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Der Nahe Osten vor dem Kollaps Souverän und eindringlich schildert und analysiert Rainer Hermann die bedrohliche, aktuelle Lage der Staaten im Nahen Osten und Afrika und zeigt die Auswirkungen einer drohenden Implosion der arabischen Welt für Deutschland und Europa: die große Herausforderung der Zukunft. Lange gingen uns die Kriege vor unserer Haustür nichts an. Denn die Regime des Nahen Ostens waren stabil, und ihre Konflikte trugen sie untereinander aus. Mit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 hatten die Kriege nun unsere Türschwelle erreicht. Hellsichtig und warnend schildert Rainer Hermann, wie der Region jenseits des Mittelmeers eine verheerende Implosion droht – mit verheerenden Folgen für Deutschland und Europa. Mehrere Staaten sind bereits gescheitert, andere stehen unmittelbar davor. Für eine grundlegende Reform fehlt den Eliten aber die Einsicht. Wir alle müssen – so der eindringliche Appell – uns endlich auf diesen Prozess einstellen. Denn ein Scheitern bedeutet auch, dass Menschen keine Zukunftsperspektive mehr haben und wieder vermehrt nach Europa flüchten. Daher müssen auch Deutschland und die EU abwägen, ob sie mit dem Argument einer Scheinstabilität weiterhin die Diktatoren und autokratischen Systeme unterstützen oder ob sie auf der Seite der Würde des Menschen stehen und einen Wandel befürworten. Davon werden die arabischstämmigen Deutschen und die Araber hierzulande ihre Haltung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland abhängig machen. Ein hochaktuelles Buch, das zeigt, wie das Mittelmeer zur Schicksalsgrenze unseres Kontinents wird.
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Seitenzahl: 375
Rainer Hermann
Die Achse des Scheiterns
Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock / Hiba Al Kallas
Karte auf S. 273: Rudolf Hungreder, Leinfelden-Echterdingen
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98450-7
E-Book ISBN 978-3-608-11678-6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Eine Zukunft noch schlechter als die Gegenwart
Von der missglückten Revolte zur Revolution?
Das große Scheitern der Staaten
Erste Beben im Epochenjahr 2011
Bröckelnde Regime
Im ersten Anlauf gescheiterte Revolutionen
Vor den kommenden Erschütterungen
Die Demonstranten lernen dazu, die Regime nicht
Beschleuniger: Covid-19, der Klimawandel und der Jahrhundertdeal
Gefahren, die vom Nahen Osten ausgehen
Ein Gangsterquartett der alten Regime
Ägypten: Sabri Nachnouch führt die Schlägerbande des Innenministers
Saudi-Arabien: Saud al-Qahtani leitet die Abteilung Attacke des Kronprinzen
Algerien: Said Bouteflika regiert für seinen gelähmten Bruder
Syrien: Rami Makhlouf greift nach dem ganzen Land
Ägypten: Wie lange hält der Kessel?
Generäle als Pharaonen
Im Würgegriff des Militärs
Eine Wirtschaft wird ruiniert
Generation Gefängnis
Das Rabaa-Massaker am 14. August 2013
Gefährliche Nachbarschaft
Äthiopien und Sudan: Gefahr aus dem Süden
Libyen: Staatszerfall an der Westgrenze
Ist Ägypten stabil?
Saudi-Arabien: Königreich der Widersprüche
Der Zwiespalt wird größer
Das Haus Saud: Konflikt statt Konsens
Islam: Mekka und Wahhabismus
Erdöl: macht reich und korrupt
Warum musste Jamal Khashoggi sterben?
Gefährliche Nachbarschaft
Vereinigte Arabische Emirate und Qatar: feindliche Brüder
Der Jemen: Staatszerfall am weichen Unterleib
Ist Saudi-Arabien stabil?
Algerien: Hält das Bollwerk?
Geprägt durch die Geschichte
Der lange Kampf für die Unabhängigkeit eint
Sechs Jahrzehnte Herrschaft der
FLN
lähmen
Der friedliche Protest setzt Energien frei
Das Mittelmeer: Wege nach Europa
Gefährliche Nachbarschaft
Sahelzone: Die neue Front im Kampf gegen den Terror
Tunesien: Gefährdete Demokratie
Ist Algerien stabil?
Die Levante: Staatszerfall im schiitischen Halbmond
Syrien: Die Beute wird zerlegt
Der Irak: Die Mutter aller Konflikte
Libanon: Der Staat als Mittel der Patronage
Kehrt der
IS
zurück?
Die Begierden externer Akteure
Die Vereinigten Staaten: Ein Ende der langen Kriege?
Russland: Prestigeerfolge trotz Schwäche
China: Öltanker und Kriegsschiffe
Türkei: Das imperiale Gedächtnis erwacht
Eine Dekadenaufgabe für Europa
Der Nahe Osten rückt näher an Europa
Eine fragile und instabile Region
Die Ursachen von Flucht, Migration und Terrorismus
Wie mit den Ländern im Nahen Osten umgehen?
Eine neue Politik
Ein Marshallplan
Wie in Deutschland den gesellschaftlichen Frieden sichern?
Eine gemeinsame Wertebasis
Ein bürgerlicher Islam
Das alte Arabien ist Geschichte
Anmerkungen
Von der missglückten Revolte zur Revolution?
Ein Gangsterquartett der alten Regime
Ägypten: Wie lange hält der Kessel?
Saudi-Arabien: Königreich der Widersprüche
Algerien: Hält das Bollwerk?
Die Levante: Staatszerfall im schiitischen Halbmond
Die Begierden externer Akteure
Eine Dekadenaufgabe für Europa
Literaturverzeichnis
Monografien und Artikel
Webseiten von Organisationen
Zeitungen und Zeitschriften
Personenregister
Arabische Diktatoren sterben keinen schönen Tod. Saddam Hussein(1) fanden amerikanische Soldaten in einem dreckigen Erdloch, in dem er sich über Wochen versteckt hatte. In Bagdad wurde ihm der Prozess gemacht, er starb durch den Strang. Muammar al-Gaddafi(1) fanden libysche Rebellen, als er in der Betonröhre eines Kanals Schutz suchte. Als sie erkannten, wen sie da vor sich hatten, misshandelten sie ihn und töteten ihn schließlich durch einen Kopfschuss. Der Jemenite Ali Abdullah Saleh(1) floh nach seinem Sturz in die Berge und ging einen Pakt mit den Houthi-Rebellen ein, die er zuvor noch bekämpft hatte. Sie erschossen ihn und präsentierten der Welt seinen Leichnam auf einem Pritschenwagen.
Anderen erging es nur wenig besser. Husni Mubarak(1) lag in einem Krankenbett, als ihn ein ägyptisches Gericht zu einer langen Haftstrafe verurteilte. Nach dem Putsch von 2013 wurde die Strafe aufgehoben, und er starb als freier Mann. Der Tunesier Zain al-Abidin Ben Ali(1) floh nach seinem Sturz nach Saudi-Arabien, wo er geistig umnachtet starb. Ja, arabische Diktatoren sterben keinen schönen Tod. Doch ihren Völkern geht es schon zu Lebzeiten schlecht. Sie leben, was die Diktatoren erst im Tod erfahren.
Vor einem Jahrhundert noch war Basra das »Venedig des Orients«. Euphrat und Tigris fließen hier ineinander und bilden ein mächtiges Delta. Basra war eine weltoffene, wohlhabende Hafenstadt mit prächtigen Häusern, in denen einige der besten arabischen Literaten lebten, und Palmenhainen, die zu den schönsten gehört haben sollen, die die Natur je geschaffen hat. Der Garten Eden soll nicht weit von hier gelegen haben.
Geblieben ist von alldem nichts, nichts Schönes ist mehr zu sehen. Zahllose Kanäle durchziehen die Stadt. Doch wo einst Pracht war, verfallen die Häuser. Wo einst stolz die Ströme von Euphrat und Tigris dahinflossen, haben Abwasser und Müllberge stinkende Kloaken geschaffen. Wo einst Kinos, Theater und Restaurants Menschen von weit her angelockt haben, hängen schiitische Trauerfahnen. Freudlosigkeit hat sich über die Stadt gelegt.
Der Niedergang zieht sich seit Langem hin. Kriege haben Wunden hinterlassen. Der gegen Iran von 1980 bis 1988 und der nach der Besetzung von Kuwait 1991. Es folgten die Jahre der verheerenden Sanktionen und das Chaos nach dem Sturz von Saddam Hussein(2). Das Geld wäre da, um Basra zu alter Größe zu verhelfen. Am Horizont ist zu sehen, wie bei der Ölförderung Gas abgefackelt wird. Doch der Irak ist eines der korruptesten Länder überhaupt.
Die Alten haben sich damit abgefunden. Die Jugend jedoch begehrt auf. Seit Oktober 2019 rufen sie in Basra und anderen Städten des Iraks Nurid watan (»Wir wollen ein Vaterland«). Sie sagen damit: Wir sind heimatlos geworden, jetzt wollen wir unser Land zurück.
Szenenwechsel: Kairo. Das historische Viertel des Maspero-Dreiecks am Nil sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Keines der im 19. Jahrhundert errichteten Häuser steht mehr. Doch nicht Raketen haben es zerstört, sondern Bagger. Jeder Widerstand gegen die Staatsgewalt war zwecklos, sagt am Rande des Trümmerfelds einer, der hier aufgewachsen ist und fortziehen musste.
An dem Viertel, in dessen engen Gassen und Häusern während der Proteste von 2011 Demonstranten vom nahe gelegenen Tahrir-Platz Schutz gesucht und gefunden haben, statuiert das Regime ein brutales Exempel. Sein Vorgehen ist eine Warnung an alle, sich ihm bloß nicht in den Weg zu stellen. Gleichzeitig schafft es ein Symbol dessen, was es unter Modernisierung versteht: Statt das architektonische Erbe zu pflegen, rollt es dem Kapital aus den Golfmonarchien den roten Teppich aus.
In Dubai ist die glitzernde Betonglasarchitektur aus dem kargen Wüstenboden in die Höhe geschossen, in Kairo verdrängt sie gewachsene Traditionen. Menschen spielen dabei keine Rolle. Das ist auch die Botschaft der zweistöckigen Schnellstraßen in der Stadt, deren obere Trassen bis auf eine Armlänge an die Häuser reichen.
Szenenwechsel: Nirgendwo sonst hat al-Qaida vor zwei Jahrzehnten mehr junge Männer und Frauen rekrutiert als in Buraida, einer weltabgeschiedenen Oase in der Mitte der Arabischen Halbinsel. Lange war Buraida eine wichtige Karawanenstation, und ihre Einwohner waren stolz, die eifrigsten Anhänger des wahhabitischen Islams zu sein, der im Königreich Saudi-Arabien die Grundlage des religiösen Lebens und des Staatsverständnisses bildet.
Auch heute noch verbergen schwarze Abayas, die nur einen Schlitz für die Augen freilassen, die Frauen. Eine moderne Frau erkennt man daran, dass ihre Hände zu sehen sind, sie trägt keine schwarzen Handschuhe mehr. Selbst wenn es kaum ins Auge fällt: In Buraida hat eine Kulturrevolution eingesetzt. Sie spaltet die Gesellschaft, was an den zwei Universitäten der Stadt sichtbar wird. Die theologische Hochschule ist der Hort der frommen Altvorderen, sie wurde 1976 gegründet. 2004 folgte eine allgemeine Hochschule, die der Jugend eine Alternative bietet. Sie hat heute weit mehr Studenten als die theologische Hochschule.
Das setzt sich in der Wüste fort. Dort draußen in der Einsamkeit tauschen sich die Frommen, deren blütenweiße Gewänder anders als bei den meisten Saudis nur bis zu den Knöcheln reichen und die lange, ungeschnittene Bärte tragen, darüber aus, wie weit sich das Königreich von ihrer islamischen Utopie entfernt hat. Denn selbst in Buraida will sich heute ein Großteil der Jugendlichen vergnügen. Sie frisieren ihre Autos zu dröhnenden Maschinen und veranstalten auf den Wüstenpisten Rennen, bei denen sie Baseballmützen und T-Shirts tragen.
Szenenwechsel: Tripolis. An der Küstenstraße von der libyschen Hauptstadt nach Zawiya liegt der kleine Hafen Sidi Bilal. Er erfüllt keinen anderen Zweck, als für Migranten aus Afrika das Tor nach Europa zu sein. Nachdem Gaddafi(2) gedroht hatte, Europa mit Flüchtlingen zu überschwemmen, liefen die Schiffe von diesem kleinen ehemaligen Fischerhafen aus.
Über tausend Männer und Frauen aus mehr als zwölf Ländern Schwarzafrikas haben sich beim örtlichen Milizenführer, der über Jahre in Gaddafis(3) berüchtigtstem Kerker Abu Salim geschmachtet hat, registriert und warten im Schatten der auf Dock liegenden Schiffe auf ihre Chance. Internationale Organisationen versorgen sie Tag für Tag mit Wasser und Lebensmitteln.
Keiner will bleiben. In Tripolis herrscht Krieg, und Schwarze werden angefeindet, da sich viele als Söldner Gaddafis(4) verdingt haben. In Libyen sind sie nicht willkommen, nach Hause wollen sie nicht. Und so blicken sie sehnsüchtig aufs Meer, nach Norden, dorthin, wo Europa liegt.
»Bei euch in Europa«, sagt der gebildete Iraker aus Basra, »ist ja die Zukunft immer besser als die Gegenwart. Hier bei uns ist es umgekehrt. Denn bei uns ist das Heute immer besser als das Morgen. Und auch dieses Heute ist schon lange nicht mehr gut.«
Es wird noch schlimmer kommen. Die Proteste des Jahres 2011, die zum Sturz von vier Machthabern geführt haben, waren erst der Anfang großer Erschütterungen, die der arabischen Welt bevorstehen. In einem einzigen Jahrzehnt haben Aufstände, Konflikte und Kriege elf Länder erfasst. Die Region hat ihren Tiefpunkt aber noch lange nicht erreicht. Die Missstände, die das Beben ausgelöst haben, sind nicht beseitigt worden, dafür sind neue hinzugekommen. Es ist noch schlechter geworden, was bereits schlecht war.[1] Auch im 20. Jahrhundert hat der Nahe und Mittlere Osten viel Gewalt und Rückschläge erlebt. Doch der Ausblick war nie so düster wie heute.
Dabei haben die Proteste des Jahres 2011, von vielen als »Arabischer Frühling« gefeiert, die Hoffnung genährt, dass endlich auch die arabische Welt von einer Welle der Demokratisierung erfasst werde. In einer Zeit, in der in vielen Ländern, beispielsweise in Osteuropa, Revolutionen und Umwälzungen erfolgreich waren, ist es in der arabischen Welt aber nirgends geglückt, ein Land grundlegend und zum Besseren zu verändern.
Die Regime waren zufrieden, und der Westen war es auch. Schließlich war der Fokus des Westens auf das gerichtet, was am drängendsten erschien: den Terror vor Ort zu bekämpfen, ein Übergreifen von Kriegen zu verhindern, die Expansionslust Irans einzudämmen, Flüchtlinge in ihren Heimatländern zu halten, Länder vor einer Implosion zu bewahren. Für Europa war das eine so naheliegende wie kurzsichtige Strategie. Denn nirgends wurden die Probleme gelöst. Im Gegenteil: Sie wurden und werden mit der Zeit immer größer.
Statistiken suggerieren, dass die Volkswirtschaften des Nahen Ostens wachsen, das durchschnittliche Einkommen je Einwohner steigt und die Arbeitslosigkeit nur wenig über den Werten Europas liegt. Durchschnittszahlen sagen aber nichts aus über die extrem ungleiche und ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sie verschleiern, dass die wenigen Reichen immer reicher werden, die vielen Armen immer ärmer und die Mittelschicht erodiert.
Laut den offiziellen Zahlen geben die Staaten des Nahen Ostens, gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt, das Dreifache des weltweiten Durchschnitts für Sicherheit und Rüstung aus. Ausgaben für ihre nichtstaatlichen Akteure in anderen Ländern sind darin nicht enthalten, auch nicht die Kosten, die die Zerstörungen verursachen, und auch nicht die vielen Toten, Verletzten und Flüchtlinge. Noch aussagekräftiger sind die Berichte der Vereinten Nationen über die menschliche Entwicklung, etwa zum Gesundheitswesen, dem Bildungssystem oder den Rechten und Chancen von Frauen. Sie zeigen eine kollektive Fehlentwicklung der gesamten Region.
Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass in den 22 Ländern der Arabischen Liga die Bevölkerung von 1970 bis 2050 von 128 Millionen auf 598 Millionen um das Fünffache zunehmen wird.[2] Im selben Zeitraum wächst die Bevölkerung Europas nur wenig, von 657 Millionen auf 716 Millionen.[3] Zudem ist in keiner anderen Region der Anteil der Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren so groß wie im Nahen Osten, nirgendwo sonst sind so viele ohne Arbeit, nirgendwo sonst sind so wenig Frauen ins Erwerbsleben integriert.
Selbst funktionierende Staaten mit verantwortungsvoll handelnden Eliten wären da überfordert. Im Nahen Osten aber halten die Eliten das Scheitern nicht auf, sondern beschleunigen es. Dieses Scheitern reicht sehr viel tiefer als das, was der schnelle Blick auf die tägliche Nachrichtenlage wahrnimmt – ein Protest hier, ein Ministerrücktritt da, ein Anschlag dort. Dieses Scheitern bedeutet chronisch schlechte Regierungsführung, endemische Korruption, das Fehlen guter öffentlicher Dienstleistungen für alle, ob im Bildungssystem oder im Gesundheitswesen. Es bedeutet, dass die meisten Menschen vom politischen Prozess ausgeschlossen sind und ihnen wirtschaftliche Chancen versperrt bleiben. Die Eliten schalten den Wettbewerb aus, der Voraussetzung ist für Wohlstand und die Modernisierung einer Volkswirtschaft. Sie stabilisieren ihr System dank eines crony capitalism, der eine kleine Schicht privilegiert und Einkommen und Vermögen immer ungleicher verteilt.
Das Scheitern eines Staats macht ihn noch nicht zum failed state. Seine Konstruktion wird jedoch brüchig, seine Stabilität ist gefährdet. Er ist kein gescheiterter, aber ein scheiternder Staat, ein failing state. Ein Stoß von innen oder von außen kann ausreichen, um ihn zum Einsturz zu bringen. Den Stoß können Massenproteste auslösen oder starke Akteure, die ihren Machtbereich erweitern wollen. Jeder versucht dann zu kontrollieren, was er kontrollieren kann. Grenzen verlieren ihre Bedeutung, der Stärkere beherrscht den Schwachen.
Ein Prozess des Zerfalls hat die arabische Welt erfasst. Stabil sind nur wenige Staaten, die meisten Regime erscheinen stabiler, als sie in Wirklichkeit sind. Noch hält eine präzedenzlose Repression, die mit jedem Grad des Scheiterns zunimmt, den Druck im Kessel. Ein Jahrzehnt nach den Protesten von 2011 und dem Sturz von vier Machthabern sind in allen Ländern, ausgenommen Tunesien, die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten noch weiter eingeschränkt, und der wirtschaftliche Niedergang setzt sich fort.[4]
Die Regime versuchen erst gar nicht mehr, ihre Fassaden mit Ideologien zu verzieren. Sie sind ausgezehrt. Und je mehr ihre Macht gefährdet ist, desto mehr rufen sie nichtstaatliche Akteure aus Drittstaaten zu Hilfe. Die erschreckendsten Beispiele sind Syrien, Libyen und der Jemen. Der Ruf nach externen Rettern vertieft den Graben zwischen den Machthabern und jenen, die gegen sie aufbegehren, weil sie ausgegrenzt sind. So wurde der Nahe Osten binnen weniger Jahre zu einem großen Schlachtfeld, auf dem sich mächtige Stellvertreter bekriegen.
Über Jahrzehnte kamen immer neue Missstände und Fehlentwicklungen hinzu. Die Antwort darauf waren die Proteste und Aufstände, die 2011 begannen. Getragen wurden sie überwiegend von gebildeten jungen Menschen aus der städtischen Mittelschicht, sie forderten Arbeit und wirtschaftliche Chancen, Gerechtigkeit und politische Teilhabe. Die Eliten gingen nicht darauf ein, sondern zementierten ihre Macht und Pfründe. Gab es Versprechen für Reformen, wurden sie nicht eingehalten. Die Hoffnungen auf einen Wandel wurden nicht erfüllt, und so nahm der Druck im Kessel weiter zu. In dem Maße, wie die Regime die Daumenschrauben anzogen, wuchs die Wut auf sie. Ein Teufelskreis war in Gang gesetzt.
Dabei sollte das Jahrzehnt nach 2011 eine Warnung sein.[5] Seither sind die Bürgerkriegsländer Syrien, Libyen und Jemen zerfallen; Ägypten verhält sich gegenüber seiner Bevölkerung wie eine Besatzungsmacht; im Irak und im Libanon begehren die Menschen gegen korrupte Eliten auf, die ihre Macht aus der konfessionellen Aufteilung ihrer Länder beziehen; im Sudan, in Algerien und in Jordanien haben die Menschen ihre Ersparnisse aufgebraucht; und selbst Tunesien, die einzige Erfolgsgeschichte und das Demokratielabor der arabischen Welt, kann jederzeit scheitern, weil zu viele externe Akteure kein Interesse daran haben, dass das Experiment einer Verständigung von Säkularen und Islamisten gelingt.
Im Jahr 2020 zeigen im Zuge der Covid-19-Pandemie selbst die reichen Golfmonarchien Krisensymptome. Die Öleinnahmen gehen zurück, die Ausgaben müssen an neue Realitäten angepasst werden. Und das ist nur ein Vorgeschmack auf das Zeitalter nach dem Erdöl. Bis zum Jahr 2050 könnte sich die Nachfrage nach dem Rohstoff halbieren.[6] Die meisten Erdölproduzenten haben allerdings den Zeitpunkt verpasst, ihre Volkswirtschaften rechtzeitig zu diversifizieren. Das hat Folgen, die weit über sie hinausreichen, denn dadurch gehen auch die Überweisungen der Fremdarbeiter zurück, in Länder, die längst in einer tiefen Krise stecken.
Im vergangenen Jahrzehnt hat die Einmischung von außen in den Ländern des Nahen Ostens dramatisch zugenommen. Russland intervenierte militärisch in Syrien und Libyen; die Türkei, die in die Rolle einer Schutzmacht für Muslime und Turkvölker hineinwächst, wollte dem nicht nachstehen; Iran heizte die Spannungen mit Interventionen in Syrien, dem Irak und im Jemen an; Israel goss mit der Ankündigung, die Westbank zu annektieren, Öl ins Feuer, das der amerikanische Präsident Donald Trump(1) mit seiner Rhetorik weiter anfachte; Frankreich knüpft in Nordafrika an seine lange Kolonialzeit an; die Sahelzone entwickelt sich zum neuen Kernland des Dschihad, bereit, auf andere Länder überzugreifen.
Der Nahostexperte Guido Steinberg(1) zeichnet daher kein optimistisches Bild: »Größere und kleinere Regionalmächte konkurrieren miteinander, ohne dass eine von ihnen stark genug wäre, um sich durchzusetzen. Das Ergebnis sind Kriege ohne Ende, die langfristig auch die Stabilität der gesamten Nachbarschaft bedrohen.«[7] Und damit auch das Mittelmeer und seine europäischen Anrainer. Der Nahe Osten rückt noch näher an Europa.
Im Nahen Osten ist also weder ein Wandel eingetreten, wie ihn sich die Demonstranten erhofft hatten, noch gelingt den ins Wanken geratenen Regimen die Wiederherstellung der alten Ordnung. »Die Straße« hatte zwar Langzeitherrscher gestürzt, doch die alten Eliten wollten sich mit den neuen Demokratien nicht abfinden. Nun stehen sich die Demonstranten und die Regime wie in einem Magnetfeld gegenüber, und die Gesellschaften verharren in einem instabilen diamagnetischen Zustand. Ein verhängnisvolles Nullsummenspiel, das nur eine Lösung kennt: Um zu gewinnen, muss die andere Seite verlieren.
Spätestens seit 2011 ist sichtbar, dass sich alle Regime im Kern gleichen, auch wenn ihre Fassaden verschieden sind. Ob Republik oder Monarchie, Emirat oder Scheichtum, Diktatur des Militärs oder die Jamahiriya Gaddafis(5): Überall standen oder stehen sich eine privilegierte Elite und von Teilhabe ausgeschlossene Bürger gegenüber. Der Nepotismus zieht sich wie ein roter Faden durch die Region. Überall profitierte der Clan des Herrschers. In Ägypten waren es die Söhne Alaa(1) und Gamal Mubarak(1), in Algerien war es der Bruder Said Bouteflika(1), in Syrien der Cousin Rami Makhlouf(1). Jedes Regime hielt und hält sich milizähnliche Schlägerbanden, nur die Namen des Staatsterrors unterscheiden sich. In Ägypten heißt der Kerker Tora, in Libyen Abu Salim, in Syrien Saidnaya.
Doch nach mehr als einem halben Jahrhundert seit der Unabhängigkeit sind in den Konstrukten der Staaten Risse zu erkennen. Die Demonstranten des Jahres 2011 haben sie sichtbar gemacht. Die Frage ist, wie groß das nächste Beben sein muss, damit die Konstruktionen endgültig zusammenbrechen. Wie lange wird es dauern, bis die Kontrahenten ermattet aufgeben? Das ist ein Prozess, der sich über ein ganzes Jahrzehnt erstrecken kann. Sicher ist nur: Eine Neuordnung mit einer neuen Übereinkunft zwischen den Regierenden und den Regierten kann erst danach einsetzen.
Marwan Bishara(1), Kommentator des Nachrichtensenders al-Jazeera, jedenfalls blickt pessimistisch in die Zukunft. Vor einem Jahrzehnt habe eine Mischung aus politischer Korruption, geopolitischer Lähmung und wirtschaftlicher Schwäche eine präzedenzlose Gewalt entfesselt. Wenn aber im Jahr 2010 bereits eine relativ »milde« Ausgangslage eine derart zerstörerische Dekade angestoßen habe, »können die apokalyptischen Gefahren von heute noch viel schlimmere Folgen haben«.[8]
Seit dem Ende der Kolonialzeit sind in der arabischen Welt die Weichen falsch gestellt worden. In den meisten Republiken übernahm damals das Militär die Macht. Ein erster Grund dafür war die irrige Annahme, dass eine straff geführte Institution wie die Armee den Abstand zum überlegenen Westen schneller verkürzen könne als eine freie Gesellschaft. Ein zweiter Grund war der Kriegszustand mit dem 1948 gegründeten Staat Israel und die Behauptung, dass das Kriegsrecht auch im Inneren gelten müsse. In den ersten Jahrzehnten konnten sich die Regime daher noch auf eine gewisse Legitimität stützen, auf materielle Erfolge waren sie weniger angewiesen. Im Gegenzug versprachen Ideologien wie der Nasserismus in Ägypten und weiten Teilen der arabischen Welt sowie die Baath-Ideologie in Syrien und dem Irak den Menschen Würde.
Über Jahrzehnte haben die Menschen der Armee mehr als jeder anderen Institution vertraut. Das hing auch damit zusammen, dass sie jungen Menschen aus unteren Schichten Aufstiegschancen bot, die sie in ihren Gesellschaften sonst nicht fanden. Die Armee verkörperte sowohl den Staat als auch die Einheit von Staat und Gesellschaft. Dieses Vertrauen haben die Armeen verloren.[9] Sie sind nicht länger Institutionen, die soziale Mobilität herstellen, sondern das Instrument einer Klasse mit einem starken Korpsgeist, die die Politik festlegt, die Gesellschaft entmündigt, andere von der Macht ausschließt und sich selbst die Pfründe sichert.
Das Militär ist eine bleierne Last geworden. Es ist auch kein Garant mehr für Stabilität, sondern erzeugt im Gegenteil Instabilität. Seit 1932, als der Irak unabhängig wurde, haben arabische Militärs 73 Mal in die Politik eingegriffen; 39 Putsche waren erfolgreich. Sie lieferten sich sieben Kriege zwischen Staaten, waren an acht Bürgerkriegen beteiligt und schlugen mindestens zehn Aufstände nieder. Mehr als 1,3 Millionen Menschen wurden getötet. Die Armeen kosteten ihre Länder mehr als 12 000 Milliarden Dollar.[10] In sie fließen durchschnittlich sechs Prozent des Bruttosozialprodukts. Zum Vergleich: In den Nato-Staaten liegt die Zahl weit unter dem selbst gesteckten Ziel von zwei Prozent.
Dennoch haben sich die Militärs und ihre Regime fest etabliert. Nirgendwo sonst wechselten die Herrscher so selten wie in der arabischen Welt. Und sie taten alles, um ihre Macht zu erhalten: Ihre Sicherheitsapparate erstickten Dissens im Keim; die Machthaber suchten Unterstützung im Ausland; Öl und Gas stabilisierten die Regime, ob direkt durch den Export oder indirekt durch Gastarbeiterüberweisungen.
Als Nachfolger der Kolonialmächte sind die Regime im 20. Jahrhundert in einem pseudomorphosen Zustand gefangen, sie sind in Strukturen hineingewachsen, die nicht organisch aus der Geschichte ihrer Länder heraus entstanden und in dieser Geschichte verankert sind. Vielmehr haben sie sich an fremden Ideologien wie dem Sozialismus und dem Nationalismus orientiert. Ihnen fehlte der Bezug zur eigenen Kultur, und so gleichen sie einem Mineral, das in einen fremden Hohlraum hineinwächst und eine andere Form als seine natürliche annimmt.
Die ersten Risse zeigten sich bereits 2005. Die Staatsoberhäupter in Ägypten, Libyen, im Jemen und in Tunesien machten sich daran, ihre Ämter an ihre Söhne oder Schwäger zu vererben. Doch bevor es dazu kam, wurden sie 2011 und 2012 aus ihren Ämtern gefegt: erst Zain al-Abidin Ben Ali(2) in Tunesien, dann Husni Mubarak(2) in Ägypten und Muammar al-Gaddafi(6) in Libyen, schließlich Ali Abdullah Saleh(2) im Jemen. Bereits ein Jahrzehnt vor ihnen hatte der irakische Diktator Saddam Hussein(3) seinen Sohn Uday(1) zum Nachfolger aufgebaut und war damit gescheitert. Dem syrischen Diktator Hafez al-Assad(1) war es hingegen im Jahr 2000 gelungen, seinen Sohn Bashar al-Assad(1) einzusetzen, so wie im Jahr davor auch im südlichen Nachbarland Jordanien der Übergang von König Hussein(1) auf König Abdullah(1) gelungen war.
In Ägypten, einer Republik, war der Präsident des Landes gealtert, und auch die anderen Säulen der Macht, die keine Dynastie wollten, hatten sich nicht erneuert. Die Balance war nun gestört, es kam zu Reibereien zwischen der Armee, den Sicherheitsapparaten und den Geheimdiensten. Mubarak(3) sicherte seine Herrschaft mit einer Politik des divide et impera, er band die einzelnen Säulen zu einem Regime zusammen und spielte sie gegeneinander aus. Anstatt Kabinettssitzungen anzusetzen, bestellte er Minister einzeln zu sich. Noch war das Regime stabil, Mubarak unangefochten.
Außerhalb des Regimes hatte sich das Land allerdings verändert. In der Gesellschaft gärte es, die Wirtschaft erschlaffte, ohne Wettbewerb fehlte ihr Dynamik. Es blieb zu wenig übrig, was nach unten hätte verteilt werden können. Für die schnell wachsende Bevölkerung entstanden nicht genügend Arbeitsplätze, Perspektivlosigkeit und Unzufriedenheit machten sich breit, der Abstieg der Mittelschicht setzte ein.
Um diesen zunehmenden Druck abzulassen, fehlten dem Staat Instrumente. Die zivilen Institutionen waren bloße Fassade, deren einziger Zweck darin bestand, die Ausplünderung des Landes und die Gewalt des Sicherheitsapparats zu verschleiern. Die Ämter in der Justiz wurden von Generation zu Generation vererbt; die Moscheen verloren ihre Autorität, da der Staat sie kontrollierte und zu seinen Werkzeugen machte; der Souq büßte seine Rolle als Handelsplatz ein; für die kleinen und mittelständischen Betriebe, die Arbeitsplätze hätten schaffen können, blieben zu wenig Nischen. Zugelassen waren allein politische Parteien, die der Staat steuerte; die Berufsverbände, die die Rolle der Opposition übernommen hatten, wurden unter Druck gesetzt; die Nichtregierungsorganisationen wurden an die Kette genommen.
Trotz all diesen Zeichen der Schwäche sahen die Machthaber den Zünder nicht, der ihre Herrschaft gefährden sollte. In jedem Land war der letztendliche Auslöser ein anderer, in jedem Land nahm die Revolution einen anderen Verlauf. Doch überall hatten die Regime den Blick für die Wirklichkeit und die Fähigkeit zu handeln verloren. Und sie machten Fehler, die ihren Sturz beschleunigten, wie sich am Beispiel von Ägypten illustrieren lässt.
Ab 2005 war das Militär beunruhigt. Denn Mubarak(4) bevorzugte offensichtlich den Geheimdienst und dessen Chef Omar Sulaiman(1). Und nun mussten Generalstabschef Muhammad Hussein Tantawi(1) und Abd al-Fattah al-Sisi(1), seit 2008 Kommandeur des Kommandos Nord, auch noch damit rechnen, dass Mubarak seinen Sohn Gamal(2) zum Vizepräsidenten ernennen würde. Nach dem Tod seines Vaters hätte er bis zur Neuwahl als Interimspräsident amtiert, und er hätte gute Chancen gehabt, dann auch gewählt zu werden. Tantawi(2) und Sisi(2) wollten es so weit nicht kommen lassen, sie waren zu einem Militärputsch bereit. Der Spitzendiplomat Mustafa Elfeki(1) formulierte es so: »Es gab den Plan, wenn Mubarak stirbt und Gamal übernimmt, dass die Gefängnisse geöffnet werden, Schwerkriminelle wüten, die Schlägertrupps, also die Baltagiya, für Chaos sorgen, und die auf die Straße gehen.«[11] Damit meinte er das Militär.
Dann aber begannen am 25. Januar 2011 die Proteste gegen Mubarak(5), und die Armee überließ den Demonstranten das Handeln. Zwei Welten standen sich gegenüber. Auf der einen Seite ein Regime ohne Programm und Ideologie, getrieben und zusammengehalten vom Streben nach Macht und deren Erhalt. Auf der anderen Seite überwiegend junge Menschen, die Kifaya! (»Es reicht!«) skandierten. Sie wollten einen Wandel, ein Leben in Freiheit und Würde, gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und die Rechenschaftspflicht der Regierenden. Ihr Protest war der Ausdruck von Emotionen, die Straße wurde der Austragungsort ihrer Gefühle. Ihre Euphorie kannte keine Grenzen. Am 11. Februar trat Mubarak zurück.
Der revolutionäre Moment lag in der Luft. Doch die Revolution blieb aus. Die dezentralisierte Bewegung bündelte sich nicht zu einem zentralisierten Vorgehen. Die Gesellschaft war entpolitisiert, und nur wenige hatten die Zeit nach dem Sturz Mubaraks(6) im Blick. Jahrzehntelang hatten die Offiziere den Menschen das Denken abgenommen, das Bildungswesen und der öffentliche Diskurs waren verflacht. So konnten die Staatsmedien Angst schüren und einen Keil zwischen die Demonstranten treiben, um die Liberalen von den Islamisten zu trennen.
Gemeinsam hatten sie gegen eine Tyrannei aufbegehrt, die sich wie ein langsamer und geräuschloser Tod über das Land gelegt hatte. Doch die intakten Strukturen des Regimes arbeiteten auf ein Chaos hin. Dieses Chaos zu schaffen und scheinbar außer Kontrolle geraten zu lassen, war die Aufgabe der staatlichen Schlägertruppen. Güter wurden verknappt, die Versorgungsleistungen funktionierten nicht mehr, Gewalt wurde provoziert, Menschen verloren ihre Arbeit – und so sehnten sie sich schnell nach der alten Ruhe. Nun konnte das alte Regime mit dem Versprechen auftreten: »Ich oder Chaos«, und die Menschen zogen sich zurück.
Die Aktivisten wussten, wogegen sie waren, aber nicht, wie Politik gemacht wird. Sie hatten starke Parolen, aber keinen Plan. Dazu kam, dass sie als Verräter am Volkswohl und Irregeleitete an den Pranger gestellt wurden. Und so zerstäubte die revolutionäre Energie in kleine Teile, die langsam verflogen. Die Muslimbrüder dagegen waren organisiert und hatten eine politische Strategie, sodass sie nach Mubaraks(7) Sturz den Gang der Dinge bestimmten. Das wiederum alarmierte die Golfmonarchien, die mit ihrem Geld das kopflos gewordene Regime retteten. Die Revolution scheiterte.[12]
Revolutionen lassen sich nicht voraussagen. Sie lassen sich auch nicht nach einem Modell planen und vorbereiten. Revolutionen seien nicht das Ergebnis sehr bestimmter Ereignisse und Taten von Menschen, die man namhaft machen könne. Vielmehr entstünden sie spontan und seien das »Resultat einer unwiderstehlichen und letztlich geheimnisvollen Kraft«, wie die Philosophin Hannah Arendt schrieb.[13] Allein mit Propaganda und der Agitation von Aktivisten könnten sie nicht gelingen. Berufsrevolutionäre spielten beim Ausbruch von Revolutionen kaum eine Rolle, wohl aber bei deren Fortgang.[14]
In Ägypten lief es daher nach Mubaraks(8) Sturz fast zwangsläufig auf die Muslimbruderschaft als der treibenden Kraft für einen Neubeginn hinaus. Der Vorwurf enttäuschter Aktivisten, die Bruderschaft habe sich lediglich an die Spitze eines Aufstands gestellt, den sie selbst nicht angestoßen hat, läuft ins Leere. Denn sie hatte eine größere Durchschlagskraft als die anderen. Dafür war nicht ihre islamische Färbung entscheidend, sondern die Tatsache, dass sie seit ihrer Gründung 1928 eine Organisation aufgebaut hat, geschlossen handelte sowie über ein Programm verfügte und auf Gewalt verzichtete. Außerhalb des Systems, gegen das Millionen Demonstranten aufbegehrten, war sie als einzige handlungsfähige und glaubwürdige Organisation übrig geblieben.
Die zum Status quo ante zurückkehren wollten, Republiken wie Monarchien, bildeten unterdessen eine panarabische Allianz der Konterrevolution. Ihre Zusammenarbeit hatte bereits viel früher eingesetzt, nun wurde sie zur Überlebensstrategie. Vorausschauend hatte der heutige Kronprinz der Vereinigten Arabischen Emirate, Muhammad Bin Zayed Al Nahyan(1), beispielsweise Investitionen von mehreren Milliarden Dollar in Algerien veranlasst, lange bevor Präsident Abd al-Aziz Bouteflika(1) in Gefahr geraten war. Die New York Times nannte Muhammad Bin Zayed deshalb den »Metternich der arabischen Welt«. Kein anderer hat wie er strategisch den Erhalt der alten Ordnung im Blick.[15]
Lange hatten sich die Präsidenten und Könige, die sich zum Lager der westlichen Welt zählen, auf Hilfen aus Washington verlassen können. Das änderte sich mit Präsident Barack Obama(1). Der rührte keinen Finger, um Mubarak(9) zu retten, vielmehr zeigte er Sympathien für die Demonstranten. Daher pumpten nach 2011 die Emirate und Saudi-Arabien Milliarden in die gefährdeten Länder, um sie gegen den Wandel zu immunisieren.
In ihrem Überlebenskampf wird sichtbar, wie ähnlich sich die Regime sind. Sie sind autoritär und enthalten den Menschen vor, was der erste Zusatz zur amerikanischen Verfassung aus dem Jahr 1791 festschreibt: Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf Petitionen. Dieser Zusatz garantiert der Bevölkerung der Vereinigten Staaten auch das Recht, von der Regierung das Abstellen von Missständen zu fordern. Die arabischen Autokraten dagegen sind repressiv, sie unterdrücken diese Rechte, die in Demokratien selbstverständlich sind. Daher schaffen diese Volkswirtschaften auch nicht den Wohlstand, den sie schaffen könnten.
Die amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu(1) und James A. Robertson(1) untersuchen in ihrer Monografie Why Nations Fail, weshalb die einen Nationen reich werden, andere aber arm bleiben. Sie fragen, weshalb die Vereinigten Staaten und Großbritannien so ungleich wohlhabender sind als Ägypten und andere arabische Länder. Den Wohlstand in England führen sie auf die Revolution von 1688 zurück. Die Menschen hätten für mehr politische Rechte gekämpft, und mit diesen Rechten hätten sie erstmals ihre wirtschaftlichen Chancen nutzen können. Länder wie Großbritannien und die Vereinigten Staaten wurden reich, weil die Menschen die Eliten gestürzt haben und weil in ihren Gesellschaften die politischen Rechte sehr viel breiter gestreut sind.[16] Ein solcher Prozess ist in der arabischen Welt überfällig. Über die Anfänge ist er noch nicht hinausgekommen.
Das unterscheidet sie von Frankreich im Jahr 1789. König Louis XVI.(1) soll, als ihm die Nachricht vom Sturm auf die Bastille überbracht worden ist, ausgerufen haben: »C’est une révolte!« Der liberale Adlige Duc de La Rochefoucauld-Liancourt(1) korrigierte ihn: » Non, Sire, c’est une révolution.« Offenbar hatte der König fälschlicherweise geglaubt, den Aufruhr mit den etablierten Mitteln seiner Macht beenden zu können. In Ägypten, mehr als 200 Jahre später, gelang das der Armee: Es blieb bei einer Revolte.
»Revolutionen brechen aus und sind unwiderstehlich, wenn sich herausgestellt hat, dass die Macht auf der Straße liegt«, schrieb Hannah Arendt(1).[17] Dass es in der arabischen Welt so weit nicht kommt, dafür sorgen die mit großen Vollmachten ausgestatteten Sicherheitsapparate. Weder sind daher grundlegende Reformen in Sicht, noch steht ein Wandel bevor. Das wird sich erst ändern, wenn die Not größer ist als die Angst.
Zumindest der Geist des Wandels aber ist aus der Flasche. Und so hängen die arabischen Länder instabil zwischen dem ancien régime und einer möglichen Revolution. Der algerische Philosoph Malek Bennabi(1) (1905 bis 1973) bietet in seinem 1956 erschienen Buch L’Afro-Asiatisme eine Erklärung für dieses Hängenbleiben: »Wenn sich die Geschichte an einem Scheideweg befindet, entscheidet der Mensch über alles. Ist es geschehen, ist es, als habe sein Finger den Knopf des Schicksals gedrückt und den Mechanismus der Unwägbarkeiten ausgelöst, zusammen mit dem unflexiblen Verlauf der Ereignisse.«[18]
Bei Bennabi(2) erfolgt der Übergang von einer Etappe der Geschichte zur nächsten nicht spontan.[19] Entscheidend ist, dass der »Knopf des Schicksals«, der den Wandel auslöst, tatsächlich gedrückt wird. Das aber lässt die Möglichkeit offen, dass dieser Knopf nicht fest genug gedrückt wird – und hängen bleibt: In diesem Stadium befindet sich die arabische Welt seit 2011. Weder ist die Revolution geglückt, noch ist der Status quo ante gänzlich wiederhergestellt, trotz des Putsches und des Massakers vom Sommer 2013 in Ägypten, trotz der Serie politischer Morde in Tunesien, trotz der Militarisierung des Konflikts in Syrien.
Um die Hängepartie zu beenden, bedarf es eines neuen Stoßes. Der kann von unten kommen, von der Straße, oder von einem Träger der alten Ordnung, der sich dem Wandel nicht länger versperrt. Er müsste jedoch weiter gehen als Rochefoucauld-Liancourt(2), der die Notwendigkeit eines Wandels der absolutistischen Monarchie eingesehen, sich der Revolution aber dennoch nicht angeschlossen hat.
Im Falle Ägyptens ist der Status quo der Mubarak-Zeit abhandengekommen. Mubarak(10) hatte drei Jahrzehnte lang die Säulen, auf denen seine Herrschaft ruhte, zusammengehalten. Seit 2011 ist die Balance zwischen diesen Säulen gestört. Die Streitkräfte haben die ganze Macht an sich gerissen, sodass die Polizei und der Sicherheitsapparat heute weniger zu sagen haben. Fast irrelevant wurde die zivile Fassade des Regimes mit der Gruppe der fulul, den Bürokraten, Politikern und Unternehmern. Diese Träger der alten Ordnung haben zwar die zum Terror verkommene Staatsgewalt auf ihrer Seite, und sie können auf alle Ressourcen und Institutionen des Staats zurückgreifen, eine Einheit bilden sie jedoch nicht mehr – und sie fürchten die Geister ihrer Verbrechen.
Zuversicht gibt den Regimen, dass sie bislang noch alle Herausforderungen überstanden haben. Nie hat ein Attentat oder ein Putsch ein gefährliches Vakuum hinterlassen. Den frei werdenden Platz haben stets rasch Leute aus dem eigenen Lager gefüllt. Als der ägyptische Präsident Sadat(1) 1981 ermordet wurde und Turbulenzen drohten, folgte ihm Mubarak(11). Als in Tunesien 1987 Präsident Habib Bourguiba(1) unter Hausarrest gestellt wurde, stand der Clan um Zain al-Abidin Ben Ali(3) bereit. Wann immer in Algerien ein Präsident ausgefallen ist, hatte die Armee bereits einen neuen Amtsinhaber zur Hand.
Ihnen stehen heute die Kräfte des Wandels gegenüber, die sich aus der großen Zahl frustrierter Jugendlicher und den Angehörigen der dezimierten Mittelschicht zusammensetzen. Sie haben, wenn auch mit großen Opfern und vielen Toten, erreicht, was lange undenkbar war. Denn 2011 hatten sie die Regime überrascht und in die Defensive gedrängt. Seither reagieren die verunsicherten Eliten auf jede Kleinigkeit mit äußerster Brutalität und greifen, um ihre Vergangenheit zu verlängern, auch auf Hilfe aus dem Ausland zurück. Einen wirklichen Wandel werden die Demonstranten von 2011 daher nur anstoßen, wenn sie erneut auf die Straße gehen und sich von Rückschlägen nicht einschüchtern lassen.
Den Regimen ist die Gefahr zu verlieren bewusst. Vielleicht geschieht es beim nächsten Knall, vielleicht beim übernächsten. Um das zu verhindern, konzentrieren sie sich allein auf den Erhalt der Macht. Der Auflösungsprozess aber hat eingesetzt. Wenige Länder wie der Oman und Marokko sind aus sich selbst heraus gewachsen und stabil. Sie liegen nicht zufällig an den Rändern der arabischen Welt. Das arabische Kerngebiet aber braucht dringend einen Neubeginn, und der ist mit den alten Regimen nicht zu machen.
2011 ist das Kalkül der Regime noch aufgegangen. Die Voraussetzungen für ein Überleben waren günstig. Die Regime hatten über Jahrzehnte ihre Macht konsolidiert und die Institutionen des Staates ausgehöhlt. Die Gesellschaft war als Folge der schlechten Bildungssysteme verflacht, das öffentliche Leben entpolitisiert. Die Macht ruhte auf einer kleinen Zahl verlässlicher und stabiler Säulen. Als für die Machthaber wie aus dem Nichts Proteste einsetzten, opferten die Regime einen Kopf, wie Mubarak(12) in Ägypten, um sich vorerst zu retten.
Anschließend wurde der tiefe Staat, also die Verflechtung von Sicherheitskräften, Politik, Justiz, Verwaltung und organisiertem Verbrechen, aktiv, und seine Hintermänner neutralisierten den revolutionären Schwung. Die Menschen sehnten sich nach Ruhe und riefen nach der Armee. Die Stunde der Restauration war gekommen. Dennoch entlud sich acht Jahre nach dem ersten Beben in vier weiteren Ländern die Unzufriedenheit in neuen Protesten. Die nächste Etappe des Transformationsprozesses begann.
Im Sudan gingen ab dem 19. Dezember 2018 Menschen landesweit im Protest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten auf die Straße. Die Armee setzte am 11. April 2019 Präsident Omar al-Bashir(1) ab, doch die Proteste gingen weiter. Am 16. Februar 2019 begannen auch in Algerien landesweit Proteste; Auslöser war die Ankündigung von Präsident Abd al-Aziz Bouteflika(2), für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren. Bouteflika verzichtete schließlich und trat am 2. April 2019 von seinem Amt zurück. Doch auch hier endeten die Proteste nicht.
Im Irak begannen die Proteste am 1. Oktober 2019. Auslöser war, dass Ministerpräsident Adil Abdul Mahdi(1) den populären General Abd al-Wahhab al-Saadi(1) als Chef der Anti-Terror-Einheiten ablösen und auf einen Verwaltungsposten im Verteidigungsministerium abschieben wollte. Saadi hatte zunächst für seine Rolle bei der Befreiung Mossuls vom Terror des Islamischen Staats viel Anerkennung erworben, danach machte er sich bei der Bekämpfung der systemischen Korruption einen Namen.
Die Demonstranten begehrten dagegen auf, dass iranische Milizen seine Ablösung betrieben hatten, um weiter ungestört agieren zu können. Sie forderten ein Ende des Systems, das seit 2005 alle Ämter nach Konfessionen verteilt, den Neubeginn als konfessionsunabhängiger irakischer Nationalstaat und ein Ende der iranischen Einmischung. Abdul Mahdi(2) trat am 6. Mai 2020 zurück. Da hatten die Proteste bereits alle schiitischen Provinzen erfasst. Der Staat knüppelte sie blutig nieder. Allein in den ersten Monaten der Proteste wurden mehrere Hundert Demonstranten getötet.
Im Libanon protestierten Jugendliche erstmals am 17. Oktober 2019 gegen die Einführung neuer Steuern und vor allem gegen eine WhatsApp-Steuer. Auch sie forderten einen staatlichen Neubeginn, das Ende des konfessionalistischen Systems und die Bekämpfung der systemischen Korruption. Am 21. Januar 2020 trat die Regierung von Ministerpräsident Saad al-Hariri(1) zurück. Die Proteste gingen aber unverändert weiter. Am Tag vor der verheerenden Explosion am 4. August 2020 im Hafen von Beirut, bei der mehr als 220 Menschen getötet und mehr als 6000 verletzt wurden, war Außenminister Nassif Hitti(1) mit der Begründung zurückgetreten, dass die Regierung unfähig sei, wirkliche Reformen durchzusetzen, und der Libanon daher in einen gescheiterten Staat abgleite.[20]
»Die Straße« meldete sich also in vier Ländern zurück, die 2011 nicht in vorderster Reihe gestanden hatten. Nun forderten auch die Demonstranten in diesen Ländern einen politischen Wandel, wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine Regierung, die für die Bedürfnisse der Menschen arbeitet und ihnen gegenüber Rechenschaft ablegt. Auch sie begehrten gegen Jahrzehnte von Repression, Korruption und Misswirtschaft auf.[21]
Im Irak und im Libanon gehen die Demonstranten über die Forderungen des Jahres 2011 hinaus. Sie wollen ihre Staaten auf eine völlig neue Grundlage stellen. Sie wollen nicht länger in Ländern leben, in denen alle Institutionen des Staates nach einem konfessionellen Schlüssel zugeteilt werden. Die alte politische Klasse hatte den Menschen eingeredet, nur eine solche Ordnung ermögliche ein friedliches Zusammenleben vieler Religionsgemeinschaften. In Wahrheit plünderte sie das Land mit dieser fadenscheinigen Begründung aus.
Die Demonstranten identifizieren sich aber nicht länger über ihre Religionsgemeinschaft. Ihr Ziel ist vielmehr eine Nation gleicher Staatsbürger, die sich nicht mehr entlang der Konfessionszugehörigkeit spalten und gegeneinander ausspielen lassen. So sehen sich die Demonstranten in Bagdad und Basra nicht mehr als irakische Schiiten und auch nicht als irakische Panarabisten, sondern als irakische Nationalisten. Ihr Ideal ist eine zivilgesellschaftliche Ordnung, ihr Vorbild der liberale, pluralistische Nationalstaat Europas.
Wer 2019 und 2020 auf die Straße ging, hatte drei Lektionen aus dem Scheitern des arabischen Bebens von 2011 gelernt.[22] Erstens sind die Demonstranten realistischer geworden, sie wissen, wie mühsam der Wandel ist. Sie wollen erst wieder von der Straße weichen, wenn ihre Forderungen erfüllt sind. Sie haben gelernt, dass es sie schwächt, wenn sie sich spalten lassen, und sie haben verstanden, dass ihr Protest nicht nur friedlich sein muss, sondern auch anhaltend und massiv.
Eine zweite Lektion war, dass die Demonstranten nicht auf die Lockrufe des Militärs hereingefallen sind. Im Sudan und in Algerien schlugen die Offiziere wie damals in Ägypten einen Militärrat und Neuwahlen vor, in der Hoffnung, dass sich die Demonstranten damit zufrieden geben und sich zurückziehen würden. Die aber ließen sich nicht mehr mit bloßen kosmetischen Änderungen abspeisen. Sie rufen nun keine ideologischen Parolen mehr, sondern haben konkrete Anliegen.
Drittens misstrauten die Demonstranten den ausländischen Akteuren. Bei der Restauration in Ägypten spielten die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien eine entscheidende Rolle; in Bahrain schlugen saudische und emiratische Truppen die Proteste nieder; in Syrien, im Jemen und in Libyen hatten externe Akteure maßgeblichen Anteil daran, dass aus nationalen Konflikten verheerende Bürgerkriege wurden.
Nun aber setzten sich die Demonstranten im Irak und im Libanon gegen Iran zur Wehr, und in Algerien und im Sudan übermalten sie die Poster des emiratischen Kronprinzen Muhammad Bin Zayed(2) und des ägyptischen Präsidenten Sisi(3) mit einem breiten X. Sie haben begriffen, dass sie sich einer regionalen Konterrevolution gegenübersehen, die keine Skrupel kennt, und sie wollen nicht, dass sich in ihren Ländern wiederholt, was zuvor in Ägypten, Syrien, Libyen und im Jemen geschehen ist.[23]
Während jedoch die Demonstranten aus dem Scheitern des Jahres 2011 gelernt haben, blieben die Regime ihren alten Rezepten treu. Wieder schienen sie überrascht und ratlos zu sein, wieder setzten sie auf Gewalt und Repression, wieder spielten sie auf Zeit und boten die Einsetzung von Militärräten für eine angebliche Übergangszeit an.
Treibende Kraft ist die Jugend. Eine repräsentative Umfrage unter arabischen Jugendlichen aus dem Jahr 2019 verdeutlicht ihren Einstellungswandel.[24] Demnach kritisieren zwei von drei jungen Arabern, dass Religion in ihrem Leben eine zu große Rolle spielt; zwei Jahre zuvor hat das nur jeder Zweite gesagt. Zudem wünschen sich vier von fünf jungen Arabern eine Reform der religiösen Einrichtungen, jeder Zweite ist davon überzeugt, dass die religiösen Werte die arabische Welt in ihrer Entwicklung behindern.
Die jungen Menschen sagen sich von den alten Sozialmilieus und deren Moralvorstellungen los. Sie sind nun Teil der grenzenlosen Cyber-Welt. Ihre Lebenswirklichkeit säkularisiert sich, Tabus werden aufgebrochen, Frauen emanzipieren sich, eine neue Moral entsteht. Dieser tiefgreifende gesellschaftliche Wandel ist nicht aufzuhalten. Was 2011 begonnen hat, ist noch lange nicht an seinem Ende.
Im Nahen Osten trifft die Covid-19-Pandemie mit voller Wucht auf Länder mit einer schlechten Legitimation und erschreckend mangelhaften Gesundheitssystemen, wie der Global Health Security Index verdeutlicht. Unter allen Regionen der Welt belegen sie bei der Notfallvorsorge und dem epidemiologischen Personal den zweitschlechtesten Platz.[25] Das überrascht nicht. Denn lange haben die Regierungen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, in die Gesundheitssysteme weniger investiert als die meisten anderen Staaten.
Den politischen Führungen sollte es eine Warnung sein, welche Folgen die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg in Ägypten hatte. Während des Krieges waren die Grundnahrungsmittel knapp geworden, ihre Preise hatten sich vervielfacht, auf dem Land hungerten die Menschen. Dann raffte unmittelbar nach Kriegsende die Spanische Grippe in wenigen Monaten 138 000 Menschen dahin, das entsprach einem Prozent der Bevölkerung. Inoffizielle Schätzungen lagen noch höher. Bereits damals wurde das Militär bei der Lebensmittelversorgung und der medizinischen Behandlung bevorzugt. Ägypten stand am Abgrund, als im März 1919 eine Revolution ausbrach, die sich rasch im ganzen Land ausbreitete. Nach drei Jahren hatte sie ihr Ziel erreicht, und Großbritannien entließ Ägypten in die Unabhängigkeit.[26]
Heute stellt die Pandemie sowohl Staaten, die funktionieren, als auch jene, die dabei sind zu scheitern, vor große politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen. Im Libanon rechnen 73 Prozent der jungen Menschen damit, dass Covid-19 zu noch mehr Protesten führen wird, in Ägypten sind es 41 Prozent.[27] Der Umgang mit der Pandemie hat die Glaubwürdigkeit vieler Regime weiter untergraben, denn die staatlichen Gesundheitssysteme waren darauf nicht vorbereitet, und der Verdacht bestätigte sich, dass die Regime die Zahl der Infizierten und Toten zu niedrig ausgewiesen haben, um den Eindruck zu erwecken, sie hätten die Pandemie im Griff.
Mediziner der Universität Toronto sind bei der Auswertung der ägyptischen Statistiken jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass die tatsächliche Zahl der Todesfälle mehr als dreimal so hoch liegen müsse, wie es die veröffentlichten Daten suggerierten.[28] Als Ruth Michaelson(1), die seit 2014 für den britischen Guardian aus Kairo berichtete, diese Studie am 15. März 2020 kommentierte, wurde sie aufgefordert, Ägypten zu verlassen. Ägyptische Journalisten, die die Zahlen der Regierung infrage stellen, werden angeklagt, »fake news« zu verbreiten und einer »terroristischen Vereinigung« anzugehören.[29] Die Generalstaatsanwaltschaft droht jedem, der »falsche Nachrichten« über das Virus verbreitet, mit Haftstrafen bis zu fünf Jahren.[30]