Die Golfstaaten Wohin geht das neue Arabien? - Rainer Hermann - E-Book

Die Golfstaaten Wohin geht das neue Arabien? E-Book

Rainer Hermann

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Beschreibung

Die Zukunft der arabischen Welt Die arabische Welt kehrt in die Geschichte zurück, nicht das alte Arabien, das mit der Achse Kairo-Damaskus-Bagdad identifiziert wird und sich an seinen Konflikten aufreibt, sondern das neue Arabien, vertreten insbesondere durch die Golfstaaten. Dort herrscht Aufbruchstimmung. Diese Staaten verstehen sich nicht nur als Öllieferanten, sondern entwickeln neue Konzepte für die Zukunft, die auch Einfluss auf so konservative Nachbarländer wie Saudi-Arabien haben. Sie sind durch ihre Investitionen und Beteiligungen bereits jetzt ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Nicht umsonst hat sich auch Angela Merkel nach Abu Dhabi begeben, das 3 Prozent zur Weltölproduktion beisteuert, aber 10 Prozent der Weltölreserven besitzt und unentwegt in den westlichen Industriestaaten und Asien einkauft. Gerade die arabischen Golfstaaten arbeiten ernsthaft daran, eine neue Kultur und eine moderne Gesellschaft zu entwickeln.  

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Rainer Hermann

Die Golfstaaten

Wohin geht das neue Arabien?

Mit vier Karten

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2011

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-40840-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-24875-4

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Inhaltsübersicht

Einleitung: Die »Arabellion«, das alte und das neue Arabien

Die Vereinigten Arabischen Emirate

Der große Entwicklungssprung

Der Vater der Nation: Scheich Zayed bin Sultan

Die Geschichte: Stämme, Scheiche, Schiffe

Die Gegenwart: Eine Föderation von sieben Emiraten

Die Zukunft: Der Masterplan 2030

Das kulturelle Erbe

Die Archäologie: Kupfer, Knochen, Keramiken

Der Lebensraum: Windtürme, Wasser, Wüste

Die Tiere: Kamele, Falken, Fische

Die Freiheit der Wüste: Wilfred Thesiger im »Leeren Viertel«

Die politische Ordnung

Die Mechanismen: Konsens statt Kontroversen

Die Identität: Bewahren im Wandel

Der Islam: Praktisch leben statt theologisch durchdringen

Keine Fata Morgana: Eine Moschee wie das Paradies

Pionier Dubai

Der Aufstieg

Das Modell: Arabisch und modern

Die Geschichte: Vom Fischerdorf zur Metropole

Die Drehscheibe: Als geografische Mitte der Welt

Die Dubai-Kultur: Modernes Nomadentum

Die Stadt

Die Cluster: Entscheiden und handeln wie ein Unternehmen

Die Skyline: Stadtplanung als Architektur

Die Ikonen: Türme, Türme, Türme

Die Bauarbeiter: Arbeiten und schlafen in Dubai

Die Krise

Soziale Krise: Das Fußvolk der Globalisierung

Immobilienkrise: Die Gier der Spekulanten

Schuldenkrise: Die Rechnung für Übermut

Die Sinnkrise: Flucht aus dem Paradies

Innovator Abu Dhabi

Wirtschaft

Die »Vision 2030«: eine diversifizierte Wirtschaft

Das Erdöl: Fundament des Wohlstands

Erneuerbare Energien: Zukunftsbranche

Die Staatsfonds: Hebel zur Diversifizierung

Kultur

Die Sportinsel: Yas

Die Museumsinsel: Saadiyat

Die Kulturstadt: Malerei und Literatur

Die Musikstadt: Oper und Konzert

Gesellschaft

Frauen: Pioniere und Wertewandel

Gesundheit: Diabetes und Drogen

Bildung: Achillesferse und Quantensprung

Akademische Exzellenz: Sorbonne und Wollongong

Die Golfregion

Die Arabische Halbinsel

Der Golfkooperationsrat: Integration und Sicherheit

Das Erdöl: Fluch und Segen

Das Wasser: Verschwendung trotz Knappheit

Das Königreich Saudi-Arabien: Religion und Reform

Die kleineren GCC-Staaten

Königreich Bahrain: Ein politisierter Stadtstaat

Staat Kuwait: Eine arabische Hansestadt

Staat Qatar: Eine Familienshow der Al Thani

Sultanat Oman: Ein Sonderfall am Indischen Ozean

Die großen Nachbarn

Das aufstrebende Asien: Der alte und neue Partner

Iran: Der nahe und unbequeme Anrainer

Jemen: Der arme und fremde Nachbar

Der Hadramaut: Islamische Mystiker und islamistische Eiferer

Dank

Anmerkung zur Umschrift arabischer Namen

Literatur

Karten

Register

[Menü]

|9|Einleitung: Die »Arabellion«, das alte und das neue Arabien

Die größte Massenmobilisierung der jüngeren Geschichte hat in der arabischen Welt einen langen Stillstand aufgebrochen. Wellen der Demokratisierung hatten andere Kontinente erfasst, die autoritären arabischen Staaten aber sind geblieben. Vielen Regionen der Welt hatte die Globalisierung das Tor zu einem Aufstieg und zu Wohlstand geöffnet, die arabische Welt aber wurde kaum integriert: mangels Willen und mangels wettbewerbsfähiger Produkte. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt fiel sie immer weiter zurück. Dabei waren entlang des Nils und in Mesopotamien einst die ersten Hochkulturen der Menschheit entstanden, die menschliche Phantasie hatte den Garten Eden in den Nahen Osten verlegt, und hier wurden die drei monotheistischen Weltreligionen geboren. Die Gegenwart ist jedoch trist. Keine Region auf der Welt hat eine größere Konfliktdichte.

Die Energie zur Veränderung kommt von innen, und sie entlädt sich seit Anfang des Jahres 2011.Schon länger hatte sich im Kessel ein Druck aufgestaut. Die Bevölkerung der arabischen Staaten ist jung, die Hälfte ist 24Jahre und jünger. Zunehmend erkannte die junge Generation, dass die alten Eliten sie um ihre Zukunftsperspektiven betrügen. Mit den Kernländern Ägypten, Syrien und dem Irak war das alte Arabien zu einer faulen Frucht verkommen. Zu spät erkannten ihre Machthaber, dass sie Ventile öffnen müssten. Sie taten es nicht, und so löste die Selbstverbrennung eines tunesischen Straßenverkäufers am 17.Dezember 2010 eine Massenmobilisierung aus, die den überfälligen Wandel mit einer unvorhersehbaren Wucht einleitete. An einigen Tagen gingen in Ägypten sechs Millionen Menschen auf die Straße, in Bahrain demonstrierte jeder dritte Einwohner. Nie hatten im Jemen mehr Menschen demonstriert, nie waren es in Libyen mehr, nie in Syrien.

Nicht der Palästinakonflikt hat die jungen Menschen mobilisiert, von dem es doch stets geheißen hatte, er sei die Achse, um die sich das politische Bewusstsein der Araber drehe. Auch die latenten Spannungen mit der Supermacht Vereinigte Staaten spielten keine Rolle. Ihre eigenen Probleme und die Suche nach einem würdigen Leben trieben die Menschen an, auf die Straße zu gehen und ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Ihre Proteste sind Antworten auf lokale |10|Missstände, nicht auf die internationale Politik. Sie sind weder anti-amerikanisch noch antiisraelisch, sie haben nichts mit dem Jihad zu tun und nichts mit al-Qaida, Ideologien spielen keine Rolle. Der Protest richtete sich gegen Armut und Korruption, gegen Unterdrückung und das Vorenthalten von Freiheit.

Begonnen haben die Proteste im alten Arabien. Dort hatte die arabische Kultur vor langer Zeit den Zenit ihrer Blüte erreicht. Doch städtische Zentren wie Kairo, Damaskus und Bagdad stehen für eine große Geschichte, nicht für eine dynamische Gegenwart. Sie haben sich nicht erneuert, sondern sind erstarrt. Nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 putschten sich in den meisten Ländern Militärs an die Macht. Sie richteten Diktaturen ein und beendeten eine liberale Epoche, die die Jahrzehnte zuvor geprägt hatte. Die Militärdiktaturen waren nicht mehr an der Kreativität der Gesellschaft interessiert und nicht an der Mehrung des Wohlstands, sondern allein an der Sicherung ihrer Macht und an der Sicherheit ihres Staats. Das alte Arabien glitt in Stagnation ab und wurde ein Konfliktherd mit vielen Wunden.

Im letzten Viertel des 20.Jahrhunderts hatte eine Verschiebung des Gravitationszentrums vom verkrusteten alten Arabien zu einem neuen Arabien am Golf eingesetzt. Die Volkswirtschaften am Golf wurden größer als die des alten Arabiens; die wichtigsten arabischen Medien wurden nicht mehr in Kairo und Beirut produziert, sondern in den freieren und reicheren Staaten am Golf; auch im Hinblick auf die politische Bedeutung liefen die ölreichen Staaten der Arabischen Halbinsel den verarmten Staaten im alten Arabien immer mehr den Rang ab. Das Erdöl spielte eine Rolle, denn mit den üppig fließenden Petrodollars konnten die Golfstaaten ihren Rückstand rasch aufholen. Das Erdöl allein gab indes nicht den Ausschlag. Petrodollars sprudelten ja auch im Irak von Saddam Hussein und im Libyen von Muammar Gaddafi. Der Bevölkerung kamen sie aber kaum zugute.

Das war in den kleinen Monarchien am Golf anders. Dort finanzierten die Petrodollars nicht den Größenwahn von Diktatoren, sondern sie legten das Fundament für ein Entwicklungsmodell, das erst in die Region ausstrahlte, dann in die Welt. Am Anfang stand Dubai. Das kleine Emirat zeigte den Arabern und Muslimen, dass Islam, gesellschaftliche Freiheiten und ein Leben in Wohlstand miteinander vereinbar sind. »Dubai« wurde für Araber und Muslime |11|zur Vokabel für ein besseres Leben. Die Besten wanderten nach Dubai aus, weil sie dort ihre Fähigkeiten entfalten konnten. Von Dubais Erfolg ging ein Sog aus, dem sich kein Land der Region mehr entziehen konnte. Andere mussten nachziehen, kopierten das Modell, wandelten es ab, entwickelten es weiter. Mit der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 gab Dubai die Fackel des Fortschritts an andere weiter, vor allem an Abu Dhabi und Doha. Das Entwicklungsmodell breitete sich wie ein Ölfleck im Wasser aus. Von diesem Modell und seiner Ausstrahlung handelt dieses Buch.

Das politische und wirtschaftliche Gravitationszentrum der arabischen Welt lag bereits am Golf, als die »Arabellion« das alte Arabien zu neuem Leben erweckte. Die Proteste erfassten die meisten der 22Staaten der Arabischen Liga, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Auf der einen Seite schossen in Libyen und Syrien die Sicherheitskräfte auf die Demonstranten, auf der anderen gab es in reichen Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Qatar überhaupt keine Proteste. Als Reporter war ich an vielen dieser Brennpunkten des Jahres 2011Augenzeuge. Fünf Szenen aus fünf Monaten:

Kairo/Ägypten im Februar, ein Wechselbad der Gefühle. Am Abend des 10.Februar sind auf dem Tahrir-Platz wieder mehr als eine Million Ägypter versammelt. Ihre Proteste haben am 25.Januar begonnen. Heute verfolgen sie auf einer Leinwand eine Rede von Husni Mubarak, bei der sie hoffen, dass es seine letzte als Staatspräsident sein wird. Als Vater lasse er seine Kinder nicht im Stich, stammelt der seit drei Jahrzehnten herrschende Greis. Gespenstische Stille legt sich über den Platz. Immer mehr strecken als Zeichen der Verachtung ihre Schuhe in die Höhe. Ungläubiges Staunen über einen, der nicht erkennt, dass seine Zeit abgelaufen ist. Am nächsten Tag verliest Omar Sulaiman, Mubaraks Stellvertreter, kurz vor 18Uhr, von einem Offizier bewacht, eine knappe Erklärung: Mubarak trete mit sofortiger Wirkung zurück. In nur einer Sekunde fällt von dem Land eine Last ab, es versinkt in einem Freudentaumel. Die Bevölkerung feiert die ganze Nacht. Am nächsten Morgen, einem Samstag, machen sich Hunderttausende Jugendliche mit Schaufel und Besen daran, den Tahrir-Platz und |12|die Straßen um ihn herum vom Schmutz der Proteste und der Jahrzehnte zu reinigen. Ein Hoher Militärrat aus Generälen übernimmt die Macht.

Manama/Bahrain im März, statt Aufbruch Friedhofsruhe. Am 14.Februar, drei Tage nach Mubaraks Sturz, beginnen auf dem Perlenplatz von Bahrains Hauptstadt die Proteste überwiegend säkularer schiitischer Jugendlicher. Am 22.Februar ist jeder dritte Bahraini auf den Straßen, um friedlich Reformen zu fordern. Das für den 13.März angesetzte Eröffnungsrennen der Formel 1 in Bahrain wird abgesagt. Am 15.März rollen Truppen mit Soldaten und Polizisten aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten über die 26Kilometer lange Landbrücke nach Bahrain, um die Truppen des Königs bei der Niederschlagung der Proteste zu unterstützen. Eine beispiellose Verhaftungswelle setzt ein, Berufsverbote werden verhängt, viele werden wegen ihrer Beteiligung an den Protesten entlassen. Für den Augenblick ist jede dissidente Stimme erstickt. Im Kessel brodelt es weiter.

Benghasi/Libyen im April, ein militärisches Patt. Am 19.März hat die Nato ihre Luftschläge gegen militärische Ziele von Revolutionsführer Gaddafi begonnen. Gaddafis Soldaten waren vor den Toren von Benghasi gestanden, der Hochburg der Rebellen, und der Machthaber hatte gedroht, seine Soldaten würden »von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus« ziehen, um das »Ungeziefer« zu vernichten. Die Nato verhindert in Benghasi einen Genozid, ein libysches Srebrenica, und die Rebellen schöpfen wieder Hoffnung. Vom Gerichtsgebäude aus organisieren sie ihren Widerstand. Schäbig wie in der Vierten Welt ist es, dabei ist Libyen ein ölreiches Land. Im Gerichtsgebäude entsteht eine neue, eine »spontane Ordnung«. Auf dem Platz davor wird der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy wie ein Nationalheld gefeiert. Die Front ist nicht weit, am Stadttor von Ajdabiya sehe ich tiefe Krater, zerbombte Panzer, jubelnde Libyer. Beide Seiten beißen sich an der Front in einem Patt fest.

Sanaa/Jemen im Mai, ein politisches Patt. Die Proteste beginnen am 15.Januar, vom 20.Februar an sind sie intensiv. Staatspräsident Ali Abdullah Saleh will nicht das Schicksal seines Freundes und Weggefährten Mubarak teilen und beginnt zu kämpfen. Er organisiert Massenaufmärsche, die mit der Größe |13|der Protestzüge der Aktivisten und der Opposition mithalten können. Vor drei Jahren hatte er das Regieren im Jemen mit dem Tanz mit einer Schlange verglichen. Mehr als 32Jahre gab es im schwer regierbaren Jemen keinen fähigeren Schlangenbeschwörer. Er ruft seinen herbeigeschafften Anhängern zu: »Ihr wollt, dass ich bleibe, und ich verlasse euch auch nicht.« Dann wird er am 3.Juni bei einem Attentat verletzt. Gegen seinen Willen muss er den Jemen verlassen und sich in Saudi-Arabien behandeln lassen.

Wieder Kairo, im Juni. Der Kreisverkehr um den Tahrir-Platz fließt wie vor der Revolution wieder zäh. Auf dem Rondell in der Mitte, wo im Februar dicht gedrängt Zelte gestanden hatten, sprießt etwas Grün. Wie seit vielen Jahren stehen die rostigen Baukräne auf dem Platz mit der ewigen Baustelle weiter still. Dahinter erhebt sich die ausgebrannte Ruine des Hauptquartiers von Mubaraks aufgelöster Staatspartei. Auf dem Platz bieten Straßenverkäufer T-Shirts zur Revolution an. Auf einem steht: »25.Januar. Wir haben Ägypten verändert.« Was hat sich wirklich verändert?

Die Umwälzungen, die das Jahr 2011 angestoßen hat, werden erst über Jahre sichtbare Änderungen hervorbringen und neue Strukturen schaffen. Eine historische Analogie besteht nicht zum Jahr 1989 mit den Revolutionen Osteuropas und seinen raschen politischen Veränderungen, sondern vielmehr zur Revolution des Jahres 1848.

Damals wurden in Europa erstmals Menschenmassen politisiert. Die neue Idee des Nationalismus mobilisierte sie, eine weitreichende Transformation setzte ein. Zuvor war die Politik Spielfeld einer Elite gewesen, die ihre Länder nach ihren eigenen Vorstellungen geformt hatte. Nun wurde die Politik eine Angelegenheit großer Massen, die ihre Ziele in die Politik einbrachten. Sie konnten nicht länger ignoriert werden. Demokratien waren damit noch nicht entstanden, es waren aber Prozesse in Gang gesetzt, die die Gesellschaften auf Dauer verändern sollten. Genau das erleben wir heute in der arabischen Welt. Gesellschaftliche Prozesse sind jedoch Pendelbewegungen, sie verlaufen nicht geradlinig in eine Richtung.

Doch auch zum Jahr 1989 und dem Fall des Kommunismus bestehen Parallelen. Osteuropas Bürger waren ebenfalls für mehr Rechte und das Ende der Diktaturen auf die Straße gegangen. In |14|der DDR versammelten sie sich in Kirchen, von dort zogen sie zu den Montagsdemonstrationen. In vielen arabischen Ländern ist der Freitag der wichtigste Protesttag, wenn sich die Menschen zum Freitagsgebet versammeln, das kein Machthaber verbieten kann. Danach ziehen sie durch die Straßen. Die Unterschiede des arabischen Jahres 2011 und des osteuropäischen Jahres 1989 sind jedoch größer als die Parallelen. Die arabischen Regime waren nie von außen oktroyiert, und so war mehr erforderlich als nur ein Machthaber wie Michail Gorbatschow, der mehr Freiheiten gewährte, um einen Wandel auszulösen. Zudem ist die arabische Welt heterogener, als es die sich ähnelnden bürokratischen Regime Osteuropas waren. Aus dem Sturz des Kommunismus in Ungarn können wir daher nicht ablesen, wie im Jemen der Übergang erfolgen könnte.

In der arabischen Welt ist der Geist aus der Flasche. Ein Umbau der Gesellschaften und der politischen Ordnungen hat eingesetzt. Die Folgen werden uns über Jahrzehnte beschäftigen. Auch das ist eine Parallele zum Jahr 1848, als junge bürgerliche Intellektuelle gegen eine feudale Ordnung aufgestanden waren und Demokratie sowie nationale Einheit gefordert hatten. Auch in Arabien begehren heute junge Demokraten gegen reaktionäre Regime auf, auch sie sind von einem liberalen Patriotismus inspiriert und von dem Wunsch nach Demokratie. Im Europa des 19.Jahrhunderts hatte es Generationen gedauert, bis sich die Forderungen der Revolution durchsetzten. Im 21.Jahrhundert geschehen die Dinge schneller. Die Möglichkeiten der Mobilisierung sind mit den modernen Technologien größer geworden. Die Qualität der Politikverändert sich, sobald nicht mehr allein die Eliten die Politik bestimmen. In der Vergangenheit haben in Ländern wie Ägypten und Tunesien verwestlichte Machthaber ihre Gesellschaften auf den Weg der Moderne gebracht. Nur im Kampf gegen den Kolonialismus haben sie kurz die Massen mobilisiert. Nun melden sich diese arabischen Massen selbst zu Wort. Sie richten ihre Forderungen an die Herrschenden, sie wollen ein neues Verhältnis des Staats zur Gesellschaft. Der Staat soll nicht länger in der Hand einer Elite sein, die sich die Gesellschaft vom Leib und gefügig hält. Die Menschen, die in die Politik drängen, bringen ihre Identitäten mit, und ihre kulturelle Identität wird vom Islam geprägt. Die neuen Ordnungen, die in der arabischen Welt entstehen, sind daher keine Blaupause des liberalen westlichen Gesellschaftsmodells. In den Gesellschaften wird die Präsenz des Islams zunehmen, ohne |15|dass dies die Errungenschaften der Moderne, wie die Menschenrechte und die gestärkte Stellung der Frau, gefährden müsste. Die Eliten können aber nicht länger die auf den Islam gründenden Werte ignorieren. Und je mehr die Muslime durch eine gewaltfreie Politik erreichen können, desto weniger finden extremistische Islamisten Gehör, die mit Gewalt einen islamischen Staat errichten wollen.

Als sich die patriotische Jugend Europas 1848 gegen das feudale »ancien régime« erhob, war es gerade ein halbes Jahrhundert her, dass Napoleon mit seiner Expedition nach Ägypten die arabische Welt aus der Lethargie gerissen hatte. Seit einem halben Jahrtausend, also seit dem Sieg über die Kreuzritter und der Vertreibung der Mongolen, war in der arabischen Welt die Zeit nahezu stillgestanden. Nun drang Europäisches auf allen Ebenen ein. In den Wirren nach Napoleons kurzem Feldzug setzte sich Muhammad Ali, ein albanischer Offizier in den Diensten des Osmanischen Reichs, als Herrscher über Ägypten durch. Er modernisierte nach dem Vorbild Europas seine Armee, und das löste eine Welle von Veränderungen aus, die die gesamte Gesellschaft erfasste. Denn eine moderne Armee braucht moderne Fabriken, die moderne Waffen und Uniformen herstellen, sie braucht eine moderne Bürokratie, die Steuern erhebt und Soldaten rekrutiert. Das Recht änderte sich, und moderne Schulen vermittelten modernes Wissen, kein Teil der Gesellschaft blieb unberührt.

Europa griff tief in Arabien ein. Alles kam nun aus Europa: Verwaltungswesen, Technologien, Kapitalismus und Nationalismus, Sozialismus und Kommunismus, Säkularismus und Liberalismus. Europa zog die Grenzen neuer Staaten, setzte Könige ein und schrieb Verfassungen. Nie handelten die Araber, immer die Fremden. Alle wichtigen Entwicklungen waren durch Außeneinfluss ausgelöst: 1918 der Zerfall des Osmanischen Reichs und der Beginn der arabischen Nationalstaaten, 1924 die Auflösung des Kalifats durch Atatürk, 1948 die Gründung des Staates Israel auf arabischem Boden, 1979 die Revolution in Iran, von der sich von nun an die sunnitischen Araber bedroht fühlten. Der Irakkrieg 2003.Mit den Aktivisten des Jahres 2011 waren die Araber erstmals wieder selbst die Handelnden.

Den Anfang der Fehlentwicklungen im alten Arabien markiert ein Geburtsfehler. Modernisierer wie Schah Mohammad Reza Pahlawi |16|in Iran und Gamal Abd al-Nasser in Ägypten hatten, wie vor ihnen Atatürk, geglaubt, dass der Staat jene Moderne verkörpere, die sie anstrebten. Die Gesellschaften waren fragmentiert, der Staat sollte stark sein. Mit seiner Hilfe wollten die Modernisierer eine schlagkräftige Armee heranbilden, um die militärische Unterlegenheit gegenüber dem Westen zu kompensieren, und Staatsbetriebe gründen, um die wirtschaftliche Rückständigkeit zu korrigieren. Von oben ordneten sie eine Modernisierung an, sie wuchs also nicht langsam von unten. Das Ergebnis waren autoritäre Staaten, in der kleine Eliten der Bevölkerung ihren Willen aufdrückten. Im Personenkult der Herrscher wurde ihr autoritärer Charakter sichtbar. Sie ließen sich gottgleich verehren, jeglicher Kritik entzogen, mit Porträts in staatsmännischer Pose in allen Amtsstuben und öffentlichen Räumen.

Seit Napoleons Expedition und vor allem im 20.Jahrhundert waren viele Institutionen übernommen worden. Sie blieben in der arabischen Welt aber häufig bloß eine Fassade, hinter der die Machthaber ihre autoritären Regime versteckten. Mit den Techniken der Moderne übten sie mehr Macht aus, als die vormodernen Staaten je besessen hatten. Sie hatten nun das ganze Land unter Kontrolle, erstickten rasch jegliche oppositionelle Regung. Kontrollierte Wahlen mit kontrollierten Parteien wurden ein Ventil, um Druck abzulassen; die Parlamente blieben aber ohne Kompetenz. Auch die Justiz, meist Teil des Herrschaftsapparats, gehörte zu dieser Dekoration. Keine Teilung der Gewalten schränkte die Macht ein, vielmehr sicherten sie allmächtige Sicherheitsapparate ab. Mit einer Bandbreite von der Polizei über die Staatssicherheit und einer Vielzahl von Geheimdiensten, die sich gegenseitig in Schach zu halten haben, sind sie für die Machthaber überlebenswichtig geworden. Die Möglichkeiten einer Partizipation der Gesellschaft sind nur Schein und Illusion geblieben.

Festgefügte Pyramiden der Macht entstanden mit einem Präsidenten an der Spitze. Dabei sorgen die Armee und der Sicherheitsapparat dafür, dass alles beim Alten bleibt. Um nach unten Loyalitäten zu schaffen und die Herrschaft zu sichern, binden die Machthaber über Patronage und Klientelverhältnisse Bürger an sich – etwa durch die Vergabe von Posten in der Bürokratie und in Staatsbetrieben, durch kooptierte Religionsgelehrte und durch Unternehmer, die für ihre Loyalität durch die Zuwendung von staatlichen |17|Ressourcen belohnt werden. Solche Systeme sind immobil, schließen Kreativität und Dynamik aus, aber sie sichern die Macht, und sie garantierten auch in Republiken lange Herrschaftszeiten: In Libyen putschte sich Muammar al-Gaddafi 1969 an die Macht, in Syrien Hafiz al-Assad 1970.Im Jemen stieg Ali Abdullah Saleh 1978 an die Staatsspitze auf, in Ägypten Husni Mubarak 1981, in Tunesien Zine el-Abidine Ben Ali 1987.Jeder von ihnen hatte zuvor Karriere in der Armee oder in Geheimdiensten gemacht.

Diese modernen Pyramiden der Macht sind meist erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. In der arabischen Welt war die Armee für viele aus den unteren Schichten der beste Weg, sozial aufzusteigen. Ägypten öffnete 1936 die Kriegsakademie für alle, und die »Freien Offiziere«, die 1952 die Monarchie stürzten und eine Diktatur errichteten, waren die Kadetten der ersten Jahrgänge. Sie beendeten eine liberale Epoche, die 1922 mit der beschränkten Unabhängigkeit von Großbritannien begonnen hatte. In diesen drei Jahrzehnten war die soziale Ungerechtigkeit zwar weiter groß geblieben, denn die Besitzenden zeigten kaum Verantwortung für die Armen, aber die Zeitspanne war aufgrund der relativen Freiheit die produktivste kulturelle Phase in der jüngeren arabischen Geschichte. Mit der Machtübernahme durch Nasser setzte eine kulturelle, wirtschaftliche und politische Stagnation ein, die bis in die Gegenwart anhielt. Sein neuer Staat war allmächtig, die bürgerliche Mittelschicht wurde bewusst geschwächt, Wohlstand wurde nicht mehr erzeugt.

Mit eine Ursache für den autoritären Charakter der Staaten Arabiens war die Gründung des Staates Israel. Um den Kampf mit Israel aufzunehmen, fegten in Ägypten, Syrien und im Irak Militärs die zivilen Regierungen beiseite. Der Konflikt mit Israel wurde zum Vorwand, um im Namen der nationalen Geschlossenheit jegliche Opposition im Keim zu ersticken und den Pluralismus zu beseitigen. Eine zweite Ursache für den zunehmend autoritären Charakter der Staaten waren die neuen Ideologien des arabischen Nationalismus und des arabischen Sozialismus. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der arabische Nationalismus gegen die europäischen Kolonialmächte gerichtet, die die arabischen Provinzen des untergegangenen Osmanischen Reichs unter sich aufgeteilt hatten. Dann setzte sich die 1940 gegründete arabisch-sozialistische Baath-Partei in einem »grand design« die Einigung der arabischen Welt zum Ziel. |18|1958 putschte sie sich mit Hilfe der Armee im Irak an die Macht, 1963 in Syrien. Die Ideologen der Partei glaubten, dass die Araber ihre volle Kreativität erst dann wieder entfalten würden, wenn ein gemeinsamer Staat sie vereine. Ihre Ideologie war säkular und autoritär. Im Zentrum ihres Denkens stand die politische Einheit, die der Staat verkörpern sollte. Dazu setzten die Machthaber auf die Sicherheitsapparate. Die Gesellschaft bekam keinen Freiraum, sie hatte sich den Zielen des Staats unterzuordnen.

Auf den Sozialismus setzten die Staaten des alten Arabiens, weil die Vereinigten Staaten für Israel Partei ergriffen hatten und als Partner nur die Sowjetunion und deren Vasallen blieben. Mit der Übernahme der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft verarmten ihre Wirtschaften und fielen im internationalen Vergleich, etwa gegenüber Aufsteigern aus Asien, weit zurück. Die autoritären Regime verloren aber auch ihre Kriege, besonders demütigend 1967 gegen Israel in nur sechs Tagen. 1948 hatte die Niederlage der arabischen Armeen gegen Israel die damaligen bürgerlichen Ordnungen diskreditiert, die Niederlage von 1967 diskreditierte den arabischen Sozialisten Nasser. Immer mehr Araber wandten sich dem politischen Islam zu, der ihnen eine Sicherheit in der eigenen Kultur und Religion versprach. Autoritär war auch deren Ideologie. Denn sie stellte die Einheit der Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma, in den Vordergrund. Sie würde, so die Fiktion, eine gerechte Ordnung herstellen, und diesem Ziel habe sich der Einzelne unterzuordnen.

Alle drei großen Ideologien sind gescheitert, entzaubert. Keines der »grand designs« wurde Wirklichkeit. Die Staaten haben versagt, die Eliten nur sich selbst bereichert. Der Anbruch einer neuen Zeit war eine Frage der Zeit. Er deutete sich an, als sich aus den großen Ideologien machbare kleinere Ziele herauskristallisierten, die heute im Denken der Araber Allgemeingut sind: die kulturelle Einheit der Araber, die soziale Gerechtigkeit, der Islam als ein konstituierendes Element der arabischen Kultur.

Das alte Arabien war gescheitert. In seinen Machtsystemen war Erfolg an politische Protektion geknüpft, sein »Kumpel-Kapitalismus« (crony capitalism) stand einer guten Regierungsführung im Weg. Der Staat war korrupt, die Polizei brutal, das Parlament ein Instrument der Machtsicherung und nicht des Dialogs. Eine Partizipation der Bevölkerung fand nicht statt, Mobilität war nicht gewährleistet. |19|Die ganze Region stagnierte, wurde irrelevant und von Aufsteigern wie Dubai in den Schatten gestellt. Keiner der klassischen Staaten im alten Arabien hatte mehr die Kraft zur Erneuerung. Jugendliche Kreativität bricht nun diese Verkrustung auf. Frühere Generationen hatten sich mit Rhetorik und der Propaganda abspeisen lassen, man stehe im nationalen Widerstand und müsse Opfer für die panarabische Sache bringen. Wer aufbegehrte, wurde aus dem Verkehr gezogen, Parteien wurden verboten. Diese Repression funktioniert nicht länger. Die Machthaber können nicht eine ganze Generation verhaften und dauerhaft das Internet blockieren. Die Jugend hat zwar keine fairen Chancen und kein Leben in Würde, sie ist aber mit dem Internet aufgewachsen, international vernetzt und hat Vergleichsmöglichkeiten.

Das Meinungsforschungsinstitut Asdaa Burson Marsteller hat im März 2011 zum dritten Mal eine Jugendstudie in der arabischen Welt durchgeführt. Es befragte dazu Jugendliche in zehn Ländern. 2009 hatten nur fünfzig Prozent angegeben, ihre erste Priorität sei, in einer Demokratie zu leben. Im Jahr 2011waren es 65Prozent, außerhalb der ölreichen Länder des Golfkooperationsrats (GCC) sogar achtzig Prozent. In den zwei Jahren stieg die Zahl jener, die das Internet jeden Tag nutzen, von 56 auf achtzig Prozent und die Zahl jener, die das Internet für »social networking« einsetzen, von 32 auf sechzig Prozent. Bei den Jugendlichen außerhalb der GCC-Staaten ist die sich weitende Schere zwischen Arm und Reich die größte Sorge; das gaben 53Prozent an. In den reichen GCC-Staaten waren es nur 39Prozent.

Innere Missstände und Fehlentwicklungen in den Staaten haben die Proteste des Jahres 2011 ausgelöst. Alte und neue Medien haben sie lediglich unterstützt. Immer hatten in der Geschichte Medien zum Erfolg von Revolutionen beigetragen, Flugblätter und die Druckerpresse haben mobilisiert, das Radio und das Fernsehen, auch Kassetten. In der Gegenwart schaffen neue Medien wie Twitter und Facebook eine »soft power«, gegen die auch die aufgerüsteten Sicherheitsapparate machtlos sind. Diese neuen Medien haben die Revolutionen nicht gemacht, sie beschleunigen aber Verbindungen in einem bisher ungeahnten Tempo und ermöglichen den raschen Zugriff vieler auf Informationen. Auch Medien wie das Fernsehen und insbesondere der Nachrichtensender al-Jazeera spielen eine Rolle. Sie verstärken die Botschaften von Facebook und Twitter |20|und geben jenen eine Plattform, deren Stimmen in den Sicherheitsstaaten des alten Arabiens nicht zu hören waren. Eine Generation von Amateurjournalisten wird sichtbar, wie jener libysche Aktivist, der die Niederschlagung der ersten Kundgebung gegen Gaddafi in Benghasi am 15.Februar mit seinem Mobiltelefon filmte und die kurze Sequenz wenige Minuten später per Internet an al-Jazeera sandte. Was früher niemand erfahren hätte, war nun in der ganzen Welt bekannt. Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton sagte daher vor einem Ausschuss des Senats, wolle sie echte Nachrichten sehen, schalte sie auf al-Jazeera.

Für viele waren die Proteste, die mit unterschiedlicher Intensität die meisten arabischen Länder erfasst haben, überraschend gekommen. Auch jenseits der sichtbaren strukturellen Fehlentwicklungen hatte es jedoch Hinweise gegeben. Die arabischen Redakteure des Nachrichtensenders CNN in Dubai waren im Oktober 2010 im Internet auf lebhafte Diskussionen von Tunesiern gestoßen, die Massenkundgebungen vorbereiteten. Zu jener Zeit hatten auch in Ägypten jugendliche Aktivisten im Schutz der elektronischen Welt Proteste geplant. Dabei tauschten sich die Aktivisten beider Länder über die sozialen Medien aus.

Muhammad Bouazizi konnte nicht geahnt haben, dass er mit seiner Selbstverbrennung am 17.Dezember 2010 einen Sturm entfachen würde, der die arabische Welt verändern sollte. Mit ihm können sich viele junge Araber identifizieren, die sich ebenfalls ihrer Chancen und ihrer Zukunft beraubt sehen. Seine Geschichte könnte die von Millionen anderer Araber sein. Er starb 18Tage, nachdem er sich in der Kleinstadt Sidi Bouzid im Süden Tunesiens mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Keine Ideologie hatte ihn getrieben, sondern Verzweiflung. In seinem kurzen Leben lassen sich die drei Faktoren erkennen, die die junge Generation auf die Straße getrieben haben. Sie lassen sich auf die Formel »PPP« verkürzen: poverty, participation, pride, zu Deutsch Armut, Teilhabe und Stolz bzw. Würde. Je wichtiger diese Faktoren in einem Land waren, desto größer waren die Proteste.

Muhammad Bouazizi war 26Jahre alt und Straßenhändler. Er verdiente seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie, indem er jeden Tag mit seinem fahrenden Marktstand Gemüse verkaufte. Ändern konnte er sein Leben nicht, denn der Polizeistaat Tunesien sah |21|eine Teilhabe der Menschen nicht vor. Vielmehr konfiszierten die Repräsentanten dieses Staates wiederholt den Wagen und die Waage von Muhammad, so dass er für sich keine Perspektive und kein Leben in Würde mehr sah. Dabei hatte er nach dem frühen Tod seines Vaters seine Mutter und fünf Geschwister zu ernähren. Er ermöglichte ihnen durch seine Arbeit den Besuch einer Schule, machte selbst das Abitur. Die Kleptokratie Tunesien war aber nicht am Wohlergehen der einfachen Bürger interessiert, sondern am Reichtum der Familie des Präsidenten.

Am 6.Juni 2010, also ein halbes Jahr vor der Selbstverbrennung von Muhammad Bouazizi, hatten im ägyptischen Alexandria Polizisten den 28Jahre alten Khaled Said am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit zu Tode geprügelt. Sie zerrten den bekannten Blogger aus dem Internetcafé Cleopatra und rammten seinen Kopf gegen Mauern und Treppenstufen, bis er tot am Boden lag. Khalid Said war einer der 15Millionen Ägypter, die das Internet benutzten. Was als Abschreckung gedacht war, entfachte den Zorn der Jugend. Zunächst protestierten jeden Tag mehrere Hundert Jugendliche gegen die Gewalt der Polizei. Dann formierte sich am 25.Juni in den Straßen von Alexandria mit 7000Demonstranten die bislang größte nicht genehmigte Kundgebung Ägyptens. An ihre Spitze stellte sich Muhammad El Baradei, der Friedensnobelpreisträger und frühere Generaldirektor der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA). Die Demonstranten skandierten »Nieder mit Mubarak«. Die Kundgebung war ein Wendepunkt in der Geschichte des modernen Ägyptens.

Im November 2010 kehrte Wael Ghonim aus Dubai in seine Heimatstadt Kairo zurück. In Dubai war der 1980 geborene Ägypter zum Marketingchef von Google im Nahen Osten aufgestiegen, in der Fremde war er zum Internetprofi geworden und hatte gelernt, die neuen Medien zur Mobilisierung einzusetzen. Zurück in Kairo gründete er die Facebookgruppe »Wir sind alle Khaled Said«, die rasch 300000Anhänger hatte. Sie wurde der Schlüssel der Mobilisierung, die zum Sturz von Husni Mubarak führte. Über Jahrzehnte hatte die ägyptische Polizei rasch jegliche Demonstration im Keim erstickt. Im Januar 2011 entglitt ihr die Kontrolle über die Straßen und öffentlichen Plätze jedoch, denn das Regime hatte nicht mitbekommen, dass in den Weiten des Netzes Aktivisten eine Revolution geplant hatten.

|22|Deren harter Kern hatte zuvor in der Protestbewegung »Kifaya!« (Genug!) Erfahrungen gesammelt. Der pensionierte Lehrer und Aktivist George Ishaq hatte sie im Jahr 2004 gegründet, um ein Ende der Herrschaft der Familie Mubarak zu fordern. Ihre Kundgebungen fanden aber nur in der Innenstadt von Kairo statt. Selten kamen mehr als hundert Demonstranten zusammen, meist sahen sie sich einer schwer bewaffneten Phalanx von vielen hundert Bereitschaftspolizisten gegenüber. Ahmad Maher war auch bei »Kifaya«. Im April 2008 dokumentierte er über Facebook die blutige Niederschlagung der Arbeiterproteste in der Industriestadt Mahalla al-Kubra. Daraus entstand die »Bewegung des 6.April«. Sie wurde ein weiterer Katalysator der Revolution des Jahres 2011.

Die »Bewegung des 6.April« nahm Kontakt zur serbischen Jugendbewegung Otpor auf, die in Serbien am Sturz des Diktators Slobodan Milo evic beteiligt war und sich vom amerikanischen Politologen Gene Sharp hat inspirieren lassen. Der hatte Methoden des gewaltfreien Widerstands entwickelt, um Polizeistaaten zu untergraben. Mahers Bewegung studierte das Handbuch und die Handlungsanweisungen von Sharp, von Otpor übernahm sie das Logo. Über Computer tauschten sie sich mit tunesischen Aktivisten aus; im Untergrund stieg die Zahl der Aktivisten. Ihnen schloss sich Wael Ghonim an. Ende 2010 fanden sich zehn Jugendgruppen zur »Koalition der Jugend für die ägyptische Revolution« zusammen. Sie testeten ihr theoretisches Wissen und Strategien der Mobilisierung zunächst in Vororten von Kairo. Die Polizei schöpfte keinen Verdacht.

Um an den Tod von Khaled Said zu erinnern, riefen sie zum 25.Januar, der in Ägypten als »Tag der Polizei« begangen wird, zu einem Protestmarsch auf. Unerhofften Auftrieb erhielten sie durch den Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali am 14.Januar. Sie hatten aus den Fehlern von »Kifaya« gelernt und begannen ihren Protestzug im Arbeiterviertel Nahya, dessen Gassen für die gepanzerten Fahrzeuge der Sicherheitskräfte zu eng sind. Auf dem Weg in das Mittelklasseviertel Mohandessin schwoll der Zug an. Als sie auf dem Tahrir-Platz ankamen, waren es 20000Demonstranten und damit mehr als je zuvor auf einer nicht genehmigten Kundgebung. Von da an waren die Initiatoren überzeugt, dass sie Mubarak stürzen könnten. Schlachten mit den Sicherheitskräften begannen. Dass die unbewaffneten Demonstranten die Oberhand behielten, |23|verdanken sie den Erfahrungen der Aktivisten Tunesiens. Von ihnen lernten sie, wie sie sich vor Tränengas schützen und wie sie sich im Straßenkampf zu verhalten haben.

Zunächst stürzten die Potentaten im Monatsrhythmus: im Januar Ben Ali, im Februar Mubarak. Die Leichtigkeit, mit der sie beseitigt wurden, erschwerte den raschen Sturz weiterer Machthaber. Ein tunesisches Gericht verurteilte Ben Ali in Abwesenheit, und ägyptische Gerichte eröffneten gegen Mubarak Verfahren. Nun wollten andere Diktatoren nicht mehr aufgeben, auch wenn sie wie in Libyen, Jemen und Syrien mit Massenerhebungen konfrontiert waren. Bei einem Rücktritt würde ja nur das Schicksal von Ben Ali und Mubarak auf sie warten. Kämpfen sie um ihre Macht, sind sie zwar ebenfalls nicht sicher, aber sie kämpfen wenigstens. Die Proteste, Kundgebungen und Revolutionen zielen aber nicht allein auf den Sturz der Machthaber, die meist Jahrzehnte an der Spitze ihrer Länder gestanden haben. Sie wollen auch deren Regime beseitigen. Das Stereotyp der arabischen Diktaturen und autoritären Regime ist damit erschüttert.

Drei Gruppen von Staaten werden sich in den kommenden Jahren herausbilden. Tunesien und Ägypten haben eine realistische Chance, zwar nicht unbedingt volle Demokratien zu werden, aber immerhin Länder mit guter Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und Transparenz. Ihre Reformen werden in andere Länder ausstrahlen. In einer zweiten Gruppe werden die Machthaber von oben Reformen einleiten. Ihre Regierungen werden so die Unterstützung der Massen und der Mittelklasse gewinnen wollen. Damit könnten sie ihre Regime auf einem höheren, reformierten Niveau konsolidieren. Zu dieser Gruppe gehören Marokko und Jordanien, auch einige Golfstaaten. Die dritte Gruppe besteht aus Ländern, in denen die Machthaber zu einem großen Teil delegitimiert sind. Die Proteste werden andauern, mit großer Wahrscheinlichkeit werden die Konflikte lange nicht abebben und möglicherweise in Bürgerkriege münden. Zu diesen Ländern gehören Libyen und der Jemen, offenbar auch Syrien.

Jugendliche Aktivisten haben die Proteste zwar organisiert und die Umwälzungen eingeleitet, wachsen aber nur langsam in eine politische Verantwortung hinein. Erst mit der Zeit wird die revolutionäre Jugend die Fähigkeiten haben und die Taktiken beherrschen, |24|um bei Wahlen zu bestehen. Je mehr sich die Gesellschaften stabilisieren, desto mehr geht die Macht der idealistischen, aber unerfahrenen Jugend zurück. Für das alltägliche Geschäft der Politik eignen sich die traditionellen Eliten mit ihrer Erfahrung besser. Wie nach 1848 hat aber ein langfristiger Prozess eingesetzt. Die junge Generation hat mit ihrer Mobilisierungskraft die Agenda der arabischen Welt verändert. Einer Ideologie folgen sie nirgends. Überall ist die Nationalflagge eines Landes das einigende Band, in Kairo auf dem Tahrir-Platz, auf dem Perlenplatz in Bahrain, bei den libyschen Rebellen, die auf die libysche Trikolore aus dem Jahr der Unabhängigkeit von 1951 zurückgreifen. Diese Unabhängigkeit wollen sie wiederherstellen.

Vieles von dem, was sie fordern, ist in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4.Juli 1776 enthalten. Dort heißt es, dass alle Menschen gleich geboren und mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen eingesetzt sein müssen, deren Regiertungsgewalt sich aus der Zustimmung der Regierten ableitet, und dass das Volk das Recht hat, eine neue Regierung einzusetzen, sollten sich Regierende seinen unveräußerlichen Rechten nicht verpflichtet zeigen.

Trotz der ähnlichen Motive der Proteste hat ein Dominoeffekt nicht eingesetzt, denn die arabische Welt ist kein einheitlicher Raum, sondern heterogener als Europa. Die Bandbreite reicht vom reichen Qatar bis zum Armenhaus Jemen, vom konservativen Königreich Saudi-Arabien zur sozialistischen Massenrepublik Libyen, von Ländern mit einer mediterranen Kultur wie Tunesien zu archaischen Stammesstrukturen wie im Jemen. Saudische Prinzen sind Araber, palästinensische Flüchtlinge auch. In gewachsenen Nationalstaaten mit eigenen nationalen Identitäten wie in Tunesien und Ägypten hatten die Revolutionen rasch Erfolg, in jungen Nationalstaaten mit kaum entwickelten nationalen Identitäten wie Libyen und auch Syrien mündeten sie in anhaltende blutige Konflikte. Am meisten ungewiss ist der Ausgang der Proteste im Jemen, in Libyen und in Syrien. In keinem von ihnen kristallisiert sich eine politische Konstellation heraus, die darauf hinweist, wer künftig das Sagen haben könnte. Im Jemen und in Libyen spielen wegen der nur unzureichend funktionierenden oder fehlenden staatlichen Institutionen die Stämme eine bedeutendere Rolle als in anderen Ländern. Denn sie sind es, die dem Einzelnen eine physische und materielle Sicherheit geben.

|25|Im Jemen haben sich die wichtigsten Stämme und Prediger auf die Seite der Opposition geschlagen, ebenfalls wichtige Einheiten der Armee. Selbst das Attentat auf Präsident Saleh und andere Spitzenvertreter des Staats am 3.Juni 2011 hat jedoch nicht zum Kollaps des Regimes geführt. Der Jemen wird auch nach Saleh schwer regierbar sein, denn die Opposition ist zersplittert. Unter Saleh war sie ebenfalls Teil der Korruption, und einen Plan für die wichtigsten Herausforderungen des Landes – etwa die Armut, al-Qaida und die Sezession im Süden – hat sie nicht. Die jungen Aktivisten, der dritte Akteur, verzichten bewusst auf Gewalt, und ihnen fehlt politische Erfahrung. Beides reduziert ihren Einfluss auf den Gang der Ereignisse. Die Wahrscheinlichkeit ist daher hoch, dass sich bürgerkriegsähnliche Zustände etablieren. Die Nachbarstaaten fürchten, dass eine Destabilisierung des Jemen als Folge des Machtvakuums auf sie überschwappen könnte.

In Libyen hatte Oberst Gaddafi auf den Aufbau stabiler staatlicher Institutionen verzichtet. Immer hatte er gefürchtet, in diesen Institutionen könnte sich Opposition gegen sein Regime organisieren. Heute ist das Fehlen von Strukturen eines modernen Staats eine Hypothek für die Zeit nach Gaddafi. In Tunesien und Ägypten hatten gerade funktionierende staatliche Institutionen für Stabilität in der revolutionären Übergangsphase gesorgt. Hingegen spielen in Libyen die Stämme eine geringere Rolle als im Jemen. Die meisten Einwohner des dünn besiedelten Landes leben in den Städten entlang der Mittelmeerküste, und in Städten entstehen zusätzlich zur Stammesloyalität weitere Identitäten.

Der Jemen und Libyen sind Randstaaten der arabischen Welt, Syrien hingegen ist ein Kernstaat. Auch aus einem zweiten Grund ist Syrien ein Schlüsselland: Das Regime ist direkt oder indirekt an allen Konflikten des Nahen Ostens beteiligt. Ein Regimewechsel in Damaskus würde daher zu einer Neuordnung der Region führen. Davor schrecken viele externe Akteure zurück, was dem Regime von Präsident Baschar al-Assad nutzt. Assad zeigt sich im Konflikt aber als führungsschwach, so dass die Unterstützung der schiitischen Alawiten, zu denen Assad gehört und die als Minderheit in Syrien herrschen, zu bröckeln scheint. Eine Alternative zu ihm ist bei den Alawiten nicht in Sicht, sein Spielraum ist jedoch eng. Würde er Reformen einleiten, also politische Parteien und freie Wahlen zulassen oder aber eine Rechenschaftspflicht für die Regierenden |26|einführen, wäre das der Kollaps des Regimes. Denn es basiert auf dem Politikmonopol der Baath-Partei und der Aufteilung der Pfründe unter den Stützen des Regimes. Wahrscheinlich ist daher auch für Syrien, dass die Konflikte lange anhalten. Zum einen hat die »Straße« trotz landesweiter Proteste nicht genügend Potential, um das Regime zu stürzen. Zum anderen werden die Alawiten um das Überleben des Regimes und damit auch um ihr physisches Überleben kämpfen.

Relativ unbeschädigt gehen die Monarchien Marokko und Jordanien aus den Protesten hervor. Ihre Könige haben Reformen eingeleitet, zudem symbolisieren sie die Einheit ihrer Länder. Dem marokkanischen König hilft sein religiöser Status. Die Monarchie ist gleichzeitig in der islamischen Tradition verankert wie in der Moderne. Nie war Marokko eine politische Wüste wie andere Länder, immer hatte es politische Parteien gegeben. In Jordanien wird die Monarchie überleben, weil die autochthonen Jordanier fürchten, das Land bei einem Sturz der Monarchie an die in Jordanien lebenden Palästinenser zu verlieren. In der arabischen Welt gibt es für Monarchien also weiter Platz, und die finden wir vor allem auf der Arabischen Halbinsel und am Golf.

Weitgehend immun gegen die Proteste waren die Reichtumsinseln im neuen Arabien. Bei den »PPP«, dem Gradmesser der Unzufriedenheit, schnitten sie bis auf Bahrain gut ab. Zwar fanden auch in Oman und in Saudi-Arabien Proteste statt, sie erreichten aber nicht die Größenordnung der Kundgebungen im alten Arabien. Das Auge im Orkan der Umwälzungen blieben Qatar und die Vereinigten Arabischen Emirate. Die Qataris sind zufrieden mit dem höchsten Einkommen je Einwohner auf der Welt, zu Protesten zeigen sie keine Neigung, auch nicht zu politischer Kritik. Fast ebenso reich wie die qatarischen Nachbarn sind die Emiratis. Ihre Debatten erhielten aber eine neue Qualität. In einer elektronischen Petition forderten mehr als hundert Intellektuelle die freie Wahl aller Mitglieder des »Föderalen Nationalrats« und dessen Umwandlung in ein wirkliches Parlament. In den Tagen nach dem 8.April 2011 wurden erstmals fünf emiratische Bürger aus politischen Gründen festgenommen. Nie zuvor hatte es in den Vereinigten Arabischen Emiraten politische Gefangene gegeben. Die allermeisten Emiratis sind mit ihrem Leben und der politischen Ordnung aber unverändert zufrieden. |27|Über die informellen Zusammenkünfte in deren Privaträumen, den Majlis, haben sie direkten Zugang zu den Mitgliedern der Herrscherfamilien, und der »Föderale Nationalrat« debattiert Anliegen der Bevölkerung kontrovers. Zudem hat eine kluge Politik dafür gesorgt, dass die Petrodollars allen Einheimischen zugutekommen. Schließlich hat die Jugend in den Emiraten und in Qatar Zukunftsperspektiven, um die sie die junge Generation anderer Länder nur beneiden kann.

Lediglich in Bahrain haben Demonstranten einen Regimewechsel gefordert; eine Republik sollte die Monarchie ablösen. In den anderen fünf Staaten des Golfkooperationsrats beschränkten sich die Forderungen auf Reformen innerhalb der bestehenden Ordnungen, denn die herrschenden Familien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten eine stabile Legitimation erworben, von der sie zehren. Klug, unideologisch und mit Erfolg haben sie ihre Länder durch schwierige Zeiten gesteuert. Sie nutzten die Entdeckung des Erdöls zu einem Quantensprung ihrer Wirtschaften und Gesellschaften, sie umschifften die Klippen der Entkolonialisierung, und sie verhinderten, dass sie in den Sog von Krisen gezogen wurden – wie bei der Revolution 1979 in Iran, dem irakisch-iranischen Krieg von 1980 bis 1988, der Besetzung Kuwaits 1990 durch den Irak und der Invasion in den Irak 2003.

Die Komplexität, die die Moderne und die Globalisierung mit sich bringen, erzeugt aber einen Druck, auch in den wohlhabenden Golfstaaten politische Reformen einzuleiten. Noch sind die meisten Bürger nur an Wohlstand interessiert. Ein politisches Interesse entsteht aber, und es lässt sich nicht länger mit Hilfe der Ausschüttung üppiger Wohltaten zum Schweigen bringen, wie es der saudische Monarch im Frühjahr 2011 noch einmal versucht hat. Die nächste Bewährungsprobe der herrschenden Familien am Golf wird es sein, der Unzufriedenheit in der Bevölkerung zuvorzukommen und rechtzeitig eine Partizipation in institutionalisierten Gremien zu ermöglichen. Noch kommen die Gefahren für diese Länder nicht von innen, sondern von außen – durch Irans Hegemonieanspruch und durch den drohenden Kollaps im Jemen, der Millionen von Armutsflüchtlingen nach Saudi-Arabien treiben könnte. An der Stabilität der Emirate und Qatars sind jedoch alle wichtigen Länder in Asien und im Westen interessiert. Das ist eine bedeutende Sicherheitsgarantie.

|28|Die Proteste und Kundgebungen des Jahres 2011 haben die Erneuerung der arabischen Welt angestoßen. Ein erster Impuls dazu war jedoch bereits ein Vierteljahrhundert früher von den kleinen und ölreichen Staaten am Golf ausgegangen. Die Staaten des alten Arabiens befanden sich im Griff der Sicherheitsapparate, ihre Geschichte war Last, ihre Ideologien waren eine Fessel, und so konnte die Erneuerung nicht im damaligen Zentrum der arabischen Welt einsetzen. Sie kam aus den Ländern an der Peripherie, die weder auf die Geschichte noch auf Ideologien Rücksicht zu nehmen hatten. Einst war das Wasser die Grundlage der Hochkulturen in Ägypten und im Irak gewesen. Am Beginn des Aufstiegs der Golfstaaten standen das Erdöl und seine Bedeutung als Energieträger für die Weltwirtschaft. Je höher der Ölpreis stieg, desto mehr wuchs ihre wirtschaftliche und auch politische Macht. Die jungen Stadtstaaten nutzten zudem ihre Lage in der geographischen Mitte der Welt, um zu Knotenpunkten der globalisierten Wirtschaft zu werden.

Über Jahrzehnte hatten die Staaten des alten Arabiens herablassend auf die Aufsteiger vom Golf geblickt. Diese Wahrnehmung änderte sich Ende des 20.Jahrhunderts, als »Dubai« vielen Arabern zu einem Codewort für Freiheit und für die Erfüllung von Träumen geworden war. Die moderne Infrastruktur am Golf kontrastierte mit dem Verfall der Metropolen im alten Arabien, die effiziente Verwaltung mit den korrupten Bürokratien. Pionier war Dubai, nun übernehmen Abu Dhabi und Doha die Führung. Ein Entwicklungsmodell war entstanden, das weit in das alte Arabien hineinwirkt. Im Mittelpunkt steht nicht mehr der Staat, sondern der Einzelne. Die Globalisierung wird nicht als Gefahr begriffen, sondern als Chance, und der Islam ist nicht länger dogmatisch, sondern mit der Individualisierung pragmatisch. Das alte Arabien holt zwar auf, und es erneuert sich endlich. Der Vorsprung des neuen Arabiens aber bleibt. Dort wachsen neue Städte, dort entsteht eine neue Kultur. Dieses Buch zeichnet diese Entwicklung nach und wagt Zukunftsprognosen.

Rainer Hermann

Abu Dhabi, im Juli 2011

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|29|Die Vereinigten Arabischen Emirate

|31|Der große Entwicklungssprung

Der Vater der Nation: Scheich Zayed bin Sultan

Der 2.November 2004 bedeutete eine Zäsur. An diesem Tag starb im Alter von 86Jahren Scheich Zayed bin Sultan Al Nahyan, seit 1966Herrscher des Emirats Abu Dhabi und seit der Gründung 1971Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate. Er hinterließ eines der reichsten Länder der Erde überhaupt und eines der stabilsten der arabischen Welt. Noch in Scheich Zayeds erster Lebenshälfte waren die Bewohner von Abu Dhabi so bettelarm, dass viele auswandern mussten. Es gab keine geteerten Straßen und außer dem Fort der Herrscher keine gemauerten Gebäude. Das Trinkwasser wurde importiert, einige wenige Behausungen hatten Strom aus dem Generator. Es gab keine politischen Strukturen, alles wurde über die informellen Beziehungen zwischen den Stämmen und den Scheichs geregelt. Nach außen war für den mittellosen Küstenstrich seit 1820Großbritannien verantwortlich. Vorher war die für den Indien- und Ostasienhandel sehr wichtige Schiffsroute durch die Straße von Hormuz ständig durch Piraterie bedroht gewesen. Die Engländer hatten Beziehungen zu den wichtigen Scheichtümern aufgebaut und eine Art Friedensvertrag geschlossen. Aufgrund dieser Anbindung an die britische Krone hieß die Region »Vertragsküste«. Als Scheich Zayed starb, prägte diese Region nicht mehr bittere Armut, sondern märchenhafter Reichtum. Erdöl war entdeckt worden und hatte die Vertragsküste wie mit einem Zauberstab verändert. Allein das Emirat Abu Dhabi verfügt über acht Prozent aller weltweiten Ölvorkommen. Die Einwohner mussten erst lernen, damit umzugehen.

Scheich Zayeds diplomatischem Geschick war es zu verdanken gewesen, dass sieben auf Unabhängigkeit bedachte Stammesscheichs, die sich in der Vergangenheit bekriegt und befehdet hatten, 1971 einwilligten, einen gemeinsamen Staat zu gründen. Diese Föderation besteht aus den Emiraten Abu Dhabi, Ajman, Dubai, Fujairah, Ras al-Khaimah, Sharjah und Umm al-Qaiwain. Die Hauptstadt ist Abu Dhabi, die größte Stadt ist Dubai. Mit seinem beduinischen Instinkt, den ihm keiner der vielen ausländischen Berater |32|hatte austreiben können, hatte Scheich Zayed einen Ausgleich und Konsens zwischen den Menschen hergestellt. Er hatte dafür gesorgt, dass der neue Reichtum in diesem neuen Staat alle erreichte, und setzte ihn zum Aufbau eines prosperierenden Gemeinwesens mit Modellcharakter ein. Er hinterließ ein Erbe, wie es keinem anderen arabischen Staatsmann seiner Generation gelang: Er hatte die einzige funktionierende Föderation in der modernen arabischen Welt gegründet. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind eine Erfolgsgeschichte, wie die arabische Welt nur wenige kennt.

Nach dem Tod Scheich Zayeds übernahmen seine 19Söhne die Verantwortung für das Emirat Abu Dhabi und, zusammen mit den sechs anderen Emiraten, für den Staat. Entscheidend sind dabei nicht ihre Funktionen im Staat, die sich ändern können. Entscheidend ist ihre Stellung in der Familie, die bleibt. Jeder trägt den Ehrentitel »Scheich«, wie jedes Mitglied der herrschenden Familie Al Nahyan. Zayeds ältester Sohn Khalifa wurde Nachfolger an der Spitze des Emirats und der Föderation. Vieles veränderte sich, und die Veränderungen geschahen schnell. Scheich Zayed hatte einen großen Teil seiner Jugend unter Beduinen verbracht und keine formale Bildung erhalten. Er selbst lebte eher gemächlich im Einklang mit der Natur, er jagte mit Falken und ritt auf Pferden in die Wüste hinaus. Mit den ersten Petrodollars baute er Schulen und Krankenhäuser, ließ Palmen pflanzen und begrünte die Siedlungen der wenigen Einwohner. Seine Söhne legten ein anderes Tempo vor. Wenige Jahre nach Scheich Zayeds Tod brachten sie sogar die Boliden der Formel 1 nach Abu Dhabi. Sie sind keine Beduinen mehr, sondern Manager eines Staats, der mit seinem Erdöl und mit den weltweit größten Staatsfonds zu einem Machtzentrum der Weltwirtschaft geworden ist.

Die Bestattung Scheich Zayeds am 3.November 2004 legte Zeugnis für den kometenhaften Aufstieg des jungen Staates ab. Die wichtigen Herrscher Arabiens waren im Hof der großen Moschee zusammengekommen, die Scheich Zayed an der Einfahrt vom Festland auf die Insel von Abu Dhabi hatte bauen lassen und die seinen Namen trägt. Am offenen Grab standen der jordanische König Abdullah und der syrische Präsident Baschar al-Assad, der Algerier Abdalaziz Bouteflika, der Pakistaner Pervez Musharraf und der Afghane Hamid Karzai. Aus der Nachbarschaft waren Sultan Qabus aus Oman, König Hamad bin Issa aus Bahrain und Präsident Ali |33|Abdullah Saleh aus dem Jemen gekommen. Der sudanesische Präsident Omar Bashir war zu sehen, auch Iyad Allawi, der irakische Interimsministerpräsident. Etwas entfernt vom Grab hielten sich der damalige christliche Präsident des Libanon, Emile Lahoud, und der schiitische Vizepräsident Irans, Mohammed Reza Aref, auf. Ganz vorne beteten der damalige saudische Kronprinz und heutige König, Abdullah bin Abdalaziz Al Saud, der Kronprinz aus Qatar und die Oberhäupter der anderen Emirate der Föderation.

Die arabische Welt nahm Abschied von einem ihrer erfolgreichsten Staatsmänner. Sein Sohn Muhammad bin Zayed Al Nahyan, der neue Kronprinz und der Architekt der beschleunigten Modernisierung von Abu Dhabi, nahm seine Kopfbedeckung ab, stieg in das Grab hinab und bettete den in ein weißes Tuch eingehüllten Leichnam seines Vaters nach den Vorschriften des Islam für die Ewigkeit. Zur selben Zeit wurde in den Vereinigten Staaten der Sieg von George W.Bush in der Präsidentschaftswahl gegen Senator John Kerry bekanntgegeben. In den Vereinigten Arabischen Emiraten aber ging an dem Tag eine Ära zu Ende.

Scheich Zayed war noch in eine andere Zeit hineingeboren worden, 1918, als vierter und jüngster Sohn von Scheich Sultan bin Zayed Al Nahyan, der von 1922 bis 1926 über Abu Dhabi geherrscht hatte. Zayed war dreißig Jahre alt, als der legendäre britische Reisende Wilfred Thesiger am 14.März 1948 nach seiner zweiten Durchquerung des Rub al-Khali, des »Leeren Viertels«, der größten Sandwüste der Welt im Süden der Arabischen Halbinsel, zum ersten Mal Abu Dhabi erreichte. Mit seinen beduinischen Begleitern durchwatete Thesiger die Bucht, die die Insel Abu Dhabi vom Festland trennt. Zwanzig Kilometer weiter erreichten sie an der Nordküste der Insel die Siedlung Abu Dhabi. »Eine kleine, baufällige Stadt, die sich an der Küste hinzieht«, notierte Thesiger ohne Enthusiasmus. »Es gab ein paar Palmen, in deren Nähe sich ein Brunnen befand, an dem wir unsere Kamele tränkten.« Kaum 2000Einwohner hatte Abu Dhabi damals. Hütten aus Palmwedeln, die Barastihütten, standen um ein Fort, den Sitz des Emirs und das einzige gemauerte Gebäude der Stadt, verstreut. »Dann gingen wir zur Burg, setzten uns an der Mauer nieder und warteten darauf, dass die Scheichs von ihrem Nachmittagsschläfchen erwachten.«

Neben einer kleinen Messingkanone, die der Sand halb begraben hatte, luden die Reisenden ihre Kamele ab und legten sich im |34|Schatten der Mauer schlafen, bis ein Wächter sie zu Scheich Shakhbut brachte, einem Bruder von Zayed, Emir von Abu Dhabi seit 1926.Er bewirtete sie mit großer Gastfreundschaft, und jeden Morgen unterhielten sie sich, auch über den ersten Palästinakrieg gegen den neuen Staat Israel 1948.Shakhbut war über den Krieg zwischen Juden und Arabern im Bilde. Einer der Begleiter Thesigers aber wollte wissen: »Wer sind die Juden? Sind das auch Araber?« Abu Dhabi lag weitab vom Weltgeschehen. Die Räume in dem Fort waren kahl und schlicht, ohne Zierrat. Im Hafen konnte Thesiger beobachten, wie die kleinen hölzernen Segelschiffe, die Dhows, mit Haifischtran für die Perlensaison vorbereitet wurden. Drei Wochen später brach er wieder ins Landesinnere auf.

Unter einem Dornbaum vor einer kleinen Festung der Oase al-Ain begegnete Thesiger Scheich Zayed. Er hielt gerade wie jeden Morgen Audienz. Voller Bewunderung hatten die Beduinen, die mit Thesiger reisten, ihm gesagt: »Zayed ist ein Bedu. Er versteht etwas von Kamelen, er kann reiten wie einer von uns, er kann schießen und weiß, wie man kämpft.« Beduinen aus der Umgebung, auch aus Saudi-Arabien und dem Oman, holten seinen Rat. Meist ging es um den Raub von Kamelen, und meist sprach Zayed ein Urteil, mit dem sich beide Seiten einverstanden erklärten. Mit seinem Charisma, einer legendären Großzügigkeit und der Fähigkeit, Konflikte zu lösen, nahm er die Menschen für sich ein. »Sie schätzten sein zwangloses Benehmen, achteten seine Charakterstärke, seine Schlauheit und seine Kraft«, schrieb Thesiger. Einen Monat blieb Thesiger Zayeds Gast. Sie ritten auf Kamelen in die Wüste hinaus und gingen gemeinsam auf Falkenjagd. Ein Essen mit Fleisch und Reis, Datteln, Quark und sauerer Milch in Schalen beschrieb Thesiger als »üppiges Mahl«. Für die Reise zurück an die Küste bot ihm Zayed sein Automobil an. Thesiger zog es vor, ein Kamel zu reiten. Zayed gab ihm ein Kamel, das »Gazelle« hieß. Es soll damals das schönste Kamel Arabiens gewesen sein.

Thesiger benötigte 1948 neun Tage für seine Reise nach Sharjah, das nördlich von Abu Dhabi und Dubai an der Küste liegt. Nur wenige Jahrzehnte später hat sich die Reisezeit mit einem Automobil auf einer gut ausgebauten Schnellstraße auf wenige Stunden reduziert. Die Moderne war an der Vertragsküste angekommen und veränderte sie in rasender Geschwindigkeit. Einer, der den Wandel beobachtete und ein Teil von ihm wurde, ist Zaki Nusseibeh. 1946 war |35|er in Jerusalem geboren worden. Er studierte in Cambridge. 1967 hatte er sein Studium beendet. Der Sechstagekrieg war gerade vorbei. Sein Vater riet ihm, nach Abu Dhabi zu gehen. Der Vater kannte Scheich Zayed und sagte seinem Sohn verbittert, für Palästinenser gebe es in Jerusalem keine Zukunft. Abu Dhabi aber hatte 1962 mit dem Export von Erdöl begonnen.

In Abu Dhabi arbeitete Nusseibeh, der sieben Sprachen spricht, zuerst als Journalist und von 1969 an als persönlicher Übersetzer und Vertrauter von Scheich Zayed. Das ist er bis zu dessen Tod 2004 geblieben. Seither berät er das neue Staatsoberhaupt, Scheich Khalifa bin Zayed Al Nahyan, vor allem in kulturellen Fragen und übersetzt auch für ihn. Nusseibeh ist die treibende Kraft bei dem Plan, Abu Dhabi zu einem kulturellen Zentrum in der arabischen Welt zu machen. Er rief eine Konzertreihe für klassische Musik ins Leben und ist stellvertretender Vorsitzender der einflussreichen »Behörde von Abu Dhabi für Kultur und kulturelles Erbe« (Adach).

Was er in Abu Dhabi und in den Vereinigten Arabischen Emiraten erlebt habe, sei in der arabischen Welt einzigartig, bilanziert Nusseibeh, dessen Bruder Sari Nusseibeh Präsident der arabischen Universität al-Quds im Osten Jerusalems ist. Zwei Quantensprünge habe er in Abu Dhabi erlebt. Der erste war die Schaffung eines modernen Staats aus dem Nichts. Als Großbritannien 1968 seinen Rückzug aus der Region »östlich von Suez« ankündigte, gab es in Abu Dhabi und den anderen Emiraten keine moderne Regierung und keine Infrastruktur, keine Armee und keine Polizei. Die meisten Beobachter hatten der 1971 gegründeten Föderation der Vereinigten Arabischen Emirate prophezeit, sie würde keine lange Lebenszeit haben. Heute gehören die Emirate mit einer großzügig ausgebauten Infrastruktur und effizienten Dienstleistungen zu den modernen Staaten der Welt.

Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends verfolgt Nusseibeh den zweiten Quantensprung. Die Vereinigten Arabischen Emirate seien dabei, als globale Plattform Verantwortung in der Welt zu übernehmen, mäßigend zu wirken und, wo erforderlich, zu helfen. Damit die junge Generation in der Welt bestehen könne, müsse sie gut gebildet sein, sagt Nusseibeh. Die Einsicht war gereift, dass man gute Lehrer holen und Universitäten ansiedeln müsse, dass man die Kulturen der Welt ins Land holen und die Tradition und die Moderne pflegen müsse. Denn nur so könne man neue Generationen heranbilden, |36|die stolz auf ihre Vergangenheit sind und offen für die Welt.

Nusseibeh wundert sich, wie verhältnismäßig komplikationslos die Menschen diesen rasanten Wandel innerhalb von zwei Generationen mitgemacht haben. Aus einer weltabgeschiedenen Gegend ist eine global agierende Region geworden, auf die die Welt blickt. Zum Ziel haben sich die ehrgeizigen Emiratis gesetzt, in die Champions League der Metropolen aufzusteigen. Menschen aus 130Nationen wohnen heute in der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate. Achtzig Prozent der Einwohner sind Ausländer, im benachbarten Emirat Dubai sind es sogar neunzig Prozent. Thesiger hatte noch eine homogene Stammesgesellschaft erlebt. Heute teilen die Einheimischen das Land mit Fremden, die als Arbeitskräfte und Verbraucher willkommen sind, die langfristig aber kein Teil des Landes sein sollen, damit die Identität der Emiratis erhalten bleibt und sie ihr Land nicht aus den Händen geben.

Die Geschichte: Stämme, Scheiche, Schiffe

Die Menschen lebten in einer Umwelt, die härter kaum sein konnte. Die Temperaturen waren extrem, es gab kaum Trinkwasser, das Leben war hart und fern von jeglichem Luxus. Man kämpfte ständig ums Überleben. In den Oasen ernährte man sich von Datteln und betrieb Tierhaltung, an der Küste vom Fischfang und der Perlentaucherei. Andere Erwerbsquellen gab es nicht. In der Gesellschaft waren alle nahezu gleich, und alle waren arm. Wachsen konnte diese Bevölkerung nicht. Einen Halt gaben die traditionellen Stammesstrukturen und die genauen Regeln des Islam.

In der Zeit vor dem Erdöl war in den Oasen in kleinem Maßstab die Zucht von Kamelen und Ziegen möglich gewesen, auch von Schafen und Rindern. Mit dem Grundwasser unter den Oasen gediehen Palmenhaine, und etwas Landwirtschaft war möglich. Das kultivierbare Land war knapp. Dürren bedrohten die sesshaften Bewohner der Oasen, ebenso Überfälle der nomadisierenden Beduinen. Immer wieder vertrieben sie die Oasenbewohner, machten sie zu Nomaden und setzten sich selbst in den Oasen fest. Ständig tauschten sich Nomaden und Sesshafte aus. Die Stammesverbände boten dem Einzelnen in dieser feindlichen Umwelt Zusammenhalt |37|und Schutz. Sie sicherten das physische Überleben. Sie hatten einen weiteren Vorteil: Die engen verwandtschaftlichen Beziehungen ermöglichten es, die Erwerbsquellen auszuweiten und dadurch die Bedrohung durch Dürren oder eine schlechte Perlensaison zu reduzieren. Ein Teil des Stamms kümmerte sich das ganze Jahr über in den Oasen um die Kamele und Datteln, ein anderer konnte während des heißen Sommers an die Küste ziehen, um zu fischen und nach Perlen zu tauchen. Damit wurden die Stämme zu diversifizierten Unternehmen. Eine arbeitsteilige Spezialisierung gab es allerdings kaum. Je nach Alter musste jedes Stammesmitglied jede Arbeit übernehmen. Denn viele Arbeiten fielen nur saisonal und über wenige Monate an.

Heute sind die Hütten aus Palmzweigen und Lehmziegeln spektakulären Hochhäusern aus Glas und Beton gewichen. Wo Esel auf sandigen Pfaden Lasten getragen haben, ziehen heute endlose Ströme klimatisierter Automobile. Die Menschen arbeiten nicht mehr als Fischer und Perlentaucher, sondern als Projektmanager und Finanzanalysten. Sie ernähren sich nicht von Fisch, Reis und Datteln, sondern von Gerichten aus aller Welt und internationalem Fast Food. Das Leben wurde bequem und luxuriös. Eines hat sich aber nicht verändert: Überdauert haben die Loyalitäten und Werte der Stammesgesellschaft sowie die Bindung an den Islam. Das Festhalten an der Stammesgesellschaft und am Islam sichert die eigene Identität, um sich in dieser so anderen, so neuen Welt zurechtzufinden.

Die Geschichte des Stammes der Bani Yas auf dem Territorium des heutigen Emirats Abu Dhabi illustriert die Zusammenhänge. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts waren die Bani Yas mit 10000 bis 12000Mitgliedern der größte der vierzig Stämme in den »Vertragsstaaten«. Entstanden ist der Stamm, als mehrere Beduinengruppen, die aus der Region des Najd im heutigen Zentralarabien kamen, auf der Suche nach neuem Weideland in die Wüste Dhafrah auf dem Gebiet des heutigen Emirats Abu Dhabi vorstießen. Dort fanden sie Oasen und Wasser.

Frauke Heard-Bey geht in ihrem Standardwerk zur Geschichte der Vereinigten Arabischen Emirate davon aus, dass sich Stämme durch eine gemeinsame Geschichte gebildet haben und nicht durch Blutsverwandtschaft. In Liwa, einem Teil der Dhafrah-Wüste, wo das »Leere Viertel« in gewöhnliche Wüste übergeht, fanden diese |38|Nomaden Sanddünen, die Tau und gelegentlichen Regen als süßes Wasser speicherten. Damit konnten sie Dattelgärten anlegen, und sie wurden teilweise sesshaft. Die einzelnen Gruppen wuchsen zu einem Stamm zusammen, der sich nach außen verteidigte und bis zum 17.Jahrhundert weite Teile des heutigen Emirats Abu Dhabi beherrschte. Die Wasserstellen von Dhafrah waren dennoch nicht im alleinigen Besitz der Bani Yas. Alle Beduinen, die durchzogen, durften sie nutzen.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Bani Yas noch immer überwiegend Beduinen, die in den Wüsten nomadisierten. 1761 fanden einige von ihnen auf einer Insel, die sie Abu Dhabi nannten – wörtlich »Vater der Gazelle«–, Süßwasser. 1793 machten die Bani Yas die Insel, auf der bereits kleinere Stämme gelebt hatten, zu ihrem Hauptort. Sie bauten Hütten aus Palmwedeln und begannen, den natürlichen Hafen zu nutzen. Für die Herrscher von Abu Dhabi war das 1793 erbaute Fort »Qasr al-Husn« fast zwei Jahrhunderte Residenz und Regierungsgebäude. Ein Teil des Stamms lebte weiter in den Dattelgärten von Liwa und weidete in Dhafrah Kamele, ein anderer begann auf der Insel Abu Dhabi zu fischen und später nach Perlen zu tauchen. 1833 spaltete sich ein Zweig des Stamms, die Al Bu Falasah, ab und ließ sich im nördlich gelegenen Fischerdorf Dubai nieder.

Bereits vom 17.