Age of Trinity - Der Ruf der Nacht - Nalini Singh - E-Book

Age of Trinity - Der Ruf der Nacht E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Sein Geheimnis kann alles zerstören, was sie beschützt

Selenka Durev ist das Alphatier der BlackEdge-Wölfe in Moskau. Die Sicherheit ihres Rudels hat für sie oberste Priorität. Daher ist das Symposium der Empathen in ihrer Stadt und das Risiko eines Attentats, das damit einhergeht, ein einziger Albtraum für sie. Begleitet werden die Medialen von ihren Beschützern aus der Pfeilgarde, darunter Ethan Night. Ein Pfeilgardist, gebrochen und mit einem dunklen Geheimnis, das ihn zu einer gefährlichen Waffe macht. Als Selenkas Blick auf Ethan fällt, ist ihr klar, dass er der Eine für sie ist. Doch da kommt es zu einem Anschlag, der die ganze Gemeinschaft ins Verderben stürzen könnte ...

"Eine wunderbar ausgearbeitete Welt, viel Action und die prickelnde Chemie zwischen Selenka und Ethan machen dieses Buch zu einem Highlight in der Serie!" Publishers Weekly

Der vierte Band in der AGE-OF-TRINITY-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh

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Seitenzahl: 519

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Friedhof der Geheimnisse

1

2

Der Architekt

3

4

5

6

7

8

9

10

Patient Null

11

12

13

14

15

16

Der Architekt

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

Der Architekt

33

34

35

36

37

Der Architekt

38

39

40

41

42

43

44

Der Architekt

Vorhut

Danksagung

Die Autorin

Nalini Singh bei LYX

Impressum

NALINI SINGH

Age of Trinity

DER RUF DER NACHT

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Selenka Durev ist das Alphatier der BlackEdge-Wölfe in Moskau. Die Sicherheit ihres Rudels hat für sie oberste Priorität, sie ist das Herz der Gemeinschaft und verteidigt alle Mitglieder mit Krallen und Zähnen. Daher ist das Symposium der Empathen in ihrer Stadt ein einziger Albtraum für sie, wird die Veranstaltung doch von dem Risiko eines Anschlags bedroht. Begleitet werden die Medialen von ihren Beschützern aus der Pfeilgarde, darunter Ethan Night. Ein Pfeilgardist, gebrochen und mit einem dunklen Geheimnis, das ihn zu einer gefährlichen Waffe macht. Als Selenkas Blick auf Ethan fällt, rastet das Band der Gefährten ohne Vorwarnung ein, und ihr ist klar, dass er der Eine für sie ist. Doch ihre Gefühle müssen warten, denn wie befürchtet kommt es zu einem hinterhältigen Attentat auf die Empathen. Nur die besondere Gabe von Ethan bewahrt die Gemeinschaft vor Schlimmerem. Als hätte Selenka damit nicht genug um die Ohren, wird kurz danach einer ihrer ranghöchsten Offiziere mitten im Revier der BlackEdge-Wölfe ermordet. Selenka und Ethan müssen nun nicht nur ihre ganz frischen Gefühle erforschen und die Hintergründe des Anschlags auf das Symposium aufklären, sondern auch mit dem Verlust des beliebten Rudelmitglieds fertig werden und gleichzeitig die Suche nach dem Täter vorantreiben …

Für Kay

Friedhof der Geheimnisse

Man schreibt das Jahr 2083. Nach einer hundert Jahre währenden Nacht der Gefühllosigkeit sind die Medialen in eine schmerzvolle Morgendämmerung aufgebrochen. Liebe und Neid, Hass und Hochgefühl, Freude und Kummer, Leid und Vergnügen, all das und mehr kann ihre Gattung nun empfinden, ohne eine Gehirnwäsche befürchten zu müssen, die sie zu dumpfen Robotern macht.

Hellsichtige, TK-Mediale, Empathen, Telepathen und psychometrisch Begabte haben die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Doch die vergangenen hundert Jahre sind nicht spurlos an ihnen vorübergegangen.

Für manche ist ihr Dasein von endloser Seelenpein überschattet.

Das Morgenlicht sticht ihnen wie Glassplitter in die Augen.

Dies sind die Verlorenen, die Unbekannten, die Verborgenen. Denn hundert Jahre bedeuten auch genügend Zeit, um Wahrheiten zu verschleiern, Lüge auf Lüge zu häufen … und jene auszulöschen, die einstmals hell wie Sterne leuchteten.

Das Medialnet ist ein Friedhof der Geheimnisse.

1

Der Junge zeigt obsessive Tendenzen, die Sie sich zunutze machen können. Gewinnen Sie seine Loyalität, und er wird Sie niemals hintergehen.

Im Aufnahmebericht festgehaltene psychologische Beurteilung über Ethan Night, sechs Jahre, für den Ratsherrn Ming LeBon (2061)

Selenka gab den Bären die Schuld.

Hätte Valentin nicht ausgerechnet Silver Mercant geheiratet, würden sie alle sich jetzt nicht auf diesem Symposium zu einem leichten Angriffsziel machen. Es kam einer Einladung mit blinkender Leuchtschrift gleich: »Hier sind wir! Los, schlagt zu.«

Als spürte er ihren lodernden Blick, unterbrach das Alphatier der StoneWater-Bären sein Gespräch mit einem ranghohen Clanmitglied, sah sie an und winkte ihr breit grinsend zu. Sie funkelte ihn an, denn sie war nicht in der Stimmung, sich von seinem Charme einwickeln zu lassen.

»Sie sind keine Freundin von Bären?«, fragte eine klare, ruhige Männerstimme in akzentfreiem Russisch.

Selenka hatte gemerkt, dass der Mann sich ihr näherte. Sie wäre nicht die Leitwölfin eines der mächtigsten Rudel Russlands, wenn Leute sich unbemerkt an sie heranschleichen könnten. Allerdings hatte sie, was das betraf, von der anderen großen Gestaltwandlergruppe in der Region kaum etwas zu befürchten. In Sachen Verstohlenheit waren die Bären in etwa so geschickt wie tonnenschwere Elefanten.

Aber von diesem Mann ging eine tiefe Stille aus. Der Geruch eisiger Winde, die sengend heiße blaue Flammen umtosten, ohne eine Spur des kalten metallischen Gestanks, auf den die Gestaltwandler unter den Medialen zu achten gelernt hatten. Weil jene, denen er anhaftete, sich der gefühllosen Herrschaft von Silentium, wie sie das Programm nannten, vollkommen und meist unwiderruflich ergeben hatten.

»Erst gestern musste ich drei eigentlich gesittete Wölfe gegen Kaution aus dem Gefängnis herauspauken«, sagte sie zu dem Mann, der neben ihr stand und sie mit ihren ein Meter achtzig knapp überragte, ohne ihn anzusehen. »Wollen Sie den Grund wissen?«

»Die Bären?«

»Volltreffer«, bestätigte sie grimmig. »Ein paar nette Bären haben meine Wölfe dazu überredet, sich einen Drink ›auf gute Freundschaft‹ mit ihnen zu genehmigen. Welche exakt so lange währte, bis in der Bar eine Massenrauferei ausbrach.« Die Bären hatten sich königlich darüber amüsiert und immer noch vergnügt gegrinst, als Selenka ihre drei Pappnasen aus der Arrestzelle holte.

Sie selbst fand das überhaupt nicht komisch.

Ihre Rudelgefährten waren disziplinierte Raubtiere; sie zogen nicht durch die Bars und zettelten Keilereien an. Erst recht nicht solche, die damit endeten, dass einer von ihnen hinterher nach Himbeer-Daiquiri stank, seine blonden Haare rosa verfärbt von dem riesigen Cocktail, den man ihm über den Schädel gekippt hatte. Die drei würden zur Strafe bis ins nächste Jahr hinein die Renovierungskosten der Bar abarbeiten.

Die Disziplin ihrer Wölfe war nicht nur Selenkas hartem Führungsstil geschuldet, sondern auch den unterschiedlichen Temperamenten der Tiere, die ihre zweite Hälfte waren. Bären konnten erbarmungslose Jäger sein, aber im Allgemeinen waren sie gutmütige Gesellen, solange man sie nicht provozierte. Man musste einen Bären schon mehrmals mit einem Stock piksen, damit er brummend mit der Tatze ausholte.

Wölfe waren weitaus schneller gewaltbereit. Während Bären bekannt dafür waren, eine Beleidigung, die einen Wolf rotsehen ließe, mit einem Lachen abzutun. Sie nahmen von Natur aus vieles nicht so wichtig, wohingegen den meisten Wölfen eine angeborene Aggression innewohnte.

Beides hatte seine Vor- und Nachteile. Die Unbekümmertheit der Bären konnte zu Trägheit führen, wie ein früherer Anführer unter Beweis gestellt hatte – zum Glück für Selenkas Rudel, dem es dadurch gelungen war, einen Teil von dessen Territorium zu annektieren. Auf der anderen Seite drohten durch die tief verwurzelten Instinkte der Wölfe Kurzschlusshandlungen und Blutvergießen.

Disziplin war der Grundpfeiler eines starken Rudels.

»Wenn die beiden Gruppen zusammen einen trinken waren«, wandte der Fremde ein, der Ton seiner wundervoll klaren, wohlklingenden Stimme blieb unverändert ruhig, »müssen doch freundschaftliche Bande bestehen.«

»Ganz so würde ich es nicht ausdrücken.« Die BlackEdge-Wölfe und die StoneWater-Bären hatten lediglich zähneknirschend eine Waffenruhe vereinbart. Hauptsächlich, weil sie in punkto Gefährlichkeit einander ebenbürtig waren. Nach mehreren Scharmützeln waren beide Gruppen notgedrungen zu derselben Schlussfolgerung gelangt: Ein Krieg würde auf jeder Seite Opfer fordern und den Großraum Moskau der Gefahr einer feindlichen Übernahme durch andere Gestaltwandler aussetzen.

Heutzutage gaben sie sich damit zufrieden, sich über die Grenze hinweg anzugiften und mit Blicken zu erdolchen – oder sich Handküsse zuzuwerfen, wobei das in den meisten Fällen von den Bären ausging. Selenka, die wusste, dass sie das nur taten, um ihre Leute zu einer Reaktion zu provozieren, hatte diese angewiesen, zur Antwort mit den Wimpern zu klimpern und ein falsches Lächeln aufzusetzen.

Sie war nicht stolz darauf, aber diese verdammte StoneWater-Bande konnte sogar eine Heilige auf Mordgedanken bringen. Und da es sich bei beiden Gemeinschaften um Raubtiere handelte, blieb nur, dieses ärgerliche Katz-und-Maus-Spiel mitzuspielen oder einander in Stücke zu reißen. Doch im Augenblick bereiteten ihr Valentins Gefolgsleute allenfalls nachrangig Sorge. Viel mehr interessierte sie dieser Fremde mit der kühlen, bedrohlichen Ausstrahlung.

Selenka tippte auf einen Pfeilgardisten.

Niemand sonst wäre so leichtsinnig, sich einer ganz offensichtlich übel gelaunten Leitwölfin zu nähern.

Sie wandte sich ihm zu und sah ihn an. Noch nie hatte sie ein helleres Braun als das seiner Augen gesehen. Heller als Haselnussbraun, heller als Topas, war es von einer kristallinen Reinheit.

Die schwarzen Pupillen hoben sich deutlich gegen die blasse Iris ab.

Sein honigfarbener Teint verstärkte diesen faszinierenden Effekt noch. Die Haut spannte über seinen prägnanten Jochbeinen, sein zerzaustes schwarzes Haar war genauso dunkel wie der Bartschatten auf seinen Wangen. Seine Augen waren leicht schräg gestellt, aber auch sie lieferten keinen Hinweis auf seine ethnische Herkunft. Wenig verwunderlich, schließlich wusste man von den Medialen, dass sie gezielt ihre DNA vermischten, um die Erfolgsaussicht auf Nachkommen mit starken Kräften zu erhöhen.

Für diese Gattung, die zusammen mit den Menschen und den Gestaltwandlern die Welt bevölkerte, war die äußere Erscheinung zweitrangig gegenüber den geistigen Fähigkeiten einer Person. Trotzdem war dieser Elitesoldat unbestritten ein äußerst attraktiver Mann. Nein, Selenka würde ihn keineswegs von der Bettkante stoßen, zumal ihn diese spezielle Aura tödlicher Kraft umgab. Sein Bartschatten war ein weiteres interessantes Detail, ein unrasierter Gardist die Ausnahme von der Regel. Aber hauptsächlich war es der unverwandte Blick, mit dem er sie betrachtete, der Frau und Wölfin gleichermaßen aufmerken ließ.

Die wenigsten Menschen oder Medialen konnten einem Gestaltwandleralpha in die Augen sehen, zumindest nicht länger als ein oder zwei Sekunden. Sie bekamen Schweißausbrüche und Herzrasen, sobald sie sich der Gefährlichkeit ihres Gegenübers bewusst wurden. Den Blickkontakt dauerhaft aufrechtzuerhalten vermochten nur diejenigen, deren Gemeinschaft zwar nicht auf einer Hierarchie gründete, die aber innerhalb ihrer eigenen Gattung dennoch den Status eines Anführers innehatten.

Dieser Mann fiel nicht in diese Kategorie.

Ihre Wölfin erkannte das instinktiv.

Er trug die schwarze Kampfuniform der Pfeilgarde mit dem aufgestellten Kragen, die Hosenbeine in die Stiefel gesteckt, und ähnelte damit jenen gefürchteten TK-Medialen, Telepathen und diversen anderen mental begabten Individuen, die Selenkas Informationen zufolge dem Rat vor dessen Abschaffung als Auftragsmörder gedient hatten. Außerdem war an seinem linken Unterarm eines dieser glänzenden schwarzen Geräte befestigt, bei denen es sich laut ihrer Technikexperten um eine neuartige, feldtaugliche Kommunikationskonsole handelte, die die Truppe derzeit testete.

Und doch haftete diesem Mann etwas an, das ihn von seinen Kollegen abhob.

Ohne einen Anflug von Unbehagen schaute er sie weiter an. Ihre Wölfin hätte das als Herausforderung ansehen können, doch stattdessen spürte Selenka Hitze in ihrem Unterleib aufsteigen. Es war lange her, seit sie zuletzt mit einem Mann intim gewesen war. Warum nicht mit diesem hübschen, gefährlichen Soldaten, der nicht ganz der Norm entsprach?

Sie kniff die Augen zusammen. Nur weil er ihr Blut in Wallung brachte, würde sie sich nicht zu irrationalem Handeln hinreißen lassen. Immerhin hatten ihre Großeltern sie nicht zu einer idiotka erzogen. »Was sind Sie?« Die unverblümte Frage hätte ihr einen vorwurfsvollen Blick ihrer sanftmütigen, liebenswürdigen babushka eingebracht, aber der Pfeilgardist zeigte keinerlei Reaktion.

»Ein TK-Medialer der Skala sieben Komma neun«, antwortete er, seine klare Stimme war Musik für ihr Gestaltwandlergehör. Trotz des ausdruckslosen Tonfalls löste das melodische Timbre pulsierendes Verlangen in Selenka aus. Ein schöner Klang, aber sie würde sich davon nicht einlullen lassen.

»Sie haben telekinetische Kräfte?« Sie verschränkte die Arme und stellte die Füße auseinander. »Aber da ist noch etwas anderes – es bewirkt, dass sich meiner Wölfin das Nackenfell sträubt.« Eine eigenartige Resonanz, die sie sich nicht erklären konnte und die trotzdem kein Warnsignal bei ihr auslöste. Nein, von diesem Medialen mit den blassen Augen ging keine Gefahr aus, es war ihre heftige körperliche Reaktion, die sie aus dem Konzept brachte. Andererseits hungerte sie nach Berührung, und hier war dieser gut aussehende, gefährliche Mann mit der betörenden Stimme.

Kein Wunder, dass ihre Wölfin an ihm knabbern wollte.

Er zeigte sich weder verärgert, noch trat er kühl den Rückzug an. »Ich habe einen unwiderruflichen Schaden erlitten, der sich auf mein mentales Gleichgewicht auswirkt«, erklärte er. »Vermutlich spüren Sie das – allerdings hatte ich bisher zu wenig engen Kontakt zu Gestaltwandlern, um einschätzen zu können, ob sie diese Art Wahrnehmungsgabe besitzen.«

Selenka sah ihn mit einer hochgezogenen Braue an, er faszinierte sie immer mehr. Ivy Jane Zen, die Präsidentin des Empathischen Kollektivs, hatte die Organisatoren des Symposiums umfassend eingewiesen und darauf vorbereitet, dass sie dort auf E-Mediale in unterschiedlichen Stadien der Genesung von Silentium treffen würden.

»Ziel dieses Programms war die Eliminierung sämtlicher Gefühle in unserer Gattung«, hatte die zierliche, wohlgeformte Frau mit dem ausgeprägten Beschützerinstinkt ihnen erklärt. »Wir Empathen stellten eine Belastung dar, aber ohne uns hätte das Medialnet nicht überlebt. Die E-Kategorie wurde aus den Geschichtsbüchern gelöscht, unser Verstand gebrochen, unsere Gabe unterdrückt, indem man uns in solch brutale Schilde einsperrte, dass wir zwangsläufig Narben zurückbehielten.«

Doch nichts und niemand hatte Selenka auf einen Pfeilgardisten vorbereitet, der seinen psychischen Defekt abtat, als handelte es sich um einen harmlosen Kratzer – obwohl er in Wahrheit so schwerwiegend war, dass ihre Gestaltwandlersinne Alarm schlugen. Vorausgesetzt, sein Bewusstsein war tatsächlich beschädigt. Gut möglich, dass er sich die Antwort zurechtgelegt hatte, um irgendeine geheime Fähigkeit zu kaschieren.

Mitglieder dieser im Verborgenen operierenden Eliteeinheit hatten normalerweise nicht die Angewohnheit, ihr Schmutzwasser vor anderen auszuschütten – wie ihr dedushka es ausdrücken würde. Insgeheim hatte Selenka den Verdacht, dass Yevgeni die Redewendung frei erfunden hatte, aber inzwischen benutzte sie jeder im Rudel, daher war sie sozusagen in Stein gemeißelt.

Im Übrigen neigten auch Alphatiere nicht dazu, ihr Schmutzwasser vor anderen auszuschütten.

Sie wollte gerade antworten, als sein Blick über ihren Kopf zuckte. Seine Pupillen flackerten, das helle Braun der Iris überzog sich mit Schwärze.

»Schließen Sie die Augen!« Kalte, knapp hervorgestoßene Worte.

Selenka nahm von niemandem Befehle entgegen, auch nicht von einem potenziellen Spielgefährten.

Aber ehe sie es sich versah, hatte er sie auch schon gepackt, einen Arm fest um ihre Taille, eine Hand an ihrem Hinterkopf, ihr Gesicht an seiner muskulösen Schulter.

Knurrend fuhr sie die Krallen aus und wollte sie gerade in seinen Bauch schlagen, als sie sich der Stille bewusst wurde.

Kristallklar.

Durchdringend.

Schmerzvoll.

Die mehr als dreihundert anwesenden Personen gaben nicht einen Laut von sich, niemand telefonierte, keine Schritte hallten durch den riesigen Saal. Selenka gefror das Blut in den Adern, ihre Krallen gruben sich nur leicht in die Haut des Pfeilgardisten, anstatt ihn aufzuschlitzen. »Lassen Sie mich los, sonst landen Sie in der Notaufnahme!«, stieß sie hervor.

Er entließ sie aus seinem Klammergriff, trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.

Als würde sie sich davon beeindrucken lassen. Selbst wenn man einem Medialen jeden Knochen im Leib brach, konnte er einen immer noch mit seinen geistigen Kräften niederstrecken.

Erst recht, wenn er der Pfeilgarde angehörte.

Ihr Nacken prickelte, als sie, ohne den Mann ganz aus den Augen zu lassen, den Blick durch den Raum schweifen ließ. Bozhe moi! Soweit sie sehen konnte, war jeder Anwesende zusammengebrochen. Keine Spur von Valentin oder Silver; die beiden mussten den Saal verlassen haben, bevor dies hier passiert war. Zwei von Selenkas Offizieren lagen am Boden, ebenso viele von Valentins Leuten und jeder einzelne Pfeilgardist in ihrem Sichtfeld.

»Es war der schnellste Weg, um die Gefahrensituation unter Kontrolle zu bekommen.«

Ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder diesem extrem gefährlichen Mann zu. Seinen Worten war kein Ausdruck, kein Gefühl zu entnehmen, trotzdem drang seine Stimme weiterhin wie ein sinnliches Raunen an ihr Ohr. »Von welcher Gefahr reden wir denn hier?« Es klang zornig, dabei war ihre Wölfin nicht auf Blut aus; etwas Unergründliches nagte an ihr und dämpfte ihre Instinkte.

»Die Empathin mit der grünen Samtjacke.« Er wies mit einem Kopfnicken zur Mitte des Raums.

Von ihrer Position aus konnte Selenka nichts Ungewöhnliches an der Frau erkennen. »Sie gehen voran«, wies sie ihn an. »Und keine abrupten Bewegungen.«

Anstatt auch Selenka telekinetisch niederzustrecken, bewegte er sich mit geschmeidigen Schritten auf die zierliche, brünette Frau zu, die bäuchlings auf dem Fußboden lag. Er ging neben ihr in die Hocke, dann blickte er zu Selenka auf und gab ihr zu verstehen, dass er die Empathin umdrehen wollte.

Ihre Hände spannten sich an, die Krallen waren noch immer sichtbar. »Schön langsam und vorsichtig.«

Der Gardist rollte die Frau mit einer Behutsamkeit auf den Rücken, die den gut geschulten Jäger verriet, er hatte es nicht nötig, mit seinen Kräften zu protzen.

Die Jacke der Empathin stand offen und gab den Blick auf ein Objekt frei, das Selenka auf Anhieb als eine Gasbombe identifizierte. Selenka stand noch immer, folglich musste der Pfeilgardist die Frau unschädlich gemacht haben, bevor sie die Bombe aktivieren konnte. »Sie atmet.« Ihre Brust hob und senkte sich in sanften Stößen.

»Sie ist nur bewusstlos, genau wie die anderen«, antwortete er. »Einige werden sich eine Kopfverletzung zugezogen oder vielleicht einen Knochen gebrochen haben, wenn sie unglücklich gestürzt sind, aber immer noch besser als der Tod.« Keine Erklärung, sondern eine Feststellung.

Selenka musste ihm zustimmen. Die Chance, dass es sich um ein harmloses Gas handelte, war in etwa so groß wie die, dass ein Bär es schaffte, sich länger als zehn Minuten manierlich zu benehmen: also gleich null. »Gute Entscheidung.« Sie zog die Krallen zurück und streckte ihm die Hand hin, als ihr wieder einfiel, dass mit Ausnahme der E-Kategorie viele Mediale Körperkontakte mieden.

Eine warme, raue Hand schloss sich um ihre.

Die Berührung durchfuhr sie wie ein elektrischer Schock.

Da bist du ja, flüsterte der instinktiv reagierende Teil von ihr.

Sie atmete gegen das laute Rauschen in ihrem Kopf an, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Es hätte ein Unbeteiligter sein können, der in den Saal zurückkam, aber Selenkas Wölfin witterte einen Hauch von Schweiß, kalt und säuerlich. Es war der Geruch der Angst. Ohne lange zu überlegen, warf sie sich auf den Pfeilgardisten und brachte ihn zu Fall.

Die Kugel verfehlte ihn und streifte stattdessen Selenkas oberen Rücken. Sie zischte laut zwischen den Zähnen, als das Projektil durch das weiche blaue Leder ihrer Lieblingsjacke und das dünne Baumwoll-T-Shirt drang, eine blutige Spur durch ihre Haut pflügte, bevor es in die Wand zu ihrer Linken einschlug. Selenka sprang auf, wollte dem Schützen nachsetzen.

Doch der Gardist stoppte sie mit der Hand. »Schließen Sie die Augen«, wiederholte er in seinem flachen, unterkühlten Ton.

Dieses Mal gehorchte sie.

Trotzdem sah sie den Blitz durch ihre Lider hindurch, sein herrliches Leuchten.

Als ihre Wimpern sich hoben, tanzten winzige Lichter vor ihren Augen. Der Angreifer war zu Boden gestreckt. Selenka erkannte die Frau mit der braunen Haut wieder, sie war ihr an diesem Vormittag bereits begegnet. Noch eine Empathin.

Sie steckten in Schwierigkeiten.

2

Dominante Raubtiergestaltwandlerinnen sind mit Vorsicht zu genießen. Man sollte sie niemals ärgern, wenn sie schlecht gelaunt sind, sonst kratzen sie einem die Augen aus. Doch falls sie dich zum Gefährten erwählen, lieben sie dich mit einer wilden Besitzgier, die keinen Raum für Zweifel lässt. Immer vorausgesetzt, du überlebst ihre Werbung. Wir beglückwünschen dich zu deinem Mut.

»Körperprivilegien, Stil & weibliches Fingerspitzengefühl« – aus dem Leitartikel in der Oktoberausgabe 2078 des Wild-Woman-Magazins

Ethan betrachtete ihre zarte Kinnpartie, den schwarzen, mit rosaroten und purpurnen Strähnen durchwirkten Zopf, der ihr nach vorn über die Schulter gefallen war, als sie sich auf ihn geworfen und ihn zu Boden gebracht hatte. Das lief nicht nach Plan, dachte er. Dieser hatte vorgesehen, dass Ethan den Anschlag verhinderte, Selenkas Vertrauen gewann und dann …

Und dann …

Entgegen der Annahme seines »Auftraggebers« hatte Ethan sich seine nächsten Schritte nicht überlegt. Er hatte sich nicht aus politischer Überzeugung für die Rolle des Kollaborateurs einspannen lassen, sondern um herauszufinden, ob er dadurch seine innere Taubheit abschütteln könnte. Das war nicht der Fall. Er nahm die Welt noch immer vernebelt wahr, als sei er geistig und körperlich von allen anderen Lebewesen abgeschnitten.

Eine weitere Sackgasse … bis die Zielperson sich für ihn in die Schusslinie geworfen hatte. Seine hervorragende Ausbildung hatte ihn darauf vorbereitet, schnell und instinktiv zu reagieren, weshalb er die Arme um Selenka geschlungen hatte, bevor sie auf dem Boden aufschlugen. Der Geruch nach verbranntem Fleisch drang ihm in die Nase, während sie sich mit der Kraft ihrer Wölfin aus seinem Griff herauswand und die Empathin verfolgte, die auf Ethan gezielt hatte.

Im selben Augenblick sah er die blutende Wunde auf Selenkas Rücken.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als das diffuse Grau sich auflöste und seine Umgebung in einer Fülle von Farben und Geräuschen explodierte.

Wie berauscht sprang er auf und sprintete Selenka hinterher, konnte sie jedoch nicht einholen. Mit der gestaltwandlerischen Schnelligkeit einer Leitwölfin nahm es selbst ein Pfeilgardist nicht auf. Zum Glück lief sie nicht sehr weit, sodass er die zweite Attentäterin wenige Sekunden nach ihr erreichte.

Deren Anschlag war nicht vorgesehen gewesen. Entweder hatte jemand Mist gebaut, oder sein Auftraggeber vertraute ihm nicht und hatte für alle Fälle einen Plan B in der Hinterhand, um Ethan vom Spielbrett zu nehmen. Er hatte allen Grund, ihm zu misstrauen. Aber dass durch seine Zusatzoption die Frau verletzt worden war, die Ethan das Leben gerettet hatte, war unannehmbar.

Selenka entwaffnete die Angreiferin. »Wie lange wird sie bewusstlos bleiben?«

»Ich habe in diesem Fall weniger Kraft angewendet, darum wird sie wie die anderen auch in circa drei Minuten zu sich kommen, falls sie sich nicht den Kopf gestoßen hat.« Es war lediglich eine Schätzung. Zwar hatte er mit seinen telekinetischen Kräften alle gleichzeitig niedergestreckt, trotzdem würden sie unterschiedlich lange brauchen, um sich zu erholen. Die einen würden noch etwa zehn Minuten völlig neben sich stehen, andere hingegen in einem Bruchteil dieser Zeit wieder klar bei Sinnen sein.

»Ich kann keine Kopfverletzung erkennen«, stellte Selenka nach einem prüfenden Blick fest. »Gut, dass –«

Die Tür flog auf, und ein Hüne von einem Mann stürmte herein, das Alphatier der Bären. Valentin Nikolaevs dunkle Augen richteten sich direkt auf Ethan, der einzigen unbekannten Größe an diesem Tatort. Selenka stand sofort auf und positionierte sich vor Ethan. »Er ist nicht die Bedrohung.«

Ethan hörte Valentins dunkle Stimme, verstand aber nicht, was er antwortete. Sein Blick glitt von Selenkas Hinterkopf zu der Wunde an ihrem Rücken. Er war von seinen Ausbildern und Ming LeBon höchstpersönlich schon viel schlimmer verletzt worden. Aber Selenka blutete, weil sie eine für ihn bestimmte Kugel abgefangen hatte.

Die Brust war ihm eng, seine Haut glühte geradezu, als er sich abwandte, um einen Erste-Hilfe-Koffer zu holen. Es gab davon mehrere im Saal, weil einige der frisch ausgebildeten Empathen zu Ohnmachtsanfällen wegen geistiger Überlastung neigten. Bis er kurz darauf zu Selenka zurückkehrte, hatten mehrere weitere Personen den Raum betreten.

»Lassen Sie mich Ihren Rücken sehen.« Das Blut darauf war wie ein rotes Pulsieren vor seinen Augen.

Sie schaute gereizt, doch dann schälte sie sich aus ihrer ruinierten Jacke und zog ihr T-Shirt aus. Darunter trug sie einen schwarz-violetten Sport-BH, der ebenfalls Schaden genommen hatte, jedoch immer noch intakt genug war, um dank seines elastischen Gewebes ihre helle Haut fest zu umschließen. Während sie ihr Gespräch mit Valentin Nikolaev und Silver Mercant fortsetzte, öffnete er den Sanitätskasten und nahm das Desinfektionsspray heraus. »Es wird brennen.«

Er bekam nur ein knappes Nicken zur Antwort.

Trotz der Vorwarnung stieß sie zischend den Atem aus, als er die Wunde desinfizierte, dabei blitzte sie ihn aus Augen an, die jetzt nicht mehr braun waren, sondern golden glänzten.

Fasziniert von seiner Strahlkraft hielt er dem zornigen Wolfsblick stand; er war noch nie jemandem begegnet, der derart vor Leben sprühte wie Selenka. Nein, er würde keinen Rückzieher machen. Sie hatte für ihn Vorrang vor allem anderen. »Ich hatte Sie gewarnt.«

Ein letzter Blick aus Augen, in denen das ungezähmte, mächtige Raubtier schimmerte, bevor sie sich wieder ihrer Unterhaltung zuwandte. Ethan achtete nicht auf das Gespräch, seine ganze Aufmerksamkeit galt Selenkas Verletzung. Etwas Schweres, Dunkles drückte seinen Brustkorb wie mit steinernen Fäusten zusammen. Eine emotionale Empfindung? Ethan wusste es nicht, er hatte keinen Vergleichsmaßstab, um seine Reaktion zu bewerten.

Silentium war zu Fall gebracht, seine Gattung zu Gefühlen berechtigt, nur hatte das keinerlei Auswirkung auf die kalte graue Leere gehabt, in der er lebte. Bis zu diesem Tag.

Für Ethan war Selenkas Verletzung keinesfalls hinnehmbar.

Sie blutete, weil sie sich schützend vor ihn gestellt hatte.

Sein Gehirn wiederholte diesen Satz in monotoner Endlosschleife, während ihm das Blut in den Ohren pochte. Nicht einmal die Prügel, die er als Kind von seinen Lehrern bezogen hatte, hatten einen solchen Donnerhall in seinem Kopf ausgelöst. Schon damals hatte er an jenem kalten Ort vegetiert, von dem aus er die Welt zwar sehen, aber nie an ihr teilhaben konnte.

Er hatte sich angewöhnt, die Kraft zu analysieren, mit der seine Ausbilder zuschlugen, einzuschätzen, wie weit sie gehen würden, und sich eine geeignete Verteidigungsstrategie überlegt. Hin und wieder hatte seine Gegenwehr sie derart empfindlich getroffen, dass ihre Grausamkeit sogar noch mehr eskalierte. Trotzdem hatte er nicht klein beigegeben, weil er instinktiv spürte, dass er dann auf eine Art sterben würde, die über den körperlichen Tod hinausging.

Eigentlich hätte sein rationales Kalkül sich in glänzenden psychologischen Testergebnissen niederschlagen müssen, doch seine Beurteilungen trugen jedes Mal den Stempel PATHOLOGISCH LEIDENSCHAFTSLOS. Eine widersinnige Schlussfolgerung, wie er fand, schließlich war das oberste Ziel seiner Gattung das Wegkonditionieren von Gefühlen. Ungeachtet dessen hatte er sich weiter in dieser grauen Eiswüste verschanzt, die es ihm erlaubte, ein funktionsfähiges Individuum zu sein – und ein todbringender Pfeilgardist.

Für Ming LeBon war die Einschätzung der Psychologen natürlich ohne Belang gewesen.

Den früheren Ratsherrn, dem damals das Kommando über die militärische Eliteeinheit unterstand, hatte nur interessiert, dass Ethan bereit war, zu töten oder zu verwunden, wann immer man ihm den Befehl dazu erteilte. Ethan war nie ein Wort des Widerstands über die Lippen gekommen – als er seinen ersten Auftragsmord begehen sollte, hatte er aufgehört, mit seinen Lehrern und mit Ming zu sprechen.

Der achtjährige Ethan hatte vollständig aufgehört zu kooperieren.

Seine Aufsässigkeit hatte derart brutale psychische und körperliche Bestrafungen nach sich gezogen, dass weite Teile seiner Kindheit aus seinem Gedächtnis gelöscht waren, sein Bewusstsein sich gegen alles, das ihn hätte brechen können, abschottete. Diese Züchtigungen wurden erst eingestellt, als Ming realisierte, dass sie überhaupt keine Wirkung zeigten bei einem Jungen, der in einer kalten, grauen Blase lebte.

Doch jetzt war sie zerplatzt. Heiß wie Lava floss das Blut durch seine Adern, während er sich Selenkas Verletzung besah. Die Wunden von Gestaltwandlern heilten in der Regel schnell, aber diese war so tief, dass sogar eine Leitwölfin eine Weile damit zu tun haben würde, und bestimmt hatte sie Schmerzen. »Ist Ihr Heiler gerade in der Nähe?«, fragte er ohne Rücksicht darauf, dass sie in ein Gespräch vertieft war.

»Nein.« Ein Blick aus faszinierend goldgelben Augen, die gefährlich flackerten. »Er kann es sich später anschauen. Schmieren Sie einfach das Zeug da drauf.«

Sie zeigte auf eine Salbe, die die Wunde betäuben und zugleich mit einem Schutzfilm überziehen würde. Ethan streifte sich Handschuhe über, nahm die Tube heraus und trug vorsichtig etwas von dem Gel auf.

Pulsierende Hitzewellen strahlten von ihrer Haut ab, als wollte das Raubtier, das ihre zweite Hälfte war, seinen Mut auf die Probe stellen. Die BlackEdge-Wölfe waren nicht gerade für ihre Sanftmut und Duldsamkeit bekannt. Er hatte in den Akten der Pfeilgarde nachgesehen und folgenden Eintrag gefunden: Sie zu provozieren, ist riskant. Man darf ihre Gefährlichkeit nicht unterschätzen.

Noch immer spürte er dieses eigenartige Kribbeln von Selenkas Händedruck in seinen Fingern, aber er verarztete sie ohne sichtbare Regung. Das kostete ihn Überwindung, weil sein Gehirn den sensorischen Stromstoß, den dieser Hautkontakt ausgelöst hatte, erst noch verarbeiten musste. Was daran liegen mochte, dass er seit einer Ewigkeit niemandem mehr so nahe gekommen war.

Sowie Ming erkannt hatte, dass körperliche Folter bei Ethan nicht den gewünschten Erfolg erzielte, hatte er den Verstand des Jungen gnadenlos in Ketten gelegt und ihn in einem stockfinsteren Raum eingesperrt. Ethan hatte darin ausgeharrt, bis er sich nicht mehr an die Sonne erinnerte; ihre Strahlen hatten seine Netzhaut geschädigt, als er nach unendlich langer Zeit wieder mit ihnen in Berührung kam.

Er hatte auch vergessen, wie sich der Körperkontakt mit einem warmen, lebendigen Wesen anfühlte … und erfuhr nun zum ersten Mal, wie weich die Haut einer Frau sein konnte. Sogar wenn diese Frau gefährlicher war als ein Pfeilgardist. Selenkas Krallen dienten nicht der Effekthascherei. Sie hätte ihm den Bauch aufschlitzen können, ehe er gewusst hätte, wie ihm geschah.

Den Kontakt zu ihr zu unterbrechen, löste eine physische Reaktion bei ihm aus; ein elektrisches Knistern lief durch seine Adern, seine Muskeln spannten sich an. Selenkas frisch versorgte Wunde war immer noch stark gerötet, aber die Salbe hatte sicher zumindest den Schmerz betäubt. Der Gedanke konnte seine innere Unruhe nicht auslöschen. Sie war verletzt, und das seinetwegen.

Ethan presste die Kiefer zusammen und zwang sich, auf Abstand zu gehen.

Gestaltwandlersoldaten hatten die beiden Angreiferinnen abgeführt, während Ethan erste Hilfe leistete. Zur gleichen Zeit war aus einem nahe gelegenen Krankenhaus medizinisches Personal eingetroffen, um die zusammengebrochenen Symposiumsteilnehmer zu versorgen. Inzwischen war auch Aden vor Ort; ohne Zweifel hatte ihn einer der Gardisten benachrichtigt, die nicht im Saal gewesen waren, als Ethan seine telekinetischen Kräfte freisetzte.

Ethan? Kühl und kontrolliert erklang in seinem Geist die Stimme von Aden Kai, dem Befehlshaber der Pfeilgarde.

Ihm würde Ethan jederzeit antworten, diesen Entschluss hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung gefasst. Aden war im gleichen Alter wie er und konnte somit unmöglich einer von Mings Folterknechten gewesen sein.

Ethan war von Aden über die bedeutsamen Veränderungen innerhalb der Truppe aufgeklärt worden, aber das Einzige, was ihn interessiert hatte, waren die Namen der Männer und Frauen, die in jenen pechschwarzen Raum gekommen waren und versucht hatten, einen Jungen zu brechen, der sich weigerte zu sprechen. Selbst in der grauen Leere war ihre Identität für ihn von Belang gewesen.

Aden hatte sein Versprechen gehalten und sie für ihn ausfindig gemacht.

Von den sieben Personen auf der Liste war nur noch Ming LeBon am Leben. Truppeninterne Informationen hatten bestätigt, dass ein amerikanisches Wolfsrudel im Verborgenen Jagd auf den früheren Ratsherrn machte, offenbar mit dem Ziel, sein Imperium zu vernichten, bevor sie ihn in Stücke rissen. Darum hatte Ethan ihn vorläufig verschont.

Die Vorstellung, dass dieser mächtige Mann alles verlieren würde, bevor er starb, war in Ethans Augen ausgleichende Gerechtigkeit. Sollten die Wölfe allerdings mit ihrem Vorhaben scheitern, würde Ethan Ming LeBon im Dunkeln auflauern und ihn mit einer Klinge aus Licht in Stücke schlagen, um diese anschließend an wilde Hunde zu verfüttern.

Für einen kurzen Moment war er selbst überrascht über die Grausamkeit und Detailliertheit seines Plans. Dann jedoch begrüßte er das schwarze Feuer seines Zorns, weil er sich eingestand, dass Emotionen die Vergeltung umso süßer machen würden. Ich habe die Angreifer lokalisiert und unschädlich gemacht, antwortete er Aden. Er ließ sich auf ein Knie nieder, steckte seinen benutzten Handschuh in einen Sondermüllbeutel und durchstöberte den Erste-Hilfe-Koffer nach einem Wundpflaster. Es gab keine Todesopfer.

Verstanden. Da war jedoch ein Unterton in Adens Stimme, der Ethan aufhorchen ließ. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass mehr hinter der knappen Bestätigung steckte. Wie ist dein Zustand?

Meine Energiereserven liegen bei fünfzig Prozent.

Das meinte ich nicht. Aden wartete, seine dunklen Augen auf Ethan gerichtet, bis dieser aufsah. Bist du verletzt?

Ethan begriff, dass diese Information gleichzeitig taktisch relevant war. Nein. Mings lautlose Waffe war so funktionstüchtig wie eh und je – defekt zwar, und das schon seit Ethans sechstem Lebensjahr, aber sie funktionierte. Gibt es noch eine Bedrohung, die ausgeschaltet werden muss?

Nein. Ich wollte nur sicher sein, dass du nicht verwundet wurdest. Wieder dieser seltsame Unterton in Adens Stimme, den er nicht entschlüsseln konnte. Wir sind eine Familie, Ethan. Darum passen wir aufeinander auf.

Ethan schwieg.

Er stand auf und nahm das Pflaster vorsichtig aus der Verpackung; es würde Selenkas Wunde vor einer Infektion schützen, bis ihr Heiler sie sich ansehen konnte. Inzwischen wusste er, dass ihr nichts von dem entging, was um sie herum geschah, darum warnte er sie dieses Mal nicht vor.

Sie zuckte nicht zusammen, als er den transparenten Rand des Pflasters rings um die Wunde festdrückte, das Lokalanästhetikum wirkte demnach. Sowie er fertig war, hob er ihr zerfetztes T-Shirt auf, aber sie hätte sich verrenken müssen, um es anzuziehen, was sich womöglich nachteilig auf ihre Verletzung ausgewirkt hätte. Also reichte er ihr stattdessen ihre Jacke, und sie schlüpfte ohne einen Blick zu ihm hinein.

Er hörte, wie sie den Reißverschluss hochzog.

»Die Betäubungssalbe hört in spätestens einer Stunde auf zu wirken«, sagte er. »Bis dahin sollten Sie Ihren Heiler aufgesucht haben.«

Die Leitwölfin und das Alphatier der Bären starrten ihn beide wortlos an.

»Quatschen Sie immer in die Gespräche großer, furchterregender Gestaltwandler rein, die Sie in einem Happen verspeisen könnten, zaichik?«, fragte Selenka mit hochgezogenen Brauen.

Ethan sprach fließend Russisch, trotzdem war er sich nicht sicher, ob er das letzte Wort richtig übersetzt hatte. Seines Wissens bedeutete es »Häschen«. Vermutlich ein Scherz zwischen Raubtier und potenzieller Beute.

Er tat es mit einem Achselzucken ab. »Falls erforderlich.« Ethan wusste, dass Angst ein Gefühl war, aber er selbst hatte damit noch nie Bekanntschaft gemacht. »Im Übrigen wäre ich in Anbetracht meiner Muskelmasse sicherlich kein Gaumenschmaus.«

In Valentins dröhnendem Lachen lag eine Wärme, die Ethan fast körperlich spürte, wie eine starke Brandungswelle. Selenka kniff die Augen zusammen.

»Den Kerl solltest du gut im Auge behalten, Selenka«, meinte Valentin, bevor er zu seinen Offizieren ging, die sich gerade zu regen begannen.

»Soll ich seinen Rat befolgen?« In ihrer Frage lag ein Knurren, doch ihre strahlenden Augen zeigten keine Spur von Angriffslust. »Sind Sie eine Bedrohung?«

»Ja.« Es kam nicht in Betracht, dass er die einzige Person belog, die ihn jemals vor etwas gerettet hatte. »Lassen Sie uns später miteinander reden.«

Selenka ergriff sein Kinn, ganz sacht, obwohl sie die Krallen ausfuhr. Der Schalk in ihren Augen war einem stahlharten Blick gewichen. »Sollten Sie mir oder meinen Leuten ernsthaft gefährlich werden, reiße ich Ihnen die Kehle auf und verlasse den Schauplatz mit Ihrem Blut an meinen Krallen – und in meinem Mund.« Sie strich mit einer Kralle über seine Lippen. »Aber wenn nicht … nun, zaichik, dann werden wir miteinander spielen.«

Die dunkle Glut in seinem Inneren explodierte in einem gleißend hellen Feuerball, schillernde Fontänen aus Hitze und Qual stoben empor. Wie flüssiges Gold, das an Selenkas Augen erinnerte, überzogen sie den Rahmen des Tors in die kalte Leere, sodass es nicht zuschlagen konnte. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf, und dennoch lag Ethans Blick unverwandt auf Selenka.

Er hatte seine Wahl getroffen.

Der Architekt

Skarabäus-Syndrom: Ein sprunghafter Anstieg der geistigen Kräfte in Verbindung mit unberechenbarem Verhalten, der Tendenz zu Gewaltausbrüchen, Halluzinationen und / oder Gedächtnisverlust. Geben Sie alle Verdachtsfälle umgehend an Dr. Maia Ndiaye am Institut für mediale Virusdiagnostik weiter.

Sollte ein Patient bereits aggressiv und außer Kontrolle sein, bitten Sie unter einer der nachfolgend aufgelisteten Notrufnummern um die sofortige Unterstützung eines Teleporters.

Dringende ärztliche Anweisung der medialen Gesundheitszentrale an sämtliche medizinische Einrichtungen weltweit (25. April 2083)

Die Frau sann über die bisherigen Errungenschaften und Fehlschläge ihrer Idee nach. Sie hatte das Konsortium ins Leben gerufen, um die Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen und zusammen mit einigen von ihr handverlesenen und taktisch clever in Stellung gebrachten Personen von dieser Instabilität zu profitieren.

Es war ein guter Plan gewesen, und man konnte ihm einen gewissen Erfolg nicht absprechen.

Doch unterm Strich musste sie sich eingestehen, dass sie gescheitert war. Seit dem Zustandekommen des Dreigruppenbündnisses – einer Zusammenarbeitsvereinbarung aller drei Gattungen – erwies es sich als ungleich schwieriger, Unfrieden zu stiften und Risse in der Gesellschaft zu erzeugen. Die Leute redeten jetzt miteinander, oder aber sie baten jemanden mit mehr Einfluss, sie zu vertreten.

Nicht alle zwar, aber doch genügend.

Die Probleme im Medialnet hatten die Situation zusätzlich verschärft. Sie konnte nicht riskieren, dass sich das geistige Netzwerk, das für ihre Gattung lebensnotwendig war, weiter zersetzte – ohne das Biofeedback, das von ihm bereitgestellt wurde, würde auch sie innerhalb von Minuten sterben.

Es war für die mediale Gattung von grundlegender Bedeutung.

Darum musste sie alles unterlassen, was das Netz gefährden konnte, zumindest bis sie eine Lösung gefunden hatte, um das Überleben möglichst vieler Medialer zu gewährleisten. Genozid war nicht gut fürs Geschäft, geschweige denn für die Macht.

Gelegentliches Blutvergießen konnte nützlich sein, um die Zügel in der Hand zu behalten, aber sie sah keinen Sinn darin, über eine dezimierte Welt zu herrschen. Sie strebte nach der Regentschaft über ein starkes, funktionstüchtiges Reich. Nur das war von Belang. Sie hatte es seit jeher auf die ultimative Kontrolle abgesehen; die anderen Mitglieder des Konsortiums waren nichts weiter als Bauern eines Schachspiels, die sie benutzte, um auf den Thron zu gelangen.

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah aus dem Fenster ihres Rückzugsorts, der ihr zum Nachdenken und Ränkeschmieden diente, doch sie nahm nichts von der idyllischen Landschaft wahr. Ihr Blick war nach innen gerichtet. Es wurde Zeit für einen neuen Plan, eine neue Strategie. Wer überleben und gedeihen wollte, durfte nicht Fehlschlägen nachhängen, sondern musste sich davon befreien wie von kranken Gliedmaßen.

Zuallererst machte sie eine Bestandsaufnahme ihrer Ressourcen.

Sie verfügte noch immer über eine ganze Reihe wertvoller Aktivposten, Leute in Machtpositionen, von denen keiner ahnte, dass sie sie in der Tasche hatte. Sie hatte ein Auge dafür zu erkennen, wen man korrumpieren, manipulieren und ausbeuten konnte.

Was aktuelle Operationen des Konsortiums betraf, so beabsichtigte sie, einige wichtige weiterzuführen und zu sehen, was dabei herauskam. Doch den Großteil würde sie fallenlassen – zusammen mit etlichen derer, die sie leiteten. Nicht jede ihrer überlebenden Spielfiguren würde glücklich über den Richtungswechsel sein, aber das ließ sich regeln.

Ihre linke Schläfe pochte dumpf, als sie sich wieder ihrem Schreibtisch und dem Datenpad zuwendete, auf dem sie sich Notizen gemacht hatte. Sie ignorierte das unangenehme Hämmern; es war nur ein kleines Ärgernis, und sie hatte viel zu tun, wenn sie ihr geistiges Kind doch noch retten wollte. Zunächst einmal musste sie ihre Ziele neu überdenken.

Wollte sie immer noch herrschen?

Definitiv.

Eine einflussreiche Privatperson zu sein, entsprach nicht ihrer Natur.

Über wen wollte sie herrschen?

Nun, das war eine interessante Frage. Sie lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück. Es bestand ein Riesenunterschied darin, die Macht über nur eine der Gattungen zu besitzen oder über alle drei. Letzteres war in der Weltgeschichte noch niemals vorgekommen.

Nach dieser zu streben, das war eines Architekten ihres Formats würdig. Sie hatte bis dahin zu konventionell gedacht, sich Ziele gesetzt, die lohnten, aber im Grunde sekundär waren. Doch alle großen Führer und Visionäre mussten erst in ihre Rolle hineinwachsen und ihren Weg finden. Ihre ursprüngliche Idee war nur die erste Stufe gewesen, die Vorbereitung auf das, was folgen sollte: Sie würde die Macht über die Welt erringen, sie vollkommen neu gestalten und als ihr größtes Vermächtnis hinterlassen.

Ihr Name würde niemals in Vergessenheit geraten.

3

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(Persönliche Anmerkung: Du triffst die Entscheidungen, Aden, aber bist du dir in diesem Fall sicher? Das psychologische Profil des Patienten gibt Anlass zur Sorge.)

Nachricht von Dr. Edgard Bashir an Aden Kai (März 2083)

Der Pfeilgardist ließ Selenka seit ihrem letzten Wortwechsel nicht aus den Augen.

Anstatt sich über diese Überwachung zu ärgern, nahm sie sie erstaunlich gleichmütig hin. Frau und Wölfin gierten gleichermaßen nach diesem Mann, der sie so unverhohlen taxierte, obwohl sie ihm ihre Krallen gezeigt hatte. Entweder kannte er keine Furcht, oder er war ein Irrer ohne jeden Überlebensinstinkt.

Denn Selenka würde ihm die Kehle aufreißen, wenn es notwendig wäre.

Ihr Verlangen, ihn zu verschlingen wie das Häschen, als das sie ihn bezeichnet hatte, schützte ihn nicht vor Vergeltung, falls er sich als hinterhältige Schlange entpuppte. Obwohl sie zugegebenermaßen enttäuscht wäre. Sie hatte lange nicht mehr dermaßen heftig auf einen Mann reagiert. Wie die meisten Gestaltwandler scheute sie sich nicht, Körperprivilegien zuzulassen – der Austausch von Intimitäten war ein fester Bestandteil des Lebens und in ihrem Fall außerdem notwendig, um die aggressiven Instinkte ihres Tieres zu beherrschen.

Alphawölfe waren alles andere als schüchtern und zurückhaltend.

Ihre andere Hälfte stieß ein verächtliches Schnauben aus.

Allerdings hatte Selenka in den letzten sechs Monaten sogar enge Freunde, die sich anboten, ihre körperlichen Bedürfnisse zu stillen, zurückgewiesen. Keine Seite von ihr wollte sich länger damit zufriedengeben, zu stark war diese schmerzhafte Sehnsucht, die in ihr brannte.

»Arme cucciola, ich sehe ein tiefes Loch in dir. Pass gut auf dich auf, damit es dich nicht in sich hineinsaugt.«

Diesen Rat hatte sie als Teenager von einer Wahrsagerin auf einem Jahrmarkt bekommen.

Das zornige Mädchen von damals hatte die Worte mit einem Lachen abgetan, doch als Erwachsene hatte Selenka sich oft gefragt, ob die mit Tüchern und Röcken ausstaffierte »menschliche« Wahrsagerin mit dem schweren italienischen Akzent und den üppigen, glitzernden Ringen in Wirklichkeit vielleicht eine V-Mediale gewesen war, die den wachsamen Augen des Medialnet hatte entfliehen können. Weil Madame Zostra nämlich recht behalten hatte.

Selenka begehrte mehr. Sie wollte das, was ihre Großeltern hatten. Oder ihre beiden Offiziere Alia und Artem. Du liebe Güte, sie beneidete sogar Valentin. Der Bär hatte eine Gefährtin gefunden, auf die jedes Alphatier stolz wäre.

Die Anziehung, die der Pfeilgardist auf sie ausübte, war wesentlich primitiver, trotzdem hatte sie ihre schlummernden Bedürfnisse schlagartig geweckt und sie daran erinnert, dass sie nicht nur das Oberhaupt eines Wolfsrudels war.

Sondern außerdem auch eine Frau, die Gefallen an Männern fand.

Heißer, schweißtreibender Sex mit diesem gefährlichen Fremden klang nach einem perfekten Plan.

Hoffentlich würde er wieder diese entgeisterte Miene aufsetzen, wenn sie ihn das nächste Mal zaichik nannte.

Ihre Mundwinkel zuckten, wenn auch nicht in erster Linie aus Belustigung oder sexuellem Verlangen. Vielmehr versuchte sie in Gedanken mit der Erfahrenheit einer Rudelführerin, die diesen Posten seit ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag innehatte, aus dem Mann schlau zu werden. Wieso sollte er ihr gegenüber zugeben, dass er eine Bedrohung darstellte? Trieb er etwa ein cleveres Doppelspiel? Nur war das wenig sinnvoll, nachdem er seine Vertrauenswürdigkeit bereits unter Beweis gestellt hatte, indem er ihr das Leben rettete.

Selenka beschloss, sich zu einem späteren Zeitpunkt damit zu befassen, und gesellte sich zu Valentin, Silver und Aden Kai. Sie waren alle vier für die Sicherheit auf dieser verdammten Veranstaltung zuständig, wobei Aden damit einhergehende Aufgaben häufig an seine Offiziere Cristabel Rodriguez und Axl Rye delegierte.

Und das aus demselben Grund, aus dem Kaleb Krycheks einziger Beitrag zu dem Symposium darin bestand, den Empathen den Saal zur Verfügung gestellt zu haben. »Das Medialnet hat für mich Vorrang vor allem anderen«, hatte er Selenka und Valentin erklärt, als sie sich zu dritt getroffen hatten, um die geplante Zusammenkunft zu besprechen. »Ich muss jede signifikante Schwachstelle im Netz stabilisieren, bevor daraus ein Riss entstehen kann.«

Aufgrund der Informationen, die den Unterzeichnern des Dreigruppenbündnisses zugegangen waren, wusste Selenka, dass mit Ausnahme einer geringen Zahl von Abtrünnigen alle Medialen die geistige Ebene und deren Feedback brauchten, um zu überleben. Doch dieses gigantische Netzwerk war im Verfall begriffen. Erst vor zwei Wochen hatten fünfundzwanzig Personen in einer ländlichen Gegend von Laos ihr Leben gelassen, als das Medialnet in ihrem Sektor derart plötzlich kollabierte, dass nicht einmal Kaleb es noch rechtzeitig verhindern konnte.

Die feinen Falten der Erschöpfung in Adens Gesicht verrieten Selenka, dass sich die Seuche immer schneller ausbreitete. Der Kommandant der Pfeilgarde arbeitete Hand in Hand mit Kaleb, um die Risse zu versiegeln. »Wie ist die aktuelle Lage im Netz?«, fragte sie den ruhigsten – wenn auch nicht minder gefährlichen – unter den anwesenden Anführern.

Aden schüttelte resigniert den Kopf.

Sekunden später stieß Ivy Jane Zen zu ihnen. Ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter der zart gebräunten Haut ab, die schwarzen Pupillen in der kupferhellen Iris ihrer Augen waren erweitert. »Der Zustand der Angreiferinnen ist soweit stabil«, eröffnete ihnen die Präsidentin des Empathischen Kollektivs. »Beide gehören dem Konsortium an, auch wenn sie bisher nicht sonderlich aktiv waren.«

Die kleine, etwas rundliche Frau fuhr mit der Hand durch ihre seidenweichen schwarzen Locken. »Ich begreife das einfach nicht.« Sie klang tief verstört. »Uns Empathen ist Gewalt normalerweise fremd.«

»Das ist nicht ganz korrekt«, widersprach Silver in ihrer kühlen, geschäftsmäßigen Art. Lang und glatt fiel ihr das eisblonde Haar über den Rücken, jede Strähne an ihrem Platz. Die Direktorin des Krisennetzes war die Verkörperung von Macht und Selbstvertrauen.

Selenka hatte Silver schon gemocht, als diese noch Kalebs Assistentin gewesen war. Es würde ihr immer ein Rätsel sein, wieso diese extrem vernunftgesteuerte, pragmatische und hochgradig effiziente Frau einen Bären geheiratet hatte. Selenka hatte fünf Gläser Wodka auf ex getrunken, als sie die Nachricht hörte.

»Um sich selbst oder ihnen nahestehende Personen zu verteidigen, sind im Zweifelsfall auch Empathen bereit, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen«, fuhr Silver fort.

Selenka runzelte die Stirn. »Wen hätten die beiden Attentäterinnen denn auf dieser Veranstaltung schützen wollen?« Sie verschränkte die Arme und musste sich beherrschen, nicht über ihre Schulter zu schauen und den helläugigen Pfeilgardisten mit ihrem Blick aufzuspießen. Er hatte sie nämlich eindeutig immer noch im Visier, das merkte sie an diesem Prickeln in ihrem Nacken. Wenn er nicht aufpasste, würde ihre Wölfin seine Aufmerksamkeit tatsächlich noch als Bedrohung auffassen.

Sie saß ihr schon ganz dicht unter der Haut und streckte die Krallen aus.

Paradoxerweise fand sie seinen Starrsinn unwahrscheinlich anziehend. Dieser Mann würde nicht mit furchtsamer Miene vor ihrer wilden Seite zurückschrecken, wenn sie sie in den Vordergrund treten ließe. Wieder flammte Hitze in ihrem Unterleib auf. »Diese Gasbombe hätte jedem im Saal das Leben gekostet«, fügte Selenka hinzu, »vorausgesetzt, es handelte sich um ein tödliches Gas.«

»Das wird gerade getestet.« In Valentins Stimme klang der Bär mit, obwohl seine Augen weiter menschlich waren. »Adens Leute werden vermutlich als Erste ein Ergebnis haben, trotzdem habe ich auch meinem Team eine Probe geschickt.«

Dieser verflixte Bär war einer der schlimmsten Unruhestifter, die Selenka kannte, und zweifellos verdankte sie ihm das einzelne graue Haar, das sie neulich entdeckt hatte, aber er verfügte über ein gutes Gespür. Daher wusste er, dass Selenka Aden Kai noch nicht in dem Maße vertraute, um seinem Bericht blind zu glauben. Sicher, er hatte das Dreigruppenbündnis ins Leben gerufen, trotzdem blieb er für sie ein Fremder, der noch dazu einer Gattung angehörte, die ihrem Rudel über die Jahre sehr viel Schaden zugefügt hatte.

So ungern sie das zugab, hörte sie in derlei Belangen auf Valentin. Denn eines musste man den Bären zugutehalten: Manipulation oder subtile Ränkespiele waren nicht ihre Sache. Sie legten ihre Karten offen auf den Tisch, und wenn sie eine wie auch immer geartete Allianz schmiedeten, hielten sie sich an die Vereinbarung, solange die Gegenseite nicht ihr Wort brach.

Mit solchen Leuten konnte Selenka sich arrangieren, auch wenn sie ihr den letzten Nerv raubten.

Denn auch die Wölfe hielten sich an gegebene Versprechen. Allen voran Selenka.

Ivy Jane schüttelte den Kopf. »Ich kann mir das einfach nicht erklären.« Man hörte den Schmerz und die Verwirrung in der Stimme der Empathin, deren orangeroter Strickpullover einen leuchtenden Farbtupfer in die graue Wolke setzte, die auf dem Saal lastete. »Dieses Symposium ist eine Bereicherung für die E-Kategorie. Zum ersten Mal bekamen wir die Gelegenheit, uns im großen Rahmen zu treffen. Die Sitzungen und Diskussionsrunden waren dazu gedacht, Wissen auszutauschen, Fortschritte zu besprechen und überregionale Freundschaften zu schließen.«

Selenka hätte Ivy am liebsten tröstend in die Arme genommen, gleichzeitig hatte sie gute Lust, sie anzuraunzen. Empathen waren häufig von einem fast kindlichen Idealismus beseelt, wenn sie mit glänzenden Augen beteuerten, dass jedes Lebewesen von Natur aus gut sei. Ihr mangelnder Selbsterhaltungstrieb weckte in Selenka das Bedürfnis, sie allesamt unter ihre Fittiche zu nehmen, um sie zu beschützen.

Zum Glück hatte die Pfeilgarde das bereits übernommen. Wahrscheinlich aus demselben Grund.

»Gut, dass Ethan hier war.« Ivy Jane schluckte. »Ich glaube nicht, dass sonst jemand fähig gewesen wäre, das geplante Attentat ohne Blutvergießen zu verhindern.«

Ethan.

Selenka ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen, war unschlüssig, ob er zu ihm passte oder nicht. »Er ist einer von Ihren Leuten?«, fragte sie, an Aden gewandt. Nicht, dass sie irgendeinen Zweifel an Ethans Zugehörigkeit zur Pfeilgarde gehabt hätte, es war lediglich der Versuch, seinem Vorgesetzten nähere Informationen zu entlocken.

»Das ist richtig.« Der Ton seiner Stimme machte klar, dass er mehr nicht preisgeben würde.

Selenka musste das respektieren; ein Anführer hatte die Seinen zu schützen.

Als es sich im Saal zunehmend regte und immer mehr Personen das Bewusstsein wiedererlangten, löste die Fünfergruppe sich ohne weitere Worte auf – es gab nichts mehr zu besprechen, solange man die beiden Angreiferinnen nicht verhört hatte –, um mit anzupacken, wo Hilfe nötig war. Diejenigen, die sich Knochenbrüche oder Kopfverletzungen zugezogen hatten, waren bereits von Sanitätern abtransportiert worden.

Selenka beugte sich gerade über einen benommenen Empathen, um ihm hochzuhelfen, als ein kühler, markanter Duft sie streifte. Ihre Nasenflügel bebten, die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Neben der heftigen sexuellen Anziehung, die er auf sie ausübte, war noch etwas an diesem Ethan, das sie irritierte … eine Intensität, die wie Krallen an ihrer Haut kratzte. Sie wollte sich an ihn schmiegen und in sein Innerstes hineinhorchen, bis sie sein Geheimnis gelüftet hätte.

»Zwei gebrochene Handgelenke und eine ausgekugelte Schulter«, resümierte er, als er neben sie trat. »Keine gravierenden Kopfverletzungen.« Es klang, als würde er eine Einkaufsliste vorlesen, was ihre Wölfin nicht davon abhielt, das Haupt auf die Pfoten sinken zu lassen und verträumt die Augen zu schließen. Denn trotz ihres vagen Eindrucks, dass mit ihm etwas nicht ganz stimmte, tauchten vor Selenkas geistigem Auge lebhafte Bilder auf, wie sie nackt und befriedigt neben ihm im Bett lag und ihm beim Reden zuhörte.

Sie war nicht die Einzige, die seine Stimme aufmerken ließ. Mehrere Gestaltwandler in der Nähe hoben den Kopf, und als ihr Blick auf Ethan fiel, trat ein anerkennender Ausdruck auf ihre Gesichter.

Selenkas Lächeln sprach Bände.

Die Cleveren wandten sich wieder anderen Dingen zu. Zwei Bären jedoch versuchten es mit einem Blickduell, aber Selenka hatte damit gerechnet und sah ihnen ohne zu blinzeln in die Augen, bis sowohl der Mann als auch die Frau mürrisch grummelnd wegschauten.

Sie hatte in aller Deutlichkeit klargemacht, dass niemand außer ihr mit Ethan spielen – oder ihn bestrafen – würde.

Zufrieden, ihr Revier markiert und ihren Besitzanspruch angemeldet zu haben, räkelte sich die Wölfin und rieb sich von innen an der Haut. Sie wollte ausgiebig an diesem Pfeilgardisten schnuppern, der sich selbst als eine Bedrohung und als defekt bezeichnete.

Auf die eine oder andere Weise sind wir alle beschädigt, Selenushka.

Oleg, der Hauptheiler des BlackEdge-Rudels, hatte das zu Selenka gesagt, als sie vierzehn gewesen war, ein verstörtes, verletztes Kind. Inzwischen war sie eine erwachsene Frau, aber sie hatte seine Worte nie vergessen. Beschädigt bedeutete nichts weiter, als dass man im Laufe seines Lebens den einen oder anderen Schlag eingesteckt hatte.

Selenka klopfte dem E-Medialen, dem sie aufgeholfen hatte, den Staub von den Kleidern und drehte sich, sowie er sich entfernt hatte, zu Ethan um. Seine blassbraunen Augen versenkten sich in ihre und sahen so tief in sie hinein, dass Selenka leise in der Kehle knurrte. »Vorsicht, zaichik«, flüsterte sie und strich mit krallenbewehrten Fingern über seine Brust. »Ich bin keine Empathin. Ich beiße. Und zwar fest. Und du bist eine Gefahr, das hast du selbst gesagt.«

Ethan kam einen Schritt näher, ihre Krallen bohrten sich in seine Uniform.

Da war keine Furcht, kein Zögern.

Ihre Brustspitzen richteten sich auf, ihre Schenkel spannten sich an. Aber Selenka war kein Küken mehr. »Körperprivilegien mit dir zu teilen, könnte eine lustvolle Erfahrung sein, allerdings wird dir dein Sex-Appeal nichts nützen, falls du dich als eine Bedrohung für jene entpuppst, die zu beschützen ich gelobt habe.« Ihre Krallen gruben sich tiefer. »Wirst du auch noch so betörend sein, wenn ich dir die Kehle herausreiße?«

Er sah sie weiter unverwandt an und legte den Kopf auf die Seite.

Ihre Wölfin drängte nach vorn.

4

Arbeite an deiner Disziplin, Selenushka. Die immensen Kräfte, die du jetzt schon besitzt, erlauben keine unüberlegten Reaktionen oder Angriffe. Heute hättest du beinahe einem Gefährten in einem Wutanfall den Arm abgerissen. Morgen schnappst du vielleicht nach jemandes Kehle. Mit der nötigen Selbstbeherrschung bist du ein Gewinn für das Rudel. Ohne sie bist du eine Bürde.

Leitwolf Yevgeni Durev zu seiner Enkelin Selenka (12)

Selenka besann sich mit aller Macht auf die Selbstdisziplin, die zu entwickeln sie Jahre gekostet hatte. Leidenschaftliche Gefühle waren sowohl ihre größte Stärke als auch ihre größte Schwäche. Sie liebte ihr Rudel mit glühender Hingabe und wurde dafür von allen verehrt. Doch die Kehrseite davon war ein hitziges Temperament, das ihr als Jugendliche den Ruf einer Rabaukin eingebracht hatte.

Blin! Nicht zu fassen, dass ihre Wölfin fast außer Kontrolle geraten war. Ihre Sehnsucht nach Körperkontakt musste stärker sein, als ihr bewusst gewesen war. Nun, dieses Problem würde sie mithilfe des Pfeilgardisten, der ohne jede Angst einer Alphawölfin seine Kehle dargeboten hatte, lösen – allerdings erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er keine feindlichen Absichten hegte und sie ihre Pflichten gegenüber dem Symposium erfüllt hatte.

Sie ließ Ethan stehen und half einem Empathen, der taumelnd aufgestanden war, sein Gleichgewicht zu finden. Mit den großen, arglosen Augen eines Kindes legte der schwerfällige Mann den Kopf auf ihre Schulter und schlang die Arme um sie. Ohne Zögern erwiderte Selenka die Umarmung und streichelte seinen zitternden Rücken. E-Mediale weckten denselben Beschützerinstinkt in ihr wie die untergeordneten Mitglieder ihres Rudels, weil sie genauso hilflos waren.

»Alles in Ordnung«, versicherte sie ihm mit ruhiger Stimme.

Er schmiegte sich noch enger an sie. Seufzend drückte sie ihn an sich und strich mit der Nasenspitze über sein Haar. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als Ethan Anstalten machte, den Mann von ihr wegzuziehen. Sie würde ihm einen Krallenhieb in sein hübsches Gesicht verpassen, wenn er es auch nur versuchte. Doch der Gardist war klug genug, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis der E-Mediale sich genügend beruhigt hatte, um sich aus der Umarmung zu lösen und sich einem Grüppchen Kollegen anzuschließen.

»Du bist eine Leitwölfin.« Ethans sinnliche Stimme legte sich wie ein Mantel um sie. »Wieso hast du dieses übergriffige Verhalten zugelassen?«

»Weil man schutzbedürftige Empathen nicht zurückweisen sollte.« Das wäre wie ein Tritt vor das Schienbein. »Ein guter Anführer weiß, wann eine Umarmung angebracht ist und wann eine harte Rückmeldung.«

Mit unbewegter Miene entgegnete er: »Warum fühle ich mich zwanghaft zu dir hingezogen?« Seinem Tonfall nach schien ihn diese emotionale Regung nicht weiter zu beunruhigen. »Ich möchte dich berühren, dich küssen.«

Bei einem anderen Mann hätte sie das als Flirtversuch interpretiert, doch in Ethans Fall … war es einfach nur eine freimütige, kühle, sachliche Feststellung. Er hatte das Bedürfnis, ihren nackten Körper mit Händen und Lippen zu erkunden, und fand keine Erklärung dafür.

Aber seine Stimme, als er diese unverblümten Worte äußerte …

Ihre Wölfin rieb sich von innen an der Haut. Selenka wusste, dass Mediale das Bewusstsein von Gestaltwandlern nicht beeinflussen konnten, andernfalls hätte sie auf telepathische Manipulation getippt. »Der Körper hat eben gewisse Bedürfnisse, das ist die einzige Antwort, die ich dir geben kann.«

Dunkle Begierde loderte in seinen Augen auf. »Wollen wir das jetzt gleich erörtern? Damit du entscheiden kannst, ob du mich tötest … oder mir erlaubst, diesem Drang nachzugeben?«

Selenkas Blick wanderte wieder zu seiner Kehle. Der hohe Kragen seiner schwarzen Uniformjacke würde sie nicht vor Wolfszähnen schützen – was Ethan im Übrigen gar nicht wollte. »Nein. Das holen wir nach, sobald wir unter uns sind.« Hier gab es zu viele Zuhörer, und was immer Ethan ihr zu sagen hatte, war allein für ihre Ohren bestimmt, sonst hätte er in Valentins Gegenwart darüber gesprochen.

Ein Knurren stieg tief aus ihrer Brust auf, als ihre Wölfin sich ihr auf eine noch nie da gewesene Weise widersetzte. Ihr Verlangen nach Ethan ließ sie alle Vorsicht und Vernunft fahren. Mit äußerster Willenskraft brachte Selenka sie unter Kontrolle und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann ihr gegenüber zu. Er musterte sie, als wollte er sich auf sie stürzen, dennoch fühlte sie sich nicht bedroht.

Weil im Gesicht dieses rationalen Pfeilgardisten derselbe nackte Hunger stand, den sie momentan in sich spürte.

Was immer es damit auf sich hatte, es war kein Versuch geistiger Manipulation. Sondern eine Anziehung, die derart übermächtig war, dass sie sich beide nicht mehr im Griff hatten. »Lass uns über etwas anderes reden«, sagte sie scharf. »Erzähl mir von deiner telekinetischen Gabe. Und zwar so detailliert wie möglich.«

»Meine Fähigkeit besteht darin, vorhandene Lichtwellen umzuformen und zu bewegen.«

»Heißt das, im Dunkeln ist deine Gabe nutzlos?«

Er wurde ganz still, und sie wusste instinktiv Bescheid. Ethan hatte lange Zeit in der Dunkelheit verbracht, und zwar ganz und gar nicht freiwillig. Um einen Medialen, dessen Kräfte an Licht gebunden waren, gefügig zu machen, gab es keine bessere Methode als die, ihm den Zugang zu der von ihm benötigten Energie zu verweigern.

Innerlich kochend vor Wut, machte sie eine wegwerfende Handbewegung. »Egal.« Sie würde Ethan nicht aushorchen, nicht hier, wo andere zuhören konnten. Manche Verletzungen waren Privatsache, man zog nur ausgewählte Personen ins Vertrauen. »Da ist noch eine Empathin, die desorientiert wirkt.«

Die Frau stürzte sich regelrecht in Selenkas Arme, während Ethan sich bückte und einem Jugendlichen auf die Füße half. Selenka kannte den kardinalen E-Medialen bereits, er war vor einigen Stunden zu ihr gekommen, um sie auf die farbigen Strähnen in ihren Haaren anzusprechen. Er selbst hatte kurz geschnittene krause Locken.

»Ich habe einen Jungen gesehen, der sich ein Streifenmuster in die Haare rasiert hat«, hatte er gesagt. »Vielleicht mache ich das auch. Ivy ist zurzeit mein Vormund, und sie hat es erlaubt, aber sie meint, dass ich mir ganz sicher sein muss, weil es eine Weile dauern wird, bis die Haare wieder nachgewachsen sind.«

Nun starrte der Junge Ethan blinzelnd an. »Ich kann dich nicht sehen.« Seine Stimme zitterte, seine ebenholzschwarze Haut war fahl geworden.

»Ich werde einen Sanitäter rufen, damit er deine Augen untersucht.«

»Nein.« Der Teenager ergriff Ethans Arm. »Ich kann dich zwar sehen, aber nicht wirklich wahrnehmen … halt, warte.« Nachdenkliche Falten erschienen auf seiner Stirn. »Du hast dich in dir selbst verloren, aber du existierst noch. Du darfst dich nicht auflösen. Wirf die Bruchstücke nicht weg. Du kannst sie wieder zusammensetzen.«

Ethan stand wie versteinert da, während der Empath kurz seinen Arm tätschelte, ihn dann losließ und sich seinen Weg zu Ivy Jane Zen bahnte, die den schlaksigen Jungen an sich drückte und auf die Schläfe küsste.

Selenka vermutete, dass die Worte seiner Benommenheit entsprungen waren, trotzdem hatten sie bewirkt, dass sich die feinen Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten. Vor allem, weil sie wusste, dass er von Sascha Duncan persönlich ausgebildet wurde, der erfahrensten Empathin weltweit. Die Kräfte des jungen E-Medialen waren gewaltig.

Ethan schwieg mit eisiger Miene und ohne die Augen von ihr abzuwenden. Sobald sie wieder allein war, trat er auf sie zu.

Wirf die Bruchstücke nicht weg.

Mit einer Verzweiflung, die keinen logischen Sinn ergab, nutzte ihre Wölfin den Umstand, dass Selenka mit ihren Gedanken ganz bei dem Mysterium war, das den Gardisten umgab, indem sie sie mit einem kraftvollen Satz gegen Ethans Brust stieß. Ihre Blicke versenkten sich ineinander, während sie um Atem rangen.

Seine starken Hände umfingen ihre Hüfte und hielten sie fest. Mit allen Sinnen griff sie nach seinem versehrten Herzen, als eine kalte, von gleißend hellen Lichtsplittern durchwirkte Dunkelheit in ihrem Kopf explodierte.

Seine Augen färbten sich schwarz, seine Finger gruben sich in ihre Haut.

Aber er versuchte nicht, sie zurückzudrängen.

Mit der unbeherrschten Besitzgier ihrer Wölfin erhob Selenka Anspruch auf ihn, und er bekannte sich zu ihr.

Sie starrte ihn an, ihre Atemzüge waren flach, ihr Herzschlag dröhnte laut wie Donner. Auf seiner Haut schimmerten Schweißperlen, seine Halsschlagader pulsierte wie verrückt. Ihr Blut erstarrte zu Eis, als ein kaltes Licht durch sie hindurchfloss, das von etwas Dunklem, Andersartigem kündete. Das Band erzeugte ein statisches Rauschen, es war zu porös, zu fragil.

»Das war nicht vorgesehen.« Ihre Stimme klang heiser und gepresst.

»Was ist passiert?« Seine Augen waren vollkommen schwarz. »Wieso ist da –« Er schüttelte den Kopf. »Ich spüre ein fremdes Bewusstsein in mir.«

»Willst du, dass es sich zurückzieht?« In dem Fall wäre die Katastrophe perfekt.

»Ich weiß es nicht.« Dumpfe Worte. »Wem gehört es?«

Die anwesenden Wölfe waren ganz still geworden, so als lägen sie auf der Lauer, darum bemühte sich Selenka um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck und Tonfall.

»Mir«, flüsterte sie, ihre Stimmbänder waren wund von einem Schrei, den sie nie ausgestoßen hatte. »Dieses Bewusstsein gehört mir. Wir haben …« Sie unterdrückte ein Knurren. »Es scheint, als hätten wir ein Paarungsband geschlossen, nur fühlt es sich nicht richtig an.« Zwischen ihnen ragte eine dichte, nebelgraue, mit scharfkantigen Scherben bewehrte Mauer auf. Ihre Wölfin fletschte die Zähne. »Ich spüre dich nicht so, wie Gefährten es sollten.«

Ethan bewegte keinen Muskel, er blinzelte noch nicht einmal.

Selenka trat einen Schritt zurück und unterbrach den Körperkontakt. »Bitte mich nicht um eine Erklärung. Ein solches Band kommt normalerweise nicht auf diese Art zustande – nicht ohne Werbung, den Paarungstanz, das gegenseitige Kennenlernen.«

Ethan war ein Fremder für sie … und sie passten nicht zusammen. Sie kannte genügend Paare, die diese tiefe Verbindung eingegangen waren, um zu wissen, dass ihr Band ein furchtbarer Irrtum war. Anstatt ihre Seele mit seiner zu einem Ganzen zu vervollständigen, überschwemmte Ethan sie mit Wellen von Dunkelheit, die ihrer Wölfin das Nackenfell zu Berge stehen ließen.