Æthersturm - Susanne Gerdom - E-Book
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Susanne Gerdom

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Beschreibung

Ohne die Versklavung der Ætherwesen, die die einzige Energiequelle darstellen, droht die Welt im Chaos zu versinken. Professor Tiez, der alte Zeitmeister, ist verschwunden, doch nur mit seiner Hilfe können die Sensitive Kato, der Halbengel Jenö, sowie die Kaisertochter Mizzi dem Krieg ein Ende bereiten. Oder hat Tiez die Seiten gewechselt und arbeitet mit dem Evidenzbureau an der endgültigen Auslöschung der Engel?Wie gewinnt man einen Wettlauf mit der Zeit, wenn die Zeit völlig aus den Fugen geraten ist?

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Über dieses Buch

Ohne die Versklavung der Ætherwesen, die die einzige Energiequelle darstellen, droht die Welt im Chaos zu versinken. Professor Tiez, der alte Zeitmeister, ist verschwunden, doch nur mit seiner Hilfe können die Sensitive Kato, der Halbengel Jenö, sowie die Kaisertochter Mizzi dem Krieg ein Ende bereiten. Oder hat Tiez die Seiten gewechselt und arbeitet mit dem Evidenzbureau an der endgültigen Auslöschung der Engel?

Wie gewinnt man einen Wettlauf mit der Zeit, wenn die Zeit völlig aus den Fugen geraten ist?

Für Dina

Inhalt

Vorspiel1  Die Suche2  Der Zeitmesser3  Der Engel4  Der KorridorAbteilung I5  Die Hofburg6  Das Wrack7  Die Flucht8  Der Wächter9  Der Strotterprinz10  Die ExpeditionAbteilung II11  Das Labyrinth12  Die Anstalt13  Die Zeitverzerrung14  Der Patient15  Die Operation16  Die Beratung17  Die NachtwanderungAbteilung III18  Der Professor19  Der Kuss20  Der Zeuge21  Der Gehilfe22  Die Kaperer23  Der Rückzug24  Der UngehorsamAbteilung IV25  Die Passage26  Die Mädchen27  Der Rettungsversuch28  Die Kaiserin29  Der Verräter30  Die Waffe31  Die HeimkehrNachspiel32  Der AnfangZitat aus »Le Bateau Ivre«

Vorspiel

Wien, im Juni des Jahres 1885

Jenös Geschichte beginnt einige Wochen vor dem Fall des Zeitlosen Ordens, der im Buch »Æthermagie« beschrieben wurde

1

Die Suche

Das Schlimmste war der Hunger. Er saß wie ein wütendes Tier in seinen Eingeweiden, nagte und biss, wühlte und gab keine Ruhe.

Jenö hockte auf dem Lumpenlager, hatte die Beine eng an den Leib gezogen und seine Arme darum verschränkt. Wenn er nicht bald etwas aß, würde er zu schwach sein, weiterzusuchen.

Er lehnte sich an die feuchte Mauer und schloss für einen Moment die Augen. Nur ein wenig ausruhen, dann konnte er wieder hinaufgehen und versuchen, etwas zu essen zu finden. Am Naschmarkt würde er sich wie immer mit zu vielen anderen um die Abfälle schlagen müssen, aber heute fehlte ihm die Kraft, um die Hinterhöfe der Caféhäuser und Esslokale nach etwas Genießbarem abzusuchen. Der Naschmarkt war von hier aus leicht zu erreichen, und Jenö musste einfach flink genug sein, um sich seinen Anteil zu sichern und damit schnell zu verschwinden.

Jenö richtete sich auf. Er schwankte, als er auf die Beine kam, und musste sich am groben Mauerwerk abstützen. Die Singende flatterte um seinen Kopf, und ihre zarten Flügel streiften seine Wange.

Jenö bückte sich noch einmal, um sein Bündel aufzuheben. Der Schwindel ließ das Gewölbe um ihn tanzen, und er musste warten, bis sein Blick wieder klar war und die Umgebung sich nicht mehr drehte wie ein Brummkreisel. »Auf«, rief er leise. »Wo sind die anderen?«

Neben seinem linken Fuß raschelte es in den Lumpen des Lagers. Eine Knollennase schob sich heraus, grobe Finger schoben den Unrat beiseite. »Hunger«, sagte die raspelige Bassstimme des Dunklen.

»Ich auch«, erwiderte Jenö. »Bleib hier, wenn du dich zu schwach fühlst, Brokk.«

Der Dunkle kroch heraus, hockte sich breit hin und schabte mit seinen dicken Fingern kräftig über den struppigen Kopf. Dunkelbraune Augen blinzelten zu Jenö auf. »Geh mit«, sagte er. »Lass dich nicht allein.«

Die Singende landete federleicht auf seiner Schulter. Er spürte ihre zarte Berührung an seinem Ohr. »Bring uns nach oben«, wisperte sie.

Jenö sah sich um. Das Licht war gelöscht, die Hitzige war sicherlich schon auf dem Weg ans Licht. Sie war die Unabhängigste der vier, die Stärkste und die Ungeduldigste. Jenö konnte die Spur ihrer Füße im Staub und Schmutz erkennen, sie schimmerten wie dunkle Glut.

Blieb noch der Fließer. Jenö beugte sich über den Krug und betrachtete die träge Bewegung in der dunklen Flüssigkeit. »Pass schön auf alles auf«, sagte er. »Wir sind bald zurück.«

Die Flüssigkeit gluckerte, ein kleiner Strudel wallte auf, dann lag die Oberfläche wieder glatt, still und ölschimmernd da.

Jenö duckte sich und kroch in den niedrigen Gang, wobei er darauf achtete, sich nicht an dem tief hängenden Stein den Schädel anzustoßen. Im Schacht richtete er sich auf und verschnaufte eine Weile. Seine Hosenbeine waren feucht und rochen nach dem Unrat, durch den er hatte kriechen müssen.

Er blickte empor. Die Steigeisen, die zum Kanalgitter hinaufführten, waren glitschig und rostig. Er konnte das kalte Eisen auf der Zunge schmecken und in seinen Schläfen pochen hören. Mit einem tiefen Atemzug wickelte er die Lumpen fest um seine Hände und biss die Zähne zusammen. Die schmutzstarrenden Stofffetzen schützten seine Finger bis zu einem gewissen Grad vor dem rostigen Eisen, aber angenehm war es dennoch nicht, daran emporzuklettern.

Jenö griff nach der ersten Sprosse und zog sich daran hoch. Er spürte, wie grobe Finger über seine Haut schabten, als der Dunkle sich an ihm festklammerte. Die Steigeisen ließen seine Finger und Handflächen brennen, und er beeilte sich, an ihnen nach oben zu turnen, bevor der Schmerz zu stark wurde.

Das Kanalgitter war aus Gusseisen und drückte wie ein Stein auf seine Schultern. Aber es war feine Handwerksarbeit, ordentlich und gut gefertigt, nicht wie diese grob zu Haken geschmiedeten, rauen Leitersprossen, und deshalb konnte er die Berührung sogar halbwegs ertragen. Jenö sammelte sich einen Atemzug lang unter dem Ausstieg, dann drückte er ihn mit einem kräftigen Ruck nach oben und zur Seite und schob sich aus der Öffnung aufs feuchte Pflaster.

Es regnete, ein feiner, dichter Sprühregen, der seine vor Anstrengung erhitzten Wangen kühlte. Jenö hob das Gesicht und ließ den Regen darauf tanzen.

»Wir sollten hier nicht stehen bleiben.« Der Dunkle stand neben ihm auf dem Pflaster, in sicherer Entfernung vom Kanalgitter, stemmte die kurzen Arme in die Seiten und sah sich wachsam um. Sie befanden sich in einem Hof, der rundum von hohen Mauern eingeschlossen war. Hoch über Jenös Kopf waren vergitterte Fenster zu sehen, die fest geschlossen waren. Abfalleimer und Stapel von alten Kisten gaben ihnen Schutz zur Straße hin, die durch das offen stehende Tor zu sehen war.

»Es kommt schon keiner«, erwiderte Jenö geistesabwesend und hob den Deckel von einer Mülltonne. Er hielt den Atem an. Der Gestank des faulenden, schimmligen, verrottenden Abfalls war zu schlimm, und das Eisen der Tonne gab noch ein scharfes, beißendes Aroma hinzu, das ihn würgen ließ.

Die Singende schwirrte hoch in die Luft und gab leise, fiepsende Töne von sich.

»Mach zu«, knurrte Brokk. »Den Gestank erträgt ja niemand, der noch eine Nase besitzt.«

Die nächsten Abfalltonnen waren nicht besser. Jenö gab ihnen einen Tritt und zog die Hosen hoch, die feucht an seinen Knien klebten. »Naschmarkt«, sagte er und wickelte die Lumpen von seinen Händen.

»Auf in den Kampf«, kommentierte Brokk und rieb sich die Hände. »Wo ist unser glänzendes Liebchen?«

Jenö steuerte zum Tor. Er musterte das feuchte Pflaster, der Regen tropfte ihm in den Nacken. »Zu nass«, murmelte er. »Keine Spuren. Aber ich habe das Gefühl, Kaskabel ist vorausgegangen.« Er deutete nach links, die Straße hinab.

Sie liefen schweigend dicht an den Hauswänden der Zeile entlang. Der Regen war ein Geschenk, die Passanten, die ihnen begegneten, zogen die Köpfe ein und stapften, ohne rechts und links zu schauen, mit gesenktem Blick geradeaus.

Auf der Straße rumpelten Pferdefuhrwerke vorbei. Jenö warf einen sehnsüchtigen Blick auf einen der Karren, der an einem Hindernis zu halten gezwungen war. Wenn er nur schnell genug war, konnte er sich auf den Wagen schwingen und ein Stück mitfahren. Aber dafür hätte er jetzt rennen und sich mit einem Klimmzug an der Seitenwand hochziehen müssen, und seine Kraft reichte gerade aus, um einen schlurfenden Schritt vor den anderen zu setzen.

»Wir brauchen ein neues Quartier«, flüsterte er, als die Pferde mit dumpfem Hufschlag wieder anzogen und das Fuhrwerk davonrollte. »Tibillibill, setzt du deine Suche fort?«

Die Singende hob sich still von seiner Schulter, wo sie sich ausgeruht hatte. Er konnte im Augenwinkel die silbrigen Kreise sehen, mit denen sie sich in die Luft hob. Er hatte wenig Hoffnung, dass sie fündig würde. Seit dem Beginn des Krieges waren die Menschen misstrauisch geworden, sie verschlossen ihre Keller und Schuppen und verriegelten ihre Hofeingänge, damit sich jemand wie er dort nicht einschleichen konnte. Ein Schuppen, warm und trocken und über der Erde, das wäre das Paradies!

»Der Laden in der Kleeblattgasse«, hörte er Brokk sagen. »Sollten wir es nicht dort einmal versuchen?«

Jenö schüttelte den Kopf. Es war nicht als Verneinung gedacht, er wollte nur das Wasser abschütteln, das in seine Augen lief. »Ich glaube nicht, dass es gut wäre, dorthin zu gehen«, sagte er dann aber trotzdem. »Du weißt, wem der Laden gehört.«

»Ich weiß es. Deswegen habe ich es ja vorgeschlagen.« Brokk klang eingeschnappt.

Jenö blieb stehen und sah zu dem Dunklen hinunter. »Wie verzweifelt sind wir?«, fragte er leise.

»Sehr verzweifelt«, erwiderte Brokk. »Sehr, mein Junge.«

Der Lärm, der vom Marktplatz herüberschallte, ließ sie langsamer werden. Jenö überflog den Markt mit Blicken. Die Mehrzahl der Stände wurde gerade abgebaut. Sehr gut. Dort drüben war der Stand mit Brot und Backwaren, dahinter die beiden großen Obst- und Gemüsestände. In der entgegengesetzten Ecke stritt gerade der Milch- und Käsehändler mit der Geflügelfrau.

Und überall in den Winkeln, Toreinfahrten, unter den Mauervorsprüngen und zwischen den hochgestapelten Kisten lauerten seine Konkurrenten auf all die Schätze, die gleich zertrampelt und aufgeweicht, zertreten und zermatscht, zerbrochen und halb ausgelaufen auf dem Pflaster zurückbleiben würden, bereit für die Brigade der Männer mit ihren Besen, Karren und Schaufeln. Aber was noch halbwegs essbar war, würde es nicht bis auf die Abfallkarren schaffen. Flinke, schmutzige Finger warteten darauf, das buckelige Kopfsteinpflaster bis in die kleinste Ritze zu säubern.

Jenö konnte die hungrigen Blicke spüren. Er fasste in seine Tasche und griff nach dem Beinmesser. Seine schartige Klinge ritzte ihm die Haut, und er fluchte leise, bevor er den Finger in den Mund steckte.

»Dort«, sagte Brokk ruhig. »Schau, der Brotkarren.« Er wartete nicht ab, was Jenö antwortete, sondern lief geduckt los und rannte in Zickzacklinien auf den Karren zu, der gerade zu kippen drohte, weil sein Rad über einen Randstein gerumpelt war. Der Fuhrmann schrie und schimpfte, drückte seine Schulter gegen die Seitenwand des Karrens. Hinten polterte eine Klappe auf, Brot und Tüten mit Backwerk fielen heraus und platzten auf dem Boden auseinander. Wecken rollten über das nasse Pflaster und plumpsten in den Rinnstein.

Johlend stürmten die Gassenjungen auf das Unglücksfahrzeug zu. Jenö, der seine Schwäche wacker ignorierte, war einer der Ersten am Unfallort. Er packte einen großen Brotlaib und stopfte eine Handvoll Wecken in die Jackentasche. Eine Faust traf seinen Rücken und ließ ihn vorwärtstaumeln.

»Geisterjunge«, schrie der Angreifer und setzte nach. »Engelsbrut! Mach dich fort, verschwinde, sonst schlag ich dir die Zähne ein. Ich prügele dich blutig, ich schlag dich to…« Seine Stimme hob sich zu einem schrillen Schrei, als Jenö sein Beinmesser schwang und dem Burschen einen langen, klaffenden Schnitt über die Wange zog. Der Junge taumelte zurück, hielt sich das blutende Gesicht und heulte auf.

»Weg hier«, hörte Jenö Brokks tiefe, ruhige Stimme. »Zügig. Rückzug. Halt das Brot fest.«

Jenö stand geduckt, das Messer gegen die zerlumpten Jungen gerichtet, die auf ihn zurückten, johlten, die Fäuste schwangen, Drohungen brüllten. Er ging langsam rückwärts und ließ die Heranrückenden nicht aus dem Blick.

Die erste verfaulte Rübe streifte seine Schulter, brachte ihn aber nicht ins Wanken. Einem Stein konnte er ausweichen, der heranfliegende halbe Kohlkopf wurde mit einer schnellen Handbewegung abgewehrt.

»Noch vier Schritte, dann hast du Rückendeckung«, hörte er Brokk sagen. »Lass dich nicht nach links in die Enge treiben. Rechts halten. Der nächste Einstieg ist in der Schleifmühlgasse.«

»Engelsbrut, du stirbst«, schrie der Junge mit der zerschnittenen Wange. Das Blut zog einen glänzenden Streifen durch den Schmutz auf seinem Gesicht, lief seinen Hals hinunter und tränkte das zerrissene Hemd. Der Junge wog einen dicken Pflasterstein in der Hand und bleckte mordlüstern die Zähne.

Jenö täuschte einen Ausfall vor, hieb mit dem Messer auf eine Hand ein, die ihn packen wollte, und warf sich dann in die entgegengesetzte Richtung herum. Hinter ihm war jetzt der Weg frei. Mit einem keuchenden Schrei spurtete er los. Brokks breite Füße klatschten auf das Pflaster, der Dunkle blieb dicht hinter ihm. Ein Stein pfiff an Jenös Ohr vorbei.

»Zu langsam«, schnaufte Jenö. Die Verfolger holten auf.

»Lauf«, keuchte Brokk. »Ich halte sie auf. Wäre die Hitzige doch hier …« Er beendete den Satz nicht, sondern blieb abrupt stehen, sah sich um und breitete die Arme aus.

Jenö lief langsamer weiter. Er bekam keine Luft mehr und sein Zwerchfell schmerzte. Immer noch umklammerte er sein Messer und den Brotlaib. Er warf einen Blick über die Schulter. Brokk stand noch immer dort, und um ihn schien sich die Luft verdichtet zu haben. Er verfügte nicht über genügend Kraft, um den Boden aufzureißen oder Steine aus den Hausmauern zu brechen. Aber es gelang ihm immerhin, die lockeren Pflastersteine über die gesamte Länge der Straße emporzuheben und damit eine Stolperfalle nach der anderen aufzubauen. Die ersten Verfolger der zerlumpten Bande, die ohne Blick nach unten hinter ihnen herjagten, kamen zu Fall, schlugen sich die Knie und Hände auf, und die Jungen, die hinter ihnen herdrängten, stolperten gegen die Gestürzten und fielen ebenfalls.

»Lauf weiter«, schrie Brokk. Er stand da, klein, dunkel und kompakt, und Jenö sah, dass seine Arme vor Anstrengung zitterten.

»Komm schon«, rief Jenö. »Das reicht doch.« Er drehte sich um und wollte losrennen, aber er prallte unsanft gegen einen Mann, der wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm auftauchte und ihn festhielt.

»Hab ich dich«, sagte er.

Jenö zappelte und fluchte, trat und biss. Der Mann steckte ebenso wie er selbst in zerlumpten, stinkenden Kleidern. Jenö konnte den typischen Geruch der Kanalisation erkennen – wenn er die Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken, hätte er wahrscheinlich anhand des Geruchs sogar bestimmen können, an welcher Stelle des Kanalnetzes der Mann zu übernachten pflegte.

»Ich hab ihn«, rief der Mann noch einmal laut und triumphierend. Sein Griff um Jenös Kragen erwürgte den Jungen beinahe. »Kommt und holt ihn euch. Verdammtes Engelsgeschmeiß.« Er schüttelte Jenö unsanft.

Jenö hustete und kämpfte um einen Atemzug. Verschwommen bekam er mit, dass der Mann in die Tasche griff und einen Gegenstand hervorzog. Die scharfe Ausdünstung von Metall ließ Jenös Augen tränen. Er wehrte sich stärker. Was auch immer der Mann da bei sich trug, es besaß Spuren von Silber. Eine Silberlegierung, von niedrigem Feingehalt, denn sonst wäre er schon bewusstlos geworden. Wahrscheinlich handelte es sich um einen dieser billigen Ringe aus Tibetsilber, die überall als Schutz gegen die Engel verkauft wurden. Wie lächerlich …

Jenö schrie und ging in die Knie, weil seine Beine plötzlich unter ihm nachgaben. Der Schmerz war ungeheuer. Ihm wurde schwarz vor Augen und er spürte, wie er mit dem Gesicht voran auf das Pflaster fiel.

Der Mann drückte hohnlachend den Ring gegen Jenös Schulter. »Krepier, Engelsbrut. Ein Schmarotzer weniger, der unseren mutigen Jungs das Essen stiehlt.«

Die Welt erlosch wie eine Ætherlampe.

• • •

»… den Kerl angesengt, und er hat den verfluchten Ring fallen lassen. Dann hat Brokk den Jungen am Kragen zum Einstieg geschleift und hinuntergeworfen. Du kannst dir denken, dass es ihm jetzt nicht besonders gut geht.«

Die flirrende Stimme der Hitzigen brannte sich durch das Dröhnen in seinen Ohren und vertrieb einen Teil der Benommenheit. Jenö ächzte und schlug die Augen auf. Es war dunkel und roch nach dem Winkel, den er sich zur Heimat erkoren hatte. Brackiges Wasser, schimmlige Lumpen, gärender Unrat. Er war wieder in der Kanalisation, in Sicherheit.

Er schloss die Augen und spürte den Schmerzen nach, die seinen Körper vom Kopf bis zu den Füßen peinigten. Seine Schulter fühlte sich an, als stünde sie in hellen Flammen. Er hatte Abschürfungen und blaue Flecke und ganz sicherlich waren seine Rippen angeknackst. Vorsichtig hob er die Hand und betastete seinen Kopf. Beulen. Mehrere.

Jenö öffnete erneut die Augen und richtete sich auf. Er erwiderte die Blicke, die auf ihn gerichtet waren. »Was habt ihr mit mir angestellt?«, fragte er.

Drei Stimmen begannen gleichzeitig, auf ihn einzureden. Er stöhnte und hob die Hand. »Langsam. Autsch. Langsam. Was ist mit meiner Schulter passiert?«

Brokk sprang auf sein Knie und berührte erstaunlich sanft sein Handgelenk. »Silber«, sagte er. »Verfluchtes Silber, mein Junge.«

»Ich hab dem Kerl die Haare abgesengt und die Schwarte geschwärzt«, erklärte die Hitzige, die mit zufriedener Miene auf einem Mauervorsprung hockte. »Er hat gekreischt wie ein Mädchen, Jenö. Es hätte dir gefallen.«

Jenö war noch mit Brokks Worten beschäftigt. »Tibetsilber?«, fragte er und versuchte vergeblich, seine Schulter zu bewegen.

Der Dunkle zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Aber er sah aus wie ein Herumtreiber. War sicherlich nichts Wertvolleres.«

Der Fließer hob sich glucksend aus seinem Krug. Lange, bleiche Finger, zwischen denen sich zarte Schwimmhäute spannten, umklammerten den Rand des Gefäßes. Jenö erwiderte seinen feuchten Blick und seufzte. »Ich wollte dich nicht stören, Glormo. Aber wenn du etwas für mich tun kannst, dann danke ich dir.«

Der Fließer streckte schweigend die Hand aus. Sein breites zahnloses Maul mit den wulstigen Lippen öffnete sich hechelnd. Die Kiemenöffnungen an seinem Hals klafften weit auf. Jenö beeilte sich, die Hand des Fließers zu ergreifen. Glormo zog sich aus dem Krug und floss an Jenö empor. Er legte sich auf die schmerzende, gelähmte Schulter des Jungen und ließ die Nickhäute über seine riesigen, grünschillernden Augen gleiten.

»Ah«, machte Jenö erleichtert. Der Schmerz ließ nach.

»Wir sollten den Zauberer aufsuchen«, ließ sich die Hitzige vernehmen. Sie schnippte mit den Fingern und ließ die Füße wippen. Salamander konnten einfach nicht stillsitzen.

Jenö sah sich um. »Da war Brot«, sagte er unaufmerksam. Seit seine Schulter nicht mehr so sehr wehtat, meldete sich der Hunger wieder.

Brokk hielt ihm wortlos den Laib hin. Ein ordentliches Stück fehlte, aber es war immer noch eine gute Portion übrig. Jenö riss sich einen Brocken herunter und stopfte ihn in den Mund. Er fuhr sich kauend durch die Haare und kratzte dabei unsanft über eine der Beulen, was ihm einen Schmerzenslaut entlockte.

Der Fließer regte sich, streckte die Hände nach seinem Krug aus und gluckste eine Bitte. Jenö beugte sich vor, zog den Krug heran, und Glormo ließ sich mit einem leisen Platschen hineingleiten. Jenö bewegte wieder die Schulter und verzog das Gesicht. »Besser«, sagte er und atmete scharf ein. »Aber es tut immer noch ziemlich weh.«

»Verfluchtes Silber«, kommentierte Brokk düster. Er griff mit seiner breiten Hand nach dem Brot, das in Jenös Schoß lag, und brach ein Stück ab, das er sich ganz in den großen Mund stopfte.

Der Junge rieb sich über die Augen. Noch immer hallte das Echo des Silbers durch seinen Körper, ließ seine Nerven vibrieren und die Muskeln schmerzhaft zucken. »Heute Nacht«, sagte er und ignorierte den dumpfen Schmerz der Prellungen und Schürfwunden.

Jenö schlief, tief in sein Lumpenlager gegraben, zum ersten Mal seit langer Zeit, ohne dass ihn sein knurrender Magen an der Oberfläche des Schlafes hielt. Er träumte nicht. Seine Träume hatten ihn an dem Tag verlassen, an dem er zusehen musste, wie seine Mutter von den Menschen, die sie verfolgten, gefangen und getötet wurde.

Er erwachte wie immer mit einem Ruck und setzte sich gähnend auf. Er wollte sich strecken, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, dass seine Schulter das kaum gutheißen würde, und beschränkte sich darauf, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben.

»Die Sonne ist untergegangen«, hörte er Kaskabel rufen. »Auf die Beine, faule Bande.«

»Hrrrrmmm«, knurrte Brokk. »Mach nicht so einen Lärm, Liebchen.« Er wühlte sich neben Jenö aus dem Lumpenberg und gähnte so breit, dass man meinte, sein Kopf würde jeden Moment in der Mitte auseinanderfallen.

Jenö brach den Rest des Brotlaibs in zwei gerechte Teile und reichte dem Dunklen seinen Anteil. Sie aßen schweigend und langsam, kosteten jeden Bissen aus, pickten danach die herabgefallenen Krümel auf und aßen auch sie.

Jenö stand auf, nahm sein Bündel und sah sich wehmütig um. Aber was nutzte es? Die Strotter waren auf ihn aufmerksam geworden, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn hier aufstöbern und verjagen würden. Wenn er Glück hatte. Sehr viel wahrscheinlicher würde er die Unterwelt in einem der Kanäle schwimmend verlassen – mit dem Gesicht nach unten. Und was würde dann aus seinen Gefährten werden?

Sie stritten sich kurz darüber, ob sie alle gehen sollten oder nur Jenö. Vor allem die Hitzige kämpfte darum, ihn zu begleiten. »Du gehst dort nicht ohne uns hin«, rief sie aus und stampfte mit dem Fuß auf, dass die Funken nur so stoben. »Wir lassen dich doch nicht alleine ins Verderben rennen. Wozu hast du uns denn, wenn nicht genau für eine solche Unternehmung?«

Jenö schüttelte den Kopf. Wenn es darauf ankam, konnte er nicht weniger stur sein als Kaskabel. »Es ist doch vollkommen sinnlos, uns alle in Gefahr zu bringen«, gab er zu bedenken. »Wenn ich dort wirklich in eine Falle stolpere, dann müsst ihr euch überlegen, wie ihr mich wieder rausholt.«

»Wenn du dann noch lebst«, sagte die Singende leise.

Jenö war zu hungrig und zu erschöpft, um sich weiter zu streiten. »Kompromiss«, sagte er. »Ich nehme Brokk mit. Er ist der Stärkste von uns.«

»Immer drängelt sich der Gnom vor«, murrte die Hitzige.

Brokk streckte schweigend den langen Arm aus und packte sie an der Kehle. Er drückte ihr die Luft ab, bis sie signalisierte, dass es ihr leidtat, und rieb sich dann mit einer nachlässigen Bewegung die Asche von den Fingern.

»Du hast vielleicht eine dicke Haut«, sagte Tibillibill bewundernd. »Ich wäre nur noch ein Aschehäufchen, wenn ich Bel so festhalten würde.«

»Du bist ja auch nur ein albernes Flatterding«, warf Kaskabel spöttisch ein. Sie rieb sich den Hals und warf dem Dunklen einen bösen Blick zu.

»Und du bist ein Glühwürmchen. Soll ich Glormo rufen, damit er dich ein bisschen löscht?«, schimpfte die Sylphe.

»Könntet ihr bitte aufhören, euch zu zanken?« Jenö rieb sich über die immer noch taube Schulter. Er stand auf. »Also, wir machen es so. Ich gehe mit Brokk, ihr beide passt auf Glormo auf.«

Das Wasser im Cholerakanal floss ruhig und lautlos neben ihnen her, gelegentlich schäumte etwas darin auf, strudelte glucksend und ging wieder unter.

Jenö lebte schon lange genug hier unten, um zu wissen, dass er auf der Hut sein musste. Überall hier in der Finsternis gab es Menschen: Lichtscheue, Ausreißer, Bettler und Diebe, Menschen ohne Familie, ohne Hoffnung, ohne Besitz und oft genug ohne Seele.

Aber nicht nur Menschen lebten in dieser Stadt der Dunkelheit, die unter der Stadt des Lichtes ihre ganz eigene Existenz führte.

Da waren auch solche wie er. Und wenn er sich schon davor fürchtete, den Menschen in die Arme zu laufen, die ihn unweigerlich jagen und verletzen, verstümmeln und töten würden, dann war seine Angst davor, den Engeln zu begegnen, sogar noch viel größer. Sie waren gemein, unglaublich bösartig gemein. Jemand wie er war für sie viel schlimmer noch als ein Mensch, eine Spottgeburt, ein Schandfleck, den es auszurotten galt.

Jenö war einmal einer Gruppe von Engeln in die Quere gekommen, als sie die unterirdischen Wege durch die Stadt kartographierten. Er wollte nicht wissen, wozu sie die Kanalisation erkundeten, aber er konnte es sich denken. Gelegentlich fand er eine Zeitung im Abfall, die nach Fisch oder Kartoffelschalen roch, und entzifferte das, was die Feuchtigkeit von der Druckerschwärze noch übrig gelassen hatte. Die Engel zogen gegen die Menschen. Dieser Zwist hatte ihm schon seine Mutter genommen. Trotzdem konnte Jenö es den Engeln nicht verdenken, obwohl er zwischen den Fronten steckte wie ein Hufeisen zwischen Hammer und Amboss.

»Wo sind deine Gedanken?«, holte Brokks tiefe Stimme ihn in die Gegenwart zurück. »Schick sie dahin zurück, wo sie hergekommen sind.«

Jenö nickte und holte tief Luft. »Danke«, sagte er.

Das letzte Stück des Weges führte sie durch ein Gewirr aus schmalen und niedrigen gemauerten Gängen, Treppen und Leitern hinauf und hinunter, durch ein riesiges Gewölbe, das einem Tanzsaal glich und dann durch das gefährliche Gebiet der Fischnasen.

Jenö beriet sich kurz mit Brokk. Die Männer verteidigten ihr Revier mit allen Mitteln. Dies hier war der »reiche« Bezirk des Untergrunds. Direkt über ihren Köpfen befanden sich die belebten Einkaufsstraßen des Stadtzentrums. In den Hinterhöfen und Gossen konnte man wahre Schätze finden, die weggeworfen, verloren, manchmal auch gestohlen worden waren. Die Strotter duldeten keine Fremden in ihrem Reich.

»Wir müssen quer durch«, sagte Brokk. Er zeichnete sich kreuzende Linien in den Schmutz. »Hier ist der Ausstieg. Wir sind ungefähr hier«, ein Punkt markierte beide Stellen. »Wenn wir diesen Luftschacht meiden und an dieser Kammer aufpassen, dass sie uns nicht erwischen, sind wir schon fast an unserem Ziel.«

Jenö prägte sich die Zeichnung ein und nickte. »Gut«, sagte er. »Los?«

Sie liefen in schnellem, gleichmäßigem Trab, alle Sinne gespannt nach außen gerichtet. Waren da Schritte? Stimmen? In den dunklen Gewölben hallte jedes Geräusch derart, dass man seinen Ursprung nicht feststellen konnte. Die finsteren Öffnungen, an denen sie vorbeikamen, gähnten sie mit Modergeruch und glucksenden Geräuschen an.

Jenö verließ sich auf seine Nase, seinen Tastsinn und sein Gehör, denn für seine Augen war es hier einfach zu dunkel. Erst ein gutes Stück weiter vorne würde es wieder Licht- und Luftschächte geben, die für eine diffuse Beleuchtung sorgten.

Stimmen. Vor ihnen. Sie hallten so verzerrt von den Mauern wider, dass Jenö nicht verstehen konnte, worüber die Männer sprachen. Wie viele waren es? Er meinte, drei verschiedene Sprecher unterscheiden zu können.

Brokk berührte seine Hüfte. »Vier«, hauchte er. »Sie entfernen sich. Rechts von uns.«

Sie warteten, bis die Schritte und Stimmen verhallt waren. Jenö stützte die Hände auf die Knie. »Ich habe Angst«, sagte er.

Brokk brummte beruhigend. »Bin bei dir«, sagte er. »Wir wissen doch nicht, was uns erwartet.«

»Nein, das wissen wir nicht.« Jenö richtete sich auf und ging weiter. Er dachte über ihr Ziel nach und über den Mann, auf den sie dort treffen würden. Von seiner Mutter wusste er, was die Engel sich über den Professor erzählten. Er war der große Böse, derjenige, der dafür gesorgt hatte, dass die Elementare versklavt werden konnten. Er hatte die Methode entdeckt, wie Menschen sich den Æther zunutze machen konnten – den Æther und das Silber –, um die Elementare einzufangen und sie zu zwingen, für die Menschen zu arbeiten.

Jenö warf einen schnellen Blick auf Brokk, der neben ihm herstapfte. Wenn er das Unglück gehabt hätte, einem der Jäger in die Hände zu fallen, dann wäre er jetzt in eins dieser Silbergefängnisse gesperrt und müsste für seine Peiniger schuften. Jenö wusste, welche Schmerzen es dem Dunklen schon bereitete, wenn er nur in die Nähe von kaltem Eisen kam. Eingesperrt in einen Silberkäfig würde er über kurz oder lang dahinsiechen und sterben.

»Bleib du hier, Brokk«, sagte er. »Es ist zu gefährlich. Wenn er dich einfängt …«

Der Dunkle schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich nicht allein. Keine Diskussion.«

Jenö wusste, wann es zwecklos war. Er nickte knapp und legte einen Finger auf die Lippen, denn nun wartete der gefährlichste Teil ihrer Reise durch den Untergrund auf sie.

Sie durchquerten eine Serie von Kammern, die als Luftschächte dienten. Glücklicherweise weilten die Bewohner dieses Ortes um diese Tageszeit an der Oberfläche. In einer der Kammern trafen sie auf einen Mann, der in eine Decke gerollt in der Ecke lag, den Kopf auf dem Bündel mit seinen Habseligkeiten, und laut schnarchte. Jenö tastete sich auf Zehenspitzen an ihm vorbei und Brokk rümpfte die Nase. »Betrunken«, sagte er nicht besonders leise.

Den niedrigen Gang, der die Luftkammern mit dem Gewölbe verband, das ein Treffpunkt der Strotter war, durchquerte Jenö auf Händen und Füßen. Er steckte seinen Kopf durch den Torbogen und musterte das Gewölbe, durch dessen Mitte einer der Kanalarme floss. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Gruppe von zerlumpten Männern damit beschäftigt, ein Lagerfeuer in Gang zu bringen. Lautes Gezänk und raues Gelächter hallten zwischen den Wänden und Säulen, die die Decke des Gewölbes stützten.

Jenö zog den Kopf ein und flüsterte: »Wir rennen. Deckung ausnutzen. Sie sehen gerade nicht her.« Dann holte er tief Luft, senkte den Kopf und spurtete los.

Er hielt hinter der ersten Säule an und sah auf die andere Seite. Niemand hatte ihn bemerkt. Brokk rannte schon weiter, aber natürlich war die Gefahr nicht allzu groß, dass einer von den Männern überhaupt die Fähigkeit besaß, ihn zu sehen.

Noch zwei solcher Spurts, dann rettete Jenö sich in den gegenüberliegenden Eingang und lehnte sich keuchend an die kalte Wand. Er lauschte, aber die lauten Stimmen im Gewölbe klangen unverändert.

»Weiter, dort entlang«, flüsterte er und stieß sich von der Wand ab. »Wir sind beinahe da.«

Nach wenigen Metern gelangten sie an eine Wendeltreppe, die geradewegs nach oben in einen zylindrischen Aufbau führte. Aus diesem Turm konnten sie direkt auf die Straße treten.

Jenö lugte durch die vergitterte Öffnung der Tür und nickte. Er legte seine umwickelte Hand auf die Klinke und drückte die Tür auf.

Sie standen auf einem kleinen Platz, auf der Straße herrschte reger Verkehr, und der Lärm war wie ein kalter Guss, der Jenö traf und seine Müdigkeit und den nagenden Hunger für einen Moment vergessen ließ. Er drückte sich hinter einen Mauervorsprung und wartete, bis der Strom der Fahrzeuge, Reiter und Passanten eine Lücke aufwies. Dann gab er Brokk das Zeichen und sie rannten im Zickzack über die Straße. Niemand schenkte ihnen große Beachtung – wer achtete schon auf einen zerlumpten Gassenjungen in der Menge?

2

Der Zeitmesser

Die ruhige Seitenstraße, in die sie einbogen, war ein weitaus gefährlicheres Terrain als die Kanalisation. Jenö spürte die verwunderten und angewiderten Blicke, die ihn trafen. Er schob seine Kappe tief ins Gesicht, zog die Schultern hoch und senkte den Kopf. Niemand sieht mich, dachte er. Niemand beachtet mich. Ich bin nicht interessant.

Es schien zu funktionieren, denn sie gelangten unbehelligt bis zum Eingang des Hauses, das ihr Ziel war.

Jenö verharrte an der Tür und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. Es war dunkel im Inneren des Ladens, niemand schien da zu sein. Die hohen Regale und die vielen Vitrinen und Schaukästen, Tische und Stellagen verhinderten aber einen freien Blick auf den gesamten Raum. Es half nichts, er musste eintreten und sich dem, was ihn dort erwartete, stellen.

Mit einem tiefen Atemzug schob er die Tür auf, lauschte dem melodischen Läuten der Glocken über seinem Kopf und trat ein.

Jenö schob sich zögernd durch den schmalen Gang, der zwischen zwei Regalen und einem Tisch frei war, und drang in den hinteren Teil des Geschäftes vor. »Hallo?«, sagte er halblaut. »Ist jemand hier?«

Hinter einer Theke aus dunklem, glänzendem Holz raschelte etwas. Jenö hörte ein Surren und Klacken, Klickern und Tippeln, und dann krabbelte ein seltsames Ding auf vielen kleinen Füßen über den Boden auf ihn zu. Er lachte und ging beiseite, um es in seinem Lauf nicht zu stören.

Das Spielzeug drehte surrend den Kopf, schien nach ihm zu suchen. Die glitzernden Glasaugen fixierten ihn. Ein Licht leuchtete an seiner Kopfseite auf, eine Scherenhand öffnete und schloss sich klickend, ein dünner Kupferdraht auf seinem Rücken wippte hin und her.

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