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Afghanistan beschäftigt die Weltgemeinschaft seit Jahrzehnten: Rainer Hermann, einer der besten Kenner des Nahen Ostens, schildert und erklärt Geschichte, Gesellschaft, Glaube und Geopolitik einer von Kriegen erschütterten Weltregion. Eine prägnante Überblicksdarstellung in zugänglicher Sprache, die das erforderliche Wissen vermittelt, um die Vorgänge in Afghanistan einordnen und verstehen zu können. Afghanistans Geschichte ist eine Abfolge von Kriegen und Gewalt. Immer wieder wollten ausländische Mächte das Land wegen seiner strategischen Lage zwischen großen Kulturkreisen als Pufferzone ihrer Einflusssphäre einverleiben. Seit Alexander dem Großen erlebten die fremden Eroberer jedoch, dass sie das Land zwar rasch besetzen können. Noch nie ist es einer Macht aber gelungen, sich dauerhaft gegen den Freiheitswillen der Afghanen festzusetzen. Die Afghanen waren sich immer nur im Kampf gegen die Eindringlinge einig, und gescheitert sind alle Versuche, das Land nach fremden Vorbildern zu modernisieren. Als Objekt der Begierde fremder Mächte und aufgrund der inneren Zerrissenheit hat sich das Land am Hindukusch nie entwickelt und ist vor allem in den ländlichen Gebieten rückständig geblieben. Eindringlich zeigt der Autor, warum die Geschehnisse in Afghanistan uns alle etwas angehen und wir uns nicht mit einer passiven Zuschauerrolle begnügen können. Zugleich entwirft der Autor Szenarien möglicher Entwicklungen in Afghanistan und zeigt Optionen für den Westen auf.
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Seitenzahl: 252
Rainer Hermann
Afghanistan verstehen
Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von © ullstein bild – imageBROKER/Michael Runkel
Karte: Rudolf Hungreder, Leinfelden-Echterdingen
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98656-3
E-Book ISBN 978-3-608-11896-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Weshalb uns Afghanistan etwas angeht
1.
Ein Land, von niemandem auf Dauer erobert
Geographie – keine Topographie für Besatzer
Gesellschaft – kein einigendes Band
Wirtschaft – arm, aber reich an Bodenschätzen
2.
Der lange Weg zur Unabhängigkeit
Durchzugsland:
Von Alexander dem Großen bis Ahmad Schah
, der »Perle unter Perlen«
Great Game:
Die anglo-afghanischen Kriege
Unabhängig: Schleichender sowjetischer Einfluss
3.
Der lange Krieg beginnt
Vom sowjetischen Einmarsch zu den Mudschahedin
Vom afghanischen Bürgerkrieg zu den Taliban
Von den »afghanischen Arabern« zu al-Qaida
4.
Die erste Herrschaft der Taliban
Der Staat: Das Islamische Emirat Afghanistan
Die Ideologie:
Paschtunwali
und Deobandismus
Der Verbündete: Das Haqqani-Netzwerk
5.
Das Engagement des Westens
Enduring Freedom:
Der Sturz der Taliban und ihre Rückkehr
Der Sommer 2021: Sieg der Taliban, Kollaps der Armee
Wessen Scheitern?
6.
Die zweite Herrschaft der Taliban
Taliban 2.0: Mäßigt sich die Bewegung?
Dschihad 2.0: Wieder Rückzugsgebiet für Terroristen?
Great Game
2.0:
Die Machtverschiebung
Afghanische Lektionen
Karte
Anmerkungen
1. Ein Land, von niemandem auf Dauer erobert
2. Der lange Weg zur Unabhängigkeit
3. Der lange Krieg beginnt
4. Die erste Herrschaft der Taliban
5. Das Engagement des Westens
6. Die zweite Herrschaft der Taliban
Afghanische Lektionen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Kein anderes Land dieser Größe war so oft Schauplatz weltpolitischer Ereignisse wie Afghanistan. Weltmächte wie das British Empire, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten schickten ihre Armeen in das Land und zogen sie wieder ab. Ein deutscher Verteidigungsminister mahnte, Deutschlands Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt. Für die einen ist Afghanistan die Bühne, auf der Weltmächte ihr Great Game spielen, für die anderen ist es ein »Friedhof der Großmächte«.
Die Geschichte Afghanistans ist die Geschichte fremder Mächte. Im 19. Jahrhundert zog das British Empire die Grenzen Afghanistans, in drei Kriegen vermochten es die Briten allerdings nicht, Afghanistan einzunehmen. Sie entschieden dort jedoch ihren Kampf um die Vorherrschaft mit dem zaristischen Russland zu ihren Gunsten, und Afghanistan wurde der Puffer zwischen dem Kronjuwel ihres Empire, Indien, und Zentralasien. Als im 20. Jahrhundert die Sowjetarmee geschlagen aus Afghanistan als dem letzten großen Schauplatz des Kalten Kriegs abzog, dauerte es nicht mehr lange, bis sich eine demoralisierte Sowjetunion auflöste.
In Afghanistan begann schließlich im 21. Jahrhundert der Krieg gegen den Terror, den die Vereinigten Staaten nach zwei Jahren auf den Irak ausweiteten. Die letzten US-amerikanischen Soldaten verließen nach zwanzig Jahren in der Dunkelheit der Nacht das Land. In quälender Erinnerung bleiben die Bilder, wie nach dem 15. August 2021 und dem Einmarsch der Taliban in Kabul Tausende Afghanen zum Flughafen stürmten in der Hoffnung, auf einem Evakuierungsflug einen Platz zu bekommen. Verzweifelt glaubten sie, ein Verbleib in Afghanistan komme einem Todesurteil gleich.
Das ist bereits Geschichte. Geht uns Afghanistan dann auch heute noch etwas an? Ja, Afghanistan geht uns noch immer etwas an. Wer Soldaten in ein anderes Land schickt – und die Bundeswehr stellte in Afghanistan zeitweise das zweitgrößte Kontingent –, übernimmt für dieses Verantwortung. Die Soldaten hatten ein Vakuum gefüllt, und das kehrte nach ihrem Abzug zurück. Afghanistan geht uns auch etwas an, weil die Beben, die das Land erschüttern, selbst hierzulande zu spüren sind – sei es wegen des transnationalen Terrorismus, der gescheiterte Staaten als Rückzugsorte sucht, sei es wegen der Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten ihre kriegszerstörte Heimat verlassen. In Deutschland leben 300 000 Afghanen oder Deutsche afghanischer Abstammung.
Kriege enden meist nach einigen Jahren oder nach einem Jahrzehnt. So war es in Vietnam, auf dem Balkan und in Ruanda; in Syrien dauert der Krieg seit 2011. Wie kein anderes Land wird Afghanistan aber seit einem halben Jahrhundert von Krieg und Gewalt heimgesucht. Es ist das Brennglas für viele Krisen unserer Zeit. Es zeigt, wie äußere Einmischungen ein Land zum Spielball machen und es nicht befrieden, wie schlechte Regierungsführung in einen gescheiterten Staat abgleitet, wie Terror entsteht und sich ausbreitet, wie Krieg und Gewalt Menschen zu Flüchtlingen machen.
Vieles davon gilt auch für den Nahen Osten, für die Konfliktregion, die sich vom Persischen Golf entlang der südlichen Mittelmeerküste bis an den Atlantik zieht. Mehr Resolutionen als zum Konflikt um Palästina hat der UN-Sicherheitsrat zu keinem anderen Thema verabschiedet. Auch den Nahen Osten prägen seit Jahrzehnten Kriege; bei einigen spielte das Erdöl eine Rolle. Der dschihadistische Terror hat seine Wurzeln in der arabischen Welt. Die Menschen begehren heute gegen ungerechte Ordnungen auf, Staaten implodieren, externe Akteure mischen sich ein.
Im Nahen Osten verteilen sich diese Konflikte auf einen weiten Krisenbogen, der, nimmt man Iran dazu, dreieinhalbmal so groß ist wie die Europäische Union. Alle diese Konflikte finden sich jedoch auch in Afghanistan wieder, das im Osten diesen nahöstlichen Bogen abschließt und doppelt so groß ist wie Deutschland.
Afghanistans Geschichte ist eine Abfolge von Kriegen und Gewalt. Immer wieder wollten ausländische Mächte sich das Land einverleiben. Noch nie gelang es jedoch einer Macht, sich gegen den Freiheitswillen der Afghanen dauerhaft festzusetzen. Die Geschichte wäre wohl anders verlaufen, würden die in Afghanistan lebenden Völker eine Nation bilden, und sie wäre wohl auch anders verlaufen, hätten sich diese Völker auf einen Staat geeinigt, den sie nicht nur nach außen verteidigen wollten, sondern auch nach innen mit funktionsfähigen Institutionen füllten.
Wenige andere Länder erweisen sich als so schwer regierbar wie das Land am Hindukusch. Und es sind auch wenige Länder so vielfältig und so heterogen wie Afghanistan. Das gilt für die Natur ebenso wie für die Menschen, die nie dauerhaft zu dem gemeinsamen Projekt zusammenfanden, eine Nation zu bilden. Einig waren sich die Afghanen immer nur im Kampf gegen die Eindringlinge. Gescheitert sind hingegen alle Versuche, das Land nach fremden Vorbildern zu modernisieren.
Eine Nation, in der sich alle wiederfinden, können nur die Afghanen selbst schaffen. Jedoch hatte die Hoffnung bestanden, den Afghanen nach dem Sturz der Taliban und nach der Ausschaltung von al-Qaida zu helfen, ab dem Jahr 2001 einen funktionsfähigen Staat aufzubauen. Das ist gescheitert, denn die Regierungen in Kabul waren hochgradig korrupt und unfähig, und man unterschätzte, welche Schlagkraft die Taliban als Aufstandsbewegung gewonnen hatten.
Dieses Buch schildert die Gründe, weshalb wir uns seit Jahrzehnten mit diesem Land beschäftigen und weshalb es so schwierig ist, Afghanistan zu regieren. Die ersten drei Kapitel legen die gesellschaftlichen und geschichtlichen Grundlagen bis zum Abzug der Sowjetarmee und zum darauf folgenden Bürgerkrieg; die letzten drei Kapitel schildern die Ereignisse seit der Ausrufung des ersten Islamischen Emirats der Taliban 1996. Daran schließt sich ein Ausblick mit Szenarien und Optionen für den Westen an. Das Buch soll dazu beitragen, Afghanistan und die Vorgänge in dem Land, das wenige kennen, das uns aber beschäftigt, zu verstehen.
Afghanistans Geographie ist wie für einen prächtigen Bildband geschaffen. Atemberaubend ist die Hochgebirgswelt mit dem Hindukusch und dem Pamir, den Marco Polo(1) das »Dach der Welt« genannt hat. Dramatisch sind das Pandschschir-Tal und der enge Wachan-Korridor mit ihren reißenden Flüssen und dem üppigen Grün. In den weiten Steppen waren einst berittene Kriegerhorden wie aus dem Nichts aufgetaucht. Karawanen durchzogen die endlosen Wüsten, von Osten nach Westen und von Westen nach Osten.
Bei aller Pracht könnte auf Afghanistan eine Legende zutreffen, die auch andere Völker von ihren Ländern erzählen: Gott habe am letzten Tag, an dem er die Erde erschuf, alles, was noch übrig war, auf einen Ort geworfen – in diesem Fall dorthin, wo Afghanistan entstehen sollte. Denn das Leben in Afghanistan ist hart, und es ist immer hart gewesen. Die Natur fasziniert, sie ist aber auch abweisend. Die Gebirge und Hochgebirge sind zerklüftet, und die Wüsten und Steppen bieten keinen natürlichen Lebensraum. Über 90 Prozent der Fläche des Landes liegen mehr als 600 Meter hoch über dem Meeresspiegel, nur ein Zehntel ist landwirtschaftlich nutzbar.
Und so waren die Bewohner Afghanistans für ihren Lebensunterhalt meist auf Kontakte nach außen angewiesen. Sie lebten vom Fernhandel und von der Hilfe von außen.[1] Immer wieder zwang das karge Leben die Menschen zu Massenauswanderungen. Das war in anderen Ländern genauso, auch in Europa.
Afghanistan, doppelt so groß wie Deutschland, liegt fernab unserer Welt in Zentralasien, ohne Zugang zum Meer. Es war in der Geschichte immer von großen Mächten umgeben, in der Gegenwart sind es Pakistan und Iran, China und die postsowjetischen Staaten Zentralasiens. Wer von außen auf dieses Land blickte, sah in ihm mal einen Puffer, mal seinen Hinterhof. Für die Eigenständigkeit des Landes und seiner Menschen war das nie gut.
Das Hochgebirge des Hindukusch durchzieht Afghanistan von Ost nach West. Der höchste Punkt liegt mit 7492 Metern über dem Meeresspiegel im Osten und unmittelbar an der Grenze zu Pakistan im Pamir. Nach Westen hin senkt sich die Gebirgswelt von Bergkette zu Bergkette langsam ab. Herat an der Grenze zu Iran liegt jedoch noch immer auf einer Höhe von 925 Metern.
So vielfältig die Geographie ist, so vielfältig sind die Menschen. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Südlich des Hindukusch, der das Land in zwei ungleiche Teile trennt, leben traditionell die Paschtunen. Im Norden sind es Persisch sprechende Ethnien, die generell Tadschiken genannt werden, und Turkvölker, etwa Usbeken und Turkmenen. In der im Landesinneren schwer zugänglichen Bergwelt haben sich kleinere Minderheiten behauptet, so die von mongolischen Eroberern abstammenden Hazara und die Persisch sprechenden Nomaden der Aimaken. Im gebirgigen Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan leben Nachfahren griechischer Siedler, die mit oder nach Alexander(1) dem Großen an den Hindukusch gekommen sind, im Hochgebirge des Pamir wohnen Kirgisen.[2]
Wegen der schwierigen Geographie, die Räume eher voneinander trennt als sie miteinander verbindet, und wegen der ethnischen Vielfalt, die viele eigene Identitäten schafft, fanden die einzelnen Teile selten zueinander, um gemeinsam einen zusammenhängenden Staat zu bilden. Afghanistan ist jedoch auch ein Land, das drei große Kulturräume in sich vereint. So waren von Westen her urbanisierte Perser eingedrungen, die die Region mit ihren Hochkulturen maßgeblich prägten. Aus den weiten Steppen Zentralasiens stießen von Norden her zunächst türkische Nomadenstämme bis an die afghanische Gebirgswelt vor, dann entstanden mit den Khanaten von Buchara und Chiwa auch dort Hochkulturen. Im Osten begründete zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Dynastie der Timuriden, die aus Zentralasien stammte und Kabul erobert hatte, in Indien die Dynastie der Moguln. Die Zeit der Moguln sollte eine der glanzvollsten Epochen in der Geschichte des Islams werden.
Zwischen diesen drei Kulturräumen der Perser, Turkvölker und indischen Moguln hatte Afghanistan immer als Puffer gedient, aber auch als Scharnier. Afghanistan nahm von ihnen Einflüsse auf, es beeinflusste sie aber auch. Zarathustra(1) wurde in Balch im heutigen Afghanistan geboren und starb ebendort. Am Hindukusch breiteten sich früh große Religionen wie Zoroastrismus, Manichäismus und Buddhismus aus. Die Region Bamiyan war bis zur Islamisierung im 10. Jahrhundert ein Zentrum der buddhistischen Hochkultur. Nur einem einzigen dieser Kulturkreise ist Afghanistan allein allerdings nicht zuzuordnen: Es ist vielmehr ein buntes Mosaik, das sich aus vielen dieser Einflüsse zusammensetzt.
Das Land mag abgewandt und isoliert vom Rest der Welt liegen, jedoch bietet es der Weltpolitik seit 200 Jahren eine Bühne. Im 19. Jahrhundert wollte das British Empire Afghanistan zu einem Puffer gegenüber dem expandierenden Zarenreich machen, im 20. Jahrhundert war das Land ein Schlachtfeld des Kalten Kriegs, und im 21. Jahrhundert haben die Vereinigten Staaten und die NATO am Hindukusch einen ermüdenden Krieg gegen den Terror geführt. Es hat Geschichte, dass die für Afghanistan relevanten Entscheidungen nicht in Kabul getroffen werden, sondern in den Hauptstädten der Weltmächte.
Nie gaben wirtschaftliche Erwägungen den Ausschlag, Afghanistan zu erobern und beherrschen zu wollen, sondern immer geostrategische, geopolitische Motive. Und so legten denn auch fremde Mächte die Grenzen des Landes fest. Gezogen wurden diese im 19. Jahrhundert auf den Tischen des British Empire. Es sollte ein unüberwindbarer Puffer entstehen, um – bereits fern von Indien, dem Kronjuwel des Empire – der Expansion des russischen Zarenreiches Einhalt zu gebieten.
Im Norden ist der Grenzverlauf aufgrund natürlicher Begebenheiten gut nachzuvollziehen. Dort bildet der Strom des Amudarya, an dem der mit 285 Metern tiefste Punkt Afghanistans liegt, die Grenze zum russischen Einflussbereich. Im Westen, wo das British Empire dafür gesorgt hat, dass der Iran den Fluss Hari Rud nicht überqueren würde, ist der Grenzverlauf ebenso einleuchtend.
Ausschließlich der kolonialen Logik folgten die anderen von den Briten gezogenen Grenzen. Ohne große Folgen sollte der Federstrich im Süden und Südwesten quer durch Belutschistan bleiben. Seither leben die Belutschen, ein Volk mit 6 Millionen Angehörigen, in drei Ländern: in Iran, im heutigen Pakistan und zu einem geringeren Teil auch in Afghanistan. Die willkürlich gezogene Grenze verläuft südlich einer großen, lebensfeindlichen Wüste. Wer auch immer von Süden her in Afghanistan einmarschieren will, muss zunächst sie durchqueren.
Konsequenzen hatte in der Geschichte jedoch der Federstrich, den der britische Kolonialbeamte Mortimer Durand(1) 1893 mitten durch das Siedlungsgebiet der Paschtunen zog. Den kleineren, nördlichen Teil schlug er Afghanistan zu, den größeren im Süden und im Osten aber Britisch-Indien und damit dem heutigen Pakistan. Das Kalkül war, einen starken paschtunischen Staat zu verhindern, der den Briten Ärger hätte bereiten können, und den strategisch wichtigen Khyber-Pass zu kontrollieren, den sie ihrem Herrschaftsgebiet einverleibt hatten.
Die Durand-Linie schlug zwei für die Paschtunen bedeutsame Städte Pakistan zu: Quetta und Peschawar, die historische Winterhauptstadt der Paschtunen. Auf der anderen Seite der Grenze liegen, sozusagen jeweils als Schwesterstädte, Kandahar und Dschalalabad. Aufgrund dieser Nähe konnten wiederholt Quetta und Peschawar zu Zentren des Widerstands in Afghanistan werden.
Zwei Jahre nachdem sie die Durand-Linie festgelegt hatten, setzten die Briten 1895 durch , dass dem Nordosten Afghanistans der schmale, 300 Kilometer lange Wachan-Korridor zugeschlagen wurde. Sie wollten damit verhindern, dass Russland auch nur irgendwo an Britisch-Indien grenzen könnte, und so schiebt sich heute der afghanische Wachan-Korridor wie ein Finger zwischen Tadschikistan und Pakistan. Es sollte noch bis 1964 dauern, bis sich Afghanistan und China auf den genauen Verlauf ihrer nur 76 Kilometer langen gemeinsamen Grenze einigen sollten, die auf 5000 Metern Höhe in den Gletschern des Karakorum verläuft.
Die Briten zogen Grenzen, es kam ihnen aber nicht in den Sinn, innerhalb dieser Grenzen nation building zu betreiben, damit ein Staatsvolk mit einer gemeinsamen Identität entstünde, das Verantwortung in einem künftigen modernen Staat Afghanistan übernehmen könnte. Ihr Ziel war lediglich die Schaffung eines Puffers. Es spielte keine Rolle, dass sie es nun mit einem heterogenen Vielvölkerstaat zu tun hatten. Für diesen Staat setzte sich der Name Afghanistan durch, das »Land der Afghanen«. Jedoch ist »Afghane« keine Selbstbezeichnung; vielmehr hatten die Perser die Paschtunen, das Volk östlich von Iran, so genannt. Sie, die Afghanen genannten Paschtunen, sind das staatstragende Volk des Landes, selbst wenn sie nur eine – wenn auch die größte – ethnische Gruppe stellen.
Offiziell wurde der Name »Afghanistan« erstmals im anglo-persischen Friedensvertrag von 1801 erwähnt. In ihm bot das British Empire dem persischen Schah Hilfen an, sollte ihm von Frankreich oder Russland Gefahr drohen. Als Bezeichnung für das Land setzte sich »Afghanistan« erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch, als Abdurrahman(1) Khan (reg. 1880 bis 1901) staatliche Strukturen aufbaute und das British Empire die Grenzen des Landes festlegte.[3]
Afghanistan besteht nicht nur aus schwer zugänglichen Gebirgsregionen und lebensfeindlichen Wüsten. In der Geschichte waren einige große Städte, die um die Hauptstadt Kabul herum eine Raute bilden, Zentren urbaner Kultur. Im Osten ist Dschalalabad das Tor nach Pakistan und Peschawar, im Westen liegt das von der persischen Kultur geprägte Herat auf einer fruchtbaren Ebene. Am Südabhang des Hindukusch führt der Weg von Kandahar nach Quetta und Pakistan, von Mazar-e Scharif am nördlichen Abhang ist es nicht weit zur Grenze mit Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Nur wenige Kilometer von Mazar-e Scharif entfernt liegt Balch, der Geburtsort Zarathustras(2). In Kandahar befindet sich ein Schrein mit dem Mantel des Propheten Mohammed(1), und Mazar-e Scharif beansprucht (wenn auch zu Unrecht), aus der letzten Ruhestätte für Ali ibn Abi Talib(1) hervorgegangen zu sein, den Cousin und Schwiegersohn des Propheten.
Kandahar, Herat, Mazar-e Scharif und Dschalalabad verbindet eine gut ausgebaute Ringstraße. Sie ist die Hauptverkehrsader des Landes, dessen Infrastruktur zu den schlechtesten weltweit zählt. Von der Ringstraße gehen Stichstraßen in die ländlichen Gebiete ab. Wer immer das Land eroberte: Auf dieser Ringstraße kamen seine Truppen schnell und leicht vorwärts. Das galt zuletzt im Sommer 2021 für die Taliban.
Kabul liegt im Zentrum des Landes, wenn auch nicht in der Mitte, sondern im Osten und in der Nähe Pakistans. Umgeben ist die Hauptstadt von zwei mittelgroßen Städten. Ghazni im Süden war vor tausend Jahren eine kulturelle Metropole mit großer Ausstrahlung. Im Norden bauten die Sowjets Bagram zu einer großen Garnisonsstadt mit einem bedeutenden Militärflughafen aus. Lange war der Weg von Kabul in den Norden des Landes beschwerlich, einen Pass über den Hindukusch gab es nicht. Der einzige Weg nach Norden führte in einer ausgedehnten Schleife entlang der Ringstraße. Die Straße, die über den Hindukusch hinweg Kabul direkt mit Kunduz und Mazar-e Scharif verbindet, wurde erst im Jahr 1933 fertiggestellt. Im Winter ist sie erst seit dem Bau des drei Kilometer langen Salang-Tunnels benutzbar, den die Sowjets 1964 beendeten.
Zu den Besonderheiten Afghanistans gehört der gewaltige Gegensatz zwischen Stadt und Land. Selbst mächtige Großreiche herrschten meist nur über die wenigen großen Städte, die dank des Fernhandels relativ wohlhabend waren und durch den Wohlstand Zentren des Fortschritts wurden. Die Moderne hielt in die Städte Einzug, erst unter dem Einfluss der Türkei Atatürks(1), später modernisierte die Sowjetunion die Städte nach ihren Vorstellungen. Kabul galt im 20. Jahrhundert zeitweise als eine der modernsten Städte Asiens.
Nicht einmal einheimische Dynastien wie die Ghaznawiden, Ghoriden und Durrani hatten Zugriff über die wenigen gut erreichbaren großen Städte hinaus. Nie konnten die Herrscher auch in den ländlichen Gebieten ihre Macht durchsetzen, zumal diese in den schneereichen Wintern bis in die Gegenwart oft von der Außenwelt abgeschnitten sind. Die ländlichen Regionen blieben arm und unterentwickelt, die Analphabetenrate war immer extrem hoch. Die Menschen lebten und leben weiterhin in einer traditionellen Gesellschaftsordnung, die sich über die Zeit kaum gewandelt hat.
Die ländlichen Gebiete wurden und werden von den konservativen Werten der Stammesgesellschaft und von einem Islam geprägt, der sich hier über Jahrhunderte nicht verändert hat. Stämme führen in den Nischen abgeschiedener und unzugänglicher Gebirgsregionen seit Jahrhunderten ein Eigenleben. Das ist ein ideales Gelände für Guerillakriege: dünn besiedelte ländliche Regionen und die Gebirge, in denen keine konventionellen Bodentruppen vorwärtskommen. Die Taliban sind in der ländlichen Gesellschaft mit deren konservativen Werten verankert. Sie nutzen diese Faktoren und die schwierige Topographie zu ihrem Vorteil.
Die Städte sahen neue Herren kommen und gehen. Nie wurden jedoch die ländlichen Gebiete auf Dauer erobert. Die Menschen sind trotz der feudalen Stammesstrukturen entschlossen, sich keinem Eroberer zu beugen, und so haben sie in den Bergen und Tälern im Laufe vieler Jahrhunderte eine kriegerische Tradition entwickelt. Meist bekämpften sie sich gegenseitig; wann immer das Land aber von außen bedroht war und ist, schlossen und schließen sie sich zusammen. Die Eroberer mögen waffentechnisch überlegen sein, so wie es die Mongolen mit ihren Bogen waren und die Sowjets mit ihren Kampfhubschraubern – letztlich konnten sich die Afghanen stets behaupten. Zu ihrem Glauben kamen als wichtige Verbündete das unpassierbare Terrain, ihre Unsichtbarkeit in den Bergen, ihr Freiheitswille und ihre unbegrenzte Geduld hinzu.[4]
Die Geographie bestimmt in wenigen Ländern die Geschichte und das Leben der Menschen so stark wie in Afghanistan: Seine geostrategische Lage weckte stets die Begehrlichkeiten fremder Mächte, und die karge und harte Gebirgswelt brachte Krieger hervor, wie sie die Welt nur an wenigen anderen Orten kennt. Die klimatischen Extreme der Steppe stählen im Norden die (oft nomadischen) Turkvölker, und die schroffe Gebirgswelt prägt im Süden die Paschtunen.[5]
So vielfältig Geographie und Topographie sind, so vielfältig sind die Menschen. Wenn es galt, fremde Eroberer zu vertreiben, waren sie immer eins, danach aber fiel ihre Einheit auseinander. Zu groß sind die ethnischen und konfessionellen Gegensätze. Einig sind sie sich darin, Afghanistan als Ganzes zu bewahren; einen Zentralstaat jedoch, den sie mit anderen Gruppen zu teilen oder gar sich diesen unterzuordnen hätten, wollten zumindest die großen Akteure nicht.
Vor allem die Paschtunen, die konstituierende Ethnie Afghanistans, entzogen sich meist einer zentralen staatlichen Autorität und begehrten immer wieder gegen die jeweilige Staatsmacht auf. Staaten – sofern diese Bezeichnung überhaupt gerechtfertigt ist – konnten daher nur in wenigen Phasen ein Instrument der Modernisierung werden, selten besaßen sie ein Gewaltmonopol über das ganze Land.[6]
Der Staat sei für viele Afghanen eine »fremde, wenn nicht gar feindliche Größe« geblieben, schreibt der Afghanistan-Kenner Conrad Schetter(1). Die Identifizierung mit ihm sei ausgeblieben, zu keinem Zeitpunkt der Geschichte sei er der Aufgabe nachgekommen, Sicherheit und Ordnung herzustellen. Polizisten galten als Wegelagerer in Uniform. Daher gewannen die Taliban Sympathien, als sie, wenn auch mit brutalen Mitteln, für Sicherheit im Alltag sorgten.[7]
Auch in weiteren Punkten deckt sich ihr Vorgehen mit den Wünschen der Afghanen, insbesondere in den ländlichen Gebieten, denn traditionelle Afghanen knüpfen ihre Akzeptanz einer Herrschaft an zwei Bedingungen: Sie muss islamisch legitimiert sein, und sie muss in der Lage sein, Konflikte innerhalb eines Stammes oder zwischen Stämmen erfolgreich zu schlichten. So sprechen bereits drei Argumente für die Taliban: Sie setzen Sicherheit durch, sie legitimieren sich islamisch, und sie betreiben funktionierende Scharia-Gerichte.
Ethnisch, sprachlich und religiös ist Afghanistan heterogen wie sonst vielleicht nur noch der Kaukasus. Da sind zum einen die Paschtunen, die gegen jede Zentralmacht aufbegehrten und ebenso untereinander Krieg um die Vorherrschaft führten, und zum anderen die Nichtpaschtunen, die sich der Vorherrschaft durch die Paschtunen widersetzten. Es waren Ende des 20. Jahrhunderts die nichtpaschtunischen Minderheiten, die sich zur »Nordallianz« zusammenschlossen, um die paschtunischen Taliban zu stürzen.
Die vier größten Ethnien (Paschtunen, Tadschiken, Hazara und Usbeken) stellen 87 Prozent der Bevölkerung,[8] der Rest setzt sich aus einem bunten Flickenteppich zusammen. Dazu gehört etwa die nomadische Stammeskonföderation der Persisch sprechenden, sunnitischen Aimaken in Zentralafghanistan, ebenso Turkmenen und Belutschen, ferner zahlreiche kleinere Ethnien wie die Nuristani im Nordosten des Landes. Letztere sind mutmaßlich die Nachkommen der Bewohner der griechisch-baktrischen Reiche, die im 2. und 3. Jahrhundert v. Chr. von den Nachfolgern Alexanders(2) des Großen regiert worden waren. Lange hieß ihre Region Kafiristan, das »Land der Ungläubigen«. Erst mit der zwangsweise erfolgten Islamisierung im Jahr 1896 wurde sie in Nuristan, das »Land des Lichts«, umbenannt.[9]
Die Paschtunen, die Begründer und Namensgeber Afghanistans, stellen mit 42 Prozent die größte Ethnie. Ihr historisches Siedlungsgebiet liegt zwar südlich des Hindukusch; wiederholt siedelten Herrscher jedoch paschtunische Stämme auch nördlich des Gebirges an, um so diese Regionen besser kontrollieren zu können.
Mit 27 Prozent sind die Tadschiken die zweitgrößte Gruppe, allerdings handelt es sich nicht um eine ethnische Gruppe im engeren Sinn. Vielmehr ist die Bezeichnung »Tadschike« der Sammelbegriff für die Persisch (also Dari) sprechende und überwiegend sunnitische Bevölkerung Afghanistans. Ihre historischen Siedlungsgebiete sind die Grenzregionen zu Zentralasien um Mazar-e Scharif und zu Iran um Herat. Eine Untergruppe der Tadschiken bilden die Qizilbasch. Sie gingen aus der Kaste der türkischstämmigen Krieger hervor, die der persische Afscharide Nadir Schah(1) auf seinen Feldzügen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Kandahar und Herat angesiedelt hatte. Als zwölferschiitische Muslime aus Iran waren sie den sunnitischen Paschtunen verhasst. Dazu trug bei, dass sie in der gebildeten Beamtenklasse des Landes lange überproportional vertreten waren.
Die Hazara stellen 9 Prozent der Bevölkerung. Sie sprechen Persisch wie die Tadschiken, sind aber zwölferschiitische Muslime wie die Qizilbasch. Anders als diese sind sie jedoch nicht Nachkommen türkischstämmiger Krieger, sondern Nachfahren der mongolischen Eroberer. Im Straßenbild fallen sie mit ihrem turko-mongolischen Aussehen meist auf. In der Geschichte Afghanistans wurde keine andere Gruppe so verfolgt und diskriminiert wie die Hazara.
Die Usbeken, auf die ebenfalls ein Anteil von 9 Prozent an der Bevölkerung entfällt, sind wiederum Sunniten. Sie sprechen Usbekisch, die am weitesten verbreitete Turksprache Zentralasiens. Viele Usbeken, Tadschiken und Turkmenen wanderten erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Flucht vor der gewaltsamen Sowjetisierung Zentralasiens in Afghanistan ein.
Ebenso vielfältig sind die in Afghanistan gesprochenen Sprachen. Nachgewiesen sind mindestens dreißig, hinzu kommen mehr als 200 Dialekte. Die beiden Amtssprachen Dari und Paschto sind Teil der indogermanischen Sprachfamilie. Doch dann wird es bunt: Die Turksprachen Usbekisch und Turkmenisch sowie Belutschisch gehören zur altaischen, das im nördlichen afghanisch-pakistanischen Grenzland gesprochene Brahui zur seltenen drawidischen Sprachfamilie. Paschai, das noch von etwa 100 000 Menschen in Tälern nördlich des Kabul-Flusses gesprochen wird, zählt zur Untergruppe der dardischen Sprachen und ist mit dem in Kaschmir gesprochenen Kaschmiri verwandt. Paschai unterteilt sich wiederum in mehrere Dialekte, die untereinander nicht verständlich sind.
Im Hindukusch wechselt die Sprache oftmals von Tal zu Tal, daher können sich die Afghanen ohne lingua franca nicht verständigen. Eine ist Dari, die afghanische Variante des Persischen. Sie setzte sich vor Jahrhunderten als die wichtigste Verwaltungs- und Kultursprache der Region durch und ist auch die in Kabul gesprochene Sprache. Die andere Sprache, die den Afghanen zur Verständigung untereinander dient, ist Paschto. Sie ist die wichtigste noch in der Gegenwart gesprochene Sprache, die aus den altiranischen Sprachen hervorgegangen ist. Paschto ist die Sprache der Paschtunen und die Muttersprache von fast der Hälfte der Bevölkerung Afghanistans.
Zwar ist der Islam das Band, das nahezu alle Afghanen miteinander verbindet. Er bestimmte auch vor den Taliban das Leben und prägte den Alltag. Der afghanische Islam ist jedoch vielfältig. Bis in die jüngste Gegenwart duldeten die Afghanen diese Vielfalt mit einer selbstverständlichen Toleranz. Erst der Bürgerkrieg nach der Vertreibung der Sowjetarmee zerstörte diese gelebte Offenheit. Ohne Beispiel in der Geschichte Afghanistans sind die Massaker, die Muslime zwischen 1995 und 1998 an anderen Muslimen verübten, nur weil diese eine andere Form des Islams praktizierten.
Etwa 80 Prozent der afghanischen Muslime sind Sunniten. Die Hazara bekennen sich zur Zwölferschia, wie sie in Iran praktiziert wird; sie ist die größte schiitische Strömung. Die Ismailiten werden der Siebenerschia zugerechnet, die sich im 8. Jahrhundert von der Linie der Zwölferschia abgespalten hat; in Afghanistan sind sie Tadschiken. (1)Eine wichtige Rolle spielen vorislamische religiöse Praktiken wie der Animismus, wie zoroastrisches Brauchtum, wie das persische Neujahrsfest Nouruz am 21. März sowie – und das vor allem – das vorislamische Stammesrecht, das bei den Paschtunen im Rechts- und Ehrenkodex Paschtunwali zusammengefasst ist.
Drei Formen des afghanischen Islams lassen sich unterscheiden: der traditionelle, der politische und der extremistische Islam der Taliban.[10] Der traditionelle Islam zeichnet sich dadurch aus, dass er der hanafitischen Rechtsschule folgt, der liberalsten der vier Rechtsschulen im sunnitischen Islam. Diese hanafitische Rechtsschule ermöglicht eine dezentrale Organisation des religiösen Lebens, was einem zentralen Staat erschwert, Einfluss zu nehmen. Der mystische Islam spielt in diesem traditionellen Islam eine große Rolle, und er verhindert extremistisches Gedankengut. Es war daher kein Zufall, dass die Scheiche der beiden größten Orden – der Naqschbandiya und der Qadiriya – bei den Mudschahedin die gemäßigten Führer stellten.
Der politische Islam hielt Einzug, als in den 1950er-Jahren afghanische Religionsgelehrte von ihrem Studium in Ägypten das Gedankengut der Muslimbruderschaft mitbrachten und als wenige Jahre später Saudi-Arabien den im Königreich ausgebildeten Abd al-Rasul Sayyaf(1) nach Afghanistan schickte, um den saudischen, wahhabitischen Islam zu verbreiten. Sayyaf(2) lehrte an der Universität Kabul islamisches Recht und wurde politisch aktiv. Aktivisten wie er bildeten bald eine neue Klasse von Akademikern und gut gebildeten Religionsgelehrten, die sich zum Ziel setzten, die Politik und Gesellschaft Afghanistans aus dem Islam heraus zu verändern. Sie organisierten sich in geheimen Zellen und bauten auch Milizen auf. Aus ihrem Kreis rekrutierten sich ab den 1970er-Jahren einige Führer der Mudschahedin im Kampf gegen die Sowjetunion.
Die Taliban grenzen sich sowohl von den traditionellen Muslimen als auch vom politischen Islam ab. Sie interpretieren die religiösen Quellen so restriktiv wie keine andere Richtung und verbannen, anders als der politische Islam, die Frau aus dem öffentlichen Leben. Beeinflusst werden sie von der Reformbewegung des Deobandismus auf dem indischen Subkontinent und von dem konservativen paschtunischen Werte- und Rechtskodex Paschtunwali, der den Frauen weit weniger Rechte zugesteht als selbst die rigideste Auslegung der Scharia; der Kodex fordert von jedem Paschtunen, sein Volk und seinen Stamm gegenüber einer feindlichen Welt kühn und tapfer zu verteidigen.[11] Die Ideologie der Taliban lässt sich als eine Verschmelzung der paschtunischen Sittenordnung mit dem Islam beschreiben, die das Ziel verfolgt, das Afghanentum neu zu beleben.
Eine zentrale Institution zur Organisation der paschtunischen Gesellschaft ist die Loya Dschirga, die »Große Versammlung«, die ihren Ursprung nicht in Afghanistan, sondern in den mongolischen Großreichen hat. Stammesführer berufen sie in unregelmäßigen Abständen ein, um ihre Macht zu legitimieren. In Loya Dschirgas werden auch interne Konflikte und Spannungen mit anderen Stämmen beigelegt. Eine solche Versammlung kann Tage dauern, Entscheidungen werden im Konsens getroffen.
In der Moderne institutionalisierte König Amanullah(1) (reg. 1919 bis 1929) die Loya Dschirga und machte sie, indem er alle Ethnien und Stämme einband, zu einem Fundament des heutigen afghanischen Staats. Amanullah(2) berief die Versammlung etwa ein, um sein Modernisierungsprojekt zu legitimieren, das später jedoch scheitern sollte. Auch die kommunistische Herrschaft machte von dem Instrument Gebrauch, wodurch die Loya Dschirga allerdings ihre Bedeutung als ein Dialogforum einbüßte. Nach dem Sturz der Taliban wählte schließlich am 11. Juni 2002 eine Loya Dschirga mit 1500 Delegierten, die in den Landesteilen bestimmt worden waren, Hamid Karzai zum Präsidenten des Landes. Sie tagte länger als eine Woche in Kabul in einem großen Zelt.
Die Paschtunen sind die konstituierende Ethnie Afghanistans. Ihre beiden großen Stammeskonföderationen der Durrani (Abdali) und Ghilzai rivalisierten miteinander, und ihre Konflikte haben die Geschichte des Landes stark geprägt. Die Durrani siedeln im westlichen Teil Afghanistans zwischen Kandahar und Herat, die Ghilzai im Osten zwischen Kandahar und Kabul. Wiederholt kämpften beide um Kandahar. Sie führen ihre Abstammung auf Qais(1) zurück, einen Gefährten des Propheten Mohammed(2). Damit wären sie ein semitisches Volk; Anthropologen klassifizieren sie jedoch als Indoeuropäer. Die Durrani beanspruchen den ältesten Sohn von Qais(2) als Ahnherrn, die Ghilzai den zweitgeborenen. Mit dem dritten Sohn beginnt die Ahnenreihe kleinerer paschtunischer Konföderationen.[12]
Seit Jahrhunderten konkurrieren die Durrani und die Ghilzai, seit dem 17. Jahrhundert liegt die Macht – mit sehr kurzen Unterbrechungen – entweder bei den einen oder den anderen. Der Ghilzai Mir Wais(1)