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Eine neue Liebe kann der alleinerziehende Witwer Tobias momentan absolut nicht gebrauchen – einen guten Freund dagegen schon. Als er Adrian kennenlernt, den extrovertierten Sänger der Band Crazysofar!, spürt er sofort, dass zwischen ihnen etwas Besonderes ist. Blöd nur, dass Adrian ununterbrochen mit ihm flirtet. Tobias steht schließlich nur auf Frauen – oder? Nach einem Kuss hadert er mit seinen Gefühlen. Ein Mann an seiner Seite? Viel zu kompliziert. Aber kann man sich auf Dauer etwas verbieten, nach dem das Herz sich so sehr sehnt?
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Seitenzahl: 305
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Bettina Kiraly
© dead soft verlag,
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© the author
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Cover: Irene Repp
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Bildrechte
© g-stockstudio – shutterstock.com
© Nasgul – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-023-2
ISBN 978-3-96089-024-9 (epub)
Eine neue Liebe kann der alleinerziehende Witwer Tobias momentan absolut nicht gebrauchen – einen guten Freund dagegen schon.
Als er Adrian kennenlernt, den extrovertierten Sänger der BandCrazysofar!, spürt er sofort, dass zwischen ihnen etwas Besonderes ist. Blöd nur, dass Adrian ununterbrochen mit ihm flirtet. Tobias steht schließlich nur auf Frauen – oder?
Nach einem Kuss hadert er mit seinen Gefühlen. Ein Mann an seiner Seite? Viel zu kompliziert. Aber kann man sich auf Dauer etwas verbieten, nach dem das Herz sich so sehr sehnt?
Für meine Mädels!
Immer nur für euch!
Wien, 16. April 2016
Samstag
„Wenn du solche Sachen für mich anziehen würdest, Tobias, käme ich aus dem Sabbern nicht mehr heraus“, hat Annabell gesagt, als wir – damals, vor einer Ewigkeit und einem Tag – in einem Schaufenster die Puppe mit den engen Jeans, dem schmal geschnittenen Shirt und der Lederjacke entdeckt haben. „Ich liebe deinen muskulösen Körper. Also zeig ihn mir ruhig öfter.“
Bei dieser Erinnerung brennt mein Herz. Ich hätte ihr diesen Gefallen tun sollen. Ich hätte die Kleidung sofort kaufen sollen. Ich hätte viele Dinge tun sollen.
Ein ähnliches Outfit trage ich jetzt. Im verschmierten Spiegel über dem Waschbecken erkenne ich mich selbst nicht wieder. Während des Händewaschens betrachte ich mit gerunzelter Stirn meinen Bart, der deutlich über den Dreitagebart hinausgewachsen ist. Mit den Fingern fahre ich durch mein Haar, das mir plötzlich zu lang scheint. Ich habe seit Wochen vor, zum Friseur zu gehen, es aber noch nicht geschafft. Wer soll mir abkaufen, dass ich für Abende wie diese nicht zu alt bin?
Ein Blind Date in einer Bar, in die ich sonst nie gehen würde! Wessen Idee ist dieser Blödsinn noch einmal gewesen? Barbara will mich verkuppeln. Um jeden Preis. Aber eigentlich bin ich zufrieden mit meinem Leben, so wie es ist. Einsam, traurig und ablenkungsfrei.
Vielleicht beende ich das Treffen einfach.
Beim Abtrocknen meiner Hände fällt mein Blick auf meinen Ehering. Ava hat den Ring vorhin nicht kommentiert, obwohl sie kurz zusammengezuckt ist, als sie ihn bemerkt hat. Vermutlich ist es ein Zeichen, dass ich vergessen habe, ihn abzulegen. Ich drehe ihn an meinem Finger. Eine Welle der Dunkelheit schlägt über mir zusammen. Während mein Blickfeld verschwimmt, wird die Luft aus meinen Lungen gepresst. Schwindel erfasst mich, als die Traurigkeit Besitz von meinem Herzen ergreift.
Die Trauer ist mir wohlbekannt, und dennoch vereinnahmt sie mich immer wieder gänzlich. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und schließe die Augen. Annabells Gesicht taucht in meiner Erinnerung auf. Sie lächelt mich an, streckt ihre Hand nach mir aus. Doch ich kann sie nicht erreichen. Nie mehr. Ich lasse sie gehen. Jeden Tag aufs Neue. Der Schmerz ebbt irgendwann ab, und ich bin bereit, mich der Realität zu stellen.
Langsam ziehe ich den Ring ab und stecke ihn in meine Hosentasche. Es ist an der Zeit. Ich bin zu lange schon kein Ehemann mehr.
Auf dem Weg zur Tür weiche ich einem angetrunkenen Burschen aus. Ist er nicht zu jung für Alkohol? Eine Gruppe von Gästen betritt lachend die Toilettenanlage. Einer von ihnen bemerkt mich zu spät und rempelt mich an.
Sein eisgrauer Blick trifft mich. Die hochgegelten langen, an den Spitzen blondierten Haare betonen das Strahlen seiner Augen. „Sorry, Kumpel“, meint er und geht weiter.
Wie ich ihn für seine Jugend und sein Selbstbewusstsein beneide! Mit meinen dreiunddreißig Jahren sind meine wilden Zeiten lange vorbei. Und mir wäre auch nie in meinem Leben in den Sinn gekommen, mit einem Irokesenschnitt durch die Gegend zu laufen. Im Augenblick wünschte ich, ich besäße genauso viel Mut.
Plötzlich kommt er zurück. „Alles okay bei dir?“
Habe ich meine Gedanken laut ausgesprochen? Habe ich einen Fehler gemacht? Rasch nicke ich.
„Bist du sicher? Du wirkst nicht, als ginge es dir gut. Vielleicht solltest du an die frische Luft.“
„Danke, aber ich habe mich nur daran erinnert … Ich war lediglich kurz … Vergiss es. Schönen Abend noch.“ Ich zwinge mich zu einem Lächeln und lasse ihn stehen.
Als ich mich dem kleinen Tisch nähere, an dem meine Verabredung wartet, spüre ich einen Knoten in meinem Magen. Eigentlich ist Ava ganz nett. Aber wir finden einfach keine Gemeinsamkeiten.
Ava scheint von ihrem Barhocker aus einem Kerl am Nebentisch zuzulächeln, während sie sich im Takt der Musik wiegt und an ihrem Strawberry Daiquiri nippt. Als sie mich entdeckt, verliert ihr Lächeln etwas von seiner Strahlkraft.
„Dir gefällt die Musik wohl“, bemerke ich und schiebe mich auf meinen Hocker. Ich muss beinahe schreien, damit sie mich versteht. Der Laden ist für ein Date nicht geeignet. Weshalb hat sie diesen Treffpunkt ausgesucht?
„In dieser Bar finde ich es einfach toll. Genau meine Musikrichtung. Willst du tanzen?“
Kopfschüttelnd greife ich nach meinem Glas mit Soda Zitrone. Alkoholische Mixgetränke sind nicht mein Ding. Wieder etwas, das wir nicht gemeinsam haben. „Ich bewege mich so gelenkig wie ein Eisbär. Das willst du dir nicht antun.“
„Schade.“
Kurz herrscht Stille. Ich hasse Small Talk. Das Klären des Privatlebens und der Familienverhältnisse haben wir hinter uns. Also was jetzt? „Hast du Hobbys?“, frage ich wenig originell.
„Leider lässt mein Berufsleben mir nicht viel Zeit für mich. Wie ich höre schreibst du Bücher.“
„Ich … ja …“
„Wie bitte?“ Ava lehnt sich vor.
„Ja, ich versuche es.“
Sie lächelt und wirkt interessiert. „Barbara meinte, du hättest bereits drei Romane fertiggestellt.“
„Nichts Großes. Die findest du in keiner Buchhandlung.“
„Weshalb nicht?“
Meine Wangen beginnen zu brennen. Es fällt mir immer noch schwer, über dieses Thema zu sprechen. „Verlage sind auf der Suche nach einfacheren Storys. Rockstars, die sich in ihre Groupies verlieben, schüchterne junge Frauen, die in den Armen von Bad Boys aufblühen … Nicht ganz meine Kragenweite.“
„Welche Art von Roman schreibst du dann? Kann ich etwas davon lesen?“
„Ich schreibe über alleinerziehende Männer und das Schicksal, das sie dazu gemacht hat.“
Sie schweigt. Ein irritierter Ausdruck schleicht sich in ihre Augen. Oh, dieses Thema bringt auch niemanden dazu, in Begeisterungsrufe auszubrechen.
„Wenn du eines deiner Bücher veröffentlichen solltest, schick es mir zu“, bittet Ava dann. „Ich würde gerne einen Bericht dazu schreiben. Es gibt bestimmt viele Leute, die mehr darüber erfahren möchten.“
„Ein Bericht? In deiner Kulturkolumne? … Wow! … Vielen Dank! Auf dieses Angebot werde ich bestimmt zurückkommen.“
Ihr Lächeln ist höflich. „An wie viele Verlage hast du dich bereits gewandt? Vielleicht war einfach nicht der richtige dabei.“
„Ich habe noch nichts abgeschickt. Mir schien das bislang immer zu privat. Das Schreiben ist eine Form von Therapie. Sollte mir jemand sagen, meine Geschichten wären nicht gut, würde das alles kaputtmachen. Vielleicht warte ich einfach auf die Inspiration zu einem Rockstarroman.“
„Verstehe. Wenn du ein paar Tipps brauchen kannst …“
Der Typ vom Nebentisch, mit dem sie zuvor ein Lächeln gewechselt hat, tritt neben uns und unterbricht sie. „Hallo. Ich habe mich gefragt, ob du einverstanden wärst, wenn ich mit deiner Freundin tanze“, meint er an mich gewandt.
Ganz schön direkt. „Wir sind nicht zusammen. Die Entscheidung muss Ava treffen.“
„Wäre es für dich in Ordnung?“, fragt sie. Die Aussicht, mit dem Kerl zu tanzen, lässt ihre Stimme begeisterter klingen als meine Gesellschaft.
„Klar.“ Ich nicke zur Bekräftigung.
„Danke dir. Nach dem Tanz unterhalten wir uns weiter.“
Daran glaube ich nicht, aber es macht mir nichts aus. Endlich würde ich ein Bier trinken und danach nach Hause fahren können. Meine Nächte sind ohnehin immer zu kurz.
Nachdem ich mir an der Bar ein Bier bestellt habe, beobachte ich vom Rand der Tanzfläche aus, wie Ava ihren attraktiven Körper zur Musik bewegt. Ihr Tanzpartner scheint mehr als angetan und kann nicht aufhören, sie immer wieder beiläufig zu berühren. Die beiden geben ein schönes Paar ab. Ich gönne ihnen den Spaß. Mit einem wie mir wäre Ava ohnehin nicht glücklich.
„Am Rand der Tanzfläche sitzengelassen worden?“, schreit neben mir jemand gegen den Lärm an.
Die raue Stimme gehört zu dem Mann, der mich auf der Toilette angerempelt hat. Er passt mit seinen schwarzen Skinnyjeans und dem weißen, extrem weiten Muskelshirt, das durch den großen Armausschnitt den Blick auf seinen schmalen, durchtrainierten Oberkörper freigibt, besser in diese Bar als ich.
„Wie mir scheint, bin ich da nicht alleine“, antworte ich und nehme einen Schluck aus der Bierflasche. Ich kann nicht aufhören, den Fremden anzustarren. Genau so stellen sich wohl die Verlage die Helden der Chick-Lit-Romane vor.
Eine Blondine steht plötzlich vor uns und küsst den Mann neben mir links und rechts auf die Wange. „Hallo Adrian!“ Sie winkt ihm beim Weitergehen zu. Mit einem Lächeln, das unheimlich verführerisch wirkt. Mit einem Blick, der so viel verspricht, dass sogar mein Körper darauf reagiert.
Der Fremde neben mir zwinkert ihr zu, bevor er sich wieder zu mir dreht. „Nicht ganz. Im Augenblick sehe ich einfach lieber dem Gewühl zu. Nein, falsch.“ Er lacht kurz auf. „Eigentlich sehe ich im Augenblick lieber dir zu.“
Blinzelnd versuche ich zu entscheiden, ob er das ernst meint. Noch niemals bin ich von einem Mann angebaggert worden. Wie kann ich ihm höflich vermitteln, dass ich nicht auf Kerle stehe?
„Entspann dich, Kumpel. Du solltest deinen Blick sehen!“ Er schüttelt lachend den Kopf.
Eine junge Frau in einem unglaublich engen Kleid zwinkert dem Fremden zu. Als er seine Augenbrauen hüpfen lässt, beginnt sie zu kichern.
„Ganz offensichtlich hättest du kein Problem, eine Tanzpartnerin zu finden“, stelle ich fest. „Warum schmeißt du dich nicht an eine deiner Bewunderinnen heran?“
„Ich spare meine Energie für später. Außerdem nehme ich lieber Männer mit nach Hause. Mein Name ist übrigens Adrian.“ Er streckt mir die Hand hin.
Während ich weiterhin meinen Blick nicht von ihm lassen kann, ergreife ich sie. „Tobias. Freut mich.“
„Tanzt du nicht gerne, oder ist das nicht deine Musikrichtung?“, erkundigt Adrian sich. Meine Hand liegt immer noch in seiner.
„Hauptsächlich ersteres.“
„Gefällt dir die Band, die gerade spielt?“
Ich sehe kurz zur Bühne. „Hab gar nicht richtig zugehört“, gestehe ich. „Die Jungs sind nicht schlecht, aber ich mag es lieber etwas sanfter.“ Ich entziehe mich seinem Griff.
Er steckt seine Hände in die Hosentaschen. „Schön zu hören.“
Der Kommentar irritiert mich. Genauso wie dieser Mann selbst.
„Hast du mit Musik zu tun, Tobias?“
Trocken lache ich auf. „Als Volksschullehrer, der zu oft Kinderlieder hört? Fürs Selbstspielen habe ich keine Zeit mehr.“
„Aber früher hast du selbst Musik gemacht?“, fragt er weiter.
„Hobbymäßig. Die Band, die ich in einem anderen Leben mit meinen Schulfreunden gegründet habe, war nie so gut wie die Gruppen, die hier auftreten.“
Sein Blick bleibt interessiert. „Welche Art von Musik habt ihr gemacht?“
„Wir wollten wie Nirvana klingen, haben uns aber immer nach Kirchenchor angehört.“
Als er grinst, muss ich mitlächeln. Er zwinkert mir zu. „Ich mag deinen Humor. Glaubst du, da gibt es noch mehr, was mir gefallen könnte?“
Verwirrt blinzle ich. Seine Direktheit überrumpelt mich ein ums andere Mal.
„Hallo, Adrian! Ich freu mich schon auf dich!“ Wieder wird er von einer attraktiven Frau geküsst. Sie muss schließlich von ihrem säuerlich dreinblickenden Begleiter weitergezogen werden.
„Bist du berühmt?“, frage ich.
Er grinst nur. „Magst du tanzen?“
„Und was ist mit der Energie, die du sparen wolltest?“
„Mit einem Mal habe ich zu viel davon. Komm schon.“ Seine Augen funkeln.
„Ich weiß nicht … Mit diesen Schuhen …“ Eine lahme Ausrede.
„Diese Schuhe sind tatsächlich ein Albtraum.“
Mit gerunzelter Stirn sehe ich nach unten. Die schwarzen Turnschuhe sind bequem, zum Tanzen aber ungeeignet und passen nicht zum Rest des Outfits. Ich hebe den Kopf. „Sorry.“
„Ist verziehen, wenn du mir sagst, warum du überhaupt hier bist, obwohl du dich so unwohl fühlst.“
„Ein Blind Date. Hat aber nicht funktioniert. Das hier bin nicht ich. Ich falle aus dem Rahmen. Aber das nächste Mal schaffe ich es vielleicht, mir vorher die richtigen Treter zu besorgen.“
„Wenn du magst, helfe ich dir dabei.“
Ich lache. „Ein großzügiges Angebot. Tatsächlich hasse ich das Gefühl, nicht dazuzugehören. Ich wär gern noch einmal so jung wie du. Noch einmal nicht das Gefühl haben, außen vor zu sein.“
„Alles Show. Würdest du gerne dazugehören?“
Ohne zu überlegen nicke ich. „Du kennst das sicher nicht. Allein sein in einer Menschenmenge.“ Was rede ich denn da? Hitze kriecht meinen Nacken hoch. Gott sei Dank werde ich ihn nach diesem Abend nie wiedersehen. Dank dieses gefühlsduseligen Gequatsches muss er mich für bedürftig nach Aufmerksamkeit halten. „Vergiss es.“
„Tut mir leid. Das werde ich nicht“, verspricht er. In seinem Blick liegt Verständnis. Und einen winzigen Augenblick lang wünsche ich mir, jemanden wie ihn als Freund zu haben. „Aber jetzt los“, unterbricht er meine Gedanken. „Kommt nicht in Frage, dass jemand anderes dich mir wegschnappt.“ Er greift nach meinem Handgelenk und zieht mich auf die Tanzfläche.
„Ich kann das nicht.“
Mit einem schiefen Grinsen legt er eine Hand hinter sein Ohr. „Wie? Die Musik ist zu laut. Ich kann dich nicht verstehen.“
Wir befinden uns mitten unter all den Menschen, die sich im Takt bewegen. Viele winken Adrian lächelnd zu. Jemand klopft auf seine Schulter. Mich hingegen beäugen sie wegen meiner Erstarrtheit amüsiert.
Die Band beendet den Song und spielt ein Cover von „Closer to the edge“ von Thirty seconds to mars an. Der Bass bringt meinen Brustkorb zum Vibrieren. Meine Schultern nehmen die Melodie auf.
Adrians Augen funkeln. „Besser?“
„Ich liebe Thirty seconds to mars“, gestehe ich.
Mein Tanzpartner nickt mir aufmunternd zu, dann lässt er meine Hand los. Ich lege mein Gewicht auf den linken Fuß, wechsle im Takt auf den rechten und komme mir schrecklich unbeholfen vor. Doch ich spüre, wie der Rhythmus Besitz von mir ergreift. Ein Gefühl von Freiheit lässt mich wagemutiger werden. Von den Leuten um mich herum sehe ich mir Bewegungen ab.
Beim Refrain beginne ich auf der Stelle zu springen. Adrian macht es mir nach, reißt wie ich die Hand in die Luft.
„NoNoNoNo!“, grölen beinahe alle Gäste der Bar. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Anscheinend bin ich doch noch in der Lage, mich zu amüsieren.
Ich muss sekundenlang die Augen schließen, als eine Erinnerung an Glück durch meinen Körper fließt. So losgelöst habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Tatsächlich genieße ich diesen Moment in vollen Zügen.
Beim nächsten Lied, das mir unbekannt ist, legt Adrian einen Arm um meine Schulter. Mich irritiert, mit jemandem zu tanzen, der so groß ist wie ich. Wir lächeln uns zu, bevor wir uns im Takt der Musik wiegen und den Jungs auf der Bühne zusehen. Irgendwann muss ich auch so jung gewesen sein, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Weshalb schnappt Adrian sich nicht eine der Frauen, die ihn anhimmeln? Oder von mir aus einen der gutaussehenden Kerle, die mir finstere Blicke zuwerfen? Was findet er an einem, der sich neben all den jungen Leuten noch älter fühlt, als er eigentlich ist? Ich wende ihm meinen Kopf zu.
Der Blick in seine Augen lässt meine Welt schrumpfen auf den Quadratmeter, auf dem wir uns bewegen. Mir wird schwindelig. Ich fühle mich berauscht von der Wärme hier drinnen, der lauten Musik, Adrians Nähe.
Als er sich zu mir beugt, senke ich meinen Blick zu Boden, wende ihm mein Ohr zu.
„Sorry. Ich muss los. Wir sehen uns.“
Bevor ich ihm sagen kann, dass wir noch nicht genug voneinander wissen, verschwindet er mit einem letzten Augenzwinkern zwischen den tanzenden Menschen.
Etwas verloren bleibe ich stehen. Weshalb schreit eine Stimme in meinem Kopf, ich solle ihm nachlaufen? Ich möchte mich noch einmal mit ihm unterhalten. Vielleicht könnten wir Freunde werden. Wir scheinen uns gut zu verstehen, und ich habe mich in der Gesellschaft von anderen Menschen schon lange nicht mehr so unbeschwert gefühlt. Aber außer seinem Vornamen weiß ich nichts von ihm.
Enttäuscht sehe ich mich nach Ava um. Die hat ihrem Tanzpartner die Arme um den Hals gelegt. Ihr ist offensichtlich nicht aufgefallen, dass ich ebenfalls getanzt habe. Ob ich einfach gehen soll? Niemand wird mich vermissen.
Meine gute Stimmung verabschiedet sich, als ich mein Bier leere und die Flasche an der Bar abstelle.
Vielleicht habe ich etwas falsch gemacht. Möglicherweise hat Adrian es nur amüsant gefunden, mich aus dem Konzept zu bringen. Unter Umständen sucht er sich jeden Abend einen Kerl, der in dieser Bar eigentlich nichts zu suchen hat, und macht sich auf seine Kosten lustig. Mein Ärger darüber, Adrians Telefonnummer nicht zu haben, würde ihn vermutlich zum Lachen bringen.
Ich bin auf dem Weg zur Tür, als die Stimme des nächsten Sängers das erste Mal erklingt. Ein Ton, hoch, rau, legt sich über den Rhythmus der Musik. Mit klopfendem Herzen bleibe ich stehen, als die Stimme einen geheimen Ort in meiner Seele berührt. Sie weckt eine Sehnsucht in mir, legt sich wie ein schwerer, heißer Knoten in meinen Magen. Meine Innereien verkrampfen sich in einem neuartigen Sehnen. Der Text lässt abwechselnd heiße und kalte Schauer über meinen Rücken laufen.
„Don’t run away from me. You can’t escape from my lights.“
Langsam drehe ich mich um.
Sekunden vorher ist das Highlight des Abends angekündigt worden, Crazy so far!, die Band, wegen der alle Anwesenden offenbar hergekommen sind. Nun steht Adrian auf der Bühne, seinen Mund direkt vor dem Mikrofon. Seine Augen – jetzt dunkel geschminkt – sind geschlossen, sein Gesicht konzentriert. Seine Worte klingen, als würde er direkt mit mir sprechen.
„I’m your dark blue destiny, your hope for thrilling days and nights.
Your wildest dreams will be fulfilled. I show you places you’ve never been.
And while you feel the shocking thrill, I pull you close and hold you firm.“
Es ist verrückt, diese Sätze wie eine persönliche Nachricht aufzufassen. Doch ich kann mich der Intensität der Stimme nicht entziehen. Die Dunkelheit, die Adrian hochbeschwört, findet ein Echo in meiner Seele. Kennt er diese Düsternis aus einer Beziehung? Hat er sie in einem privaten Verlust kennengelernt?
Ich schiebe mich näher zur Bühne. In diesem Augenblick sieht Adrian hoch. Sein Blick sucht die Menge ab. Als er mich entdeckt, hebt er einen seiner Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Anscheinend ist das vorhin kein Abschied gewesen.
Dann wird sein Gesicht wieder ernst. Er lässt sich in dieses Lied fallen. Und ich kann nicht anders, als ihm zu folgen.
„Flying over the mountains I see the black water, the rotten world,
fire fountains sputtering. You could be my warrior, my salvific sword.
I search for satisfaction. I pray for an innocent, eternal love.
You got my affection, feel my soul without saving grace.“
Die Bilder, die der Song in meinem Kopf malt, passen nicht zu dem frechen Mann, den ich vorhin kennengelernt habe. So ernst, so sorgenvoll. Meint er das wirklich so? Meine Atmung beruhigt sich erst, als die Sorge, er könnte sich tatsächlich für verdorben halten, nachlässt. Adrian mag seine Augen zwar mit dunklem Kajal betonen, doch er tanzt im Licht.
Bei einem lange gehaltenen, hohen Ton bricht die Menge in Kreischen aus. Adrian ist ein Star, dazu geboren, auf der Bühne zu stehen. Bei ihm handelt es sich um keinen Helden eines Chick-Lit-Romans. Er ist der Bad Boy aus einem Rockstarroman. Gegen meinen Willen beginne ich mir in Gedanken Notizen zu machen.
Viel zu schnell findet das Lied ein Ende. Schon jetzt bin ich sicher, jeden weiteren Song zu lieben. Und ich werde bis zum Ende des Konzerts bleiben, auch wenn ich das morgen Früh bereuen werde.
Adrian wendet sich zu seiner Band um und bespricht sich kurz mit den anderen. Danach greift er wieder zum Mikrofon. „Da wir heute im Publikum einen Fan von Thirty seconds to mars haben, singen wir extra für ihn ‚Hurricane‘.“
Das Publikum beginnt zu johlen. Auch mein Puls beschleunigt sich. Er singt für mich? Mit seinen Flirtversuchen meint er es offensichtlich ernst. Ich muss so bald wie möglich Klartext reden. Er verschwendet seine Zeit. Vielleicht verstehen wir uns gut. Vielleicht ist sogar eine Freundschaft möglich. Ich könnte zumindest einen Freund brauchen. Doch ich will keine falschen Hoffnungen in ihm wecken.
Der Gitarrist beginnt die einfache Melodie zu spielen. Beinahe vermisse ich die Vielzahl an Instrumenten, das Schlagzeug, das die typische dunkle Atmosphäre des Liedes ausmacht. Doch dann singt Adrian den ersten Ton. Durch das Mikrofon hallt seine Stimme, als er die erste Strophe beginnt.
Es bleibt weiterhin bei der Gitarrenbegleitung. Alles andere würde die Schönheit der Darbietung nur stören. Kurz vor Beginn des Refrains streckt Adrian seine Hand aus. Jemand reicht ihm eine Gitarre, und nun begleitet er sich selbst.
Offensichtlich ist Adrian nicht nur ein großartiger Sänger. Auch an der Gitarre zeigt er ein eindrucksvolles Talent. Er hätte verdient, berühmt zu sein, in allen Radios gespielt zu werden und auf allen Bühnen dieser Welt zu stehen. Weshalb ist er noch von keinem Label entdeckt worden?
„Do you really want me?“
Ein Hitzepfeil schießt durch meinen Magen. So etwas kann nur Musik mit einem Menschen anstellen. Und dazu Adrians Stimme, die direkt auf mein Herz abzielt.
Ob ich dieses Lied noch länger aus seinem Mund ertrage? Während seine Stimme die Worte schreit, beginnt die Luft in der Bar zu kochen. Es scheint mir unerträglich heiß. Das Publikum jubelt und klatscht. In der ersten Reihe streckt eine junge Frau ihre Hände nach Adrian aus. Ein Mann mit Security-Aufschrift auf seinem Shirt stellt sich zwischen sie und die Bühne.
Dann ist das Lied zu Ende und die Menge beruhigt sich etwas. Die nächsten Stücke sind wieder Eigenkompositionen, düster und sehnsüchtig.
Ich lausche weiter der Musik. Sie löst etwas in mir aus. Macht mir etwas klar, über das ich mich selbst gerne belügen würde.
Seit Monaten fühle ich mich allein. So verdammt allein. Ich habe etwas verloren. Doch mit dem Verlust ist viel mehr aus meinem Leben verschwunden. Es gibt Tage, da gelingt es mir so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Als gäbe es nicht die Sehnsucht nach jemandem, mit dem ich meine Gedanken teilen kann.
Mit der Dunkelheit und der Traurigkeit in den Liedern der Band kann ich mich identifizieren. Ich spüre eine Nähe zu Adrian, obwohl ich ihn nicht kenne. Etwas in mir will ihn besser kennenlernen, will ihm vertrauen und ihm alles über mich erzählen. Das ist gefährlich. Das ist Wahnsinn. Ich werde sehr vorsichtig sein müssen, um mich vor den Konsequenzen zu schützen. Doch in mein Schneckenhaus will ich nicht zurück. Dazu klingt Adrians Stimme viel zu verlockend.
Die Zeit verfliegt. Die Band beendet ihr Programm, kehrt ein letztes Mal für eine Zugabe auf die Bühne.
Beim Gedanken an das Ende dieses Abends fühle ich Leere in mir. Natürlich habe ich Menschen um mich. Ununterbrochen sogar. Aber keiner von ihnen weiß, wie es in meinem Herzen aussieht. Statt mich mit meinen Problemen auseinander zu setzen, helfe ich lieber anderen mit ihren. Ich suche mir Projekte, um mich vor mir selbst zu verstecken. Denn wer kann schon verstehen, wie dunkel es in meiner Seele aussieht? Aus irgendeinem Grund denke ich, Adrian und ich sind uns ähnlich. Vielleicht will ich das aber auch einfach nur glauben.
Kurz bevor die Band von der Bühne geht, wende ich mich ab und mache mich auf den Heimweg. Der Abschied fällt mir schwer. Ich muss das hinter mir lassen. Es scheint mein Schicksal, mich anders zu fühlen als meine Mitmenschen. Schon immer habe ich gespürt, nicht richtig dazuzugehören. Als würden meine Mitmenschen ein Spiel spielen, dessen Regeln ich nicht verstehe. Aber das ist in Ordnung. Das war schon immer okay. Irgendwie.
Montag
Als sich der Radiowecker um sechs einschaltet, vergrabe ich meinen Kopf unter dem Kissen. Es ist ein Fehler gewesen, vorletzte Nacht so lange fort zu bleiben. Der gestrige Tag hat meine letzten Reserven gekostet. Es gibt Menschen, denen ist egal, ob ich fit bin oder nicht. Sie wollen unterhalten und beschäftigt werden. Nachts ist Jonathan noch dazu von einem Albtraum gequält worden. Erst gegen ein Uhr morgens bin ich eingeschlafen.
Die Musik aus dem Radio dringt durch das Kissen zu mir. Ich seufze, werfe die Decke zurück und drücke den Wecker aus. Der Montag wird niemals zu meinem Lieblingswochentag werden.
Augenreibend tappe ich ins Badezimmer, wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser und putze mir die Zähne. Gerne würde ich die Ruhe noch ein wenig genießen, aber schon jetzt wird uns die Zeit wieder knapp.
Konstantin hat sich die Decke bis zum Kinn hochgezogen und schnarcht leise. Die Kuscheltiere hat er an das Fußende des Bettes mit den Worten verbannt, ein Zehnjähriger brauche so etwas nicht mehr. Ich streiche ihm die wirren Haare aus der Stirn, lege ihm eine Hand auf die Schulter.
„Guten Morgen, Großer.“
Zuerst brummt er etwas Unverständliches. Er wehrt sich gegen das Aufwachen, will sich zur Seite drehen, doch meine Hand hält ihn zurück. Dann schlägt er die Augen auf.
Ihre Augen blicken mich an. Ein Faustschlag trifft mich in den Magen. Er sieht seiner Mutter so ähnlich, dass es wehtut. Ich kenne den Schmerz gut, der in Wellen durch meinen Körper rast. Es hilft nur, ruhig weiterzuatmen, bis sich der letzte Rest der Trauer in eine geheime Ecke meines Herzens zurückgezogen hat und dort auf die nächste Gelegenheit lauert, mich neuerlich zu zerfleischen.
„Morgen, Papa.“
„Hast du gut geschlafen?“
Konstatin nickt und streckt sich. „Ist Jonathan wieder gewandert?“
„Ja, aber ich konnte ihn schnell zurück ins Bett verfrachten“, lüge ich. Aus seinem Kleiderschrank hole ich ein sauberes Shirt, Jeans und Socken. „Was steht heute in der Schule auf dem Plan?“
„Nichts Besonderes. Der Ausflug ist morgen.“
„Verstehe.“ Ich ziehe ihm augenzwinkernd die Decke weg und lege seine Anziehsachen neben ihn. „Beeil dich, bitte. Aus irgendeinem Grund ist es bereits fünf Minuten später, als es sein sollte.“
„Hast du die Zeitfee nicht vorbefliegen sehen? Auf dem Gang glitzert es bestimmt noch immer blau.“
Halbherzig lachend gehe ich zur Tür. Sogar sein Kichern klingt wie das von Annabell. „Das werde ich überprüfen. Lass deinen Bruder noch schlafen. Wir werden die Zeit schon irgendwie reinholen.“
Zurück in meinem Schlafzimmer schlüpfe ich in eine Stoffhose und ein Poloshirt. Den Pullover nehme ich mit rüber in die Küche, wo ich Kakao für die Jungs und Kaffee für mich mache. Während ich das Frühstück vorbereite, tappt Konstantin ebenfalls in den Raum und beginnt Brote für sich und seinen Bruder zu schmieren. Ich belege sie mit Wurst, während er Minigurken und eine Milchschnitte in die Brotbox legt. Von mir kommt das Brot dazu. Sobald ich die Hand wegziehe, klappt er die Deckel zu und trägt die Boxen zu seiner Schultasche und Jonathans Rucksack.
„Wir sind ein gutes Team“, meine ich mit einem Lächeln.
„Das sagst du jeden Morgen, Papa“, antwortet er mit nörgelndem Tonfall, doch seine Augen strahlen.
Mit schwerem Herzen zerwuschle ich seine Haare.
Ich kann einen schnellen Schluck von dem viel zu heißen Kaffee nehmen, von einem Croissant abbeißen und Konstantin zum Tisch scheuchen. Dann mache ich mich auf den Weg zu Jonathan.
Er bemerkt weder, wie ich sein Zimmer betrete noch wie ich an seinen Schrank gehe. Mit seinen Sachen auf dem Arm setze ich mich auf die Bettkante und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Morgen, Schatz.“
Er schlägt die Augen auf, ist sofort hellwach. Sein ernster Blick wird ganz kurz weich, ein kleines Lächeln huscht über sein Gesicht, bevor er mich umarmt.
Als ich ihn an mich drücke, weitet sich mein Herz. Wie soll man das Gefühl beschreiben, das ich für meine beiden Jungs empfinde? Die Wärme, die mich vollständig durchdringt, der Sonnenschein, der bis in den hintersten Winkel meines Kopfes dringt.
„Bereit?“, frage ich schließlich mit rauer Stimme.
Jonathan nickt.
„Wir müssen uns beeilen, damit du noch in Ruhe frühstücken kannst“, meine ich, während ich ihm aus seinem Schlafanzug helfe. Ich stecke ihn in sein Shirt.
„Habt ihr heute wieder Bewegungsbaustelle?“
Er nickt.
„Christine hat heute einen Urlaubstag, wenn ich mich nicht täusche. Eine andere Kindergärtnerin passt auf euch auf. Ich werde mit ihr reden. Du musst dir keine Sorgen machen.“ Hoffentlich setzt sie ihn nicht wegen seiner Schüchternheit unter Druck. Ach, wäre es doch nur ausschließlich Schüchternheit. Nach der Hose helfe ich ihm, in den ersten Socken zu schlüpfen.
Er nickt erneut.
Der zweite Socken ist dran.
„Lassen wir dein Kuscheltier heute einmal daheim? Schließlich ist der Spielzeugtag erst am Mittwoch.“
Vehement schüttelt er den Kopf.
„Okay. Dann lass uns frühstücken.“ Ich strecke ihm die Hand entgegen.
Er schnappt sich zuerst seinen Teddy und greift dann nach meiner Hand. Gemeinsam gehen wir in die Küche.
„Willst du ebenfalls ein Croissant?“
Seine großen Augen schauen zu mir auf. Er nickt.
Jonathan setzt sich auf seinen Stuhl, und ich schiebe den Teller mit dem Schokocroissant sowie den Kakao vor ihn. Dann nehme ich ebenfalls am Küchentisch Platz.
„Freut ihr euch auf den heutigen Tag?“, frage ich.
Jonathan nickt wieder.
Konstantin schnaubt.
„Schon gut. Keine Gespräche, während ihr offensichtlich noch müde seid.“ Ich kümmere mich darum, dass die beiden ihr Frühstück essen, Zähne putzen, die Haare gekämmt haben.
Eine Stunde nach dem Aufstehen sitzen wir alle im Auto. Ich starte einen neuen erfolglosen Versuch, mit den beiden zu reden. „Wollt ihr heute Nachmittag einen Spaziergang machen?“
Ein Brummen und Stille als Antwort.
„Wir drei schweigsamen Jungs. Aber warum bringst du heute kein Wort hervor, Konstantin?“
„Hm“, brummt mein Großer.
„Was ist los? Du kannst mir alles sagen.“
„Justin hat am Freitag wieder doofe Dinge gesagt. Ich kann ihn nicht leiden.“
Doofe Dinge. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, um nicht ausfällig zu werden. Konstantin und Justin sind einmal die besten Freunde gewesen. Doch seit Neuestem lässt Justin Kommentare über den Tod meiner Frau ab, die nicht angebracht sind. Meine beiden Jungs haben sich nicht ausgesucht, ihre Mutter so früh zu verlieren. Krebs ist ein Begriff ohne Bedeutung für Kinder in diesem Alter. Justin weiß nicht, wie sehr seine taktlosen Witze meine Jungs verletzen. Und nicht nur die.
„Soll ich mit ihm reden?“, frage ich leise, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
„Ist nicht weiter schlimm. Ich gehe ihm einfach aus dem Weg.“
Tapferer kleiner Junge. Dennoch werde ich mit Justins Mutter telefonieren. Ob sie einverstanden ist mit dem, was ihr Kind absondert? „Frag ihn, wie er sich fühlen würde, wenn seine Mutter auf einmal weg wäre. Bestimmt wäre er traurig, und es täte ihm weh, wenn jemand ihn damit aufziehen würde.“
„Ob er das zugeben wird? Aber ich sag es ihm.“
Ich parke den Wagen vor dem Kindergarten.
„Willst du mit reinkommen?“, frage ich Konstantin.
„Lieber nicht.“ Er zieht eine Grimasse.
Die Verabschiedungszeremonie verläuft nie sonderlich einfach. Selbst ich würde mich gerne davor drücken.
Jonathan klammert sich an seinen Teddy, als wir das Gebäude betreten. Ich helfe ihm, Schuhe und Jacke an ihren Platz zu räumen. Dann schauen wir in die Gruppe. Ein paar der Jungs winken Jonathan zu, doch er reagiert nicht, schlingt nur einen Arm um mein Bein und versucht sich hinter mir zu verstecken.
Die Ersatzkindergärtnerin kennen wir nicht. Das wird Jonathan die Sache schwierig machen. Ich hocke mich hin und ziehe ihn an meine Seite. „Sie sieht doch nett aus“, flüstere ich ihm ins Ohr.
Er schüttelte den Kopf.
Die junge Frau kommt mit einem freundlichen Lächeln zu uns und beugt sich zu Jonathan. „Hallo, mein Name ist Petra. Ich werde heute mit euch spielen. Wie heißt du denn?“
Jonathans Klammergriff um den Teddy wird fester. Er starrt sie mit schreckgeweiteten Augen an.
„Jonathan“, sage ich und muss mich räuspern. Warum er schweigt, will ich eigentlich nicht vor meinem Sohn erklären. „Er heißt Jonathan. Er spricht nicht. Er versteht alles, aber er redet seit ein paar Monaten nicht mehr.“ Es ist inzwischen sogar über ein Jahr.
„Muss ich sonst noch irgendetwas bei Jonathan beachten?“
„Nein, nein. Es handelt sich um kein körperliches Problem.“
Der Blick der Kindergärtnerin bleibt freundlich, aber ich lese die Neugierde darin. „Bestimmt können wir uns auch so verständigen.“ Sie hält ihm die Hand hin. „Kommst du?“
Er schüttelt den Kopf, drückt sich näher an mich.
„Ich bin sicher, ihr habt viel Spaß“, meine ich und versuche, ihn in die Gruppe zu schieben.
Sein Kopfschütteln wird energischer.
„Magst du mit Ben in der Bauecke spielen? Ich kann dich auch zu Valentin bringen, und du hilfst ihm beim Puzzle“, schlage ich vor.
Jonathans Augen füllen sich mit Tränen. Seine Finger klammern sich schmerzhaft an meinen Arm.
„Wir machen das schon. Sag Tschüss zu deinem Papa.“ Die Kindergärtnerin schnappt Jonathan und hebt ihn hoch. Er zappelt, streckt die Arme nach mir aus. Sein Mund ist zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Tränen laufen ihm über die Wange.
„Es tut mir leid, Kleiner. Bis später.“ Obwohl mein Herz zusammengepresst wird, wende ich mich ab. Ich weiß, er wird zufrieden mit einem seiner Freunde spielen, sobald ich das Gebäude verlassen habe. Dennoch fühle ich mich hilflos.
Konstantin seufzt nur, als ich ins Auto steige. „Du siehst aus, als würdest du gleich losheulen.“
„Auch bei dir gab es Phasen, in denen du nicht gerne in den Kindergarten gegangen bist“, stelle ich klar.
„Wenn du es sagst.“
Ich starte den Motor und lenke den Wagen Richtung Schule. „Er hat es nicht leicht.“
„Das weiß ich.“
Aus Konstantins Tonfall höre ich, dass er selbst nicht glücklich ist. Manchmal hasse ich mein Leben.
„Und? Jetzt erzähl schon.“
Ich hole das Brot aus meiner Brotbox und nehme einen großen Bissen. In einem misslungenen Versuch, originell zu sein, zucke ich bedauernd mit den Schultern und deute auf meinen vollen Mund.
„Mich interessieren deine guten Manieren nicht. Warum wolltest du nichts erzählen? Wie ist das Date mit Ava gelaufen?“, bohrt Barbara, meine Kollegin, Initiatorin des Blind Dates und Babysitterin für die Jungs weiter.
„Nicht so gut“, gestehe ich, als ich den Mund leer habe. „Ich weiß deine Mühe zu schätzen, aber ich bin nicht verkuppelbar.“
Barbara wirkt enttäuscht. „Aber Ava interessiert sich für Kunst und Kultur. Sie besitzt einen feinen Sinn für Humor. Sie ist ein netter, verständnisvoller Mensch.“
„Und sie steht auf jüngere, flippigere Typen als mich. Ich glaube, sie hat am Samstag den Mann fürs Leben gefunden. Am Nebentisch.“
„Verflixt. Dann organisiere ich ein Treffen mit einer anderen Freundin.“
Gott sei Dank sind wir in dieser Ecke des Lehrerzimmers alleine. Es wäre peinlich, wenn auch der Rest der Belegschaft versuchen würde, mir wieder eine Frau zu besorgen.
Mit einem bedauernden Lächeln lege ich meine Hand auf ihre. „Ich will das aber nicht. Mein Leben ist im Augenblick so chaotisch, so kompliziert. Welche Frau ist schon bereit, sich eines Witwers und seiner zwei immer noch trauernden Jungs anzunehmen?“
„Wir finden bestimmt …“
„Nein, Barbara. Keine Blind Dates mehr, keine zufälligen Treffen auf der Straße, bei denen du irgendwelche Frauen dabei hast.“
Der Blick meiner Kollegin wird schuldbewusst. Sie zieht ihre Hand weg.
„Ich weiß, du meinst es gut. Und wärst du nicht glücklich verheiratet, würde ich mich als dein Toyboy zur Verfügung stellen.“
„Na, hör mal. Ich bin grad mal zehn Jahre älter als du! Da kannst du dich nicht als meinen Toyboy bezeichnen.“ Barbaras hundert Kilo beben empört.
„Verstanden. Jedenfalls liebe ich dich für deine Großherzigkeit und dein Mitgefühl und deine Hartnäckigkeit. Aber ich werde Amor nicht länger hinterherjagen.“
„Zu schade. Ich hätte noch ein paar kreative Ideen in petto gehabt, dich mit Frauen in Kontakt zu bringen.“
Stöhnend schüttle ich den Kopf. „Das glaube ich dir sogar aufs Wort.“
„Du hast mir durch ein paar schwere Monate mit meinem Mann geholfen“, flüstert Barbara. „Ohne dein Zuhören und deine Ratschläge hätte ich das nicht überwunden. Ich versuche nur, dir etwas zurückzugeben.“
„Das habe ich gerne für dich getan. Aber lassen wir das mit dem Daten gut sein. Stell dich lieber weiterhin als Babysitter für die Jungs zur Verfügung.“
Sie lächelt. Doch ich lese Wehmut in ihren Augen. „Jederzeit. So habe ich kleine Kinder zum Verwöhnen.“
Aus Liebe zu ihrem Mann hat sie auf das Muttersein verzichtet. Ihr ist meiner Meinung nach noch immer nicht klar, wie groß dieses Opfer war. Sie lässt sich nicht anmerken, wie sehr sie wirklich unter der Kinderlosigkeit leidet. Meine Jungs borge ich ihr als Entschädigung nur zu gerne.
Ein paar Sekunden genießen wir schweigend unser Essen.
„Du bist ziemlich spät nach Hause gekommen“, meint Barbara dann.
„Danke noch mal fürs Babysitten. Die Jungs haben den Abend mit dir sehr genossen.“
„Trotz des Reinfalls mit Ava scheinst du die freie Zeit gut genutzt zu haben. Bei deiner Heimkehr war es nach eins.“
Die Erinnerung an das Gespräch mit Adrian bringt mich zum Lächeln. Ich bewundere ihn für sein Talent, und für sein Selbstbewusstsein beneide ich ihn.
„Tobias?“
Ich zucke zusammen. „Danke noch mal fürs Babysitten.“
„Das sagtest du schon. Warum lächelst du so versonnen? Hast du danach jemand anderen kennengelernt?“
„Ja.“
Barbara beugt sich näher. „Wie heißt sie? Ist sie nett?“
„Die Band heißt Crazy so far!