Age of Trinity - Das Licht des Ozeans - Nalini Singh - E-Book

Age of Trinity - Das Licht des Ozeans E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Für die Liebe lohnt es sich zu kämpfen

Von einem Attentäter in den Rücken geschossen und dem Tod nur knapp entronnen, erwacht der Anführer des Menschenbundes Bowen Knight aus dem Koma. Doch statt in einem Krankenhaus befindet er sich auf dem Grunde des Ozeans, mitten in einer Stadt der geheimnisvollen BlackSea-Gemeinschaft. Nur ein riskanter und experimenteller Eingriff konnte ihn retten - und noch ist unklar, ob er nicht doch sterben wird. Aber durch seine Nähe zu der Gestaltwandlerin Kaia, die ihn vom ersten Augenblick an in ihren Bann zieht, merkt Bowen, dass es sich lohnt zu kämpfen - nicht nur für die Zukunft der Menschen, sondern auch für sein eigenes Glück.

"SILBERNES SCHWEIGEN packt einen von der ersten Seite und lässt einen nicht mehr los!" FRESH FICTION

Der zweite Band in der AGE-OF-TRINITY-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh

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Seitenzahl: 613

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWinter123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051In der Tiefe525354555657585960616263646566676869707172EpilogDie Autorin Nalini Singh bei LYXImpressum

NALINI SINGH

Age of Trinity

Das Licht des Ozeans

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Das Dreigruppenbündnis setzt nach dem Ende von Silentium alles daran, den fragilen Frieden zwischen Menschen, Gestaltwandlern und Medialen zu wahren. Doch nicht allen gefällt diese Entwicklung, und es gibt Gruppen, die die alte Ordnung wiederherstellen möchten. Um das sensible Gleichgewicht zu zerstören und Chaos zu säen, wird ein Attentat auf die Schwester von Bowen Knight, dem Anführer des Menschenbundes, verübt. In letzter Sekunde wirft sich Bowen in die Schusslinie und rettet Lily das Leben. Mit einer Kugel im Rücken stirbt er in ihren Armen. Doch ein experimenteller und sehr riskanter Eingriff kann ihn ins Leben zurückholen, und Bowen erwacht zwei Monate später in einem Krankenzimmer auf dem Grund des Ozeans, mitten in einer Stadt der geheimnisvollen BlackSea-Gemeinschaft. Allerdings stehen seine Chancen denkbar schlecht, denn das Risiko zu sterben ist hoch. Aber durch seine Nähe zu der Gestaltwandlerin Kaia, für die er schnell Gefühle entwickelt, merkt Bowen, dass es sich lohnt zu kämpfen – nicht nur für die Zukunft der Menschen, sondern auch für sein eigenes Glück. Doch Kaia verhält sich ihm gegenüber zuerst abweisend. Was er nicht weiß: Für sie sind die Menschen keine Verbündeten, sondern diejenigen, die ihr alles genommen haben. Und sie kann sich auf keinen Fall vorstellen, sich in einen Mann zu verlieben, der zu dieser Spezies gehört – noch dazu in einen, der in dem Ruf steht, einer der rücksichtslosesten Vertreter seiner Gattung zu sein. Und doch lässt jeder Blick und jede Berührung ihr Herz ein wenig schneller schlagen. Aber ihnen bleiben nur zwei Wochen, bis sicher ist, ob Bowen leben oder sterben wird …

Winter

Im eisigen Schatten seiner kristallinen Schwingen dämmert das Jahr 2083 herauf.

Schnee fällt zur Erde.

Die Blumen haben sich zur Winterruhe begeben.

Und gleichzeitig hält ein Mann einen fortwährenden geistigen Winterschlaf.

Träumt er? Weiß er noch, dass die Menschen die Brücke sind?

Eine Erkenntnis, die auf Adrian Kenner zurückging, jenen Parlamentär, der im 18. Jahrhundert die Territorialkriege beendete, die die Erde mit dem Blut der Gestaltwandler tränkten.

Die Medialen wurden wegen ihrer Überzeugung, ihre Gattung sei aufgrund ihrer telepathischen, telekinetischen, psychometrischen und hellsichtigen Fähigkeiten stärker und besser als die anderen, als zu überheblich angesehen.

Ebenso wenig konnte ein Gestaltwandler die Aufgabe übernehmen, weil unter ihnen viele Animositäten, aber auch Allianzen bestanden. Ein Leopard würde keinem Bären über den Weg trauen, ein Bär sich nicht mit einem Wolf an einen Tisch setzen, ein Wolf niemals die Autorität eines Adlers anerkennen … So viele zerrissene, entzweite Rudel und Clans, so viel Feindschaft.

Die Einzigen, denen man vertraute, waren die als unparteiisch geltenden, zwischen den zwei mächtigen Fronten stehenden Menschen.

Und Adrian Kenner.

Durch die Unterzeichnung des Friedensabkommens, das den Kriegen ein Ende bereitete, vergalt er das in ihn gesetzte Vertrauen tausendfach.

Doch seit dieser historischen Vertragsunterschrift sind inzwischen mehr als dreihundert Jahre vergangen.

Es geriet in Vergessenheit, dass die Menschen die Brücke sind.

Auch die Menschen selbst vergaßen es.

1

Bowen Knight: Status und Aufenthaltsort unbekannt. Laut letztem bestätigten medizinischen Bericht liegt er weiterhin im Koma. Sein Gehirn ist funktionstüchtig, allerdings gibt es trotz aller ergriffenen Maßnahmen keinerlei Indizien für eine Zunahme der Gehirnaktivität.

Interner Bericht des Menschenbundes

Kaia hasste Krankenhäuser.

Der beißende antiseptische Geruch, das monotone Piepen der lebenserhaltenden Geräte, die kalten weißen Wände, der nackte Fußboden, sogar die makellosen hellblauen Laken in diesem speziellen Bett riefen Übelkeit in ihr wach und verursachten eine qualvolle Enge in der Brust.

Da der Patient selbstständig atmete, blieb es ihr wenigstens erspart, dem leisen Flüstern des Beatmungsgeräts lauschen zu müssen.

Psss. Psss.

Welch sanftes und doch schreckliches Geräusch.

Sie presste die Faust auf ihre Brust, um den schmerzhaften Knoten darin zu lösen. »Atme, Kaia«, ermahnte sie sich. »Das hier ist keine Klinik.«

Es gab hier nur ein einziges Krankenzimmer mit einem einzigen Patienten. Einem einzigen Probanden.

Dieser Gedanke trug nicht dazu bei, ihren Puls zu beruhigen oder sie zu wärmen, noch immer ging ihr Atem flach und stoßweise. Sie hätte Atalinas Bitte, für sie einzuspringen und den Zustand sowie die Vitalzeichen des Patienten zu kontrollieren, abschlagen und ihre Cousine darauf hinweisen sollen, dass sie die Köchin der Station war und das Mittagessen vorbereiten musste. Nur dass Atalina sich in dem Fall trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft nicht dazu hätte durchringen können, eine Pause zu machen und die Füße hochzulegen.

Hinzu kam, dass Kaia früher selbst Wissenschaftlerin gewesen war und Seite an Seite mit ihrer Cousine gearbeitet hatte. Sie war immer noch imstande, diese einfache Aufgabe, die Atalina mehrmals täglich erledigte, zu bewältigen. Und es war ja nicht so, als würde Attie von ihr verlangen, die Medikamente des Patienten zu bestimmen oder einen komplizierten neurologischen Scan durchzuführen. Wenngleich Kaia in beidem geschult war.

Ihr jahrelanges Studium und ihre Erfahrung waren nicht dadurch verloren gegangen, dass sie inzwischen hinter dem Herd stand.

Es machte sie glücklich, nicht länger vorgeben zu müssen, jemand zu sein, der sie nicht war. Sie überließ die Wissenschaft dem Kahananui-Zweig ihrer Familie und folgte ganz ihrer künstlerischen Neigung. Die Gene dafür verdankte sie ihrem Vater Iosef Luna, der seinen Lebensunterhalt als Lyriker bestritten hatte, wohingegen ihre Mutter Elenise Ärztin gewesen war. Ihre Tochter Kaia, die jüngste »Abenteurerin« der Familie, hatte als kleines Mädchen in einem Spielwarenladen einmal einen Trotzanfall bekommen, so sehnsüchtig wünschte sie sich einen bestimmten Puppenherd.

»Du bringst es nicht schneller hinter dich, wenn du es auf die lange Bank schiebst«, murmelte sie und trat an das Fußende des Hightech-Bettes, wo ein Datenmonitor angebracht war, auf dem geräuschlos Informationen über Atalinas Komapatienten blinkten.

Sie waren vor dreißig Sekunden mittels der permanenten Überwachungsfunktion des Bettes aktualisiert worden.

Er war außerdem darauf programmiert, Atalina zu alarmieren, wenn sich der Zustand des Patienten akut verschlechtert hätte. Aber Kaias Cousine war eine zu pedantische Wissenschaftlerin und Ärztin, um blindes Vertrauen zur Technik zu haben, infolgedessen untersuchte sie ihn – außer in ihrer sechsstündigen Nachtruhe – jede Stunde persönlich und übertrug die gemessenen Daten anschließend in den mit verschiedenen Alarmvorrichtungen und -stufen ausgestatteten Organizer neben ihrem Bett.

Es war ein Glück, dass ihr Gefährte so viel Geduld mit ihr hatte.

Kaia überprüfte die Werte und konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Der Patient war stabil, sein neurologisches Profil jedoch weiterhin unverändert. Attie würde enttäuscht sein. Der kräftig gebaute Mann befand sich noch immer in demselben komatösen Zustand wie bei seiner Einlieferung. Genauer gesagt seiner »Entführung«. Kaia war mit dafür eingespannt worden, weil Atalina derzeit nicht sehr beweglich war und das Team jemanden mit den nötigen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnissen brauchte, um das Überleben des Patienten zu gewährleisten.

Der Monitor flimmerte.

Stirnrunzelnd sah sie genauer hin und erkannte einen weiteren Leuchtimpuls in dem Grafen, der die Gehirnaktivität des Mannes anzeigte. Endlich tat sich etwas. Auch wenn es sich allem Anschein nach um eine derart geringfügige Veränderung handelte, dass kein Grund bestand, ihre Cousine zu bemühen. Beruhigt darüber, dass alles so war, wie es sein sollte, machte Kaia ein paar Notizen auf dem Organizer, den Atalina ihr gegeben hatte, bevor sie das schmale Gerät in die Tasche ihres knöchellangen Sommerkleides steckte und seitlich an das Bett trat.

Obgleich so beschaffen, dass sämtliche Vitalfunktionen überwacht werden konnten, ermöglichte es gleichzeitig das bewährte Verfahren, den Zustand eines Patienten mittels körperlicher Untersuchung festzustellen. Nachdem sie die transparente »Hülle« um Brust und Unterkörper des Mannes – zum Schutz und zur Kontrolle der Werte – entfernt und sich davon überzeugt hatte, dass die Zudecke nicht verrutscht war, legte sie die Finger sacht auf sein Handgelenk und maß seinen Puls.

Er mochte ein Mensch und der Feind sein, trotzdem trug sie im Augenblick die Verantwortung für ihn.

Seine Haut war erstaunlich warm und gut durchblutet, allerdings schien sie ihren kräftigen natürlichen Farbton eingebüßt zu haben. Kaia fragte sich gedankenverloren, welche Schattierung sie wohl im Sonnenlicht annehmen mochte. Ein tiefes Goldbraun? Eher Bronze? Oder ein Ockergelb wie diese Blütenpflanze, die sie beim Kräuterpflücken in den Hydrokulturgärten gesehen hatte?

So oder so wurde seine Hautfarbe momentan von Hunderten Stimulatoren, die mit seinem System verbunden waren, verfälscht. Diese matt glänzenden, fast hübschen silbernen Plättchen sorgten dafür, dass seine Muskeln, ungeachtet ihrer Untätigkeit, stark und funktionstüchtig blieben. Obwohl sie sich noch in der Beta-Testphase befanden, schienen sie schon jetzt sämtliche Erwartungen ihres Entwicklers zu übertreffen.

Sollte Atalinas Patient zu Bewusstsein kommen, wäre er in relativ kurzer Zeit imstande, sich zu bewegen.

Kaia musterte sein Gesicht.

Man konnte es wohl als attraktiv bezeichnen, ging es ihr leicht verdrossen durch den Sinn. Eine markante Kinnpartie, hohe Wangenknochen, zerzaustes schwarzes Haar, das sie dazu verlockte, die Finger darin zu vergraben. Dazu eine überraschend sanfte Unterlippe, die ein sinnlich-verspieltes Lächeln versprach. Sie schnaubte innerlich. Das hier war kein verspielter, sinnlicher Mann. Er stand in dem Ruf, einer der rücksichtslosesten Menschen auf dem Planeten zu sein.

Auf einmal spürte sie, wie sein Puls unter ihren Fingerkuppen in die Höhe schnellte.

Ihr Blick zuckte zu den Apparaten rund um das Bett. Sie zeigten alle eine plötzliche und bedenklich erhöhte Aktivität an. »Mist!«

Sie ließ sein Handgelenk los und trat vor das Datenpad, um sich zu vergewissern, dass Attie informiert worden war.

Das war der Augenblick, in dem Bowen Knight, Sicherheitschef des Menschenbundes und ein gnadenloser Mann mit schönen Lippen, den Mund öffnete und sprach.

2

»Wenn du Mr Puggles nicht endlich in seine Transportbox steckst, Kaia, wird er beleidigt sein und denken, du willst ihn nicht dabeihaben.«

Iosef Lunas ermahnende Worte an seine einzige Tochter Kaia

Das Letzte, woran Bo sich erinnerte, war, dass er über die Brüstung der Brücke gestürzt und im kalten Wasser des venezianischen Kanals versunken war, während sein Herz in tausend Einzelteile zerfetzt wurde. Er hatte regelrecht gefühlt, wie die Splitter des Projektils das lebenswichtige Organ durchdrangen und zerrissen, und begriffen, dass er ein toter Mann war.

Bevor er starb, hatte er noch etwas zu seiner Schwester Lily gesagt. Nämlich, dass sie sich sein Gehirn zunutze machen solle.

Möglich, dass er sich das verkniffen hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, dass er noch bei Besinnung sein würde, während sie an ihm herumschnippelten.

»Ich schnipple nicht an Ihnen herum.«

Bo runzelte die Stirn … Konnte ein Gehirn die Stirn runzeln? Und wieso antwortete ihm seines, dazu noch in einem solch unterkühlten, pikierten Tonfall? War es wahnsinnig geworden, während es vom Körper abgetrennt in einem Gefäß herumschwamm und jemand daran herumexperimentierte?

»Und ich führe auch keine Experimente durch!« Eine längere Pause. »Dafür ist jemand anders zuständig. Und da Attie Ihr Gehirn für ihre Forschungsarbeit unversehrt und lebend braucht, können Sie sicher sein, nicht in Scheiben geschnitten zu werden.«

Aus irgendeinem Grund beruhigten ihn diese Worte nicht. Und wieso sprach es auf einmal mit der – wohlklingenden, leicht rauchigen – Stimme einer Frau? War das eine typische Begleiterscheinung, wenn man erschossen und einem anschließend das Gehirn entnommen wurde?

Er hatte blind darauf vertraut, dass Lily sich von seinem Ableben überzeugen würde, ehe sie die Entfernung des Organs erlaubte. Sollten sie sich irgendwann im Jenseits wiederbegegnen, würde er ein ernstes Wörtchen mit ihr reden. Vorausgesetzt, er selbst gelangte überhaupt dorthin. Denn falls er nur mehr ein Hirn in einem Gefäß war –

Sein Fuß zuckte heftig nach oben und knallte zurück auf das Bett. Der Aufprall fuhr ihm wie ein elektrischer Stoß durch den Leib, bis hinauf in die Schultern und brachte ihn aus dem Konzept. Sekunde mal. Wenn er einen Fuß hatte, dann konnte er kein entkörperlichtes Gehirn in einem Gefäß sein.

»Genau das versuche ich ja, Ihnen zu sagen«, bemerkte die weibliche Stimme mit eisigem Unterton.

Er merkte, wie sein Atem in seiner Brust pumpte. Nein, das war sein Herz. Aber das war tödlich verwundet worden, dessen war er sich ganz sicher. Andererseits …

Nach den Schüssen hatte Chaos geherrscht, er erinnerte sich nur noch an die grauenvollen Schmerzen und seine entsetzliche Angst um Lily. Vielleicht irrte er sich, und sein Herz war gar nicht vernichtet.

Nein, Bo war sich absolut sicher. Er war ein Waffenexperte, daher wusste er ohne jeden Zweifel, dass es sich bei der Kugel, die ihn in die Brust getroffen hatte, um Splittermunition gehandelt hatte, dazu erschaffen, katastrophalen Schaden anzurichten.

Kein Herz erholte sich von einem dermaßen brutalen Angriff.

Eigentlich dürfte er in seiner Brust überhaupt nichts spüren, und doch war es so, und außerdem war er fähig, zu denken, was bedeutete, dass sein Hirn ebenfalls keinen Schaden genommen hatte. War es möglich, dass die Ärzte ihn an irgendein Lebenserhaltungssystem angeschlossen hatten?

Doch er fühlte sich zu lebendig für jemanden, der künstlich am Leben gehalten wurde und nur noch dahinvegetierte.

Er versuchte, die Augen zu öffnen. Vergeblich.

»Warten Sie kurz«, erklang wieder die frostige weibliche Stimme. »Ihre Lider sind mit Klebeband fixiert.«

Das Geräusch einer Schiebetür, bevor eine andere Frau atemlos fragte: »Er ist wach?«

»Ja, und er denkt, er bestünde aus einem Gehirn in einem Gefäß. Kann ich das Tape von seinen Augen abziehen?«

»Nur zu. Ich muss seine Vitalzeichen überprüfen, während er sein Bewusstsein wiedererlangt. Was ihm möglicherweise nicht vollständig gelingen wird.« Sie klang immer noch abgehetzt. »Das ist einfach unglaublich. Mit dieser Reaktion hätte ich niemals gerechnet. Die Behandlung schlägt beim menschlichen Nervengewebe offenbar deutlich besser an als bei unserem.«

Bo hätte die beiden gern mit einem finsteren Blick bedacht. Konnten sie freundlicherweise aufhören, über ihn zu reden, als bekäme er es nicht mit? Und wenn es keine Menschen waren, wo befand er sich dann?

»Sie scheinen jetzt Italienisch zu sprechen«, sagte die mit der unterkühlten, leicht rauen Stimme. »Leider beherrsche ich nur Hawaiianisch, Samoanisch, Englisch, Japanisch und sehr, sehr rudimentäres Kantonesisch und Französisch.«

Bo bemerkte eine flüchtige Bewegung an seinem Gesicht, dabei stieg ihm ein süßer Wohlgeruch in die Nase, und er atmete tief ein. Es war der einer exotischen Pflanze … und Zucker. Zimt. Den mochte er.

»Gut zu wissen. Aber bilden Sie sich bloß nicht ein, dass ich Ihnen einen Zimtkuchen backen werde, Sicherheitschef. Das hebe ich mir für Freunde auf.«

Bo versuchte, seine Gedanken zu sortieren, doch er wurde noch immer von dem Duft, der in Wellen seine Sinne streifte, abgelenkt. Dieser hob sich deutlich von dem antiseptischen Geruch ab, den er außerdem wahrnahm.

Nach Krankenhaus.

Das war ihm bisher entgangen. Dabei kannte wahrscheinlich jeder diesen Geruch. Egal wo, man schien überall dasselbe Desinfektionsmittel zu verwenden. Vielleicht gab es darauf ein Monopol.

Wieder umwehte ihn dieser aromatische Duft von Blumen und Zimt.

Dann spürte er ein Zupfen an der Haut neben seinen Augen.

»Entschuldigung.« Unerwartet behutsam strichen ihre Finger seine Haare zurück. »Das Tape dürfte eigentlich nicht so fest kleben.«

»Hier«, sagte die andere Frau. »Wärme es zuerst damit an. Ich habe eine neue Rolle benutzt, wahrscheinlich lässt es sich deshalb so schlecht abziehen. Meine Güte, seine Vitalwerte sind der Wahnsinn.«

»Im guten oder schlechten Sinn?«

»Sie sind sagenhaft gut.«

»Wird das so bleiben?«

»Unwahrscheinlich.«

»Möglich, dass er nur zu Bewusstsein kommt, um es gleich wieder zu verlieren.«

Eine warme Empfindung an seiner Haut, gefolgt von neuerlichem Ziepen. »Halten Sie still – wenn Sie den Kopf bewegen, wird es nur schlimmer.«

Bo kam zu der Erkenntnis, dass er definitiv am Leben war. Die Frau mit den sanften Händen, der kühlen Stimme und dem verführerischen Duft musste eine medizinische Assistentin oder eine Ärztin sein. Falls das zutraf, sollte sie unbedingt am Umgang mit den Patienten arbeiten.

»Sie sind ein Nörgler, wie nicht anders zu erwarten«, lautete ihre leicht verschnupfte Antwort. »Zu Ihrer Information: Ich bin Köchin. Und zwar eine hervorragende.«

Er musste halluzinieren. Wieso sollte eine Köchin das medizinische Klebeband von seinen Augen entfernen?

Außerdem war ihm keine der beiden Stimmen vertraut, dabei kannte er jeden einzelnen fähigen Mediziner innerhalb des Menschenbundes, jeden Arzt, zu dem man ihn in seinem schwer verletzten Zustand hätte bringen können. Wo also war er? War es denkbar, dass man externe Hilfe hinzugezogen hatte? Immerhin hatten sie jetzt Freunde und Verbündete.

»Ich werde Sie in die Füße piken. Es tut nicht weh.« Die Worte kamen von der Frau, deren Stimme kein Kribbeln bei ihm verursachte.

Sekunden später zuckte sein Bein. Offenbar führte sie einen Test durch, um die Reaktionsfähigkeit seiner Beine zu prüfen. Mit angehaltenem Atem spannte er die Finger und die Zehen an.

Jeder hat vor irgendetwas panische Angst, und Bowen fürchtete nichts mehr, als wehrlos zu sein. Denn genau das war er schon einmal gewesen, vor langer Zeit. Er würde niemals vergessen, wie qualvoll es gewesen war, als die geistigen Finger der Telepathin in sein Gehirn eindrangen und er hilflos dagegen ankämpfte, dass sie die Herrschaft über seine Gedanken erlangte.

Es war blutig ausgegangen.

Für sie und für ihn.

Er hatte Lily und seinen Eltern eingehämmert, dass er niemals nur von Maschinen am Leben gehalten werden wollte, ohne Kontrolle über seinen Körper und sein Bewusstsein. Das war für ihn die Horrorvorstellung schlechthin. Aber sein Gehirn schien zu funktionieren, und als sich die letzten Nebelschwaden daraus verzogen, bestätigte sich, dass er weder an Gedächtnisverlust noch an Taubheitsgefühlen litt.

Seltsamerweise spürte er darüber hinaus Hunderte kleine Objekte auf seiner Haut, die Impulse an seine Muskeln abzugeben schienen.

Das Tape war entfernt. »Okay«, sagte die Köchin mit der rauchigen Bluesstimme, in der aus unerfindlichen Gründen Verärgerung mitschwang. »Versuchen Sie, die Lider zu heben. Aber vorsichtig. Gut möglich, dass sie sich schwer anfühlen.«

Bo konnte geduldig sein, wenn es darauf ankam, aber heute brachte er diese Art von Selbstbeherrschung nicht zustande. Seine Augen flogen auf.

3

KL: Hast du keinerlei Sicherheitsbedenken, Mal? Mir ist klar, dass wir Attie erlauben müssen, ihr Experiment durchzuführen, aber Hugos Informationen ändern die Situation. Bowen Knight ist ein kaltblütiger Mörder, der es auf uns abgesehen hat.

MR: Sollte er nicht aus dem Koma erwachen, haben wir nichts weiter getan, als Attie zu geben, was sie braucht. Und falls doch, ist er unter unserer Kontrolle.

Nachrichtenaustausch zwischen Kaia Luna und Malachai Rhys

Die gereizte Köchin hatte große, blitzende braune Augen, hellbraune Haut und langes dunkles Haar, das ihr zu einem Zopf geflochten über die Schulter fiel. Mit der cremeweißen Blüte, die sie über ihrem rechten Ohr trug, erinnerte sie ihn an eine tahitianische Prinzessin, über die er einmal einen Film gesehen hatte. Nur dass diese Frau keine Prinzessin war. Sie war eine Kriegerin, die – das sagte ihm sein Bauchgefühl – an sich halten musste, um ihm nicht an die Gurgel zu gehen.

Finger berührten seine linke Schulter und übten einen sachten Druck aus. »Das müsste helfen, damit Sie wieder klar im Kopf werden.«

Bo wollte schon einwenden, dass es seinem Kopf bestens gehe … doch er hatte nicht einmal gemerkt, wie die andere Frau sich ihm näherte. Und das, obwohl er ein Sicherheitsexperte mit hoch entwickelten Instinkten war. Offenbar hatte sich der Nebel doch nicht ganz verzogen.

Er wandte sich der mit einem weißen Laborkittel bekleideten Ärztin zu, deren von Silberfäden durchzogenes schwarzes Haar zu einer strengen Bobfrisur geschnitten war. Ihm fiel die Diskrepanz zwischen den weißen Strähnen, die auf ein höheres Alter wiesen, und der jugendlichen Spannkraft ihres faltenfreien, bräunlichen Gesichts auf.

Ihre Augen hingegen schienen ihm irgendwie vertraut. Sie glichen Lilys, auch wenn deren graue Iris heller war als die der Ärztin. Niemand wusste etwas über die ersten zwei Lebensjahre seiner Schwester, doch die Gentests, die im Rahmen einer medizinischen Routineuntersuchung zum Ausschluss latenter Krankheiten bei ihr durchgeführt worden waren, hatten ergeben, dass sie eurasischer Abstammung war. Die Ärztin wirkte zudem seltsam unförmig, als versteckte sie eine Bowlingkugel unter ihrem Kittel.

Als die Frau mit dem jungen Gesicht und der ungestalten Figur einen Strohhalm zwischen seine Lippen führte, trank er einen Schluck von der kalten, süßlichen Flüssigkeit. »Wie lange war ich weg?«, fragte er anschließend, als er zunehmend wacher und geistig rege wurde.

»Acht Wochen und vier Tage. Seit Sie auf dieser Brücke in Venedig angeschossen wurden.«

Zwei Monate.

Während Bo noch damit haderte, dass ihm so viel Lebenszeit genommen worden war, wandte er seine Blicke der kriegerischen Köchin mit den zornigen Augen zu, um sich zu vergewissern, dass sie kein Hirngespinst gewesen war.

Da stand sie leibhaftig. Mit verschränkten Armen, verdrossener Miene und aufreizenden Kurven.

Sie befanden sich in einem Krankenhauszimmer. Das blaue Laken, das seinen Körper bedeckte, und das auf der Matratze waren die einzigen Farbtupfer in dem sonst puristisch weißen Raum. Er war an alle möglichen Maschinen beiderseits des Bettes angeschlossen, aber was waren diese kleinen Dinger auf seiner Haut? Er hatte sie sich nicht nur eingebildet. Winzige, silberne, matt glänzende Objekte bedeckten seine nackten Arme, er fühlte sie auch auf seinen Beinen, seiner Brust, überall.

Sie sahen aus wie roboterartige Käfer.

»Das sind Impulsgeber«, erklärte die braunäugige Köchin unvermittelt. »Dank ihrer werden Sie nicht ans Bett gefesselt sein, nur weil Ihre Muskeln sich während Ihres Komas in Pudding verwandelt haben.«

»Am Rücken habe ich auch welche?« Er konnte sie jetzt spüren.

»Eine kleinere Version. Das Bett ist so konzipiert, dass es diesen Teil Ihres Körpers ertüchtigt und den Blutkreislauf in Gang hält.« Sie trat ans Fußende und stellte irgendetwas an dem Datenmonitor ein. »Ich habe das Trainingsprogramm deaktiviert, Attie. Es hätte sonst in einer Stunde wieder von vorn begonnen.«

Auf einmal nahm er eine metallische Empfindung an seinem Schädel wahr. »Bin ich kahl?« Er hätte schwören können, dass sie ihm die Haare zurückgestrichen hatte, doch das könnte eine seiner Benommenheit entsprungene Illusion gewesen sein.

Es war die junge/alte Ärztin, die antwortete. »Nein. Ich verfolge Ihre Gehirnströme mithilfe eines Systems aus feinen Elektroden, die direkt an Ihrer Kopfhaut angebracht sind. Es war nicht nötig, Ihre Haare zu scheren, um sie zu befestigen.«

Wieder ein Moment explosionsartiger Klarheit, der einen weiteren Teil seines Gehirns zu vollem Bewusstsein erweckte. »Lily muss erfahren, dass ich aufgewacht bin.« Die dramatischen Folgen des Attentats mussten sie tief erschüttert haben. Er hatte sich für sie in die Schusslinie geworfen und würde das ohne Zögern wieder tun, aber er kannte seine Schwester. Bestimmt machte sie sich schreckliche Vorwürfe.

Die arme Lil. Sie ahnte nicht, dass er aus Selbstsucht so gehandelt hatte. Bo hatte den roten Punkt auf ihrer Stirn gesehen und war von einem solch blanken Grauen erfasst worden, wie er es noch nie erlebt hatte. Der Gedanke, seine kleine Schwester zu verlieren, war jenseits aller Vorstellung.

Großer Gott. »Ist sie am Leben?« Während der zwei Monate, die er im Koma gelegen hatte, war der Zerfall der Chips in den Köpfen seiner Schwester und all seiner engsten Freunde unaufhaltsam fortgeschritten. »Was ist mit den anderen?«

»Niemand ist gestorben«, beruhigte die Ärztin ihn. »Ashaya und Amara Aleine haben eine Lösung gefunden, um den Zersetzungsprozess zu verzögern. Allerdings nur vorübergehend. Der Person, die direkt nach Ihnen das Implantat erhalten hat, bleiben noch zwei bis drei Monate.«

Also würde es trotzdem mit ihnen allen zu Ende gehen, nur eben ein bisschen langsamer. Es waren die Aleines gewesen, die diesen Abwehrschild entwickelt hatten, um das menschliche Bewusstsein gegen mediale Einflussnahme und Zwangsausübung abzuschirmen, aber Bo gab den beiden Wissenschaftlerinnen nicht die Schuld an dem tödlichen Countdown. Er, Lily, ihre engsten Freunde und Partner hatten sich trotz des Einwandes der Schwestern, das Implantat sei noch in der Testphase, freiwillig entschieden, es sich einsetzen zu lassen.

Künftig vor geistiger Manipulation geschützt zu sein war das Risiko wert gewesen. Doch der Preis war hoch. Am Ende würde nur ein Trümmerhaufen übrig bleiben.

Er ballte die Faust. »Wissen meine Eltern, was mit mir geschehen ist?«

»Nein. Diese ganze Aktion ist streng geheim.«

»Es geht um ein Experiment?« Obwohl ihm die Ärztin geantwortet hatte, richtete er die Frage an die Köchin mit den zornigen Augen.

Sie starrte ihn kalt und schweigend an.

Der Laborkittel der Ärztin raschelte, als sie in sein Blickfeld trat und sich mit einer Hand den Rücken rieb. »Sind Sie sicher, dass Sie jetzt darüber reden möchten? Wollen Sie sich nicht erst etwas regenerieren?«

Bo setzte sich mühsam auf, wies dabei jede Hilfe zurück, obwohl seine Muskeln fast augenblicklich zu zittern anfingen.

Die Köchin mit dem Körper eines Pin-up-Girls – verflixt, woher war dieser Gedanke jetzt gekommen? – verdrehte die Augen, trat ans Bett und arrangierte die Kissen so, dass er sich mit dem Rücken dagegenlehnen konnte.

Erst als das gestärkte blaue Laken zu seiner Hüfte hinunterrutschte, merkte er, dass er darunter nackt war. Seine Haut – deren Farbe normalerweise seine schottischen und brasilianischen Wurzeln erkennen ließ – war mehrere Nuancen heller als sonst und mit diesen silbernen Plättchen bedeckt, die es ihm ermöglichten, sich zu bewegen, obwohl er zwei Monate lang in absoluter Reglosigkeit verbracht hatte.

Die Köchin erstarrte kurz, bevor sie auf ihren Posten am Fuß des Bettes zurückkehrte und nur eine enttäuschend leichte Spur ihres exotischen Zimt- und Blumenduftes hinterließ.

Er biss die Zähne aufeinander und behielt das Laken wachsam im Auge, damit es nicht noch tiefer glitt, während er sich die Kissen zurechtrückte. Obwohl die mit seinem Körper verbundenen Kabel lang genug waren, dass er ausreichend Bewegungsspielraum hatte, keuchte er wie nach einem Marathonlauf, als er sich endlich in eine aufrechte Sitzposition gebracht hatte.

Anscheinend konnten nicht einmal die Impulsgeber der Auswirkungen seines achtwöchigen Komas vollkommen Herr werden, trotzdem hatten sie ganze Arbeit geleistet. Eine intensive, auf seine gegenwärtige gesundheitliche Verfassung abgestimmte medizinische Versorgung, und er wäre schon bald wieder auf dem Damm. »Wer sind Sie?«, fragte er, als er zu Atem kam. »Und wo bin ich?«

»Ich bin Dr. Atalina Kahananui«, antwortete die Ärztin, während sie ihre Aufmerksamkeit auf einen der Monitore neben seinem Bett richtete.

Bo wusste, dass er sich auf sie konzentrieren sollte, aber die andere Frau im Raum war wie eine Naturgewalt, er konnte sie einfach nicht ignorieren. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie eine Bedrohung darstellte und ihn aus noch nicht bekannten Gründen als Feind betrachtete. Von ihr ging eine subtile, tödliche Gefahr aus, die eine Gänsehaut bei ihm auslöste.

Er fragte sich, ob dieser Eindruck seinem derzeitigen Zustand geschuldet war … oder der unwillkürlichen, heftigen körperlichen Reaktion, die sie bei ihm auslöste. »Sie ziehen es vor, ein Geheimnis aus Ihrer Identität zu machen?«

Sie sah ihn lange und ohne zu blinzeln an, bevor sie erneut die Arme vor der Brust kreuzte. »Kaia. Ich wurde in diese völlig aberwitzige Situation hineingezogen, weil ich meiner Familie nichts abschlagen kann.«

»Und weil du meine Assistentin warst, bevor du entschieden hast, deinen Laborkittel gegen eine Küchenschürze zu tauschen«, fügte Dr. Kahananui ergänzend hinzu. »Kaia war Teil des Teams, das Sie in Sicherheit gebracht hat.«

Bo sann über diese Worte nach und bezog in seine Überlegungen mit ein, dass er sich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer schwer bewachten Einrichtung des Menschenbundes befand und keine der beiden Frauen den Anschein einer Soldatin erweckte. »Hat Lily Ihnen geholfen?«

Kaia warf Dr. Kahananui einen vielsagenden Blick zu. »Sein Gehirn ist ganz eindeutig wieder funktionstüchtig.«

»Ja, das hat sie«, bestätigte die Ärztin. »Ihrer Schwester liegt einzig und allein Ihr Wohlergehen am Herzen. Folglich konnten wir darauf vertrauen, dass sie Schweigen bewahren und uns die benötigten medizinischen Unterlagen beschaffen würde.«

Das war typisch Lily. Sie war dem Menschenbund treu ergeben, aber ihre Loyalität galt zuallererst und unverbrüchlich Bo. Seine Schwester war keine Politikerin und hatte nie gelernt, Kosten und Nutzen gegeneinander abzuwägen. Doch es stand ihm nicht zu, ihre Entscheidung infrage zu stellen – wären die Rollen vertauscht gewesen, er hätte sich auf jeden Deal eingelassen, um ihr Leben zu retten.

»Wo bin ich hier?« Keine der beiden Frauen machte auf ihn den Eindruck einer Medialen, dafür wirkte ihre Mimik zu menschlich, trugen sie ihre Gefühle zu offen zur Schau – vor allem Kaia. Sie hatten sich nicht erst kürzlich von der mehr als hundert Jahre währenden Herrschaft kalten, gefühllosen Silentiums abgekehrt.

Und doch waren es keine Menschen. Das sagten ihm seine langjährige Erfahrung und derselbe untrügliche Instinkt, der ihm bei einem Zweikampf oder einem Feuergefecht die aussichtsreichste Strategie aufzeigte. Er spürte, dass in ihnen etwas Wildes war, sie ihre menschliche Seite jederzeit abschütteln konnten wie einen Mantel.

Es waren keine Medialen. Keine Menschenfrauen. Gestaltwandlerinnen.

Dr. Kahananui steckte die Hände in die Taschen ihres Laborkittels. »Sie befinden sich in einer Einrichtung der BlackSea-Gemeinschaft.«

4

Schon wieder sind zwei unserer Leute verschwunden.

Nachricht von Malachai Rhys, Sicherheitschef der BlackSea-Gestaltwandler, an Bowen Knight

Bowen verschlug es sichtlich den Atem.

Kaia beobachtete ihn aufmerksam, obwohl sie wusste, dass er nichts preisgeben würde, was seiner Ansicht nach am besten ungesagt blieb. Der leicht benommene – und beunruhigend anziehende –, soeben aus dem Koma erwachte Mann war verschwunden, an seiner Stelle war der gebieterische Anführer des Menschenbundes erschienen.

»In diesem Fall«, sagte er, »würde ich gern mit Malachai Rhys sprechen.«

»Er ist nicht hier.« Kaia wusste, dass Mal angefangen hatte, eine Beziehung zu seinem menschlichen Pendant aufzubauen, aber ihr Cousin konnte recht zugeknöpft sein. Über Bowen Knight hatte er nur wenig gesagt, trotzdem stand für Kaia fest, dass er Hugos Warnung sehr ernst nahm. »Er beteiligt sich an der Suche nach einem unserer verschollenen Gefährten.«

Kaias innig geliebte Gemeinschaft hatte schon so viele ihrer weit verstreuten, abgeschieden lebenden Mitglieder verloren, und es nahm kein Ende. Ein paar von ihnen hatte man inzwischen tot aufgefunden, doch die Mehrzahl blieb spurlos verschwunden. Und dieser Mann hier verstand sich meisterhaft auf ein gefährliches Doppelspiel.

»Wie viele sind es seit Leila Saveas Rückkehr?« In einem scharfen Tonfall gesprochene Worte.

Klar, dass er Leila erwähnte, ihre elfenhafte Wassertänzerin. Ein Lastwagenfahrer aus dem Menschenvolk hatte geholfen, die geschundene und innerlich fast gebrochene junge Frau zu retten und zurück ins Meer zu bringen, ihr Zuhause. Der Mann hatte ein gutes Herz besessen, allerdings sagte das noch lange nichts über Bowen Knight aus, der unter dem Deckmantel des Aufbaus eines starken Geschäftsnetzwerkes für die Menschen still und heimlich eine paramilitärische Streitmacht aufgebaut hatte.

»Drei.« Kaia gelang es kaum, höflich zu bleiben, weil es sich bei einem der Entführungsopfer um Hugo handelte. Ihren Freund seit frühesten Kindheitstagen, einen Mann mit schwarzem Humor und einer Leidenschaft für Poker, die er nur mit Mühe zügeln konnte. Ihr chaotischer, lebenslustiger, gut aussehender Hugo.

Spurlos verschwunden.

»Ich muss ein paar Tests durchführen«, sagte Atalina nüchtern und ließ ihren Worten Taten folgen, indem sie einen dünnen Lichtstrahl auf Bos Augen richtete.

Sie glaubte, dass ihrer jüngeren Cousine bei diesem bahnbrechenden Experiment ihre Gefühle im Weg standen. Ihre Einstellung frustrierte Kaia, andererseits hatte sie Verständnis dafür. Für Attie kam die Wissenschaft nun einmal an erster Stelle. Bowen Knights politische Winkelzüge und rücksichtslose Täuschungsmanöver waren ihr völlig gleichgültig.

Nein, damit tat sie ihr Unrecht. Attie sorgte sich genau so sehr um ihre vermissten Gefährten wie sie selbst. Bei Bekanntwerden von Leilas Rückkehr hatte sie Freudentränen vergossen, aber wenn es um ihre Arbeit ging, blendete sie alles andere aus.

Momentan war das sogar ein Glück, denn ohne diese Ablenkung hätte sie sich ihrer Schwangerschaft wegen verrückt gemacht – beziehungsweise der bedrückenden Möglichkeit, eine weitere Fehlgeburt zu erleiden. Das Oberhaupt der BlackSea-Gemeinschaft hatte nur deshalb grünes Licht für dieses riskante Experiment gegeben, weil Attie sich mit ihrer Furcht einer zu großen Belastung ausgesetzt hatte.

Solange sie ganz auf diesen nie da gewesenen Versuch konzentriert war, blieb kein Raum für überflüssige Sorge.

Kaia freute sich für ihre Cousine, aber sie selbst war außerstande, die Wirklichkeit einfach beiseitezuschieben. Sie konnte Bowen Knight nicht anschauen, ohne sich an Hugos letzte Worte zu erinnern oder sich den Schmerz und das Grauen ihres Freundes auszumalen. Am liebsten hätte sie den Sicherheitschef des Menschenbundes geschüttelt und verlangt, dass er ihr Hugos Aufenthaltsort verriet. Weil er nämlich bis zum Hals in die Kidnappings verstrickt war.

Hugo hatte Beweise dafür gefunden.

Und jetzt war er verschollen.

Sie dachte an die Hitzewelle, die der Anblick von Bowens nackter Brust bei ihr ausgelöst hatte.

Während Attie seine Reflexe überprüfte, grub Kaia die Finger so fest in ihre Oberarme, bis es wehtat. Sie hieß den Schmerz willkommen. Er erinnerte sie daran, dass der Patient in dem Bett nicht einfach irgendein Mann war und sie in ihrer Wachsamkeit nicht nachlassen durfte. Zwar erfüllte ihre physische Reaktion auf ihn sie mit Unbehagen, doch sie war rein biologischer Natur. Das Tier unter ihrer menschlichen Oberfläche war ein sinnliches Geschöpf, das Körperkontakt genoss.

Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, erkannte sie, dass sie sich in die eigene Tasche log. Sie stand nur deshalb am Bettende anstatt an Atalinas Seite, weil sie so heftig auf den wachen und geistig klaren Bowen Knight reagiert hatte.

Er starrte sie wieder an.

»Ich werde jetzt Ihre kognitiven Fähigkeiten untersuchen«, unterbrach Atalina das frostige Schweigen und ließ ihn erst eine Reihe von Gleichungen und anschließend auf einem Organizer mehrere schwierige Logikrätsel lösen.

Bowen Knight meisterte sie mühelos und wesentlich schneller, als es die große Mehrheit der Bevölkerung vermocht hätte. Kein Wunder, dass Hugo ihn so sehr gefürchtet hatte – die Intelligenz dieses Menschen stellte eine tödlichere Bedrohung dar als jede Bombe oder Schusswaffe. »Es hat funktioniert«, stellte Kaia an Attie gewandt fest.

»Was hat funktioniert?« Der barsche Tonfall eines Mannes, der es nicht gewohnt war, übergangen zu werden. »Eine klare Antwort wäre nett.«

Attie vergrub die Hände in den Taschen ihres Kittels. »Das Letzte, das Sie zu Ihrer Schwester sagten, war, dass sie sich Ihr Gehirn zunutze machen solle. Sie fasste Ihre Worte so auf, dass Ihre Leute Gebrauch davon machen sollten, um eine Lösung für das Problem mit dem Implantat, das man Ihnen allen eingesetzt hat, zu finden.«

Kaia wusste von Attie, dass der Chip dazu gedacht war, TP-Mediale daran zu hindern, den Geist von Menschen auszuforschen, die im Gegensatz zu den Gestaltwandlern nicht über natürliche Schilde verfügten. Bowens Chip funktionierte zwar, allerdings war seine Lebensdauer eng begrenzt, und sobald er versagte, würde Bowens mörderisch scharfer Verstand ausgelöscht.

Wieder krampften sich Kaias Finger um ihre Oberarme.

»Sie haben einen Ausweg gefunden?« Ein rauer Unterton färbte seine Stimme, der erste Anflug von Gemütsbewegung, den sie bei ihm wahrnahm. »Ich bekam das Implantat als Erster, aber ich bin nicht der Einzige.«

Lass dich nicht von seiner Sorge um seine Schwester und die anderen, die sein Schicksal teilen, in die Irre führen, ermahnte Kaia sich und trat von der Kontrolltafel zurück. Wie jemand sein eigenes Volk behandelte, sagte nicht zwangsläufig etwas darüber aus, wie er mit Außenstehenden umging.

»Dies ist nur die erste Phase des Experiments«, entgegnete Atalina. »Allgemeinverständlich ausgedrückt war der durch den Schuss erlittene Schock die Hauptursache für Ihr langes Koma, weil er den Zersetzungsprozess des bereits im Verfall begriffenen Implantats weiter beschleunigt hat. Es ist uns nicht nur gelungen, ihn aufzuhalten, sondern auch die dadurch bedingte Hirnschwellung einzudämmen.«

Bowen Knight dachte zu strategisch, um sich die nächste Frage zu verkneifen. »Können Sie den Chip rechtzeitig deaktivieren, bevor er sich weiter auflöst?«

Atalina sah Kaia an.

»Ich denke, er kann es verkraften.« Kaia schätzte, dass es nicht vieles gab, das diesem Mann Angst einjagte.

»Was verkraften?«

»Phase zwei dient dem Zweck, den Chip zu stabilisieren und Phase drei einzuläuten. Attie hat das Ende von Phase zwei unendlich oft am Computer simuliert. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Der Chip versagt, und es tritt nach etwa drei bis vier Wochen der Hirntod ein.« Das Implantat wurde tatsächlich jedes Mal wieder aktiv und setzte diesen verhängnisvollen Prozess fort, bis es schließlich in Bowen Knights Kopf explodierte.

Augen so dunkel, wie sie es nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte, hielten ihren Blick fest, sein Charisma war mit Händen zu greifen. »Was ist das Problem bei Phase drei?«

Atalina fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, in dem sich schon seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr erste weiße Strähnen zeigten. Die meisten anderen Teenager wären außer sich gewesen. Attie hingegen hatte die pragmatische Entscheidung getroffen, sich mit der Veränderung abzufinden und so zu tun, als sei es der letzte Schrei. »Sämtliche Phase-drei-Simulationen ergeben, dass es gelingen könnte, den Chip dauerhaft zu stabilisieren.«

»Aber?«

»Die hundertprozentige Erfolgsaussicht geht mit der fünfundneunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit einer schweren Gehirnschädigung einher.«

Kaia zuckte innerlich zusammen. Bowen Knight war ein Feind, aber er war auch ein lebendiges, intelligentes Wesen. Die Vorstellung, wie sein Blick stumpf wurde, sein Verstand erlosch … Ihr wurde ganz flau im Magen. »Nicht wegen des Chips«, fügte sie hinzu. »Es liegt an der chemischen Verbindung, die Attie verwendet. Sie würde das Implantat zwar stabilisieren, aber die Chance, dass Ihr Hirn hinterher noch genauso funktioniert wie zuvor, ist verschwindend gering.«

»Fünf Prozent«, stieß er leise hervor. »Allmächtiger.« Wieder richtete er seine nachtschwarzen Augen auf ihr Gesicht. »Hat Lily Ihnen die Bedingungen genannt?«

Kaia nickte. »Keine Maschinen im Falle Ihres Hirntods.« Sie hätte es dabei belassen können, aber er hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren – würde sie ihm diese vorenthalten, wäre sie nicht besser als dieser Mann, der geholfen hatte, ihre Gefährten zu kidnappen. »Die Simulationen lassen keinen Hirntod erkennen. Sondern nur schwere Hirnschäden.«

»Ihr vegetatives Nervensystem würde weiterhin funktionieren«, erklärte Atalina ruhig. »Sie würden selbstständig atmen, selbstständig schlucken. Es gäbe keinen Grund, Sie an eine Maschine anzuschließen.«

Kaia, deren Blick immer noch mit Bowens verschränkt war, sah, wie sich ein Ausdruck des Entsetzens in seine lebhaften Obsidianaugen stahl. Und plötzlich begriff sie, was sein schlimmster Albtraum war: hilflos ausgeliefert, seiner Persönlichkeit beraubt und nur noch eine leere äußere Hülle zu sein.

5

Ohne meinen Verstand bin ich nichts. Darum soll mein Dasein nicht künstlich verlängert werden, falls mein Gehirn auf eine Weise geschädigt wird, die aus mir einen lebenden Toten macht.

Von Bowen Knight verfasste und unterzeichnete Patientenverfügung. Zeugen: Lily Knight und Cassius Drake

Bowen saß die Angst im Nacken.

Er hatte sich selbst mit Blut getauft, um sein Bewusstsein vor brutalen telepathischen Übergriffen zu schützen, und sein Leben lang nach einem Weg gesucht, auch sein Volk vor diesem Schicksal zu bewahren. Ziel seines Kampfes war gewesen, dass nie wieder ein Mensch in eine seelenlose Marionette verwandelt würde … nur hatte er dabei übersehen, dass die Medialen nicht die einzige Bedrohung für diesen elementaren Teil seiner selbst darstellten.

»Ich kann das Experiment auf der Stelle beenden.« Dr. Kahananuis Stimme klang auf einmal weicher und weniger sachlich als bisher.

Bo riss den Blick von Kaia los, deren schwarze Pupillen in der braunen Iris erweitert waren, als hätte sie ihm sein Grauen angesehen, als verstünde sie seine Furcht. »Welche Folgen hätte das für mich?«

»Das Einzige, worauf ich mich stützen kann, sind die Computersimulationen – die sich nun, da Sie wach sind, noch verfeinern lassen«, antwortete die Ärztin. »Jedenfalls läuft es darauf hinaus, dass Ihnen bis zum Totalausfall Ihres Chips noch etwa vier bis sechs Wochen bei vollem Leistungsvermögen bleiben würden.«

Sie warf einen Blick auf den Monitor. »Den Simulationen zufolge, welche die Aleines durchführten, während Sie im Koma lagen, werden Sie es spüren, wenn der Countdown läuft. Auf entsetzliche Kopfschmerzen werden Nasenbluten und der Schwund Ihrer Sehkraft folgen. An diesem Punkt stünde es Ihnen offen, einfach loszulassen und friedlich aus dem Leben zu scheiden, ohne die Gefahr, jemand könnte Ihre klare Anweisung missachten, dass Sie im Falle einer Gehirnschädigung keine lebensverlängernden Maßnahmen wünschen.«

Vier bis sechs Wochen anstelle eines ganzen Menschenlebens.

Tatsächlich hatte er gar keine echte Wahl. »Wenn ich es nicht riskiere« – das hieß, nicht für eine jämmerliche Erfolgschance von fünf Prozent alles aufs Spiel zu setzen – »wird ein anderer hier landen und sich letztendlich für das Wagnis von Phase drei entscheiden.« Lily oder Cassius oder Heenali oder Ajax, womöglich sogar Zeb, der Angst vor seinem eigenen Schatten und trotzdem Mumm hatte.

Als Dr. Kahananui zögerte, schaute er Kaia an, weil er wusste, dass sie ihm die ungeschminkte Wahrheit ins Gesicht sagen würde. Sie löste ihre verschränkten Arme und umfasste den Rand der Kontrolltafel am Bettende. »Das stimmt. Diese chemische Substanz ist anders beschaffen als alles, was wir kennen. Aber Simulationen sind nicht aussagekräftig genug. Attie benötigt die Daten eines lebenden Organismus.«

»Haben Sie diesen Wirkstoff hergestellt? Wie viel konnten Sie gewinnen?«

Die Ärztin gab ihm die Antwort. »Es ist eine natürliche, im Laufe seines Lebenszyklus von einem Tiefseebewohner produzierte Substanz. Wir haben ungefähr einhundert Gramm –«

»Nein, Attie.« Kaia legte die Hand auf den Arm ihrer Cousine. »Eigentlich will er wissen, wie viele Menschen gerettet werden könnten, falls diese Maßnahme erfolgreich ist.«

»Oh, ich verstehe.« Dr. Kahananui warf einen Blick auf ihren Organizer, aber das Gefühl sagte Bo, dass es mehr ein Reflex war und sie die Information im Kopf hatte. »Vorausgesetzt, die Behandlung schlägt an, hätten wir genug, um jede Person, die ein solches Implantat erhalten hat, zu stabilisieren.«

Bowen flatterte das Herz. Lily, Cassius, Heenali, Zeb, Domenica, Ajax und all die anderen hatten eine Überlebenschance. »Werden Sie mehr von dem Wirkstoff beschaffen können?« Es gab so viele verletzliche menschliche Gehirne auf der Welt.

»Es würde dem Geschöpf, von dem er stammt, Schaden zufügen, wenn wir versuchten, innerhalb der nächsten hundert Jahre mehr davon zu erlangen. Aber sollte das Experiment gelingen, könnte ich die gewonnenen Erkenntnisse nutzen und versuchen, dieses Serum künstlich zu reproduzieren. Allerdings sind seine Bestandteile derart komplex und rar, dass ich dafür vermutlich Jahrzehnte, wenn nicht sogar mein ganzes Leben brauchen würde.«

Atalina hatte keine rasche Lösung für die problematische Situation der menschlichen Gattung parat, aber sie könnte zumindest jene retten, die ihm nahestanden – wenn er dafür alles in die Waagschale warf, das ihn, Bowen Knight, ausmachte. »Fünf Prozent sind besser als nichts.« Seine Stimme klang rau wie Kies. »Momentan befinden wir uns alle auf der Überholspur in den Tod.«

»Was werden Sie tun, wenn es schiefgeht?«, fragte Kaia leise.

»Ich werde rein gar nichts tun können.« Tonlos hervorgebrachte Worte. »Mein Gehirn wird zu stark geschädigt sein.«

Kaias Finger schlossen sich fester um den Rand des Datenmonitors. Ihre Cousine mochte ihm seine Feststellung unbesehen glauben, doch im Gegensatz zu ihr gab es in Kaia auch eine dunkle Seite, daher wusste sie, dass Bowen für den Ernstfall Vorkehrungen getroffen hatte. Cassius und er waren durch Blut und Schrecken aneinander gebunden. Sein bester Freund würde nicht gegen seine Anweisungen verstoßen, nicht zögern, ihm die Kehle durchzuschneiden.

»Sollte der Versuch misslingen«, erklärte Dr. Kahananui, »wird sich das Serum dennoch in Ihrem Gehirn befinden. Das gibt mir die Möglichkeit zu beobachten, wie es sich im Lauf der Jahre auf Ihr Nervengewebe auswirkt, und entscheidende Daten zu sammeln, die eines Tages zu einer dauerhaften Lösung führen könnten.«

Bowen starrte sie an. Sie versuchte, ihm Mut zu machen, doch in Wahrheit hatte sie soeben die Kerkertür zu seiner persönlichen Hölle zugeknallt, abgesperrt und den Schlüssel weggeworfen. Er würde seinen besten Freund nicht bitten können, ihn aus seinem Elend zu erlösen, ohne den kommenden Generationen die Chance zu nehmen, sich gegen geistige Manipulation abzuschirmen.

Seine Schwester und seine Freunde würden zwar alle tot sein, zahllose Menschen jedoch weiterhin in einer Welt leben, in welcher der menschliche Geist als leichte Beute galt. Und eine geringe Chance war immer noch weitaus besser als gar keine.

Mist, Mist, Mist.

»Ziehen Sie es durch«, sagte er. »Alle drei Phasen.« Aus irgendeinem Grund sah er dabei Kaia an … und bemerkte, wie sie leicht zusammenzuckte. Etwa seinetwegen? Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte. Mit seiner Entscheidung begab er sich aus freien Stücken in ein Fegefeuer, aus dem es kein Entkommen geben würde bis … »Wie lange wird es dauern bis zu Phase drei?«

»Den heutigen Tag nicht mitgezählt, exakt zwei Wochen«, antwortete Dr. Kahananui.

Sein Herz wummerte laut angesichts dieser brutal kurzen Schonfrist. In zwei Wochen konnte man vieles tun, aber ein ganzes Leben ließ sich nicht hineinpacken. Er würde keine Gelegenheit mehr haben, Versprechen für die Zukunft zu geben oder mit einer Frau im Schein des Mondes zu tanzen und dabei zu wissen, dass er die kommenden Jahrzehnte Morgen für Morgen neben ihr aufwachen würde.

Der Sicherheitschef des Menschenbundes konnte noch nicht einmal mehr die Rahmenbedingungen für die Sicherheit seines Volkes in künftigen Jahren schaffen. Trotzdem würde er es verdammt noch mal versuchen. Sein Gehirn funktionierte, sein Herz war stark …

Moment mal.

Bo legte die Hand auf seine Brust und fühlte das kraftvolle Schlagen des Organs, das Leben spendende Blut, das in seinen Adern rauschte. »Mein Herz wurde von Splittern getroffen. Das war keine Einbildung.«

»Nein, war es nicht«, bestätigte Dr. Kahananui. »Sie erlitten kurz, nachdem Sie getroffen worden waren, einen Herzstillstand.«

»Da war nicht mehr viel übrig«, fügte Kaia hinzu. »Jedenfalls nicht genug für die Chirurgen, um es wieder zusammenzuflicken.«

In diesem Augenblick stieß die Ärztin ein Keuchen aus und umklammerte ihren Bauch. Bo machte instinktiv eine Bewegung in ihre Richtung, doch sein Körper war noch zu schwach, er reagierte zu träge. Kaia kam ihm zuvor, indem sie den Arm um Atalina legte. »Hast du Wehen?«, fragte sie scharf.

»Nein.« Die Ärztin richtete sich wieder gerade auf. »Es war nur ein Muskelkrampf.« Sie tätschelte der Köchin mit der akademischen Vorgeschichte die Wange, als diese zweifelnd das Gesicht verzog. »Ich habe den festen Vorsatz, dieses Baby bis zum Ende auszutragen und es im Ozean zur Welt zu bringen. Auch der Umstand, dass Bowen Knight aus dem Koma erwacht ist, wird mich davon nicht abhalten.«

Bo betrachtete die hochschwangere Frau. »Im Ozean? Wird das Kind denn nicht ertrinken? Meines Wissens wandeln Gestaltwandler sich erst mit etwa einem Jahr das erste Mal.« Das in Erfahrung zu bringen, hatte ihn viel Zeit und Geduld gekostet – für eine Gattung, die in dem Ruf stand, äußerst gesellig zu sein, waren die Gestaltwandler Außenstehenden gegenüber bemerkenswert verschlossen.

»Vielleicht sind nicht alle Gestaltwandler gleich«, lautete Kaias kryptische Antwort.

Dr. Kahananui war unterdessen wieder an sein Bett getreten und bewegte einen Scanner über seinen Brustkorb. »Ihr Herz ist voll funktionsfähig. Die erstbehandelnden Ärzte haben mehrmals versucht, eines zu klonen, was ihnen aus irgendwelchen Gründen aber nicht gelungen ist.«

Bo musste sich konzentrieren, um sein Augenmerk nicht wieder auf Kaia zu richten – es war, als wäre er durch eine unsichtbare Schnur mit ihr verbunden. Sie bewegte sich, und sein Blick wollte ihr folgen. »Was schlägt dann in meiner Brust?«

»Ein bionisches Herz. Die allerneueste Technik.«

Bowen presste abermals die Hand auf die Stelle … und begriff, dass diese Pumpe weiterarbeiten würde, wenn das Experiment scheiterte. Es würde Blut durch seinen nutzlosen Körper jagen und ihn am Leben halten. »Ich habe noch nie von einer solchen Technologie gehört«, sagte er, um seine Gedanken auf die Gegenwart zu fixieren, anstatt sie auf eine ungewisse Zukunft zu richten.

»Dieser Eingriff wird nur sehr selten durchgeführt. Ein funktionierendes künstliches Herz zu erschaffen ist kompliziert, nur ein einziges Biotech-Unternehmen ist aktuell dazu imstande«, fuhr Dr. Kahananui fort, während sie ihn weiter untersuchte. »Sie sind der erste Empfänger dieses neuesten und stabilsten Modells. Es ist ein Prototyp, und eigentlich hätte es frühestens in zwei Jahren an einem lebenden Objekt getestet werden sollen, aber Silver Mercant hat sich für Sie eingesetzt und die bürokratischen Hürden aus dem Weg geräumt.«

Eis und Ablehnung standen in Kaias Augen, als sie ihn vom Fuß des Bettes aus taxierte, während er noch die überraschende Information verarbeitete. »Sie haben einflussreiche Freunde, Bowen Knight.«

»Irrtum. Meine Schwester ist mit Silver bekannt, nicht ich.« Sie arbeitete häufig mit der Telepathin und Leiterin des internationalen Krisenreaktionsnetzwerkes zusammen. »Wurde es von einem Medialenunternehmen hergestellt?«

Kaia hob eine Braue. »Wäre das für Sie ein Problem?«

»Es ist nur eine verfluchte Ironie des Schicksals.« Nach allem, was die Medialen den Menschen angetan, von ihnen gestohlen hatten, nach all dem Aufwand, den Bo betrieben hatte, um sicher sein zu können, dass nie wieder ein Telepath in seinen Kopf eindringen konnte, befand sich jetzt eine kostspielige technologische Errungenschaft ausgerechnet dieser Gattung in seiner Brust. »Der Versuch mit diesem Serum …« Er fasste sich an die Schläfe. »Hat der Hersteller das vorgeschlagen?«

Kurz vor dem Attentat hatte er sich mit Kaleb Krychek, dem mächtigsten TK-Medialen der Welt, getroffen und von ihm erfahren, dass das geistige Netzwerk, von dem das Überleben seines Volkes abhing, zu kollabieren drohe. Es war eine weitere Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der anhaltende Mangel an menschlicher Energie in ihrem Netzwerk die Medialen an den Rand des Abgrunds geführt hatte.

Sie benötigten dringend Menschen. Kooperative Menschen.

Zwang würde keine Wirkung zeigen.

Auch Bewusstseinskontrolle nicht.

Krychek brauchte Bowen, damit dieser seine Leute davon überzeugte, den Medialen zu vertrauen.

Bo war kein herzloser Mann, aber sie hatten zu viele Gräuel verübt, als dass er seinem Mitgefühl erlauben würde, über seine Vernunft zu siegen. Er hatte Krychek um eine Geste des guten Willens gebeten, darum, ein Zeichen zu setzen – ohne Gegenleistung, sondern einfach nur, weil es das Richtige war. »Stellen Sie Menschen und Mediale hinsichtlich geistiger Privatsphäre auf eine Stufe«, hatte er gesagt. »Vielleicht lasse ich dann mit mir reden.«

Könnte dies Krycheks Antwort sein?

Aber Dr. Kahananui schüttelte den Kopf. »Nein, hierbei handelt es sich um eine reine BlackSea-Aktion.«

Was bedeutete, dass die Medialen womöglich immer noch an einer Lösung arbeiteten. Aber selbst wenn, war es praktisch ausgeschlossen, dass sie ihnen binnen zwei kurzen Wochen auf wundersame Weise in den Schoß fallen würde. Jetzt war er am Zug. Seine Stunde hatte geschlagen. »Haben Sie meiner Schwester von Phase drei erzählt?«

Wieder sah er dabei Kaia an; er wollte die Antwort von ihr hören. Sie verstand ihn und würde zwischen den Zeilen seiner banal klingenden Frage lesen.

»Nein. Welchen Sinn hätte das gehabt, solange wir nicht wussten, ob Phase eins Sie aus dem Koma zurückholt? In welchem Fall die Entscheidung allein bei Ihnen gelegen hätte.«

»Erzählen Sie ihr nichts davon.« Das war ein Befehl. »Niemand darf es erfahren, weder Lily, meine Eltern, Cassius oder sonst einer von meinen Leuten. Vor allem Lily nicht. Falls das Experiment missglückt, sagen Sie ihnen, dass ich gestorben sei und eingeäschert wurde, weil das Serum meinen Körper vergiftet hat. Lassen Sie sie niemals sehen, was ich sein werde.«

6

Ich hab dir diese besonderen holographischen Konzerttickets besorgt, auf die du so wild warst, Lil. Und mich dafür stundenlang im Regen angestellt. Also müsste es eigentlich das Konzert des Jahrhunderts werden.

Nachricht von Bowen Knight (17) an Lily Knight (13)

Kaia hörte die tiefe Emotionalität in Bowen Knights ruppigem Befehl. Nicht aus Stolz bat er darum, ihn verschwinden zu lassen, sondern aus Liebe zu seiner Schwester. Er wollte sie vor den Konsequenzen ihrer Entscheidung, Bowen diesem Experiment ausgeliefert zu haben, schützen. Lily würde um ihren Bruder trauern, jedoch nicht für den Rest ihres Lebens von grauenvollen Schuldgefühlen geplagt werden.

Und Bowens Eltern würden niemals erfahren, dass ihr Sohn die Hölle auf Erden durchlebte.

Kaia wich einen Schritt zurück.

Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass der kalte, unerbittliche Sicherheitschef des Menschenbundes außerdem auch ein fürsorglicher Bruder und treuer Freund war. Oder dass dieser Mann, der eine tödliche Streitmacht aufgebaut hatte, sich ohne Zögern seinem schlimmsten Albtraum stellen würde, um der winzigen Chance willen, einen Ausweg für seine Gattung, die Menschen, zu finden.

Sie straffte die Schultern, spannte die Bauchmuskeln an.

Denk an Hugo.

Schonungslos rief sie sich in Erinnerung, dass dieser loyale, liebende Mann an der Entführung und mutmaßlichen Folterung ihres Sandkastenfreundes beteiligt gewesen war.

Erinnere dich.

Dieses Mal reichte die Mahnung weiter zurück, sie entsprang dem Leid, das sie in ihrer Kindheit erfahren hatte, ihren schrecklichen Verlusten, für die einzig und allein die Menschen verantwortlich gewesen waren. Bowen Knights Volk sah sich in der Rolle des benachteiligten Außenseiters, doch wusste Kaia nur zu gut, wie grausam, berechnend und mordlüstern es sein konnte.

»Sobald ich mir die aktuellen Werte angesehen habe, treffen wir uns zu einer weiteren Lagebesprechung«, fügte Attie an Bowen gewandt hinzu, nachdem sie seinen Bedingungen, was im Fall eines Scheiterns dieses Experiments geschehen solle, zugestimmt hatte. »Ich nehme an, Sie würden gern das Bett verlassen?«

Ein knappes Nicken. »Ich möchte duschen.«

»Ich werde einen Pfleger schicken, der Ihnen hilft.«

»Danke, aber wenn Sie mich von diesen Kabeln und Elektroden befreien, komme ich sicherlich allein zurecht.«

Nein, Bowen Knight war niemand, der jemals das Heft aus der Hand geben würde. Obwohl er gerade erst das Bewusstsein wiedererlangt hatte, verströmte er eine Autorität, die Attie zögern ließ. Trotz ihrer Brillanz scheute sie jede Art von Konfrontation, also sprang Kaia für sie in die Bresche. »Falls Sie stürzen und in einer fünf Zentimeter tiefen Wasserlache ertrinken, war es das mit dem Experiment.«

Seine dunklen Augen blitzten feurig. »Dann schlage ich einen Kompromiss vor. Ich dusche allein, aber Dr. Kahananui kann von mir aus einen Pfleger vor der Tür postieren.«

Attie zog die Stirn kraus. »Ich werde die Frequenz der Muskelstimulatoren erhöhen.« Nachdem das erledigt war, kontrollierte sie ein weiteres Mal seine Beweglichkeit. »Ja, ich denke, Sie sind mobil genug für eine kurze Dusche.« Sie warf ihrer Cousine einen Blick zu. »Könntest du bitte den Alarm holen?«

Kaia, die genau wusste, was gemeint war, verließ das Zimmer und ging den Flur hinunter zum Labor, wo der Schrank mit den medizinischen Bedarfsartikeln stand. Auf dem Weg dorthin atmete sie tief ein und wieder aus. Erinnerungen überkamen sie.

An die dunstigen Sommerabende am Strand, wo ihr Vater sie in den Schlaf wiegte, während ihre Mutter ihr eine Geschichte vorlas.

An das Lachen, als ihre Mutter mit ihr in die Tiefe tauchte und Kaia mitgezogen wurde von dem Sog, den das größere Körpervolumen ihrer Mutter erzeugte.

Ihr Entzücken, wenn ihr Vater sie mit Fingerfarben auf seine große weiße Leinwand malen ließ.

Den ausgelassenen Spaß bei Hugos Pokerpartien, bei denen sie Zahnstocher und ungeschälte Erdnüsse als Einsatz benutzten.

Alle drei waren aus ihrem Leben verschwunden, und es gab nur einen gemeinsamen Nenner: Menschen.

Kaia öffnete den Schrank und nahm den Notrufknopf heraus.

Als sie zurück ins Zimmer kam, entfernte Attie gerade die Elektroden und Kabel an Bowen Knights Armen, alle übrigen waren bereits verschwunden.

Beim Eintreten kreuzten sich Kaias und Bowens Blick zufällig. Er brach den Augenkontakt sofort ab, seine Wangen färbten sich hochrot.

Kaia wäre beinahe gestolpert.

Während ihr Blick dem benutzten Material folgte, das Attie gerade in den Behälter für Sonderabfälle entsorgte, begriff sie, dass dieser hochintelligente, gefährliche Mann verlegen war. So sehr, dass er weiterhin ihren Blick mied, obwohl er ihm zuvor nie ausgewichen war.

Während Attie noch mit ihm beschäftigt war, trat Kaia vor die gegenüberliegende Wand, sodass ihr Rücken ihm zugekehrt war. »Falls Sie eine Aussicht wünschen«, sagte sie, »legen Sie Ihre Hand hierhin.« Sie klappte ein raffiniert getarntes, in die Wand eingelassenes quadratisches Paneel hoch. Dahinter kam eine schwarze Schaltfläche zum Vorschein.

»Aber«, fuhr sie in warnendem Ton fort, »Sie sollten sich auf Publikum einstellen. Darum öffnen Sie das Fenster nur, wenn Sie gesehen werden wollen.« Es war schwierig, auf Ryūjin ein Geheimnis zu hüten. Jeder wusste, dass es sich bei Atalinas Patienten um den Sicherheitschef des Menschenbundes handelte. Und einige – diejenigen, denen Hugo seine Entdeckung anvertraut hatte – waren wütend.

Andere trieb die Neugier um wie vorwitzige Delfine.

Hundertprozentig lungerten mehrere ihrer Gefährten gerade »zufällig« irgendwo in der Nähe herum. Ihnen durfte nicht entgangen sein, mit welcher Hast Attie in Bowens Zimmer geeilt war und wie lange sie sich darin schon aufhielt.

»So, fertig.« Der Sonderabfallbehälter wurde geschlossen. »Sie sind nicht mehr verdrahtet. Darüber hinaus habe ich die beiden Impulsgeber in Ihrem Gesicht entfernt, da Ihre mimische Muskulatur wieder uneingeschränkt beweglich zu sein scheint.«

Kaia drehte sich zu ihrer Cousine, um ihr den mobilen Notrufknopf zu geben, als diese im selben Moment nach dem Abfallbehälter griff. »Ich werde das hier wegbringen und eine Pflegekraft holen. Erklär ihm bitte, wie der Alarm funktioniert.«

Unvermittelt fand Kaia sich plötzlich allein mit dem halb nackten Bowen Knight, dessen Jochbeine immer noch leicht gerötet waren. Es kribbelte sie in den Fingern, ihm beruhigend über die Wangen zu streichen.

Sie unterdrückte den Impuls und streifte ihm mit angehaltenem Atem das Band, an dem der Notrufknopf befestigt war, über den Kopf. Dabei berührten ihre Daumen versehentlich sein Haar; seidenweiche Strähnen liebkosten ihre Haut. Und in seinen Augen, die ihren Bewegungen aufmerksam folgten, stand nicht die Kälte, die sie eigentlich hätten ausdrücken müssen.

Sobald der flache, runde Notrufknopf auf seiner Brust lag, zog sie die Hände zurück. »Drücken Sie ihn, falls Sie Hilfe benötigen. Die Pflegekraft wird sofort bei Ihnen sein. Er ist wasserdicht, Sie können ihn mit unter die Dusche nehmen.«

Bowen streckte wie in Abwehr den Unterkiefer vor, doch dann nickte er.

Ungeachtet seiner Intelligenz war er von dem gleichen hirnrissigen Stolz beseelt wie alle ihre sechs Cousins. »Warten Sie kurz – ich bin in drei Minuten zurück.«

Sie war außer Atem, als sie zurückkam und feststellte, dass er es unterdessen allein fertiggebracht hatte, auf der Bettkante zu sitzen. Seine behaarten Waden und Schenkel fesselten ihre Aufmerksamkeit. Er hielt das blaue Laken, das seine Lenden bedeckte, mit einer Faust fest, damit es nicht unter seine Hüften rutschte.

Kaia spürte flammende Hitze auf ihrer Haut und richtete den Blick auf sein Gesicht.

Schwer atmend stützte er sich mit der anderen Hand auf der Matratze ab, den Kopf leicht gesenkt. Sie sah, wie er seine Beine anspannte und wieder lockerte. Er testete bereits seine Stärke, seine körperlichen Fähigkeiten, wurde schon jetzt zu einer Gefahr für Ryūjin und seine Bewohner.

Bei dem Gedanken überlief es sie kalt.

»Hier.« Sie drückte ihm einen Gehstock in die Hand. »Benutzen Sie ihn. Sollten Sie stürzen und sich auch nur leicht den Kopf anschlagen, könnte dies das Aus für das Experiment bedeuten.«

Bowen Knight schloss die Finger um den komfortabel gestalteten Griff des Stockes. »Was würde ich nur ohne Ihre liebevolle Fürsorge tun!«, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen.

Kaia kniff die Augen zusammen und ging auf Abstand. Sein Tonfall war weder scharf, noch schroff oder auch nur ironisch gewesen. Sondern … Sie wusste es selbst nicht, und es interessierte sie auch nicht, redete sie sich ein. »Das Duschbad ist dort hinten.« Sie zeigte aus der Tür und nach links. »Noch irgendwelche Fragen?«

Sein schwarzes Haar mit den weichen Wellen, die so gar nicht zu diesem harten Mann passen wollten, fing das Licht ein, als er den Kopf schüttelte.

Kaias Finger gruben sich in ihre Handflächen, während sie sich abwandte und auf die Tür zusteuerte. Als sie gerade hinausgehen wollte, rief er ihren Namen.

Sie hielt inne, schaute sich aber nicht zu ihm um, weil sie ihrem treulosen Körper in seinen Reaktionen auf den Anführer des Menschenbundes nicht über den Weg traute.

»Vielen Dank für die Aussicht.«

7

SR: Hast du schon gehört, dass Atalinas Gehirn aufgewacht ist?

JG: Atalinas Hirn ist immer wach.

SR: Haha. Nein, Blitzbirne, das menschliche Gehirn, von dem sie als Wissenschaftlerin ganz besessen ist.

JG: Echt jetzt? Kein Witz?

SR: Nein. Wollen wir mal durch sein Fenster gucken?

Nachrichtenaustausch zwischen Scott Reineke und Jayson Greer auf der Ryūjin-Station

Die Frau mit den zornigen Augen und den sanften Händen, die sich abgewendet und ihn auf andere Gedanken gebracht hatte, anstatt sich an seiner Verlegenheit zu weiden, zog einfach die Tür hinter sich zu.

Ihr Duft hing noch in der Luft, nach Zimt und tropischen Blüten. Seine Lungen weiteten sich, als sie ihn einsogen, bevor sie ihn widerwillig wieder abgaben. Während sie ihm den Notrufknopf um den Hals gehängt hatte, hatte er ihren Geruch ganz kurz direkt von ihrer Haut aufgefangen – er war tiefgründiger, prägnanter, sinnlicher gewesen.

Konzentriere dich, Bo. Und zwar nicht auf diese kriegerische Amazone, die dich gern einen Kopf kürzer machen würde.

Er wollte aufstehen und stützte sich dabei mit einer Hand auf den Gehstock und mit der anderen am Bett ab. Eine weise Entscheidung, weil seine Knie um ein Haar nachgegeben hätten. Schwer atmend blieb er mehrere Minuten lang so stehen, bis seine Muskelkrämpfe abebbten. Äußerst vorsichtig streckte er erst das eine, dann das andere Bein.

Sie fühlten sich an wie Gummi, aber sie trugen ihn.

Trotzdem brauchte er ganze fünf Minuten, um zu dem Duschbad zu gelangen. Die Luft fühlte sich kühl auf seiner Haut an, die ein feiner Schweißfilm bedeckte. Als wäre er meilenweit gelaufen, obwohl er doch nur wenige Meter zurückgelegt hatte. Aber er würde sich nicht beklagen; dass er so kurz, nachdem er aus dem Koma erwacht war, überhaupt gehen konnte, grenzte an ein Wunder.