Age of Trinity - Die Stunde der Wächter - Nalini Singh - E-Book

Age of Trinity - Die Stunde der Wächter E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Age of Trinity - Die Welt der Medialen steht vor dem Abgrund

Das geistige Netz der Medialen steht vor dem Kollaps und droht zu zerfallen. Nun schlägt die Stunde der Anker. Sie müssen das fragile Medialnet stabilisieren und sind die letzte Hoffnung auf Überleben. Einer der Anker ist Canto Mercant, ein Kardinalmedialer, für den Familie und Loyalität alles ist. Um die zu schützen, die er liebt, braucht Canto die Hilfe einer Frau, zu der er aufgrund seiner dunklen Vergangenheit eine besondere Verbindung hat - und die der mächtigste Anker überhaupt ist: Payal Rao, CEO eines einflussreichen Unternehmens. Sie ist die perfekte Mediale: schön, gnadenlos und ohne Gefühle. Und doch rührt Canto etwas in ihr, das sie noch nie gespürt hat ...

"Nalini Singh verbindet eine spannungsgeladene Story mit einer wunderschönen und bedeutsamen Liebesgeschichte - der Grund, warum wir immer wieder zu der Serie zurückkehren." SMEXYBOOKS

Der 5. Band der AGE-OF-TRINITY-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh

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Seitenzahl: 522

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Anker

1

Früher

2

Früher

3

Früher

4

5

6

7

Der Architekt

8

9

10

Früher

11

12

13

14

Früher

15

16

17

18

19

Der Architekt

20

21

22

23

24

25

26

27

28

Der Architekt

29

30

31

32

33

34

35

36

Medizinische Vermerke zu Payal Rao von Jaya Storm, Empathin

37

38

Chat-Verlauf zwischen Yakov und Pavel Stepyrev

Interview mit Payal Rao Coco Ramirez, Medialnet-Bake

39

40

41

Der Architekt

42

Der Architekt

43

44

45

46

47

Divergenz

Danksagung

Die Autorin

Nalini Singh bei LYX

Impressum

NALINI SINGH

Age of Trinity

DIE STUNDE DER WÄCHTER

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Das geistige Netz der Medialen steht vor dem Kollaps und droht zu zerfallen. Es sind die Anker, die das fragile Medialnet stabilisieren und über es wachen, doch ihre Zahl schrumpft. Und obwohl die Anker gewöhnlich alleine im Hintergrund arbeiten und den Kontakt zu ihrem Volk meiden, sieht Canto Mercant nur eine Chance für den Fortbestand des Netzwerks und damit für das Überleben ihrer Spezies: Die A-Medialen müssen sich zusammentun und in die Entscheidungen der Regierungskoalition eingebunden werden. Daher kontaktiert er verschiedene Anker, die große Gebiete betreuen, darunter auch Payal Rao, CEO des RAO-Imperiums. Sie ist die perfekte Mediale: schön, gnadenlos und ohne Gefühle. Canto staunt nicht schlecht, als die als Roboter verschriene Kardinalmediale aus Delhi vor ihm steht, handelt es sich doch um das kleine Mädchen, das ihn einst vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Er hat sie nie vergessen und nach seiner Rettung stets nach ihr gesucht. Schnell flammen bei Canto, der nicht in Silentium war, alte Gefühle wieder auf. Aber Payal kann es nicht riskieren, ihre Schutzschilde zu senken und sich auf Canto einzulassen, macht sie sich doch damit gegenüber ihrer Familie angreifbar. Allerdings fällt es ihr mit jeder Begegnung schwerer, sich gegen die Anziehung, die Canto auf sie ausübt, zur Wehr zu setzen …

ANKER

Die Anker bilden die Grundpfeiler des Medialnet.

Sie sind nicht einfach nur ein wesentlicher Bestandteil des für die Medialen lebensnotwendigen geistigen Netzwerks.

Die Anker sind selbst dieses Netzwerk.

Ohne sie kann es nicht existieren.

Sollten sie versagen, würde das Medialnet gleich einem zu straff gespannten Gummiband reißen und sämtliche Bewusstseinssterne würden wie durch einen einzigen tödlichen Peitschenhieb ausgelöscht.

Dennoch verschwendet der Großteil der Bevölkerung niemals einen Gedanken an die Anker.

So wie die Menschen und die Gestaltwandler nicht über die Fundamente ihrer Häuser nachdenken.

Sie sind einfach da.

Genau wie die Anker.

Bis sie von der Bildfläche verschwinden – der letzte Atemzug einer sterbenden Gattung.

1

Wenngleich ich noch immer in Silentium bin und es wohl auch für den Rest meines Lebens sein werde, ist mir Payal Raos roboterhafte Kälte vollkommen fremd. Sie zeigt die Art von schwerem Defekt, den man mit Psychopathen assoziiert, und ich scheue mich nicht, das offen auszusprechen.

Aus einem in der Aprilausgabe 2083 des Singapore Business Quarterly erschienenen Interview mit Gia Khan

Stets auf alles vorbereitet zu sein hatte Payal den Weg zur Geschäftsführerin des Rao-Konzerns geebnet. Überraschungen waren ein Feind, den es zu eliminieren galt – anders als der überwiegende Teil ihrer Gattung war sie nämlich wenig optimistisch, was die utopische Vorstellung einer Welt ohne die emotionslose Herrschaft von Silentium betraf.

Hundert Jahre lang hatte das Programm die Medialen mit eiskalter Gnadenlosigkeit in Ketten gehalten. Payal verfügte nicht über genügend Daten, um zu sagen, ob Silentium ein Fehlschlag gewesen war, doch sie wusste, dass Gefühle mit zahlreichen Problemen einhergingen, sie jede erdenkliche Schwachstelle preisgaben.

Früher einmal hatte sie gefühlt. Die Empfindungen hatten einen höllischen Schmerz ausgelöst – und ihr beinahe einen Rehabilitationsbefehl eingebracht. Würde sie nicht zur seltenen und hochgeschätzten Kategorie der kardinalen TK-Medialen gehören, hätten die Ärzte sie einer Gehirnwäsche unterzogen, nach der sie eine zombieartige Kreatur ohne jeden Verstand gewesen wäre.

Lieber sollte man sie für eine roboterhafte Psychopathin halten – wie Gia Khan sie vor einigen Monaten so eindrucksvoll beschrieben hatte –, als dass sie ihre Schilde senken und sich ihren Feinden als ungeschütztes Ziel darbieten würde. Payal hatte nicht die Absicht, sich unter die Toten und Vergessenen wie ihren Großvater, ihren Onkel und ihren älteren Bruder Varun einzureihen.

Umso bemerkenswerter war es, dass die Nachricht, die soeben auf ihrem privaten Organizer einging, sie vollkommen unvorbereitet traf. Und das nicht nur wegen des Inhalts. Nein, noch erstaunlicher war die Anschrift, an die das Schreiben gesendet worden war, nämlich an einen E-Mail-Account, den sie eingerichtet hatte, nachdem sie zusehen musste, wie ihr Vater seinen Erstgeborenen hinrichten ließ, weil dieser sich gegen ihn verschworen hatte.

Pranath Rao war niemand, der Verrat vergab.

Payals fünfzehn Jahre älterer Bruder Varun war nur deshalb erwischt worden, weil er die Arroganz und Torheit besessen hatte, zum Schmieden seines aufrührerischen Komplotts die offiziellen Kanäle zu benutzen. Er musste geglaubt haben, dass ihr Vater seinem zum Firmenerben auserkorenen Sohn nicht hinterherspionieren würde. Ein fataler Irrtum.

Als Strafe hatte Pranath seinen Sohn telekinetisch auf dem Boden fixiert und ihm von einem auf Zweikampf spezialisierten Telepathen das Gehirn zerquetschen lassen, bis Blut aus seinen Augen sickerte und Hirnmasse aus seinen Ohren quoll. Varun hatte sich die Seele aus dem Leib geschrien, dann war nur noch ein pfeifendes Gurgeln zu hören gewesen.

Payal wusste das deshalb, weil sie und ihr anderer Bruder Lalit der Exekution beiwohnen mussten.

Der M-Mediale, der anschließend einen natürlichen Tod bescheinigte, stand auf Pranath Raos Gehaltsliste.

Während der Sarg ihres Bruders nach einer »respektvollen«, den Regeln von Silentium entsprechenden Trauerfeier zum Krematorium gebracht worden war, hatte die erst neunjährige Payal gründlich nachgedacht. Taktiert. Dazugelernt. Sie würde nicht im Feuer enden. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ihr Vater noch immer zwei lebende Erben, und er war jung genug, um weitere zu zeugen.

Was er zwölf Jahre später in die Tat umsetzte, indem er seine Nachkommenschaft um Karishma erweiterte. Der große Abstand war dabei durchaus beabsichtigt. Pranath hatte gewartet, bis seine anderen Kinder das Erwachsenenalter erreicht hatten, bevor er ihnen bewies, dass sie keineswegs von unersetzbarem Wert für ihn waren.

Er konnte sich jederzeit von ihnen lossagen und von vorn beginnen.

Payals geheimer E-Mail-Account war nur ein Aspekt ihrer Überlebensstrategie.

Obwohl sie inzwischen eine gewisse Macht besaß, griff sie ausschließlich über einen verschlüsselten Organizer darauf zu, auf dem sie eine eigene IP-Adresse eingerichtet hatte, die über so viele in der ganzen Welt verstreute Server gefiltert wurde, dass keine direkte Verbindung zu Payal Rao, CEO des Rao-Konzerns, hergestellt werden konnte.

Dass diese Person sie dennoch identifiziert hatte, wies auf ein gefährliches Maß an Kompetenz und Wissen hin.

Doch die wahre Gefahr lauerte in dem Text an sich.

Wir sind uns nie begegnet, Payal, trotzdem verbindet uns etwas sehr Wesentliches. Um es geradeheraus zu sagen: Ich weiß, dass Sie ein Hauptanker und zugleich der Grund dafür sind, warum das Medialnet im Großraum Delhi bisher kaum beschädigt wurde. Selbst diese wenigen Brüche und Risse hätten vermieden werden können, wären Sie nicht ausschließlich auf die Unterstützung von Hilfsankern und Sicherungen angewiesen, um das Netz zu stabilisieren.

Unsistbeidenklar,dasswirohnedieseverlorenwären,darumwillichihreRollekeinesfallsherunterspielen,dennochbrauchtenSiemindestensdreiweitereHauptanker,derenEinflussbereichesichmitdemIhrenüberlappen.So,wieesdamalswar,alsSieZugangzumSubstraterhielten.

Ich bin in derselben schwierigen Lage wie Sie, ein bis zum Äußersten strapazierter A-Medialer, dem kein Fehler unterlaufen darf. Und die Situation spitzt sich von Tag zu Tag weiter zu. Ich denke, wir sollten das Schicksal unserer Kategorie nicht länger in die Hände der medialen Führungsriege legen. Die Regierungskoalition steht noch am Anfang und könnte uns wohlgesonnener sein, als es der frühere Rat war, nur dürfen wir uns nicht den Luxus erlauben, darauf zu spekulieren.

Das geistige Netzwerk würde ohne die Anker nicht überleben.

Und doch sind wir nur Phantome.

Beschützt. Abgeschirmt. Umhegt.

Gefangen. Unterdrückt. Kontrolliert.

Daran trägt unsere Kategorie nicht weniger Schuld als die alte und die neue Regierung. Sie wissen so gut wie ich, dass sich die Funktionsfähigkeit der meisten Anker auf deren Aufgaben im Medialnet beschränkt und sie sich nach Möglichkeit vom Rest der Welt abkapseln.

Sie hingegen zählen nicht zu dieser Gruppe, sondern fungieren als Geschäftsführerin eines großen und einflussreichen Familienunternehmens. Tatsächlich funktionieren Sie dermaßen einwandfrei, dass jemand, der Sie nicht kennt, niemals A-Anlagen bei Ihnen vermuten würde.

Damit sind Sie zur perfekten Repräsentantin bestimmt, um bei Zusammenkünften der Regierungskoalition unsere Kategorie zu vertreten. Weil das Medialnet im Verfall begriffen ist und niemand es besser kennt als jene, die Teil seiner Struktur sind.

Falls es kollabiert, wird es keine Raos mehr geben.

Und auch keine Anker. Oder sonstige Mediale.

Dies könnte der Anfang vom Ende unserer Gattung sein.

Es sei denn, wir handeln.

Payal erhob sich von ihrem Schreibtisch und trat zu der doppelflügeligen Rundbogentür. Beim Bezug dieses Arbeitszimmers hatte sie den Türrahmen gelassen, wie er war, die verwitterten und verzogenen Paneele jedoch durch Glas ersetzt, um freie Sicht auf das allgegenwärtige Gewimmel in der Altstadt von Delhi zu haben.

Ihr Zimmer befand sich in einem ehemaligen, an antiken Kunstschätzen reichen Palast, dessen Grundriss ebenso einmalig war wie die eigentümlich geformten, leuchtenden Buntglasfenster, die die Mauern unterbrachen; auch hinter Payals Schreibtisch befand sich ein solch farbenprächtiges Exemplar. Der Palast war der Familienstammsitz der Raos und beherbergte neben ihren privaten Gemächern auch ihre repräsentativen Büros. Sein Name lautete Vara.

Gesegnet.

Der Name stammte aus einer Zeit vor der Einführung von Silentium, bevor die Dunkelheit begonnen hatte, sich allmählich in dem alten Gemäuer einzunisten.

Das nicht sehr weitläufige, aber überaus gepflegte Anwesen war von kleineren Gebäuden aus etwa derselben Ära umgeben und überblickte ein wildes Durcheinander aus noch älteren Bauten und neuen Behausungen, die nur von Optimismus und dem einen oder anderen Nagel zusammengehalten zu sein schienen.

In starkem Kontrast dazu reckten sich in einiger Entfernung glänzende Wolkenkratzer dem Himmel entgegen.

Wie blanke Messer ragten sie aus dem Herzen der antiken Metropole hervor und konnten dem kontrollierten Chaos auf Delhis Straßen dennoch nichts anhaben. Die Stadt hatte ihre eigene Seele und war nicht bereit, sich den Regeln irgendeiner Zivilisation zu unterwerfen.

Gelegentlich erspähte Payal immer noch Affen in den Obstbäumen auf dem Grundstück, und die Tauben scherten sich kein bisschen um die Vogelabwehrsysteme, die die Hausmeister immer wieder aufs Neue installierten.

Und inmitten von alldem stand Vara, solide und beständig wie ein Fels.

Einst hatte ihr Vater überlegt, den Palast abzureißen und aus Stahl und Glas neu zu erbauen, dann jedoch entschieden, dass er ein wichtiges Symbol für die dauerhafte Machtposition der Raos darstellte. »Wir waren hier, lange bevor andere auftauchten und sich einbildeten, uns unsere Kontrolle über diese Stadt streitig machen zu können«, hatte er gesagt, als sie auf dem durch dekorative Zinnen vor Blicken geschützten Dachgarten, Varas höchstem Aussichtspunkt, gestanden hatten. »Und wir werden hier auch noch sein, wenn sie längst tot und begraben sind.«

Es war still und kühl in ihrem Arbeitszimmer, aber sobald sie auf den steinernen Balkon hinaustrat, würde sie von gellenden Hupen, lautem Geschrei und sengender Hitze empfangen. Die Monsunwinde, die eine Feuchtigkeit mit sich brachten, die sich wie dichter Nebel auf der Haut niederließ, hatten noch nicht eingesetzt.

Ihr Büro lag auf der Vorderseite von Vara, im zweiten Obergeschoss, und nur wenige Meter von der Straße entfernt, wo Mopeds mit waghalsiger Unbekümmertheit durch den Verkehr schwirrten, während vor dem Anwesen eine Schlange motorisierter Rikschas auf Kundschaft wartete.

In San Francisco oder Monaco würden Mediale angesichts solcher Transportmittel vermutlich die Nase rümpfen, in Delhi hingegen wusste man diese flinken, wendigen Gefährte zu schätzen, ließen sie sich doch um einiges leichter als ein Auto durch das dichte Verkehrsgetümmel navigieren. Besonders unerschrockene Autofahrer nahmen die schmalen Fahrspuren der Altstadt in Kauf, trotzdem war es wesentlich ratsamer, sich in diesen von Fußgängern und Fahrzeugen gleichzeitig frequentierten Zonen mit einem Moped fortzubewegen.

Das Verkehrschaos war ein Betriebsunfall der Geschichte. Delhi war zu einer Zeit, als es wichtigere Probleme zu bewältigen hatte, zu schnell gewachsen, und jetzt fehlte schlichtweg der Platz, um die Straßen zu verbreitern oder das U-Bahn-Netz auszuweiten. Rikschas würden auch künftig das Stadtbild prägen.

Sogar Payal nahm manchmal ihre Dienste in Anspruch, anstatt sich ihrer Teleportationsfähigkeiten zu bedienen. Es half ihr, den Finger am Puls der Stadt zu haben. Sie hatte zu viele mächtige Mediale untergehen sehen, weil sie keinerlei Einblick in das hatten, was außerhalb ihrer Blase der Isolation passierte.

Nikita Duncan war dafür das perfekte Beispiel: Trotz ihrer enormen finanziellen und politischen Kraft hatte die ehemalige Ratsfrau ihre einstige eiserne Kontrolle über ihren Heimatstützpunkt eingebüßt, während die Macht des DarkRiver-Rudels vor ihren Augen rasant wuchs. San Francisco würde nie wieder Nikitas Stadt sein.

Payal behielt auch andere kleine Gruppen, die wie die Leoparden zu viel Macht besaßen, aufmerksam im Blick. Sie beobachtete und lernte. Unentwegt.

Nach einigen Minuten wandte sie ihr Augenmerk von dem Treiben auf der Straße ab und betrachtete den Namen, mit dem die unerwartete E-Mail unterzeichnet war. Canto Mercant, Mercant-Unternehmen.

Mercant.

Der Inbegriff einer kleinen Gruppe, die zu viel Macht besaß. Obwohl ein Spross der Familie inzwischen zu den bekanntesten Gesichtern der Welt zählte, strebten die Mercants im Allgemeinen nicht nach Ruhm oder offenkundiger politischer Macht. Vielmehr agierten sie im Verborgenen als die wahren Drahtzieher im Medialnet, unterstützt von einem Netzwerk hochprofessioneller Spione, die angeblich Informationen über alle und alles besaßen.

Nur konnte das nicht ganz stimmen, weil das auf Payal definitiv nicht zutraf. Die Tatsache, dass sie zur A-Kategorie gehörte, war kein Geheimnis, das für sie zu einer Bedrohung werden konnte. Natürlich war sie in den Archiven der Regierungskoalition als Anker gelistet. Dennoch hängte sie ihren Status nicht an die große Glocke. Nicht zuletzt deshalb, weil der bekannteste telekinetisch begabte A-Mediale der vergangenen Jahre zu einem Serienmörder geworden war.

Wie also war es Canto Mercant gelungen, ihre Unterkategorie in Erfahrung zu bringen?

Zwischen Ankern und anderen Medialen bestand im Netz kein visueller Unterschied, folglich ließen sie sich auf diese Weise nicht identifizieren. Da die Gabe von Ankern noch »ruhte«, wenn in den ersten Lebensjahren die Kategoriezugehörigkeit bestimmt wurde, würde sich auch in den Akten aus ihrer Kindheit nichts finden lassen.

Tatsächlich wurde sie in sämtlichen öffentlichen Dokumenten als TK-Mediale geführt.

Eigentlich dürfte Canto Mercant ihren wirklichen Status nicht kennen. Sie jedenfalls hatte nicht einmal geahnt, dass es unter den Mercants einen Anker gab. Dazu noch einen wahren Anker, der die angeborene Fähigkeit besaß, sich vollständig mit dem Medialnet zu verbinden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Canto Mercant ein Kardinalmedialer.

Hauptanker ohne kardinale Fähigkeiten waren noch seltener als die A-Kategorie an sich.

Sie legte ihren Organizer auf den Schreibtisch und bat ihre Assistentin über die Gegensprechanlage: »Ruhi, bringen Sie mir die Akte über die Mercants.«

Früher

GravierendeVerhaltensstörungenundpsychischeProbleme,diesichinphysischemUngehorsamäußern.EskonntekeinemedizinischeUrsachefestgestelltwerden,diedieplötzlichen,mitunkoordiniertenBewegungen,Gleichgewichtsverlust,MigräneanfällenundBlackoutseinhergehendenSchübeerklärenwürde.

Vollkommene Umerziehung durch Vormund bewilligt.

Aufnahmebericht über 7J

Der Junge drängte heftig gegen die Mauern um sein Bewusstsein, die ihn gefangen hielten, ihn wehrlos machten. Sein Gehirn brannte wie Feuer, aber er konnte sie nicht zum Einsturz bringen, die Ketten, die seinen Geist fesselten, nicht sprengen.

»Steh auf!« Ein barscher Befehl.

Er hatte es schon vor Langem aufgegeben, sich widersetzen zu wollen – es war sinnvoller, seine Energie für eine lohnendere Rebellion aufzusparen –, aber diesen Befehl konnte er nicht befolgen. So sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, seine Beine zu bewegen, sie zuckten nicht einmal mehr.

Trotz des sengenden Schmerzes, der ihm die Wirbelsäule hochgefahren war, hatte er es ein paar Stunden zuvor geschafft, sich auf seinen tauben, bleischweren Beinen durch die Flure zu schleppen. Jetzt konnte er sie nicht einmal mehr fühlen. Dennoch quälte er sich weiter ab, während sein Verstand Mühe hatte, sich die Wahrheit einzugestehen.

Nichts. Keine Bewegung. Keine Empfindung.

Jeder erfolglose Versuch brachte eine neue Welle des Grauens mit sich, die nichts mit seinem Peiniger zu tun hatte.

»Du denkst, dies wäre ein Spiel? Man hat dich gewarnt, was passieren wird, wenn du mit diesem Theater nicht aufhörst!«

Eine unsichtbare Hand schloss sich um seine schmale Kehle, dann wurde er telekinetisch vom Boden des Klassenzimmers hochgehoben und gegen eine Wand geschmettert. Danach kam der Lehrer zu ihm und zertrümmerte ihm mit einem Gegenstand, den der Junge nicht sehen konnte, das Schienbein.

Der Schmerz hätte ihn in Stücke reißen müssen.

Aber er spürte nichts.

Womöglich hatte sein Gehirn vor Entsetzen einen Kurzschluss erlitten, doch dann sah er, wie der Mann, der ihn misshandelt hatte, seinen Hals umklammerte und nach hinten taumelte, derweil die anderen Schüler schreiend aus der Tür stürmten. Blut quoll zwischen den Fingern des Lehrers hervor und tropfte auf seine Uniform.

Er torkelte davon und entließ dabei den Jungen aus seinem telekinetischen Griff, worauf dieser zu Boden sackte.

Selbst jetzt spürte er keinen Schmerz.

Er hätte vor Angst und Sorge außer sich sein müssen, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen Mädchen mit den wild zerzausten Haaren, das auf ein Pult gesprungen war und dem Lehrer eine angespitzte Zahnbürste in die Halsschlagader gestoßen hatte. »Raus hier!«, brüllte er. »Lauf weg!«

2

»Der Junge hat das Neugeborene in seinen Schilden eingeschlossen.«

»Ist das Baby in Gefahr?«

»Schwer zu sagen.«

Ena Mercant zu Magdalene Mercant (Februar 2054)

Canto hatte keine Möglichkeit zu überprüfen, ob Payal Rao seine Nachricht gelesen oder auch nur erhalten hatte. Der Tracker, mit dem er die E-Mail verwanzt hatte, um verfolgen zu können, wann sie geöffnet wurde, war während des Versendens neutralisiert worden. Sowieso war es ein Schuss ins Blaue gewesen. Payal hatte es nicht zuletzt wegen ihres messerscharfen Verstands bis an die Spitze des größten Energiekonzerns in Südostasien und Indien geschafft.

Zwei der anderen Hauptanker, zu denen er Kontakt aufgenommen hatte, hatten ihm bereits geantwortet, leicht skeptisch zwar, jedoch durchaus interessiert. Aber wenn sein Plan aufgehen sollte, mussten sie Payal ins Boot holen. Canto und die anderen A-Medialen auf seiner Liste stachen durch ihre hohe Funktionalität in der realen Welt aus ihrer Kategorie hervor. Trotzdem war es Payal, die sogar den skrupellosesten Akteuren im Netz unweigerlich Respekt abnötigte.

Wieder betrachtete er ihr Foto auf dem Bildschirm, dabei hatte er sich schon vor Jahren, als er das erste Mal ihren Hintergrund durchleuchtete, ermahnt, sich nicht in diese Sache hineinzusteigern. Payal war eine Kardinalmediale indischer Herkunft. Mehr Gemeinsamkeiten gab es nicht zwischen ihr und 3K. Das kleine Mädchen war ein Ausbund an Emotionalität und Leidenschaft gewesen, das genaue Gegenteil von introvertiert und rational.

Sicher, Kinder veränderten sich, während sie heranwuchsen. Aber wäre 3K identisch mit Payal Rao, hätte sich bei ihr ein kompletter Wandel ihrer Persönlichkeit, ihres Temperaments vollziehen müssen. Nein, sie war nicht die Person, nach der Canto suchte. Obwohl 3K höchstwahrscheinlich schon lange tot war, konnte er nicht aufhören, ihr nachzuspüren. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Wie hätte er sie da einfach verloren geben können!

Wer immer 3K gewesen sein mochte, ihre Familie hatte jede Spur von ihr mit solcher Erbarmungslosigkeit gelöscht, dass nicht einmal das mächtige Netzwerk der Mercants einen Hinweis auf sie finden konnte. Womöglich hätte Canto inzwischen an seiner Erinnerung gezweifelt und 3K als reine Wahnvorstellung abgetan … wäre da nicht die Narbe auf seinem linken Schienbein gewesen, ein Andenken an die barbarische »Lehranstalt«, wo er fünf höllische Monate zubringen musste. Sie hatten schließlich den Lauf seines Lebens grundlegend geändert.

Payal Rao hingegen hatte eine private Mädchenschule in Delhi besucht. Weil er nun einmal von ihr besessen war, hatte er sich die internen Berichte besorgt und sogar sämtliche Klassenfotos aufgestöbert.

Er erkannte sie darauf, fand ihren Namen auf den Anwesenheitslisten. Die Bilder aus den Anfangsjahren waren leicht verschwommen und von geringer Auflösung. Das hatte ihn misstrauisch gemacht – bis er sich weitere von der Schule zu dieser Zeit hochgeladene Fotos angesehen und festgestellt hatte, dass sie alle dieselbe schlechte Qualität aufwiesen. Den Unterlagen zufolge hatte Payal an diversen Wahlkursen und Sportveranstaltungen teilgenommen.

Laut Cantos Großmutter hatte der ehemalige Rat Payal kurzzeitig sogar als weiteres Mitglied in Betracht gezogen. »Nicht offiziell«, hatte Ena eingeräumt. »Aber Santano Enrique fielen ihre Intelligenz und ihr Ehrgeiz auf. Letzten Endes wurde entschieden, dass Gia Khan und Kaleb die geeigneteren Kandidaten seien. Ich denke, es lag daran, dass Payal die Welt schwarz-weiß sieht und keine Schattierungen dazwischen.«

Die politischen Entscheidungen des Rats hatten sich allesamt in Grauzonen bewegt. Canto kannte sich in diesen Gefilden aus – er war immerhin ein Mercant und zog somit ein Schattendasein vor –, gleichzeitig faszinierte ihn Payals unverwechselbare Präsenz.

In ihr brannte ein eiskaltes Feuer der Entschlossenheit, mit dem sie jeden Raum für sich besetzte.

Canto hoffte, dass sie mit ihm und den anderen kooperieren würde.

Sollte sie nicht antworten, würde er trotzdem nicht kapitulieren. Diese Sache war zu wichtig.

»Ihr Mercants gebt niemals auf«, hatte Valentin einmal gebrummt. »Ihr verlegt euch auf eure Listigkeit.« Gewitterwolken zogen über sein kantiges Gesicht. »Ihr seid raffiniert wie Katzen.« Plötzlich lächelte er voll unverhohlener Freude. »Wie meine wunderschöne, raffinierte Mercant-Katze.«

Canto hatte sich nicht erst umsehen müssen, um zu wissen, dass Silver sich ihnen näherte. Valentin Nikolaev machte kein Hehl daraus, dass er bis über beide Ohren in seine Frau verliebt war. Auf die meisten Leute wirkte Silver vermutlich unterkühlt und unnahbar. Aber sie kannten eben Cantos jüngere Cousine nicht richtig.

Sie würde jedem, der Valentin verletzte, das Herz aus der Brust reißen.

Es war eine unerwartete Wendung gewesen, dass sie sich in ihn verliebt hatte – wenn auch etwas später als er sich in sie. Das wusste Canto von Arwen, jenem Mercant, der die Geschicke der Familie in eine andere Richtung gelenkt und Cantos Gefühlsleben neu ausgerichtet hatte.

Ohne 3K hätte er nicht überlebt.

Ohne Arwen wäre er ein verbitterter, zynischer Mann geworden.

Zum Dank hatte er Arwen beschützt. Für 3K hatte er jedoch nie etwas tun können, und das würde ihn verfolgen bis zu seinem letzten Atemzug.

»Diese nutzlose Obsession bringt dich noch ins Grab, Canto«, rekapitulierte er leise die Worte seiner Großmutter.

»Wir Mercants hatten schon immer einen Hang zur Besessenheit«, hatte sie noch hinzugefügt, »und das führte zu Haftstrafen, epischem Heldenmut, herausragender Kunst und der Einweisung in Irrenanstalten. Such dir etwas davon aus.«

Stirnrunzelnd wandte er sich dem Monitor links auf seinem Schreibtisch zu und loggte sich in die Seite des Dreigruppenbündnisses ein, um dessen Tagung live zu verfolgen. Gerade hielt Silver ihre Rede. Sie wirkte selbstsicher und gelassen und nicht im Mindesten davon eingeschüchtert, dass das im Saal versammelte Publikum aus den hellsten Köpfen aller drei Gattungen – Mediale, Gestaltwandler, Menschen – bestand.

Ebenso wenig schien es sie zu berühren, dass ihre Ansprache in die ganze Welt übertragen wurde. Als Leiterin des globalen Krisenreaktionsnetzwerks hatte sie gelernt, sich im Scheinwerferlicht zu bewegen und es für ihre Zwecke zu nutzen.

»Wir werden scheitern, wenn wir akzeptieren, dass kleinliche Streitigkeiten und Machtspiele uns entzweien. Unsere Gegner setzen darauf, dass wir von niederen Motiven getrieben sind, es uns an Großmut fehlt. Ihre Absicht ist es, sich diese Angriffsflächen zunutze zu machen, um die Weltordnung zu sprengen. Lassen Sie das nicht zu!«

Mit dieser Aufforderung verließ sie die Bühne.

Canto drehte seinen speziell für seine große, kräftige Statur entworfenen Rollstuhl mit den Händen um. Er verfügte zusätzlich über einen Hover-Antrieb, der ihn da unterstützte, wo er sonst nicht hingekommen wäre. Um seinem Wunsch nach einem schlanken Gefährt ohne Armstützen zu entsprechen, war das Bedienfeld samt elektronischem Bremssteuerungssystem an der rechten Seite des Sitzes installiert worden.

Das schwarze, halbkreisförmige Paneel bildete die Kontur der Räder nach und schien auf den ersten Blick nicht mehr zu sein als ein gestalterisches Element. Canto nutzte den Hover-Antrieb nur selten, viel lieber steuerte er den Rollstuhl manuell.

Durch diese unentwegte Kraftanstrengung blieb sein Oberkörper in Form. Doch ließ Canto es nicht dabei bewenden. In einem anderen Teil seines Hauses befand sich ein voll ausgestattetes Fitnessstudio inklusive eines Reha-Roboters, der ihm dabei half, seine gefühllosen Beine zu trainieren.

Schon früh hatte er sich gegen das Tragen eines Roboteranzugs entschieden, der Gehbewegungen ermöglicht hätte. Viele kamen mit einem solchen Exoskelett, das mittlerweile technisch wesentlich weiter entwickelt war als der Prototyp, gut zurecht. Canto zählte nicht dazu. Er hatte es mehrere Male ausprobiert und dabei ein Kribbeln wie von Ameisen in Gehirn und Rückenmark verspürt.

»Elektrobiogene Dissonanzreaktion«, hatten die Spezialisten für Robotertechnik gefolgert. »Auslöser könnte die neuartige Verdrahtung in Ihrer Wirbelsäule sein.«

Was immer die Ursache war, Canto verließ sich lieber auf seinen schnittigen schwarzen und außerordentlich wendigen Rollstuhl. Er steuerte in den hinteren Bereich seines großen, fensterlosen, voll klimatisierten Arbeitszimmers – Arwen nannte es das »Computer-Verlies« –, griff nach seinem Handy und schickte Silver eine Nachricht. Du warst grandios!

Er platzte fast vor Stolz.

Canto hatte lange vor dem offiziellen Untergang von Silentium mit dem Programm gebrochen. Ursache dafür war das Empathenkind gewesen, das hinter den hermetisch verschlossenen Schilden seines Ankers lebte, während gleichzeitig das Medialnet als endloser Strom sein Bewusstsein passierte, zusammen mit dem Strandgut Abermillionen Medialer, starken wie schwachen, tapferen wie feigen, guten wie schlechten.

Hinzu war seine Kindheit gekommen. Diese Lehranstalt war der letzte Akt eines Stücks gewesen, das mit seiner Geburt begonnen hatte und an dem er fast zerbrochen wäre. Ohne 3K und den zornigen Starrsinn, mit dem sie sich ihrer Unterwerfung widersetzt hatte, hätte Canto womöglich aufgegeben. Doch solange dieses zarte, ihm körperlich deutlich unterlegene Mädchen den Kampf fortsetzte, war auch er dazu verpflichtet. Nur hatte dieser Kampf jeden Glauben an Silentium in ihm ausgelöscht und durch blanke Wut ersetzt.

Im Traum hörte er 3K manchmal lachen, dabei hatte er diesen Klang im wahren Leben nur ein einziges Mal vernommen. Als ihr Lehrer ihnen einmal kurz den Rücken zukehrte, hatte Canto wild mit den Augen gerollt und die Wangen aufgeblasen, um die Mimik des Mannes zu imitieren, während dieser ihnen die Regeln einbläute.

Sie war in helles, schallendes Gelächter ausgebrochen, furchtlos und wild.

3K war die Stärkste von ihnen gewesen. Und dafür von den Ausbildern gezüchtigt worden.

Da er nicht mit einer schnellen Antwort Silvers rechnete, wandte er sich seinen Monitoren zu, als sein Handy summte. Er warf einen Blick auf die Nachricht. Zdravstvuyte, Canto. Silver unterhält sich gerade mit den Intelligenzbolzen. Sie war der Hammer, oder? Meine atemberaubende Starlight, die Frau, die keine Gefangenen macht.

In Sachen Temperament war Valentin das exakte Gegenteil von Canto. »Du bist ein unverbesserlicher Griesgram«, hatte Arwen ihm einen Monat zuvor vorgehalten. »Seit dem Fall von Silentium wird das Empfinden von Gefühlen nicht mehr mit Rehabilitation bestraft, aber anstatt die Sonnenseiten des Lebens zu genießen, gibst du weiterhin den Sauertopf. Hör augenblicklich damit auf, sonst besuche ich dich nie wieder.«

Canto hatte ein finsteres Gesicht gemacht und Arwen einen schweren Seufzer ausgestoßen. Natürlich kam er noch immer mit schöner Regelmäßigkeit vorbei. Empathen. Hatten sie einen erst mal ins Herz geschlossen, waren sie schwerer loszuwerden als Zecken.

Arwen hatte Cantos Worte mit einem Grinsen quittiert und die Kiste voll neuer Hemden geöffnet, die er ihm als Geschenk mitgebracht hatte. »Deine Definition von angemessener Kleidung beleidigt mein Auge, Canto. Das Teil, das du da trägst, geht nicht mal mehr als verschlissen durch. Es ist ein armseliges Fadengespinst, das allein die Furcht vor deiner miesen Laune zusammenhält.«

Tatsächlich kamen Canto und Valentin gut miteinander aus. Sogar mehr als gut. So eigenartig das klingen mochte, bahnte sich gerade zwischen ihnen eine Freundschaft an. Ja, antwortete er dem Bären. Und ich bin froh, dass du bei ihr bist. Im Medialnet wurden besorgniserregende Erschütterungen festgestellt. Und man beobachtet Silver mit Argusaugen.

Silver war nicht das einzige Ziel dieser Augen, und Canto hatte den vagen Verdacht, dass sie und einige andere den Interessen Dritter im Weg waren. Doch handelte es sich dabei nur um ein undeutliches, diffuses Gefühl, ähnlich den verschwommenen Visionen von schwachen V-Medialen, die hohe Skalenwerte vorgaukelten, um leichtgläubige Kunden hinters Licht zu führen.

Das Problematische an den Datenströmen, die ununterbrochen durch sein Bewusstsein flossen, war, dass er oft nur bruchstückhafte Informationen aufschnappte. Und selbst die konnte er in dem wasserfallartigen Getöse des Medialnet, das ein ständiges Pochen in seinem Kopf verursachte, nur mit Mühe festhalten.

Nachts träumte er von lautem Donnergrollen, das sich beim Aufwachen zu einem Hurrikan verstärkte.

Silver ist nach allen Seiten gegen geistige und körperliche Angriffe geschützt, versicherte Valentin ihm. Ich muss jetzt los, um zwei Trottel daran zu erinnern, dass sie vergeben ist und dass sie ihre lüsternen Blicke gefälligst unterlassen sollen. Also, bis später.

Valentin kannte Canto zu gut, als dass der letzte Satz einer Drohung gleichkam. Im StoneWater-Clan bedeutete »bis später« nämlich nichts anderes als »wir schmeißen eine Party, und du bist dazu eingeladen«. Bisher hatte Canto erst eine dieser Bärenpartys miterlebt, nämlich Valentins und Silvers Hochzeitsfeier. Es war ein unvergessliches Erlebnis gewesen.

Irgendwann hatte sich eine betrunkene Gestaltwandlerin in Menschengestalt auf seinen Schoß gesetzt. Herausgeputzt mit Paillettenshorts und einem strassbesetzten Oberteil hatte sie sich damit gebrüstet, dass sie zwei selbstgefällige Bären vermöbelt habe, die glaubten, sie im Kampf besiegen zu können. Anschließend war sie mit ihrem Kopf an seiner Schulter eingenickt.

Canto hatte sie zu einer von Valentins Schwestern gebracht.

Stasya hatte nur gelacht und sich die Frau über die Schulter gelegt. »Sieh es ihr nach, Canto. Aber du bist einfach zu niedlich. Etliche Mitglieder meines Clans würden sich gern mit dir vergnügen und verlegen sich auf vermeintlich subtiles Flirten.«

Bären und subtil?

Canto stieß ein Schnauben aus.

Nicht dass ihn die Unverblümtheit der Gestaltwandler grundsätzlich gestört hätte. Für einen Mann, dessen Aufgabe darin bestand, die dunkelsten Schatten zu erforschen, war der Kontakt mit Leuten, die das Herz auf der Zunge trugen und mit ihren Gefühlen nicht hinter dem Berg hielten, geradezu erfrischend.

Noch nie zuvor hatte ihn allerdings jemand als »niedlich« bezeichnet – zumal sein Haar zurzeit militärisch kurz geschnitten war, sich jeder Knochen in seinem Gesicht abzeichnete und er sich nur dann rasierte, wenn seine Wangen zu jucken anfingen. Doch er fand sich damit ab, dass er die Bären in vielerlei Hinsicht niemals verstehen würde.

Was »sich mit jemandem vergnügen« anging, war Canto bereits voll damit ausgelastet, dass das Medialnet pausenlos durch seinen Kopf strömte. Selbst Leute, die er mochte, konnte er nur schwer ertragen. Folglich hatte er weder das Verlangen, noch war es ihm überhaupt möglich, jemand anderen für einen längeren Zeitraum in seiner Nähe zu haben.

Anker waren aus gutem Grund Einzelgänger.

Jetzt musste er sie zu einer funktionierenden Einheit zusammenschließen. Andernfalls würden alle sterben. Jeder Einzelne.

Rahmenentwurf für einen Fortpflanzungsvertrag zwischen Binh Fernandez und Magdalene Mercant

7. März 2044

Präambel: Dieser Rahmenentwurf legt die wesentlichen Punkte für den geplanten Zeugungskontrakt zwischen Binh Fernandez und Magdalene Mercant fest, demzufolge die Vertragspartner Anspruch auf jeweils ein mit den genetischen Anlagen beider Parteien ausgestattetes Kind haben.

Unsere Kanzlei wurde gebeten, weitere Nachforschungen anzustellen und eine abschließende Meinung abzugeben, welche am Ende dieses Dokuments beigefügt ist.

Befruchtung: Sowie eine endgültige Einigung erzielt wurde, wird Binh Fernandez innerhalb von drei Monaten in einer einvernehmlich festgelegten Klinik unter ärztlicher Aufsicht die notwendigen Spermien zur Verfügung stellen.

Die Eizellentnahme bei Magdalene Mercant erfolgt sieben Tage vor diesem Zeitpunkt.

Man wird aus dem genetischen Material beider Parteien einen lebensfähigen Embryo erschaffen und diesen binnen einer medizinisch geeigneten Frist in Magdalene Mercants Gebärmutter einpflanzen.

In Anbetracht der Erfolgsrate bei dieser Art der Befruchtung ist ein Fehlschlag eher unwahrscheinlich; sollte es dennoch dazu kommen, werden zwei weitere Versuche unternommen.

Falls alle drei sich als vergeblich herausstellen, wird die genetische Partnerschaft für ungeeignet erklärt und sämtliche noch vorhandenen Keimzellen werden vernichtet. Der Fortpflanzungsvertrag wird auf verschuldensunabhängiger Grundlage aufgehoben, außer der von Binh Fernandez’ nachfolgend aufgeführten finanziellen Verpflichtungen.

Finanzielle Vereinbarung: Da es sich hierbei um einen dualen Fertilisationskontrakt handelt, erhält keine der Parteien eine Vergütung. Jedoch wird Binh Fernandez als Entschädigung für die gesundheitlichen Risiken und körperlichen Belastungen, die mit den Schwangerschaften einhergehen, sämtliche medizinischen Kosten für Magdalene Mercant übernehmen. Dies beinhaltet sowohl die Aufwendungen für die künstlichen Befruchtungen als auch für die prä- und postnatale Betreuung. Erfolglose Fertilisationsversuche entbinden Binh Fernandez nicht von diesen Pflichten.

Nachkommenschaft: Binh Fernandez übt das alleinige Sorgerecht für das erstgeborene Kind aus, Magdalene Mercant entsprechend für das zweitgeborene.

Vertragsauflösung: Der Kontrakt verliert seine Gültigkeit:

nach der Geburt des zweiten Kindes. Mr Fernandez ist ab diesem Zeitpunkt von seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber Ms Mercant entbunden, mit Ausnahme der bis zu sechs Monaten postnataler Versorgung nach ärztlicher Empfehlung.nach drei erfolglosen Versuchen*, eine zweite Schwangerschaft herbeizuführen.nach der Geburt des ersten Kindes, falls dieses körperliche beziehungsweise geistige Anomalien aufweist oder totgeboren wird. In diesem Fall wird die genetische Partnerschaft für ungeeignet erklärt, und beide Parteien werden von ihren vertraglich festgelegten Pflichten entbunden, mit Ausnahme der oben genannten postnatalen Versorgung. Ein lebendgeborenes Kind wird Mitglied der Familie Fernandez.

Sollte Magdalene Mercant durch eine der Schwangerschaften schweren körperlichen Schaden davontragen oder sterben, tritt das Entschädigungsabkommen aus Anhang 1 in Kraft.

* Sollte aus dieser Verbindung nur ein lebensfähiges Kind hervorgehen, wird gemäß Anhang 2 eine »familiäre Nachteilszahlung« ausgehandelt.

Zusatzklausel: Wie bei den Mercants üblich, wird diesem Vertrag eine Zusatzklausel hinzugefügt, der zufolge Magdalene Mercant konsultiert wird, sollte bei dem erstgeborenen und somit der Familie Fernandez angehörenden Kind eine Entscheidung über Leben und Tod anstehen.

Ein Verstoß gegen diese Klausel wird zur Folge haben, dass die Mercants zukünftig keinerlei Geschäftsbeziehung mehr mit den Fernandez pflegen werden, weder auf unternehmerischer Ebene noch in den Bereichen Informationsaustausch, Vertragsarbeit et cetera.

Diese Zusatzklausel bleibt von der Auflösung des Vertrags unbeeinträchtigt.

Es gelten die bei Fortpflanzungsverträgen üblichen Konditionen (im Anhang), so sie nicht im Widerspruch zu diesem individuell angepassten Rahmenentwurf stehen.

AbschließenderKommentar: Als Rechtsberater der Familie Fernandez stellen wir hiermit fest, dass die Zusatzklausel den einzigen ungewöhnlichen Punkt in diesem Dokument darstellt. Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass zuletzt im Jahr 2001 jemand gegen sie verstoßen hat. Sowohl die Mercants als auch deren Verbündete haben daraufhin jeglichen geschäftlichen Kontakt abgebrochen. Mit dem Resultat, dass eine einst mächtige Familie faktisch vom Erdboden verschwunden ist. Es gibt wohl keinen Verhandlungsspielraum, was diesen Punkt betrifft.

Vorausgesetzt, der Vertragspartner hält sich an die Abmachungen, sind die Mercants andererseits bekannt dafür, mit sämtlichen ihrem Genpool entstammenden Kindern Bindungen einzugehen und sie in den unterschiedlichsten Belangen zu unterstützen. Natürlich weiten sie auf diese Weise ihr Netzwerk aus, aber auch die andere Partei profitiert davon, weil die Mercants ihr als engem Kontakt bei Informationsersuchen Vorrang vor Dritten einräumt.

Überdies stammt Magdalene Mercant von der Hauptlinie der Mercants ab, welche durchgehend Nachkommen mit hohen Skalenwerten hervorbringt. In ihrer direkten Linie gibt es niemanden, der nicht mindestens eine sechs Komma fünf erreicht. Da Binh Fernandez ähnliche Voraussetzungen mitbringt, stehen die Chancen gut, dass auch die Rangzahlen ihrer Kinder weit über dem Durchschnitt liegen werden.

Demzufolge sind wir der festen Überzeugung, dass die vorgeschlagene Vereinbarung nicht nur fair ist, sondern sich in der Zukunft für die Familie Fernandez als überaus wertvoll erweisen wird. Wir empfehlen eine Fortsetzung der Verhandlungen, um den Vertrag abzuschließen und einen Zeitplan für das medizinische Prozedere festzulegen.

Früher

Das Mädchen weist signifikante psychische und mentale Defizite auf. Es ist ausgeschlossen, dass sein Zustand sich bessert und/oder es nach Hause zurückkehren kann.

Sein gesetzlicher Vormund hat alle notwendigen Maßnahmen genehmigt, allerdings muss seine Familie konsultiert werden, bevor wir entscheiden, die Behandlung endgültig abzubrechen.

Aktualisierter Bericht zu 3K

Anstatt zur Tür zu rennen, lief sie zu dem Jungen, der sie zum Lachen gebracht hatte, der ihr heimlich Essen zusteckte, wenn die Betreuer gerade nicht hersahen. »Los, steh auf!«, befahl sie ihm und zog an seiner Hand.

Der Lehrer gab gurgelnde Laute von sich, er erstickte an seinem eigenen Blut, doch sie schaute nicht hin, sondern versuchte, die Geräusche auszublenden. Sie hatte etwas sehr Schlimmes getan, aber der Mann hatte den Jungen verletzt. Ihm das Schienbein gebrochen!

»Mach schon!« Sie zerrte erneut an ihm. »Lass uns verschwinden, bevor jemand kommt!«

Doch er schüttelte den Kopf. »Ich kann meine Beine nicht bewegen«, keuchte er. »Sie sind nicht nur schwer und halb taub. Ich fühle sie nicht mehr.« Er schüttelte ihre Hand ab und gab ihr einen Schubs. »Du musst abhauen, bevor sie dich schnappen!«

Sie konnte ihn nicht einfach zurücklassen. Sie würden ihn weiter misshandeln.

Sie lief zu einem Pult und stieß und zog es in Richtung Tür. Es war schwer, aber schließlich schaffte sie es, den Eingang zu verbarrikadieren. Unterdessen war der Lehrer verstummt. Sie ging zurück zu dem Jungen, setzte sich neben ihn und packte mit festem Griff seine Hand.

»Nein«, beschied sie ihn, als er sie ein weiteres Mal aufforderte zu fliehen. »Ich bin niemand. Ich kann nirgendwo hin.«

3

Bitte teilen Sie mir den derzeitigen Status des von meiner genetischen Linie abstammenden Canto Fernandez, minderjährig, Alter: 8, mit. Wie mir berichtet wurde, ist er nicht länger offizielles Mitglied Ihrer Familie.

Ena Mercant, CEO der Mercant-Gruppe, an Danilo Fernandez, Geschäftsführer des Fernandez-Konzerns (29. Juli 2053)

Nachdem Payal alles zusammengetragen hatte, was ihre Familie über die Mercants wusste, suchte sie auf eigene Faust weiter. Trotz ihres Geschicks im Ausgraben von Informationen erwies es sich als unmöglich, irgendetwas über Canto Mercant in Erfahrung zu bringen, das über sein achtes Lebensjahr hinausging.

Auch in dem Zeitraum davor hätte sie um ein Haar keinen Hinweis auf ihn gefunden. Bis sie die Geburts- und Todesanzeigen im Medialnet-Bake durchforstete und dabei entdeckte, dass Canto zu Beginn seines Lebens einen anderen Nachnamen getragen hatte.

Binh Fernandez ist erfreut, die erfolgreiche Umsetzung seines Fortpflanzungsvertrags mit Magdalene Mercant bekanntzugeben. Der neugeborene Junge wird den Namen Canto Fernandez tragen.

Das musste er sein. Der Vorname war ungewöhnlich, und hier gab es eine Verbindung zu den Mercants.

Der mittlerweile verstorbene Binh Fernandez war der älteste Sohn des in Manila gegründeten Zweigs seiner Familie und Canto laut Stammbaum wiederum sein erstgeborenes Kind. Payals Recherche hatte ergeben, dass die Mercants nur selten Fortpflanzungsverträge schlossen, sie zogen es vor, die Zahl ihrer Familienmitglieder übersichtlich zu halten.

Die meisten von ihnen scheuten das Licht der Öffentlichkeit. Was Canto betraf, war er quasi nicht existent.

Allerdings waren die Informationen über ihn bereits bestenfalls lückenhaft gewesen, noch bevor die Mercants die Vormundschaft für ihn übernommen hatten. Die Geburtsanzeige bedeutete auch, dass die Fernandez großen Wert darauf legten, ihre Verbindung zu den Mercants publik zu machen. Zwei Monate später wies Binh Fernandez dann in einem Interview mehrfach auf seinen »Sohn und Erben« hin.

Danach folgte nichts mehr.

Nirgendwo tauchten Fotos des Kindes auf.

Es gab keine Schulakten.

Binh erwähnte den Jungen nie wieder öffentlich.

Woraus Payal folgerte, dass Canto einen Makel haben musste, der sich erst einige Monate nach seiner Geburt gezeigt hatte. Angesichts dessen, was sie in ihrer eigenen Familie erlebt hatte, stand sie derlei Beurteilungen mehr als skeptisch gegenüber. Ihr Bruder war ein Psychopath, trotzdem hatte er lange Zeit als perfekt gegolten, während sie selbst als »problematisch« eingestuft worden war und die vierzehnjährige Karishma als Bürde stigmatisiert würde, sollte ihr Vater je von ihrer seltenen genetischen Anomalie erfahren.

Payals jüngere Schwester war nur deshalb noch am Leben, weil die an Neugeborenen durchgeführten Standarduntersuchungen einen Test für diese Art von genetischer Abweichung nicht zum Inhalt hatten. Nichtsdestoweniger war die mit einem »Defekt« behaftete Kari in jeder Hinsicht ein größerer Gewinn als der nach außen hin vollkommene Lalit.

Aber man musste Köpfchen haben, um das echte Potenzial hinter dem vermeintlich sichtbaren zu erkennen.

Was auf die Mercants offensichtlich zutraf, andernfalls hätten sie jetzt nicht einen Hauptanker in ihren Reihen, und das ohne erkennbaren Widerspruch seitens der Fernandez. Cantos Name war zeitgleich mit Binhs Tod aus dem Familienstammbaum gelöscht worden, theoretisch konnte das die Erklärung für den Transfer sein, nur glaubte Payal nicht daran.

Mediale trennten sich nicht freiwillig von genetischem Kapital.

Unter dem Strich war das alles, was sie über Canto Mercant wusste. Die Tatsache, dass sie nicht ein einziges Foto von ihm hatte auftreiben können, deutete weniger auf Scheu vor öffentlicher Aufmerksamkeit hin als auf das bewusste Bestreben, unsichtbar zu bleiben.

Nicht einmal Ena Mercant, die Matriarchin der Familie, hielt sich in dem Maß bedeckt.

War es denkbar, dass die Mercants Canto nie wirklich akzeptiert hatten, er zu einem Leben im Verborgenen gezwungen wurde? Nein. Dafür war ihnen der Familienzusammenhalt zu wichtig, sie würden nicht erst Anspruch auf ein Kind erheben, nur um es anschließend wieder zurückzustoßen. Womit nur eine weitere Möglichkeit blieb: Canto war deshalb vollkommen unsichtbar, weil ihm das Informationsnetzwerk der Mercants unterstand.

So hatte er sie gefunden.

Noch immer ganz in Gedanken, trat sie auf den Balkon hinaus. Die Luft war heiß, aber dank einer von den in Delhi ansässigen Gestaltwandlertigern entwickelten Luftfilteranlage frei von Smog. Payal hatte von dem Rudel kürzlich die Lizenz für ein ähnliches System erworben, um mit dessen Hilfe die zwar geringe, aber dennoch durch einige Industriebetriebe der Raos verursachte Luftbelastung weiter zu verringern.

Trotz der guten Renditeprognose hatte ihr Vater sie eine Idiotin geschimpft, weil sie mit »den Tieren« verhandelt hatte. Nur war Pranath Rao inzwischen nicht mehr der Boss. Er mochte ein Ass im Ärmel haben, mit dem er sie auf persönlicher Ebene kontrollieren und seinem Willen unterwerfen konnte, gleichzeitig wusste er, dass sie ihn bis aufs Blut bekämpfen würde, wenn er sich in ihre Geschäftsentscheidungen einmischte.

Dies war eine neue Ära, und Payal würde das Rao-Imperium darin etablieren, um nicht abgehängt zu werden. Darum griff sie jetzt nach ihrem Handy und wählte über die verschlüsselte Verbindung die Nummer, die Canto Mercant in seinem Schreiben angegeben hatte. Sie hatte keine Ahnung, wo er sich aufhielt, noch, ob es dort gerade Tag oder Nacht war, doch als er nach dem vierten Klingeln dranging, klang seine tiefe Stimme zwar rau, aber hellwach.

»Canto«, blaffte er.

»Sie haben mir eine E-Mail geschickt«, begann sie, ohne ihren Namen zu nennen, obwohl davon auszugehen war, dass er noch weitere Anker kontaktiert hatte.

»Payal Rao.« Nicht das geringste Zögern. »Sie hören sich exakt so an wie in Ihren Interviews.«

Sie fragte sich, ob er damit auf den »Roboter«-Vergleich anspielte, der seither an ihr hing wie eine Klette. Falls ja, war das nicht verwunderlich. Sie achtete sorgsam darauf, ihre Schilde niemals zu senken, der Welt nur ja nicht das tobsüchtige Mädchen zu offenbaren, das sie in den hintersten Winkel ihrer Psyche verbannt hatte. Denn damit würde sie ihr eigenes Todesurteil unterschreiben.

Die Raos hatten die Lehre vom »Überleben der bestangepassten Individuen« zu einer Kunstform erhoben.

»Sie planen, eine Einheit aus Ankern zu erschaffen?« Payal wollte, dass dieses Phantom, das zu viel wusste, seine Karten auf den Tisch legte. »Zu welchem Zweck?«

»Bislang deutet alles darauf hin, dass die Regierungskoalition gute Absichten hat, doch sie trifft ihre Entscheidungen, ohne Kenntnis von einem maßgeblichen Faktor zu haben. Sie sind ein Hauptanker, daher wissen Sie genau, wovon ich spreche.«

Sein scharfer, herausfordernder Ton bewirkte, dass ihr Griff um das Telefon fester wurde. »Wir müssen uns persönlich treffen.« Mit einer gesichtslosen Stimme zu debattieren, entsprach nicht ihren Geschäftsgepflogenheiten. Sie wollte ihren Verbündeten in die Augen sehen können – und auch ihren Feinden. »Sie könnten ebenso gut ein zwölfjähriger Hacker aus Bangalore sein.«

Das war nicht als Witz gemeint, darauf verstand sie sich nicht. Aber sie besaß genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass ein Mensch oder ein Gestaltwandler gelacht hätte. Vielleicht sogar ein Empath. Der Rest ihrer Gattung musste sich erst noch daran gewöhnen, Gefühlsregungen zuzulassen.

Sie konnte nicht einschätzen, wo innerhalb dieses Spektrums Canto Mercant angesiedelt war, und seine Reaktion auf ihre Bemerkung lieferte ebenfalls keinen Hinweis. »Ich schicke Ihnen ein Bild, das sich als Portschlüssel eignet. Sagen wir, in fünfzehn Minuten?«

»Einverstanden.«

Sie beendete das Telefonat und ließ den Blick über ihre vor Lebendigkeit pulsierende Heimatstadt schweifen. Er blieb an einer Frau hängen, die sich mit katzenhafter Anmut durch die Straßen bewegte, und Payal erkannte selbst aus der Ferne, dass es sich um eine GoldenNight-Tigerin handelte.

Im Gegensatz zu vielen anderen Raubkatzengestaltwandlern mieden die in Indien beheimateten Tiger und Leoparden den Kontakt zur Stadtbevölkerung nicht, wenngleich sie sich wegen der dort herrschenden Enge nicht in den Ballungsräumen niederließen.

Sie verlor die Frau aus den Augen und beobachtete stattdessen, wie ein Moped mit einem rasanten Schlenker ein Auto überholte und drei mit Einkaufstaschen beladene Fußgänger kühn den Verkehr zum Erliegen brachten, indem sie einfach über die Straße marschierten.

Einmal hatte sie einen Geschäftspartner aus Genf bei sich empfangen, und der Mann war angesichts der dynamischen Aktivität der Stadt sichtlich schockiert gewesen. »Wie können Sie bloß hier leben? Die vielen Menschen, der furchtbare Lärm, alles ist so … unorganisiert.«

Das war ein Trugschluss.

Delhi war durch und durch organisiert. Zumindest aus Sicht der Einheimischen. Aber Payal war mehr als eine Einheimische dieser alten Stadt, mehr als die Geschäftsführerin des Rao-Konzerns – sie war ein Anker.

Mit diesen Gedanken nahm sie ein weiteres Mal ihren durch Verschlüsselungssoftware geschützten Organizer zur Hand und sah, dass Canto Mercant das versprochene Bild geschickt hatte: eine Oase inmitten einer Wüste. Zu den unverwechselbaren Merkmalen zählten die Anordnung einzelner Palmen sowie die Muster auf den flachen grauen Steinen, die als Pfad in einem weiten Bogen durch den Sand bis hinab zu einem kristallblauen Gewässer führten.

Die Sandkörner waren von einem solch hellen Gold, dass sie sich fragte, ob sie sich in die Wüste Gobi teleportieren würde, jenen Ort, wo die Dünen sangen und die untergehende Sonne die Felsenklippen in ein Flammenmeer verwandelte.

Sie konzentrierte sich auf das Bild und spürte, wie ihr Bewusstsein den Zielort ausfindig zu machen begann. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Dann hatte sie ihn; die Gewissheit brachte ihr Blut zum Rauschen. Wäre das Foto unscharf oder das Motiv zu nichtssagend gewesen, hätte ihr Gehirn sich nicht daran orientieren können, sondern wäre wie ein Pingpongball davon abgeprallt.

Payal war schon immer neugierig gewesen, ob andere TK-R-Mediale dasselbe wahrnahmen wie sie, aber sie hatte nie einem von ihnen genug vertraut, um danach zu fragen. Bei Angehörigen der A-Kategorie konnte schon die geringste mentale Abweichung Anlass zur Sorge geben. Weil die Psyche von Ankern generell nicht stabil war.

Ratsherr Santano Enriques blindwütiges Morden hatte diesen Glauben bei all denen, die von seinen Verbrechen wussten, nur weiter verfestigt. Zwar war der Großteil der Bevölkerung noch immer ahnungslos, doch gehörte Payal nicht zu dieser Gruppe.

Sie war eine kardinale TK-Mediale.

Sie war ein Anker.

Sie war haargenau wie Santano Enrique.

Früher

Findet Magdalenes Sohn. Findet Canto Fernandez.

Einsatzbefehl höchster Prioritätsstufe von Ena Mercant an ihr gesamtes Netzwerk (1. August 2053)

Der Junge wusste, dass die provisorische Barrikade seiner kleinen Retterin nur einen festen Stoß brauchte, um nachzugeben, doch er behielt das für sich. Denn selbst wenn sie wegliefe, gäbe es für sie keinen Zufluchtsort, denn diese Umerziehungsanstalt befand sich inmitten einer tiefverschneiten Wildnis. Außerdem war nicht nur seiner, sondern auch der Geist des Mädchens in einen Käfig eingesperrt, um ihre Gaben zu unterdrücken.

»Tut mir leid, dass du das tun musstest«, sagte er, während der Schmerz in Wellen loderndes Feuer durch seine Wirbelsäule jagte – ein schauriger Kontrast zu der Gefühllosigkeit in seinen Beinen.

Sie tätschelte seine Hand, die in ihrer lag. »Niemand hat mich dazu gezwungen.« Ihre Stimme war fest. »Er hat mir auch wehgetan.«

Trotzdem wusste er, dass sie im entscheidenden Moment bereit gewesen war zu töten, um ihn außer Lebensgefahr zu bringen. Der Lehrer hätte nicht von ihm abgelassen, nicht heute. Weil Cantos Tod niemanden kümmern würde. Die Kinder in dieser Einrichtung waren allesamt »defekt«, allesamt »unerwünscht«. Er und das Mädchen waren die einzigen Kardinalmedialen, doch nicht einmal ihre außergewöhnlichen Kräfte konnten ihre »Makel« aufwiegen.

Wäre da nicht sein kardinaler Status gewesen, Canto hätte sich gewundert, wieso sein Vater ihn nicht einfach stranguliert hatte, als offensichtlich war, dass er kein »normales« Kind war. Schon mit acht war ihm bewusst gewesen, dass Binh Fernandez über großen Einfluss verfügte. Die Polizei hätte den »unglücklichen Todesfall« eines Babys schnell zu den Akten gelegt.

Doch ein Kardinalmedialer, selbst ein gebrochener, konnte sehr nützlich sein. Darum hatte er Canto am Leben gelassen. Bis sein Verhalten zu seltsam wurde, um darüber hinwegsehen zu können. Sein Vater hatte ihn gewarnt, dass diese Erziehungseinrichtung seine letzte Chance sei, um sich »zu bessern und ein Fernandez zu werden«. Als könnte Canto die Fehlzündungen in seinem Kopf, die ihn Stimmen hören ließen, einfach abstellen und seinen Körper dazu zwingen, normal zu funktionieren.

Er sah seiner kleinen kardinalen Freundin in die Augen und überlegte, welche Fähigkeiten sie besitzen mochte. Doch er fragte nicht. So wie seine Gabe für sie ohne Bedeutung war, galt das umgekehrt ebenso. Jedenfalls solange ihrer beider Bewusstsein hinter Stacheldraht gefangen war. »Was wirst du tun, wenn du hier rauskommst und frei bist?«, erkundigte er sich stattdessen. Er wünschte sich Freiheit für sie mehr als für sich selbst – obwohl jünger als er, war sie schon länger hier und hatte stärker gelitten.

Bei seiner Frage verschwand der resignierte Ausdruck aus ihren Sternenaugen, sie wurde ganz munter und euphorisch. »Ich habe mal ein Video über eine Allee mit Bäumen gesehen, von denen rosafarbene Blüten herabregneten. Dabei habe ich mir vorgestellt, wie ich unter ihnen spazieren gehe. Das werde ich tun.« Sie drückte sacht seine Hand. »Was ist mit dir?«

Canto sagte es ihr und stellte weitere Fragen. Sie war so klug, so lebendig. Er genoss es, mit ihr zusammen zu sein, sich ihre Träume anzuhören. Sie erzählte ihm gerade von ihrem Lieblingstier, als die Tür aufgestoßen wurde. Man zerrte das Mädchen, das ihm das Leben gerettet hatte, von ihm weg, und erst da begriff er, dass er sich nie nach ihrem Namen erkundigt hatte. Hier benutzte niemand den echten Namen, sie waren nur Buchstaben und Zahlen.

Keiner von beiden bettelte um Gnade.

Diese Leute kannten kein Erbarmen.

Stattdessen hielten ihre Blicke einander in stiller Rebellion fest, bis man das Mädchen buchstäblich aus dem Zimmer schleifte. Einer der Erzieher versetzte Canto einen Tritt in den Magen. Cantos einzige Reaktion bestand in einem Röcheln, inzwischen hatte das taube Gefühl auch seinen Oberkörper erfasst. Der Mann schaute zu seiner Kollegin hinüber, die gerade den toten Lehrer untersuchte.

»Scheint ein echter medizinischer Notfall zu sein. Wir sollten lieber seine Familie benachrichtigen und ihre Anweisungen einholen.«

»Sicher, so ist es im Protokoll vorgesehen. Aber du weißt, wie die Antwort lauten wird. Er ist hier, weil er ein Problemkind ist, darum wird niemand lebenserhaltende Maßnahmen anordnen.« Kalte grüne Augen taxierten Cantos Gesicht. »Sein Vormund wird uns auffordern, ihn in sein Bett zu legen und eines ›natürlichen‹ Todes sterben zu lassen. Der Junge wäre besser dran, wenn ich ihm die Kehle aufschlitzen würde.«

4

Aktueller Anteil der Anker, bei denen Psychopathie diagnostiziert wurde: 14 %

Aktueller Anteil der Anker, bei denen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde: 27 %

Aktueller Anteil der Anker, bei denen eine erhebliche Gefährdung der geistigen Gesundheit diagnostiziert wurde: 43 %

Mediale Statistikbehörde (2067)

Canto traf fünf Minuten vor seiner Verabredung mit Payal in der Oase ein. »Danke für den Transport«, sagte er zu Genara, deren ebenholzfarbene Haut im Sonnenlicht schimmerte.

Sie hob zwei Finger an die Schläfe und salutierte knapp und fast schon zu übertrieben. Ihre kurz geschnittenen, eng am Kopf anliegenden Locken verstärkten den militärischen Eindruck ebenso wie ihre Körperhaltung.

Sie war die personifizierte Wachsamkeit.

»Hübsches Hemd«, bemerkte sie.

Canto schnitt eine Grimasse. »Arwen behauptet, es sei chromfarben. Dabei ist es ein stinknormales Grau.«

Genaras Miene blieb ausdruckslos. »Wie ich gehört habe, hat er deine restlichen Hemden mitgenommen und verbrannt.«

»Sei bloß still«, knurrte er. Obwohl Genara vollkommen in Silentium zu sein schien, standen sie und Arwen sich nahe. Und das war alles, was er über dieses neueste Mitglied des Mercant-Clans wissen musste.

Ena entschloss sich nur selten zu einer Adoption, doch wenn sie es tat, dann mit allen Konsequenzen, inklusive uneingeschränktem Vertrauen. Und wenn die knallharte Matriarchin bestimmte, dass Genara dieses Vertrauens würdig und nun Teil der Familie war, gab es daran nichts zu rütteln.

»Ja, Ma’am«, hatte Canto erwidert und sich wieder an die Arbeit gemacht, um eine unanfechtbare neue Identität für Genara zu erschaffen. Das Einzige, was er von seiner Großmutter hatte wissen wollen, war, wo sie diese nirgendwo registrierte TK-R-Mediale gefunden hatte. Canto war verantwortlich für das Informationsnetzwerk der Mercants, gleichwohl war Genara ein aus dem Nichts aufgetauchtes Mysterium.

Ena hatte einen Schluck von ihrem Kräutertee getrunken, bevor sie entgegnete: »Wie du weißt, möchte ich, dass du als Silvers rechte Hand fungierst, sobald sie nach mir die Familiengeschicke in die Hand nimmt.« In ihren teils unergründlich silberfarbenen, teils blaugrauen Augen lag ein ernster Ausdruck. Ihr weiches, weißes Haar war zu einem akkuraten Knoten geschlungen, ihre bronzefarbene Tunika wies nicht eine Falte auf. »Seit Silver mit ihrer Volljährigkeit zu meiner Assistentin wurde, ist mein Leben erheblich einfacher.«

»Solange ich trotzdem weiterhin im Hintergrund bleiben darf, spricht nichts dagegen.« Canto verspürte nach dem Licht der Öffentlichkeit in etwa so viel Verlangen wie nach dem grauenvollen hellgrünen T-Shirt, das Arwen ihm um jeden Preis andrehen wollte. »Was hat das alles mit Genara zu tun?«

»Das bleibt mein kleines Geheimnis, um dich bei der Stange zu halten.«

»Ich sollte kündigen«, grummelte er und nippte mit angewiderter Miene an dem Tee, den sie ihm eingeschenkt hatte. »Mal sehen, ob du für mich einen Ersatz findest, der sich genauso respektlos behandeln lässt.«

In Enas Miene zeigte sich plötzlich eine Wärme, die er zum ersten Mal mit acht Jahren gesehen hatte, als er verloren und regungslos, erfüllt von Angst und kindlichem Zorn im Krankenhaus lag. Auf den ersten Blick hatte seine Großmutter so kalt gewirkt, als würde ein eisiges Feuer in ihr tosen, bis sie ihm in die Augen gesehen hatte. »Du hast jetzt ein neues Zuhause, Canto«, hatte sie ihm mit dieser ruhigen Stimme eröffnet, die einen bis ins Mark traf. »Du bist in Sicherheit. Man wird dir niemals mehr wehtun.«

Canto hatte der fremden Frau nicht geglaubt, gleichzeitig war sie seine einzige Hoffnung gewesen. Was ist mit 3K?, hatte er telepathisch gefragt, während das Beatmungsgerät Luft in seine gelähmte Lunge pumpte. Das Mädchen, das mich gerettet hat?

»In den Akten der Einrichtung findet sich kein Hinweis auf sie, und sämtliche Mitarbeiter, die Kontakt zu den Schülern hatten, sind tot. Somit besteht keine Möglichkeit, ihre Gehirne zu scannen.« Sie zuckte nicht mit der Wimper, während sie davon sprach, gewaltsam in die Köpfe anderer einzudringen und deren privateste Gedanken zu durchstöbern.

Canto hielt ihrem stahlharten Blick unerschrocken stand. Haben Sie sie getötet?

»Das hätte ich, allerdings erst, nachdem ich alle benötigten Informationen aus ihnen herausgeholt hätte. Handle niemals gedankenlos, Canto. Damit verhilfst du deinen Feinden zum Sieg.« Mit ihrer kühlen, weichen Hand strich sie ihm das Haar aus der Stirn. »Aber sie waren schon nicht mehr am Leben, als wir kamen, um dich heimzuholen. Allem Anschein nach hat einer deiner Mitschüler die Schutzwände um ihr Bewusstsein niedergerissen und zu einem Rundumschlag ausgeholt.«

Was ist aus den Schulkindern geworden?

»Wir haben für alle ein gutes Zuhause gefunden und werden sie im Blick behalten, damit dafür gesorgt ist, dass sie die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Wir Mercants lassen keine Kinder im Stich, erst recht nicht, wenn sie sich in einer Notsituation befinden. Darauf gebe ich dir mein Wort. Leider fehlt von deiner kardinalen Freundin jede Spur, aber wir werden alles daransetzen, 3K ausfindig zu machen. Deine Mutter hat bereits mit der Suche nach ihr begonnen.«

Es war das einzige Versprechen, das Ena nicht einzuhalten vermochte; 3K blieb unauffindbar, als wäre sie ein Geist. Über all die Jahre hinweg hatte Canto sich nie mit dem Gedanken abfinden können, dass das der Wahrheit vielleicht am nächsten kam und 3K längst tot war. Neben ihren anderen Aufgaben setzte auch Magdalene die Suche nach ihr unermüdlich fort.

Was wichtige Dinge betraf, hatten Canto und seine Mutter denselben Hang zur Obsession.

Ena nahm noch einen Schluck von ihrem Tee und knüpfte wieder an das Thema Genara an. »Niemand außer dir würde sich auf meine Spielchen einlassen, liebster Canto. Darum musst du dafür herhalten.« Und weil diese Frau, die ihn gelehrt hatte, was Familie, was Loyalität bedeutete, nun einmal Ena Mercant war, rannte er gegen eine Wand an bei dem Versuch, die Identität seiner neuen Cousine zu lüften.

Niemals würde er seiner Großmutter eingestehen, wie sehr er diese Herausforderung genoss.

Doch jetzt, mit seinen Gedanken wieder in der Gegenwart, hörte er Genara sagen: »Nächstes Mal sollte Arwen auch deine Hose mitgehen lassen.« Dann teleportierte sie.

Cantos verwaschene Jeans waren bequem und lagen wie eine zweite Haut an. Arwen wusste ganz genau, dass Canto ihn gnadenlos zur Strecke bringen würde, wenn er sich an ihnen vergreifen sollte. Hemden waren eine Sache. Jeans dagegen eine vollkommen andere.

Er verließ den Pavillon am oberen Ende des Wegs und begab sich an das Ufer des Sees, dessen azurblau schimmerndes Wasser ihn an das Substrat erinnerte. Die Nachmittagssonne schien warm auf sein Gesicht, seine nackten Unterarme und seine Hände, die in dunkelbraunen, vom vielen Gebrauch weichen und elastischen Halbhandschuhen aus Kunstleder steckten.

Für diesen Ausflug hatte er seinen Rollstuhl gegen ein Modell mit extrabreiten, wüstentauglichen Profilreifen getauscht, dessen elektronische Bauteile so konzipiert waren, dass ihnen die feinen Sandpartikel nichts anhaben konnten. Als Teenager hatte er einmal die leidvolle Erfahrung gemacht, dass dieser spezifische Sand in jede Ritze geraten und ganze Computersysteme lahmlegen konnte.

Auch dieser Rollstuhl verfügte über einen Hover-Antrieb – und außerdem über ein Geheimfach, in dem sich eine handliche Schusswaffe verbarg. Als kardinaler Telepath war er durchaus imstande, Payals Gehirn einfach auszulöschen, während sie ihn im selben Atemzug telekinetisch in die Luft heben und gegen die nächste Wand schmettern konnte. Anders ausgedrückt: Sie waren beide gleich gefährlich.

Die Waffe war dennoch nicht überflüssig, sondern einfach praktisch.

Canto hatte die Umgebung seit seiner Ankunft fortwährend telepathisch gescannt und bemerkte nun ein Flackern. Obwohl er nicht in das Bewusstsein, das soeben aufgetaucht war, hineingelangen konnte, nahm er es ganz deutlich wahr. Er manövrierte seinen Rollstuhl ein Stück nach links und beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Payal Rao über den gepflasterten Weg auf ihn zukam. Sie war kleiner als in seiner Vorstellung, was eigentlich keinen Sinn ergab, weil er ihre Körpermaße recherchiert hatte.

Gleichzeitig umgab sie eine Aura, die raumgreifend war, die Aufmerksamkeit verlangte.

Sie war knapp einen Meter sechzig groß, hatte eine schmale Taille, wohlgerundete Hüften und volle Brüste. Ihre Figur war eigentlich viel zu sexy, um dem Durchschnittsgeschmack der Medialen zu entsprechen.

Cantos Nachforschungen zufolge hatte Payal sich dennoch nie dem gesellschaftlichen Druck gebeugt und eine kosmetische Operation vornehmen lassen. Sie kleidete sich in aller Regel streng geschäftsmäßig, machte sich ansonsten aber nicht die Mühe, ihre weiblichen Reize zu verbergen. Ob sie sich bewusst war, dass ihr Eigensinn ihren Ruf als toughe Powerfrau zementierte?

Payal Rao, hatte es neulich in einem Artikel im Medialnet-Bake geheißen, ist ein ebenso gefährliches Raubtier wie ein Gestaltwandlerpanther. Der letzte Gegner, der das vergaß, sammelt gerade die Scherben seiner Existenz auf, nachdem Rao durch ein eiskaltes Manöver den Wert seines Unternehmens um fünfundsiebzig Prozent hat einbrechen lassen. Von uns um einen Kommentar dazu gebeten, erklärte sie: »Er hat das Scharmützel begonnen. Ich habe es beendet.«

Heute trug besagtes Raubtier eine zarte, langärmlige Bluse mit Manschetten und zwei langen Bändern am Halsausschnitt, die über dem Dekolleté zu einem losen Knoten geschlungen waren.

Die Bluse war taubenblau und brachte den dunklen Honigton ihrer Haut hübsch zur Geltung.

Cantos Nachforschungen hatten ergeben, dass es sich bei ihrem Vater um einen TK-Medialen tschechisch-indischer Herkunft handelte, dessen Kräfte eine sieben Komma neun auf der Skala erreichten, während sie mütterlicherseits von einer V-Medialen der Skala acht Komma acht mit spanischen und indischen Wurzeln abstammte.

Dieser genetischen Mischung verdankte sie die weichen Konturen ihres Gesichts, die vollen Lippen und langen Wimpern, und damit ein Aussehen, das ihre Reputation Lügen strafte.

Wenn man sie nicht kannte und über das nächtliche Schwarz ihrer Augen hinwegsah, wirkte sie wie eine hübsche, sinnliche Frau, von der keinerlei Bedrohung ausging.

Zu ihrer Bluse hatte sie eine dunkelgraue Hose mit weit geschnittenen Beinen kombiniert, die mit weichem Schwung über ihre Hüften und fast bis zum Boden fiel. Während sie sich auf ihn zubewegte, erhaschte Canto einen Blick auf die Stilettos, die sie trug. Er kannte diese Folterinstrumente, weil Silver sie ebenfalls bei jeder Gelegenheit trug.

»Sie sind eine Waffe, Canto«, hatte sie geantwortet, als er sie einmal nach dem Grund fragte. »Jedes Detail unserer Aufmachung ist ein Kampfmittel und eine Warnung an die Welt. Sogar an dich.«

Canto hatte kurz überlegt, ob er heute einen Anzug anziehen sollte, aber er mochte sich ebenso wenig verbiegen lassen wie Payal. Es würde nichts bringen, sich zu verstellen, wenn sie langfristig zusammenarbeiten wollten. Sein neues kurzärmliges Hemd mit den patinierten Stahlknöpfen musste reichen als Sonntagsstaat.