chance anflehte, ging sie vor die Tür.

Durch die kühle Luft im Freien kehrte die Klarheit in ihre Gedanken zurück.

Was war nur mit ihr los? In der Nähe des Mannes hatte sich ihr das Gefühl aufgedrängt, dass sie etwas verbinden könnte, dass sie ihm ähnlich war. Und das fand sie fast so absurd wie die Sehnsucht, sich auf ihn einzulassen.

Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und tippte mit dem rechten Fuß auf den Boden. Wieso hatte sie zugelassen, dass die Unterhaltung mit ihm ihr so nahe ging? Weshalb hatten seine Anschuldigungen sie nicht kaltgelassen?

In ihrer Handtasche kramte sie schließlich nach ihrem Handy und tippte eine SMS. Sie würde nicht riskieren, ihm noch einmal entgegenzutreten.

Ein paar Minuten später trat Mimi zu ihr. »Wo ist dein Verehrer?«

»Hat sich längst wieder mit all seinen Verführungskünsten in die Hölle zurückgezogen.«

»Was ist passiert?«

»Das erzähle ich dir auf dem Nachhauseweg.«

Mimi runzelte die Stirn. »Müssen wir los? Wegen dem Kerl? Warum angelst du ihn dir nicht? Er schien perfekt!«

»Möglicherweise für eine andere Frau. Ich weiß nicht, was ein gut aussehender Mann wie er von mir wollen sollte.«

»Aber du warst ganz angetan! Mir für meinen Teil hat er nicht gefallen. Dieses breite, kantige Kinn! Die viel zu hohen Wangenknochen! Der verkniffene Mund!«

»Das stimmt nicht. Er ist unglaublich attraktiv!«

»Hab ich dich ertappt!« Mimi lachte. »Obwohl ich tatsächlich der Meinung bin, dass er zu düster aussieht.«

»Mein Herz hat schneller geklopft«, gab Eva widerwillig zu und unterdrückte ein Seufzen. »Aber glaubst du, so ein Mann würde eine ernsthafte Beziehung eingehen? Glaubst du, er würde warten, bis ich bereit wäre, mich auf ihn einzulassen, wenn ihn ständig Frauen anhimmeln?«

»Du könntest diesbezüglich über deinen Schatten springen.«

Eva schüttelte den Kopf. »Höchstens bei jemandem, bei dem ich nicht vor lauter Minderwertigkeitskomplexen im Boden versinke. Er ist zu hübsch für mich. Ein Mann wie er bedeutet nur Probleme, verstehst du?«

Mimi legte einen Arm auf ihre Schulter. Eva erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass ihre Freundin ihr wirr klingendes Argument nachvollziehen konnte. »Hoffentlich hast du wenigstens nach dem Namen des Dunklen Lords gefragt, falls du deine Meinung ändern solltest«, überlegte Mimi.

»Ich weiß nicht, wie der Dunkle Lord in Wirklichkeit heißt. Aber das macht nichts.«

»Und du willst tatsächlich schon nach Hause?«, fragte Mimi.

Eva nickte. »Wir müssen nur noch auf Ellen warten.«

»Die ist beschäftigt. Vor morgen früh können wir sie von ihrer neuen Flamme nicht loseisen.«

Eva seufzte. »Dann also nur wir zwei. Ich verspreche, dass ich es nächstes Wochenende wiedergutmachen werde.«

»In Ordnung. Ich verzeihe dir.« Mimi winkte ein Taxi herbei.

4. Kapitel