8,99 €
AGE OF TRINITY - Die schwerste Entscheidung seines Lebens ...
Ivan Mercant ist kalt und erbarmungslos, denn der mächtige Mediale besitzt eine gefährliche geistige Gabe, die er unter Kontrolle halten muss. Doch dann trifft er während eines Trainingseinsatzes die Gestaltwandlerin Lei, und alles ändert sich. Sie bringt Farbe in sein Leben und Licht in seine Seele. Plötzlich sieht Ivan eine Zukunft für sich, die nicht von Dunkelheit bestimmt ist, und wagt es, Lei sein Geheimnis anzuvertrauen. Am nächsten Tag taucht sie nicht zu ihrer Verabredung auf, und als Ivan sie in San Francisco wieder aufspürt, scheint sie ihn nicht mehr zu erkennen ...
"Nalini Singh verbindet eine spannungsgeladene Story mit einer wunderschönen und bedeutsamen Liebesgeschichte - der Grund, warum wir immer wieder zu der Serie zurückkehren." SMEXYBOOKS
Der 6. Band der AGE-OF-TRINITY-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 564
Titel
Zu diesem Buch
Königin der Skarabäen
1
15 Monate früher
2
3
4
5
6
7
8
9
Tag heute: 10. August 2083
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
Enthüllungen
Die Autorin
Nalini Singh bei LYX
Impressum
NALINI SINGH
Age of Trinity
ECHO DES STURMS
Roman
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Seit Silentium gefallen ist, ist es den Medialen erlaubt zu fühlen, sie sind frei zu lieben. Aber Ivan Mercant war nie gefangen in Silentium. Durch seine Kindheit auf der Straße mit einer drogensüchtigen Mutter ist er dieser schmerzhaften Konditionierung entkommen. Und doch hat er sich strenge Regeln auferlegt, die an die von Silentium erinnern, um seine gefährliche Gabe – außer Kontrolle geraten durch die Drogen, die seine Mutter während der Schwangerschaft nahm und ihm als Kleinkind gab – zu beherrschen. Diese mächtige geistige Kraft – die Spinne – hat er hinter stählernen Wänden eingesperrt, um sie im Zaum zu halten. Nun merkt er allerdings, dass seine Gewalt über das Monster nachlässt, das, wenn es freikommt, den Geist aller um ihn herum verschlingen wird. Um dies zu verhindern, ist Ivan bereit, in den Tod zu gehen. Doch dann trifft er bei einem Trainingseinsatz Lei, eine Gestaltwandlerin, die Farbe in sein Leben bringt und Licht in seine Seele. Ivan beginnt, an eine Zukunft für sich und Lei zu glauben, und riskiert es, ihr sein dunkelstes Geheimnis anzuvertrauen. Am nächsten Tag ist Lei verschwunden, und als sie sich das nächste Mal gegenüberstehen, scheint sie ihn nicht zu erkennen …
Das Medialnet ist ein geistiges Netzwerk, das den ganzen Erdball umspannt.
Es bildet die Lebensgrundlage für die Gattung der Medialen.
Ein anderes Bewusstsein gewaltsam davon zu trennen, käme einem Mord gleich.
Keine rationale Person würde je auf einen solchen Gedanken verfallen.
Aber der Architekt ist nicht rational.
Er träumt davon, die totale Herrschaft nicht nur über sein Volk zu erringen, sondern ebenso über die Menschen und die Gestaltwandler.
Unterstützung erhält er dabei von Hunderten gepeinigter Individuen, deren brachiale geistige Kräfte jede Vorstellung übersteigen.
Der Architekt und seine Skarabäen.
Sie sind dabei, die Geschichte ihrer Gattung zu verändern.
Und sie haben den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt.
Der Knabe hat ernste Bindungsprobleme. Die Ursache ist nicht Silentium, sondern eine fundamentale psychische Schädigung, die es ihm niemals gestatten wird, mit anderen eine wie auch immer geartete Beziehung einzugehen. Infolgedessen gibt es keine Gewähr dafür, dass er loyal zu seiner Familie stehen wird. Er stellt eine Gefahr dar.
Privater medizinischer Bericht über Ivan Mercant, Alter: 8 Jahre (20. Juni 2059)
3. Mai 2083
Ivan gehörte zu der älteren Generation von Enas Enkeln. Er war jünger als Canto und älter als Silver und Arwen. Und er war schon immer derjenige gewesen, der der Familie am wenigsten Ärger bereitete – nämlich gar keinen, um genau zu sein. Canto war störrisch wie ein Maultier, Silver hatte ein Rückgrat aus Stahl, und beide würde niemals gegen ihren Willen vor Ena kuschen.
Selbst der sanftmütige, empathische Arwen konnte auf seine Weise eigensinnig sein. Wie ein Bach, der über Gestein strömte und mit stiller Beharrlichkeit die schroffen Kanten abschliff, bis das Wasser sich einen neuen Weg gebahnt hatte, ohne dass die Felsen sich der Veränderung gewahr wurden.
Im Gegensatz dazu war Ivan eher ein Ja- als ein Neinsager. Keinem der anderen drei würde im Zusammenhang mit Ivan je das Wort »störrisch« oder »eigensinnig« über die Lippen kommen. Ein halbwüchsiges Familienmitglied hatte ihn einmal als »gechillt« bezeichnet, und als Ena herausfand, was das Wort bedeutete, musste sie ihm recht geben.
Ivan nahm das Leben von der leichten Seite, er war friedfertig und leistete seiner Großmutter keinen Widerstand – trotzdem tat er ausschließlich das, was er wollte. Ena hatte lange gebraucht, bis ihr klargeworden war, dass das dem äußeren Anschein nach am wenigsten bockige ihrer Enkelkinder seinen Willen mit einer stillen Beharrlichkeit durchsetzte, die ihresgleichen suchte. Ivan hatte trotz Enas Drängen nie einen Hochschulabschluss erworben und darüber hinaus einen Weg gewählt, den einzuschlagen sie ihm ursprünglich verboten hatte.
Ja, ihr Enkel tat, was er wollte … aber er hatte eine Schwachstelle.
»Ivan«, sagte sie jetzt, während sie zusah, wie er die letzten Sachen für seine Reise nach San Francisco packte. Sie betrat die Suite, die er auf dem Familienanwesen bewohnte, nur selten, aber da er noch heute aufbrechen würde, war es höchste Zeit für diese Unterredung. »Ist alles in Ordnung?«
»Natürlich, Großmutter.« Er öffnete das Seitenfach seiner Reisetasche und griff nach einem schwarzen flachen Beutel, in dem sich entweder seine Zahnbürste und ein Stück Seife befanden oder eine Waffe.
Bei Ivan konnte man das nie so genau sagen.
»Ganz bestimmt?« Ena blieb in der Tür stehen, sie würde nicht in die Privatsphäre seines Schlafzimmers vordringen, obwohl sie wusste, dass er nichts dagegen hätte. Das war das Problem mit Ivan und der Grund, warum sie so wenig von ihm erbat: Er würde ihr niemals etwas abschlagen. Was die Entscheidungen anging, die er für sein Leben traf, ließ er sich nicht hineinreden, aber wenn seine Großmutter etwas von ihm verlangte, tat er es ohne Zögern.
Sei es, jemandem eine Kugel in den Kopf zu jagen oder Ena in sein Allerheiligstes vorzulassen.
Das war Ivans einzige Schwachstelle.
»Ja, alles paletti.« Er zog den Reißverschluss der Seitentasche wieder zu. »Warum fragst du?«
»Du wirkst verändert, seit du von diesem Ausbildungslehrgang in Texas zurück bist.« Knapp eineinhalb Jahre war das jetzt her. Anfangs war sie sich nicht sicher gewesen, und Ivan hatte sich jedes Mal, wenn sie das Thema anzuschneiden versuchte, vor dem Gespräch gedrückt und seine zahlreichen Pflichten vorgeschoben. »Ist dort irgendetwas passiert?«
Ein kurzes Innehalten, während er mit effizienten Handgriffen packte. So kurz, dass vermutlich nicht einmal Canto, Arwen oder Silver es bemerkt hätten, dabei standen sie Ivan neben Ena am nächsten. Allerdings hatte sie schon immer ein wachsameres Auge auf ihn gehabt als seine Cousins und seine Cousine. Jeder von ihnen brauchte sie auf die eine oder andere Art … nur war es bei Ivan am unwahrscheinlichsten, dass er seine Bedürfnisse artikulieren oder offen zeigen würde.
Er hatte in allzu jungen Jahren gelernt, dass es nichts nutzte, um Hilfe zu bitten. Weil niemand reagieren würde. Ena war bemüht gewesen, ihn diese hässliche Lektion vergessen zu machen, doch sie hatte sich ihm schon unauslöschlich eingebrannt, bevor seine Großmutter in sein Leben getreten war. Sie hatte nichts weiter tun können, als dafür zu sorgen, dass seine unausgesprochenen Bedürfnisse erfüllt wurden, und darauf zu hoffen, dass er irgendwann begreifen würde, dass sie, was immer er von ihr erbitten mochte, es ihm nie verwehren würde.
Sowie er seine Tasche fertig gepackt hatte, wandte er sich ihr zu und sah sie an. Seine hellblauen Augen mit den dunklen Splittern bildeten einen leuchtenden Kontrast zu seinen schwarzen Haaren und der weißen Alabasterhaut. »Nein, nichts, außer dass ich mir diese Platzwunde am Unterschenkel zugezogen habe«, antwortete er. »Aber die ist längst verheilt.« Er hängte sich den Riemen der Tasche über die Schulter und steuerte auf die Tür zu.
»Bist du wirklich ganz sicher, Ivan?« Ena gab nicht nach; sie hatte diese Familie nicht während der kalten Herrschaft von Silentium zusammengehalten, weil es ihr an Willensstärke gemangelt hätte, und sie würde sich von Ivan nicht für dumm verkaufen lassen. Sie wusste, er würde sie niemals anlügen, aber er hatte ein Geschick dafür, nur mit den Informationen herauszurücken, die ihm in den Kram passten.
Canto behauptete immer mal wieder, dass kein anderes Familienmitglied Ena so sehr ähnelte wie Ivan. Er behielt seine Meinung für sich und gab nur Auskunft, wenn er es für richtig hielt.
Ena respektierte das. Doch seit einiger Zeit kam es ihr so vor, als hätte sich das Licht in ihm abgeschwächt, und der Gedanke versetzte sie in tiefe Furcht, weil es schon einmal beinahe erloschen wäre. Sie hatte es jahrelang mit ihren Händen gegen die tosenden Winde aus Schmerz und Wunden abschirmen müssen, bis es wieder stark genug war, um allein weiterbrennen zu können.
Ivan hielt ihren Blick fest, dann schaute er weg. Die geballte Kraft, die von ihm ausging, brachte die Luft zum Knistern. »Ich kann darüber nicht mit dir sprechen, Großmutter.« Er sah sie erneut an. »Und auch mit niemandem sonst.«
Da war sie wieder, diese tief in ihm verwurzelte Unnahbarkeit, die ihn zu anderen auf Distanz hielt, sogar zu Ena. Sie hatte nie herausfinden können, ob Absicht dahintersteckte oder ob es eine Folge der Verletzungen war, die ihm zugefügt worden waren, lange bevor er dieser mächtige Mann wurde, der der Welt die Stirn zu bieten wusste.
Nach dieser unerwartet direkten Antwort wäre es sinnlos gewesen, ihn weiter zu bedrängen. Was immer ihm in Texas widerfahren war, hatte jedenfalls einen tiefgreifenden Einfluss auf ihn ausgeübt.
Sie trat zur Seite, damit er das Schlafzimmer verlassen konnte. Während sie ihn zum Ausgang der Suite begleitete, sagte sie: »Du weißt, ich bin immer für dich da, wenn du deine Meinung ändern solltest.«
Er öffnete die Tür und sah ihr noch einmal in die Augen. »Ja, das weiß ich, Großmutter.«
Dann ging er davon, ihr großer, starker, todbringender Enkelsohn. Letzteres hatte sie nie für ihn gewollt, ihm stattdessen ein ruhiges, friedvolles Dasein gewünscht. Doch Ivan wollte davon nichts hören. Er erlaubte ihr nicht, für ihn ein Leben im Licht zu wählen, weil er glaubte, dass es ihm vorherbestimmt war, auf den Pfaden der Dunkelheit zu wandeln.
Der Knabe hängt bedingungslos an seiner Familie und ist ihr dementsprechend treu ergeben. Es lässt sich derzeit nicht bestimmen, inwieweit er fähig sein wird, Bindungen außerhalb dieses geschlossenen Kreises einzugehen, doch sollte es ihm gelingen, wird seine Loyalität meiner Einschätzung nach unverbrüchlich sein. Er scheint außerstande zu sein, seine einmal erklärte Gefolgstreue einzuschränken.
PrivatermedizinischerBerichtüberIvanMercant,Alter:14 Jahre (9. November 2065)
Das Flüstern des Waldes umgab ihn, als Ivan sich mit der Hand an einem Baumstamm abstützte und sein Schienbein inspizierte. Er hatte einen Druckverband angelegt, doch die Wunde wollte einfach nicht aufhören zu bluten. Wüsste er es nicht besser, er hätte vermutet, dass bei seinem Sturz auf den scharfkantigen Stein eine wichtige Arterie durchtrennt worden war.
Doch er wusste es besser. Er kannte seinen Körper, außerdem hatte er mehrere Erste-Hilfe-Kurse absolviert und genügend Anatomiekenntnisse, um seine Verletzung als beeinträchtigend, aber nicht gefährlich einzustufen. Trotzdem dürfte sie eigentlich nicht mehr bluten. Wenn das so weiterging, würde er jemanden rufen und sein Training für heute beenden müssen.
Es war ihm ein Gräuel, andere um Hilfe zu bitten. Obwohl ihm klar war, dass sein Widerwille fast schon krankhafte Züge trug, musste für ihn erst die Grenze des Erträglichen erreicht sein, ehe er sich helfen ließ. Manchmal genügte es eben nicht, sich eines Problems bewusst zu sein, um die Ursache zu beheben.
Also hatte Ivan sich darauf verlegt, so autark wie möglich zu sein. Das war der Grund, warum er diese Erste-Hilfe-Kurse besucht hatte, obwohl er alles andere als mit den Fähigkeiten eines Heilers gesegnet war. Ergänzend hatte er sich grundlegende Informatikkenntnisse angeeignet und eine Fluglizenz erworben.
Das Erlernen von Sprachen war ihm nie schwergefallen, was daran liegen mochte, dass er als Kind mit etlichen in Berührung gekommen war. In seiner Familie wurde sowohl Englisch als auch Russisch gesprochen, darüber hinaus hatte er sich noch drei weitere Sprachen angeeignet.
So mancher hätte ihn als besessen bezeichnet. Für Ivan bedeutete es, für jede Eventualität gerüstet zu sein.
Er wäre der perfekte Söldner gewesen, hätte seine Großmutter ihn nicht gebeten, sein Können in den Dienst der Mercants zu stellen und als deren Sicherheitsexperte zu fungieren. Dieser Titel flößte ihm noch immer Unbehagen ein, aber wenn es auf diesem Planeten eine Person gab, der er niemals etwas verwehren würde, dann war das Ena Mercant.
Sie hatte sich das Recht erworben, jeden Gefallen von ihm zu erbitten.
Nur änderte sein neuer Status nichts daran, wer er war: ein geborener Killer. Ein Monster. Diese Tatsache konnte nicht einmal seine willensstarke, unbeugsame Großmutter, der die Familie alles bedeutete, korrigieren. Sie hatte sich darauf beschränken müssen, seinen beruflichen Werdegang in eine Richtung zu lenken, die mehr mit Gefahrenabwehr einherging als mit Gewalt. Und das hatte ihn in diese dunkelgrüne Wildnis geführt.
Noch immer fest entschlossen, sich nicht von seiner weiteren Teilnahme an dieser Trainingseinheit abhalten zu lassen, blutende Wunde hin oder her, schleppte er sich weiter durch das dicht bewaldete Terrain. Ein rhythmisches Tröpfeln kündete von dem Regen, der vor ein paar Stunden gefallen war, und im fahlen Licht der Wintersonne, die durch die Baumkronen schien, glitzerte es auf den Blättern wie Diamanten.
Dies war nicht sein natürlicher Lebensraum; Ivan war ein Kind der Großstadt. Aber jede Wissenslücke konnte Defizite in den Sicherheitsvorkehrungen seiner Familie zur Folge haben. Besonders da jetzt die Raubtiergestaltwandler ihren Machtbereich stetig ausdehnten. Ivan hatte nicht vor, kalt erwischt zu werden, darum musste er ganz genau wissen, wozu diese Leute fähig waren.
Aus diesem Grund war er jetzt in diesem texanischen Trainingscamp, das von einem kleinen Wolfsrudel namens RockStorm geleitet wurde und in Söldnerkreisen hohes Ansehen genoss. Welchen er bis heute angehörte, auch wenn die von ihm begangenen Morde – hinter denen im Übrigen kein finanzielles Motiv steckte – mittlerweile Verschlusssache waren.
Für Außenstehende war Ivan Mercant der typische Städter mit modischem Haarschnitt und einem Kleiderschrank voller Maßanzüge. Auch unter den Söldnern kannten die meisten nur seine neue Identität, gleichzeitig verdankte er es ihnen, dass er zu diesem Kurs zugelassen worden war. Die RockStorm-Wölfe hatten nicht vor, Feinde auszubilden, daher akzeptierten sie nur mediale Bewerber, die einer genauen Überprüfung standhielten und die Empfehlung eines vertrauenswürdigen Gestaltwandlers vorweisen konnten.
Ein Tiger namens Striper hatte bei den Wölfen ein gutes Wort für Ivan eingelegt und ihnen versichert, dass dieser nicht zu Gewalt neige, außer, seine Familie werde bedroht. Dieses Argument fand Anklang bei der eingeschworenen Gemeinschaft. Greif ein Mitglied an, und du hast das ganze Rudel zum Feind.
Es schadete auch nicht, dass Ivan einmal einer wehrlosen Herde von Hirschen beigesprungen war, die Probleme mit einem medialen Konzern hatte. Er hatte jedem Vorstandsmitglied eine Kugel in den Kopf gejagt – nicht, um sich bei den Gestaltwandlern beliebt zu machen, sondern weil das Unternehmen als Tarnung für eine Drogenproduktionsanlage diente und Ivan jeden umlegen würde, der dieses Gift unter die Leute brachte.
Das alles hatte dazu geführt, dass er sich jetzt mit einer blutenden Wunde durch eine fremde Umgebung kämpfte.
Die heutige Aufgabenstellung war einfach. Er musste es ohne Hilfe und nur, indem er sich an den landschaftlichen Gegebenheiten orientierte, von A nach B schaffen und unterwegs auf eigene Faust Nahrung und Wasser finden.
Ivan hätte die Herausforderung mühelos gemeistert, wäre er nicht von einem Steinschlag überrascht und auf einen scharfkantigen Felsen geschleudert worden. Sein eigener Fehler. Er war sich seiner Sache zu sicher gewesen und hatte deshalb nicht sämtliche Faktoren berücksichtigt – zum Beispiel, wie das Rudel wohl zu dem Namen RockStorm gekommen war.
Ein solcher Schnitzer würde ihm kein zweites Mal unterlaufen; er würde sich nur zu gut daran erinnern, dass die Natur unberechenbar war.
Sein Bein zitterte.
Ivan besah sich den Druckverband, den er aus einem abgetrennten Stück Stoff seines Hosenbeins hergestellt hatte, und entdeckte ringsherum eine bläuliche Verfärbung. Das war nicht gut. Er scannte die Umgebung mit seinen telepathischen Sinnen, und als er keinerlei Anzeichen für ein fremdes Bewusstsein in der Nähe fand, ließ er sich auf dem laubbedeckten Boden nieder, um die Wunde genauer zu untersuchen.
Sie war nicht gerötet oder geschwollen, wie man es bei einer beginnenden Entzündung erwarten würde, trotzdem konnte er diesen Tag eindeutig abhaken. Ivan war zäh, wenn es eine Herausforderung zu meistern galt, andererseits hatte ihn noch nie jemand bezichtigt, ein Schwachkopf zu sein.
Plötzlich hörte er, wie sich zwischen den Bäumen etwas regte, ein Rascheln der Blätter, das keine natürliche Ursache haben konnte, weil es nämlich stetig näherkam. Wieder streckte er seine telepathischen Fühler aus, und dieses Mal ortete er ein Bewusstsein. Er konnte es nicht identifizieren. Es war da, doch er prallte nur gegen eine leere Wand.
Ivan hatte einen Verdacht. Gestaltwandler.
Während die wenigsten Menschen über derart undurchlässige Schilde verfügten, waren sie bei ihnen die Norm, und er befand sich schließlich auf Gestaltwandler-Gelände. Vermutlich hatte man einen der Wölfe damit beauftragt, ihn im Auge zu behalten, und als Ivan an einer bestimmten Station nicht auftauchte, hatte sein Bewacher sich auf die Suche nach ihm gemacht.
Trotzdem änderte er vorsichtshalber seine Körperhaltung, um gegebenenfalls schnell die handliche kleine Pistole zücken zu können, die er in einem speziell angefertigten Holster flach auf dem Rücken trug. Viele Leute steckten sich ihre Waffen einfach in den Gürtel. Eine großartige Methode, um sie zu verlieren oder sich selbst ins Bein zu schießen. Bei seiner Pistole handelte es sich um ein Modell, das auf dem Markt kaum erhältlich war.
Ivan hatte sie letzte Nacht benutzt, um das Leben eines um Gnade flehenden Mannes zu beenden. Tat es ihm leid? Nein. Weder um diesen Mann noch um all die früheren Opfer. Seine Großmutter befürchtete, dass er sich zu einem Psychopathen entwickelte, aber seine medizinischen Routinechecks lieferten keinen Hinweis darauf. Ivan war nicht geisteskrank; er hielt sich an strenge ethische Richtlinien. Nur stimmten diese eben nicht immer mit denen der zivilisierten Welt überein.
Doch die Person, die, einen Flechtkorb auf ihre Hüfte gestützt, zwischen den Bäumen hervorkam, entpuppte sich weder als ein Angreifer, den es abzuknallen galt, noch als ein Ausbilder in Kampfmontur. Sondern als eine hochgewachsene Frau mit üppigen Kurven, schwarzen Haaren, die sich wie ein Sturzbach über ihren Rücken ergossen, und mittelbrauner, in der fahlen Wintersonne matt schimmernder Haut.
Eine alte Narbe teilte ihre rechte Braue in zwei Hälften, sie zog sich über das darunterliegende Augenlid und ihre Wange bis hin zu ihrem Ohr. Anschließend schlängelte sie – oder eine zweite Narbe – sich um ihren Nacken.
Ihre Aufmachung hatte nicht die mindeste Ähnlichkeit mit einem Kampfanzug. Sie trug ein leuchtend türkisfarbenes, knöchellanges Kleid, dessen schwingender Rock mit weißen Volants gesäumt war. Die Strickjacke war ebenfalls weiß; nur die üppig mit Schmucksteinen besetzten Ohrgehänge schillerten in allen Farben des Regenbogens und wollten nicht recht zu ihrer restlichen Kleidung passen.
Ivan starrte sie mit großen Augen an, es war zu surreal, dass diese Frau wie aus dem Nichts hier auftauchte. Er konnte nur hoffen, dass er nicht halluzinierte, denn das wäre ein eindeutiger Beweis für eine Infektion gewesen.
»Wusste ich doch, dass ich Blut gewittert habe.« Der Rock wirbelte um ihre langen Beine, als sie mit strenger Miene zu ihm eilte, ihren Korb abstellte und einen unwirschen Laut von sich gab, der sehr echt klang. »Ich werde mit den Wölfen ein Hühnchen rupfen müssen«, grummelte sie und entfernte behutsam den Druckverband. »Sie können nicht ständig hilflose Leute in der Wildnis aussetzen!«
Normalerweise wahrte Ivan lieber Abstand zu anderen, doch aus unerfindlichen Gründen erlaubte er dieser Frau nicht nur, ihm so nahe zu kommen, sondern hörte sich sogar ihr Murren an, ohne zu protestieren. Aber mit ihrer letzten Bemerkung hatte sie den Bogen überspannt. »Ich bin ganz und gar nicht hilflos.«
Sie reagierte weder erschrocken noch überrascht auf seinen eisigen Tonfall, stattdessen machte sie sich daran, ihre Hände zu sterilisieren, indem sie etwas benutzte, das wie ein medizinisches Desinfektionstuch aussah. »Ich weiß, was ich tue, darum sei endlich still, damit ich mich konzentrieren kann.«
Ivan ließ sich von niemandem den Mund verbieten.
Trotzdem zwang er sich, den Mund zu halten, während sie mit geübten, sachkundigen Handgriffen die Wunde an seinem Bein untersuchte. Dabei beobachtete er sie mit einer Faszination, wie er sie sehr lange Zeit nicht mehr gespürt hatte. Wahrscheinlich nicht mehr seit seiner Kindheit. Ivan konnte es nicht genau sagen. Er wusste nur, dass diese Frau, die völlig unerwartet unter den regennassen Bäumen hervorgetreten war, ihn auf eine Weise in ihren Bann zog, wie er es sich noch vor zwei Minuten nicht hätte vorstellen können.
Sein Gefühl sagte ihm, dass sie keine Wölfin war oder sich jedenfalls nicht wie eine bewegte. Und sie gehörte auch nicht zu den Bären. Mit ihnen hatte er in Moskau ausreichend Erfahrungen gesammelt, um sich jetzt ganz sicher zu sein. Trotzdem war sie definitiv eine Gestaltwandlerin. Von dem Schild um ihren Geist einmal abgesehen, bewegte sie sich zu souverän in diesen Gefilden, um ein Mensch oder eine Mediale zu sein.
Die unberührte Natur passte zu ihr.
Sowie sie den Verband entfernt hatte, entfuhr ihr ein ärgerlicher Laut, als sie sah, dass die Wunde wieder zu bluten angefangen hatte. Sie griff in ihren Korb und brachte ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel zum Vorschein. Auf einmal war Ivan sich nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch eine Ausgeburt seiner Fantasie war. Welche Frau trug glitzernden Lidschatten und schimmernden Lipgloss auf, nur um anschließend mit einem Korb voll von Miniaturmaterial zur medizinischen Versorgung in einem Wald herumzuspazieren?
»Es wird wehtun«, warnte sie ihn und tätschelte sein unversehrtes Bein, wie um ihm Mut einzuflößen.
Eine Sekunde später goss sie das Desinfektionsmittel auf die Wunde.
Scheiße. Oh ja, das hier war verdammt real.
Er biss die Zähne aufeinander und ertrug das Brennen, ohne einen Mucks von sich zu geben. Als der Schmerz endlich abebbte, schaute er hoch und sah, wie sie ein kleines chirurgisches Nähgerät aus ihrem Korb holte. »Du hast Glück, dass die Verletzung, was auch immer sie verursacht hat, nicht bis zum Knochen geht«, bemerkte sie. »So wie es aussieht, hattest du sie bereits gesäubert, und das Desinfektionsmittel müsste jetzt den Rest erledigt haben. Es ist ziemlich starkes Zeug. Ich kann die Wundränder jetzt verschließen.«
Ein Blick aus Augen, so dunkel und unergründlich wie der Boden des Waldes. »Leider habe ich keine Betäubungssalbe dabei. Aber ich kann dir ein Anästhetikum injizieren, das dich in einen Dämmerschlaf versetzen wird.«
Ivan krümmte sich innerlich bei dem Gedanken. »Das ist nicht nötig.« Mediale reagierten generell nicht gut auf Medikamente, doch das war nicht der Grund, warum Ivan ganz auf bewusstseinsverändernde Substanzen verzichtete. »Ich kann mein Schmerzempfinden regulieren.« Seine Großmutter hatte darauf bestanden, dass er sich diese Fähigkeit aneignete. »Ich bin bereit.«
Die Frau mit den Händen einer Heilerin zog eine Braue in die Höhe. »Du bist ein Medialer? Dachte ich mir fast. Theoretisch könntest du auch ein unleidiger Wolf sein. Griesgrämig wie du bist.«
»Ich. Bin. Nicht. Griesgrämig.«
Ein gleichmütiges Achselzucken. »Ganz wie du meinst, Süßer. Und jetzt denk an was Schönes.«
Ivan war noch immer perplex, als sie auch schon anfing, die Wunde mit flinken, wohldurchdachten Stichen zu nähen. Er spannte die Bauchmuskeln an und biss abermals die Zähne zusammen. Das Regulieren seines Schmerzempfindens war keine Wunderwaffe. Es verhinderte lediglich, dass er das Bewusstsein verlor. Er hatte die Prozedur schon halb überstanden und versuchte immer noch zu begreifen, wie sie ihn genannt hatte.
Ein cleverer Schachzug.
Als sie dann endlich fertig war, ging sein Atem stoßweise, und sein Puls raste, aber er wusste, dass sie sich bemüht hatte, möglichst sanft zu sein. »Danke«, presste er hervor, während sie ein weiteres Desinfektionstuch aus ihrem Korb nahm und die Naht damit abtupfte.
Er holte scharf Luft, dann fragte er: »Trägst du immer eine Erste-Hilfe-Ausrüstung mit dir herum?«
»Ja. Einer meiner Lehrer war Sanitäter. Er erzählte, dass er sich in seinem Leben nie so schlecht gefühlt habe wie in dem Moment, als er einem verwundeten Freund nicht helfen konnte, weil er nicht einmal eine medizinische Grundausstattung dabeihatte. Er gab uns eine kurze Liste mit dem Allernotwendigsten und instruierte uns, dieses im Kleinstformat zu besorgen und unsere Taschen damit zu bestücken.« Sie hielt ein silbern glitzerndes Mäppchen hoch, das kaum größer war als ihre Handfläche. »Meine Alltagsausrüstung. Wenn man die Tasche so packt wie ich, passt alles rein.«
Sie entnahm ihr ein Briefchen mit durchsichtigen Heftpflastern und befestigte sie der Reihe nach in einem ordentlichen Muster auf der frisch vernähten Wunde. »Geschafft«, kommentierte sie und richtete den Oberkörper wieder auf. »Du wirst überleben. Sogar wenn du so dumm sein solltest, zu Ende zu bringen, was immer die Wölfe dir an Blödsinn aufgetragen haben.«
Sie sammelte das benutzte medizinische Material ein und steckte es in einen durchsichtigen Sondermüllbeutel, als Ivan bemerkte, dass ihr Korb mit allen möglichen Früchten des Waldes gefüllt war. Pilze, wildwachsende Nüsse und frische grüne Triebe von Pflanzen, die er nicht benennen konnte. »Bist du eine Naturheilkundige?«
»Nein.« Sie desinfizierte ihre Hände und stopfte das gebrauchte Tuch ebenfalls in den Plastikbeutel, bevor sie ihn verschloss und in ihrem Korb verstaute. »Aber ich kenne mich in der Natur aus.« Sie strich versonnen über die Rinde des Baumstamms und stand auf.
Ivan folgte ihrem Beispiel, dann stützte er sich mit einer Hand am Baum ab, um herauszufinden, wie belastbar sein Bein war. Es konnte sein Gewicht tragen, und es tat nicht einmal sehr weh. »Du hast hervorragende Arbeit geleistet.«
Sie schnaubte. »Pass nur auf, dass die Wunde nicht wieder aufplatzt.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, ein lebhafter, farbenfroher Wirbelwind, und ging davon.
Ivan bat niemanden um etwas, und er hatte auch nicht die Angewohnheit, Leuten etwas hinterherzurufen. Doch jetzt sagte er: »Warte! Wie heißt du?«
Sie warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu, mit Augen wie schimmernde Teiche, voller Rätsel. »Du kannst mich Lei nennen.«
Dann war sie weg; sie verschwand derart flink zwischen den Bäumen, dass er keine Chance gehabt hätte, ihr zu folgen – jedenfalls nicht in seiner momentanen Verfassung. Sie war eine Gestaltwandlerin, das stand völlig außer Zweifel. Aber als Ivan am Ende des Parcours ankam – denn augenscheinlich war er wirklich ein Dummkopf – und dem für ihn zuständigen Wolfsoffizier Fragen über Lei stellte, hatte dieser keine Ahnung, von wem die Rede war.
»Eine Sanitäterin?« Jorge Herrera zog die Stirn kraus. »Die Beschreibung passt auf keine unserer Heilerinnen oder anderen medizinischen Fachleute. Im Übrigen ist das RockStorm-Revier übersichtlich genug, dass ich es wüsste, wenn wir eine hübsche, dunkeläugige Frau zu Gast hätten.« Er grinste. »Schließlich bin ich Single und dazu im besten Mannesalter.«
»Ich bin sicher, dass sie eine Gestaltwandlerin ist.«
Jorge rieb sich über die dunklen Bartstoppeln, die die braune Haut seiner Wangen bedeckten. »Ist nicht auszuschließen. Der Teil des Waldes, wo sie dich gefunden hat, liegt jenseits unserer Reviergrenze und ist öffentlich zugänglich. Jeder kann ihn betreten. Allerdings gibt es in der Nähe keine anderen Gestaltwandlerpopulationen. Darum nehme ich an, sie besucht entweder ein Familienmitglied oder jemanden aus dem Menschenvolk.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, dieses Rätsel lässt sich nicht lösen.«
Ivan sagte nichts darauf, aber er war nicht umsonst ein Mercant. Informationen, Daten und Kontakte waren das Metier seiner Familie. Er würde Lei finden. Er musste sie einfach finden; das Verlangen, sie wiederzusehen, pulsierte heftig in ihm.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Ivan Mercant etwas wirklich begehrte … vielmehr jemanden.
Die neurologischen Veränderungen sind irreversibel. Langzeitfolgen weiterhin unbekannt.
Privater medizinischer Bericht von Dr. Jamal Raul über Ivan Mercant, Alter: 17 Jahre (8. August 2068)
Ivan wusste, dass er verwöhnt war, was den Zugang zu Informationen betraf. Es war einer der Vorteile, wenn man in einer Familie von Spionen aufwuchs. Seine Großmutter mochte es nicht, wenn er und ihre anderen Enkel diesen Ausdruck benutzten; sie zog es vor, die Mercants im Geschäftsbereich der Nachrichtengewinnung anzusiedeln.
Mit anderen Worten: der Spionage.
Dennoch erwies es sich in Anbetracht des Wenigen, das er über Lei wusste, und der weiten Strecken, die Gestaltwandler zurücklegen konnten, als schwierig, Näheres über die Identität dieser Frau in Erfahrung zu bringen. Da ihre Gattung, anders als die der Menschen oder Medialen, vorzugsweise unter dem Radar blieb, konnte er noch nicht einmal die Listen der Heilerinnen durchsehen, um die Suche einzugrenzen.
Die Gestaltwandler stellten derlei Informationen nicht online, und nachdem sie von Ivans Volk in der Vergangenheit weitestgehend ignoriert worden waren, brachten ihn auch seine Recherchen im Medialnet nicht weiter.
Trotzdem setzte er seine Suche unermüdlich fort. Er widmete sich dieser Aufgabe mit derselben Obsession, der er eine ganze Reihe zusätzlicher Kompetenzen zu verdanken hatte, die er persönlich für unverzichtbar hielt. So konnte er nicht nur jede Handfeuerwaffe auf dem Planeten bedienen, sondern er wusste auch, wie man einen Computer oder ein mechanisches Gerät zerlegte, um ein Problem zu beheben.
Für ihn war die Welt ein zerstörerischer Ort, bevölkert von finsteren Gestalten. Ivan und seinesgleichen waren dazu geboren, sie vom Angesicht der Erde zu tilgen, damit die mitfühlenderen, weichherzigeren Individuen überleben konnten. Solche wie Lei.
Süßer.
Griesgrämig.
Pass nur auf, dass die Wunde nicht wieder aufplatzt.
Er spulte ihren Wortwechsel immer wieder in seinem Kopf ab, bis er schließlich notgedrungen – und ganz und gar untypisch für ihn – einen Tag Training schwänzte und zu der Stelle zurückkehrte, wo sie einander begegnet waren. Es war absurd zu glauben, dass sein Plan aufgehen würde, denn dazu war dieser Wald eine zu ausgedehnte Wildnis.
Ivan benutzte seine im Entstehen begriffene Fertigkeit, Spuren zu lesen, um Leis Fährte zu folgen, doch sie hatte sich zu leichtfüßig bewegt, um irgendwelche brauchbaren Abdrücke zu hinterlassen. Sobald ihm klar wurde, dass sein Unterfangen zum Scheitern verurteilt war, blieb er inmitten einer kleinen Lichtung stehen und schaute sich um. Sein Blick fiel auf eine Kolonie von Pilzen, die exakt so aussahen wie die in Leis Korb.
Er ging in die Hocke und berührte einen davon mit der Fingerspitze.
Würde Lei zurückkommen, um noch mehr Pilze zu sammeln?
Da das seine letzte Hoffnung war, beschloss er zu warten. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm eines mächtigen Baums und ließ den Blick durch den in unzählige Schattierungen von Grün und Braun gewandeten Wald schweifen. Ivan konnte sehr geduldig sein. Nach Aussage seiner Großmutter beherrschte er die Kunst des Versinkens in sich selbst wie kein anderer.
Er hatte weder ihr noch dem von ihr persönlich ausgewählten Psychologen je erzählt, wie er sich diese Fähigkeit angeeignet hatte. Sie wussten nichts von den vielen, vielen Stunden, die er in einsamer Stille zugebracht hatte, während seine Mutter »ruhte«. Allerdings glaubte er, dass seine Großmutter einen gewissen Verdacht hegte, was nicht weiter verwunderlich war, da sie ja seine Geschichte kannte.
Es war wohl das einzige nützliche Talent, das er seiner Mutter verdankte.
Natürlich reichte es nicht annähernd aus, um seine weit unberechenbareren geistigen Kräfte auszugleichen, aber es war besser als nichts.
Die Stunden krochen im Schneckentempo dahin, und obwohl das Medialnet jede Menge Ablenkung geboten hätte, schenkte er dem weitverzweigten geistigen Netzwerk keine Beachtung und horchte stattdessen auf jedes Rascheln, jede Bewegung im Wald, während er auf Lei wartete.
Doch an diesem Tag kam sie nicht wieder.
Auch nicht am nächsten.
Eigentlich gab es keinen Grund für ihn, noch ein drittes Mal zurückzukehren, vor allem, da Jorge ihn ermahnt hatte, dass er auf dem besten Weg sei, aus dem Kurs geworfen zu werden, falls er weiterhin abwesend wäre. Ivan war jemand, der eine einmal angefangene Sache mit an Besessenheit grenzender Hartnäckigkeit zu Ende führte.
Nur hatte sich sein Interesse jetzt verschoben.
Also begab er sich wieder zu der Lichtung … und dann sah er, wie sie aus dem Schutz der Bäume heraustrat, bekleidet mit einem knöchellangen, herbstlich rot und orange gemusterten Rock, die langen Haare zum Zopf geflochten und mit einem ihm bestens bekannten Korb in ihrer Armbeuge. Hauchzarte, Blättern nachempfundene Ohrringe aus Metall vervollständigten ihren Look.
»Nanu.« Sie blieb wie angewurzelt stehen und machte große Augen, als sie ihn neben den Pilzen entdeckte. »Hast du dich schon wieder verletzt?«
Ivan schüttelte den Kopf. »Ich habe auf dich gewartet.«
Sie blinzelte und trat, eine leichte Röte auf den Wangen, von einem Fuß auf den anderen.
»Lass mich dein Bein begutachten«, sagte sie schließlich und kam näher.
Er leistete keinen Widerstand, als sie behutsam das Hosenbein seiner schwarzen Drillichhose hochrollte und mit konzentrierter Miene die im Heilen begriffene Wunde untersuchte.
Aus der Nähe betrachtet, erkannte er, dass Leis Gesichtsnarbe unregelmäßig war. Was nicht auf ein Messer hindeutete. Hatten Krallen sie verursacht? Oder eine Glasscherbe? Falls irgendjemand ihr Gewalt angetan und sie absichtlich verletzt hätte, hätte diese Person jetzt ihr Leben verwirkt. Ausgeschlossen, dass eine Frau, die sich eines ihr wildfremden verwundeten Mannes annahm, sich irgendetwas hatte zuschulden kommen lassen, das eine solche Brutalität gerechtfertigt hätte.
Davon war Ivan zutiefst überzeugt.
»Die Wunde tut nicht mehr weh«, sagte er, wobei er den heftigen und ihm unerklärlichen Wunsch unterdrücken musste, ihr weiches Haar zu berühren. »Aber sie juckt jetzt.« Jeder, der schon einmal erlebt hatte, wie eine Schnittwunde verheilte, wusste, dass das ein gutes Zeichen war.
»Ausgezeichnet.« Sie rollte das Hosenbein wieder nach unten und legte den Kopf auf eine Weise schräg, die ihm irgendwie vertraut vorkam, ohne dass er sagen konnte, warum. »Bist du wirklich meinetwegen hier?«, fragte sie mit weicher Stimme.
»Ja.« Wieso wirkte sie so überrascht? Diese Frau war die faszinierendste Person, der er je begegnet war, ihre Geschicklichkeit und Ausstrahlung unvergleichlich.
»Hmm.« Sie strich ihren Rock über den Schenkeln glatt. »Es ist nur so, dass du geradezu lächerlich gut aussiehst. Trotzdem stört dich das hier nicht?« Sie tippte mit dem Finger auf ihre Narbe und betrachtete ihn neugierig.
»Mir ist bewusst, dass ich ein ästhetisch ansprechendes Äußeres besitze.« Welches er bei Bedarf als zusätzliche Waffe einsetzte. Ein schöner Anstrich, und schon übersahen die Leute die offensichtliche Gefahr, in der sie schwebten, sahen nicht das Ungeheuer, das auf sie lauerte. »Das Einzige, was mich daran stört, ist der Gedanke, dass jemand sie dir mutwillig beigebracht hat. Woher hast du sie?«
Sie sah ihn blinzelnd an. »Ein Autounfall in meiner Kindheit«, erklärte sie gedehnt und musterte ihn, als wäre er ein wildes Tier. »Niemand, den du deswegen umbringen müsstest.«
Er nickte knapp. »Abgesehen davon bist du wunderschön. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Deine dunklen Augen, die vollen Lippen, die makellose Haut, das dichte, weiche Haar. Im Übrigen sind deine Gesichtszüge völlig harmonisch.«
Ihre Mundwinkel zuckten, dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte laut und herzlich. Als sie ihn wieder ansah, waren ihren Augen nicht mehr ganz menschlich, auch wenn die Veränderung nur gering war.
Fasziniert betrachtete er den goldenen, transluzenten Ring um ihre Iris. »Zu welcher Gestaltwandlerspezies gehörst du?«
Ein neckisches Lächeln. »Finde es selbst heraus«, antwortete das übermütige Geschöpf, das praktisch aus dem Nichts aufgetaucht war und ihm ohne Vorwarnung den Kopf verdreht hatte. »Begleitest du mich ein Stück, sobald ich ein paar von den Pilzen dort drüben gesammelt habe?«
Auf sein Nicken hin machte sie sich an die Arbeit. »Magst du Pilze?«
»Ich habe noch nie welche probiert.« Für Mediale, die in der Welt von Silentium aufgewachsen waren, war es noch immer ein fremdartiger Gedanke, das Zuführen von Nahrung mit Geschmack und Genuss in Verbindung zu bringen.
»Vitaminshakes und Proteinriegel sind eine wesentlich wirksamere Energiequelle als andere Kost, obwohl uns Medialen auch unter Silentium bestimmte Lebensmittel erlaubt waren.« Solange sie geschmacksneutral waren – da jede Art von Sinnesempfindung dem Programm, das darauf abzielte, alle Gefühle aus ihrer Gattung zu tilgen, zuwidergelaufen wäre.
»Beim Essen geht es nicht nur um Nahrungsaufnahme!«, stieß sie entrüstet hervor. »Sondern um Freude, um die Familie, darum, die Geschmacksnerven in Verzückung zu versetzen.« Sie richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf. »Ich werde eine Tarte mit karamellisierten Pilzen für dich backen. Wetten, dass sie dir schmecken wird? Wie heißt du eigentlich, geheimnisvoller Fremder, der glaubt, dass meine Gesichtszüge harmonisch genug sind, um schön genannt zu werden?«
»Ivan.«
»Ivan«, echote sie lächelnd. »Ich mag deinen Akzent, kann ihn jedoch keiner Herkunft zuordnen. Er könnte meiner Meinung nach aus vielerlei Regionen stammen.«
»Im Lauf der Jahre ist es mir gelungen, die rauen Kanten abzuschleifen.« Ein Spion blieb leichter unsichtbar, wenn er sich nicht durch einprägsame charakteristische Merkmale hervorhob. »Zurzeit lebe ich in Moskau«, sagte er zu seinem eigenen Erstaunen, da er sonst nie Persönliches über sich preisgab.
»Oh, da wollte ich schon immer mal hin. Diese Stadt soll traumhaft schön sein.« Lei erhob sich. »Komm. Ich brauche heute nicht so viele Pilze.«
Er schloss sich ihr an. Sie war groß genug, um ihm bis zur Schulter zu reichen, und er war nicht gerade ein kleiner Mann. Ihr Körperwuchs passte zu ihr, genau wie alles andere. Ihre lebhafte Mimik, dieses Lächeln, das nie ganz ihre Lippen verließ. Sie war … bezaubernd. »Gehst du jeden Tag in den Wald?«
Ein Kopfschütteln. »Ich bin bei einer Freundin zu Besuch. Gestern wollte sie auf ein paar privaten Flohmärkten herumstöbern. So etwas habe ich noch nie gemacht.«
Ivan wusste noch nicht einmal genau, wovon sie sprach, aber er wollte sie gern reden hören, darum stellte er ihr alle möglichen Fragen. Sie nahm ihn mit auf eine Reise durch staubige Scheunen und vollgestopfte Garagen, zu schrulligen Verkäufern, von denen einige alles für einen Dollar hergaben und andere den vollen Neupreis für nicht zusammenpassende Besteckgarnituren oder unvollständige Sammlerboxen mit nostalgischen DVDs verlangten.
Für ihn war es wie ein Abstecher in ein anderes Universum.
»Ich habe drei kleine Übertöpfe gekauft, die aussehen wie Katzen, die zum Sprung ansetzen. Sie sind quietschbunt bemalt und waren nicht teuer. Ich mag hübsche, alberne Dinge.«
Ivan konnte sich darunter nichts vorstellen, aber er wollte nicht, dass sie verstummte oder ihr Lächeln verblasste, darum sagte er: »Einer der Menschen in meiner Wohnanlage hat eine Katze, die sich häufig in unserem Gemeinschaftsgarten aufhält. Wann immer ich draußen bin, beobachte ich sie – sie kann stundenlang in der Sonne dösen, um dann vollkommen unvermittelt schnell wie ein Blitz zu reagieren.«
Sie schaute ihn unter gesenkten Wimpern an. »Magst du Katzen?«
»Unter Silentium war das Halten von Haustieren gänzlich unbekannt.«
Ihr heiseres Lachen ging in einen Kicheranfall über, der einfach nicht aufhören wollte.
Ivan hatte keine Vorstellung davon, wie sich Heiterkeit anfühlte. Zwar hatte die Konditionierung bei ihm nie angeschlagen – dieser Zug war abgefahren, als die Droge zum ersten Mal in den Blutkreislauf seiner Mutter gelangte, während sie mit ihm schwanger war, und sein Gehirn schädigte, bevor es sich vollständig entwickeln konnte –, trotzdem sagte ihm das Programm generell zu. Er zog es vor, die Welt auf Distanz zu halten und emotionale Bindungen zu meiden. Andernfalls wären Verlust und Schmerz vorprogrammiert und würden ihn schwächen.
Nur bei seiner Familie machte er Abstriche. Indem sie sich beharrlich weigerte, den Jungen aufzugeben, der so ganz anders geartet war als sie, war sie zu einem integralen Bestandteil von ihm geworden. Doch nicht einmal seine Großmutter konnte seine Kindheit auslöschen. Er würde für immer das Monster sein, das aus der Droge geboren wurde, daran konnte nichts und niemand etwas ändern. Und dieses Monster hatte keine Vorstellung davon, wie sich Heiterkeit anfühlte.
Trotzdem lauschte es voll Sehnsucht Leis Lachen. »Was ist denn so komisch?«
»Das erkläre ich dir später.« Ihre Augen blitzten vergnügt. »Ich kenne einen atemberaubenden Wasserfall unweit von hier. Komm, hier geht’s lang.«
Er ließ sie die Führung übernehmen, obwohl er das Naturgeschehen, das sie ihm zeigen wollte, bereits von seinen Erkundungstouren kannte. Allerdings hatte er es nie durch ihre Augen gesehen. Sie machte ihn darauf aufmerksam, wie glasklar das Wasser über die glatt geschliffenen Steine rauschte und der Sprühnebel Regenbogen erzeugte.
»Ich schwimme gern«, verriet sie ihm. »Aber dieses Wasser hier ist eindeutig zu kalt.« Sie schlüpfte aus einem Schuh und tauchte bibbernd einen Zeh hinein. »Da sträubt sich mir das Fell.«
Etwas Wildes stand plötzlich in ihren Augen, das ihn fast das Tier, das ihre andere Hälfte ausmachte, hätte erkennen lassen. Doch gleich darauf war der Ausdruck verschwunden, und sie zog sich ihren Schuh wieder an. »Ich muss jetzt los. Meine Freundin und ich gehen heute ins Theater. Sie hat die Karten schon vor zwei Monaten besorgt.«
Ivan galt den meisten als ein ausgeglichener, kultivierter Mann, dabei war das nur eine Fassade, die er schon vor langer Zeit perfektioniert hatte. Doch wie er jetzt feststellen musste, konnte er sie Lei gegenüber nicht aufrechterhalten. Es war, als existierte sie gar nicht, als müsste er dieser Frau unbedingt den Kern seines Wesens zeigen.
»Können wir uns wiedersehen?« Er versuchte noch nicht einmal zu verhehlen, wie gern er das wollte.
Kein Lächeln mehr, sondern nur ein langer, intensiver Blick.
Er hielt den Atem an, bis sie schließlich sagte: »Ich werde morgen Abend hier sein.«
Ivan überlegte, womit er sie ködern könnte, damit sie nicht doch noch einen Rückzieher machte. »Ich habe bei einem meiner Streifzüge eine kleine Höhle entdeckt, in der es den Abdruck eines Fossils zu sehen gibt.«
»Wirklich?« Sie tänzelte auf den Zehenspitzen, einen verzückten Ausdruck im Gesicht. »Das müssen wir uns unbedingt anschauen.«
Und genau das taten sie am nächsten Abend. Sie spazierten eine Stunde gemütlich dorthin und anschließend eine weitere wieder zurück. Es war stockfinster, kein Mond stand am Himmel, aber Ivan hatte eine Taschenlampe mitgebracht, und er war sich ziemlich sicher, dass Lei auch im Dunkeln sehen konnte. Obwohl er das übermächtige Bedürfnis hatte, mehr über sie zu erfahren, bedrängte er sie nicht.
Sie war ihm wichtig und das Band zwischen ihnen noch ganz neu und fragil. Er würde nicht riskieren, dass es zerriss. Es beunruhigte ihn, wie mühelos sie seine Abwehr durchbrochen hatte. Dennoch verspürte er kein Bedauern, sondern nur Dankbarkeit, dass dieses intelligente, wilde Geschöpf in sein Leben getreten war. Und ihn sogar zu mögen schien.
Den echten Ivan. Ohne die kultivierte Fassade. Ohne die Macht der Mercants im Rücken. Einfach nur ihn, so wie er war.
»Morgen Abend bin ich leider schon verplant«, teilte sie ihm mit, als sie sich verabschiedeten. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe meiner Freundin versprochen, den Abend mit ihr zu verbringen.«
Ivan wusste sehr gut, wie wichtig es war, dass man seine Versprechen hielt. »Ginge es vielleicht am Nachmittag?«, fragte er, nun nicht mehr besorgt, dass er eine Abfuhr kassieren könnte. »Ich muss morgen nur eine halbe Trainingseinheit absolvieren.« Der Vormittag würde brutal anstrengend werden, darum hatte er den restlichen Tag frei, um sich auszuruhen und zu regenerieren.
Ihr strahlendes Lächeln löste etwas in ihm aus, das eigentlich gar nicht sein konnte. »Klar. Ursprünglich hatte ich zwar vor, Wildkräuter für ein spezielles Öl zu sammeln, aber das verschiebe ich dann eben auf einen anderen Tag.«
»Ich könnte dir dabei helfen.« Ivan wollte einfach nur mit ihr zusammen sein; was sie mit der Zeit anfingen, war nicht wichtig. »Du müsstest mir nur sagen, wonach ich suchen soll.«
Im Lichtschein seiner Taschenlampe bemerkte er, dass ihre Augen funkelten und sie wieder auf diese seltsam vertraute Weise den Kopf zur Seite neigte. »Wir sehen uns morgen um halb drei. Bis dann … Süßer.« Eine Sekunde später war sie verschwunden, zurück blieb nur das Echo ihres Lachens.
In dieser Nacht träumte er von ihr, bis er schweißgebadet und mit hämmerndem Herzschlag aus dem Schlaf schreckte, überzeugt davon, dass er sich Lei nur eingebildet hatte. Erst nachdem er seine Jogginghose hochgekrempelt und einen Blick auf die frisch genähte Wunde geworfen hatte, war er sich sicher, dass er nicht an Halluzinationen litt. Lei war real … und sie mochte ihn genug, um Zeit mit ihm zu verbringen.
Würde sie ihn auch dann noch mögen, wenn sie wüsste, was er war? Wenn er ihr von dem Ding erzählte, das in seinem Kopf hauste? Von den dauerhaft geschädigten neuronalen Verbindungen, die verhinderten, dass er je ganz »normal« sein würde?
Nutzer 231i: Niemand verübt ein Attentat auf ein Mitglied der Mercants, ohne dafür mit dem Leben zu bezahlen. Selbst wenn es dem Angreifer gelingen sollte, seine Spuren zu verwischen, würde der Rest der Familie unerbittlich Jagd auf ihn machen und ihn für alle Zeit wie ein Beutetier vor sich hertreiben. Nur ein Geisteskranker würde diesen Clan attackieren.
Nutzer 47x: Das sehe ich auch so. Erinnert ihr euch noch an Nutzer 6nvy? Irgendein CEO wollte Ena Mercant aus dem Weg räumen lassen, und 6nvy beschloss, unsere Warnung zu ignorieren. Ena ist immer noch quicklebendig. Was sich von besagtem CEO nicht behaupten lässt. Und was 6nvy betrifft, hat er nie wieder etwas auf dieser Seite gepostet, nachdem er den Auftrag angenommen hatte. Ich schätze, man hat seine Leiche an irgendeinem abgelegenen Ort vergraben, wo niemand sie jemals finden wird.
Chatverlauf in einem anonymen Internetforum, das mutmaßlich vorwiegend von Söldnern und Auftragsmördern genutzt wird (unbestätigt)
Würde Lei ihn immer noch anlächeln, wenn er sie sein wahres Ich sehen ließe?
Mit einem Knoten im Magen starrte Ivan die Wand vor sich an, dann drängte er die Frage beiseite. Er kannte die Antwort darauf, aber er wollte sich ihr nicht stellen. Also unterließ er es. Jedenfalls vorerst. Dafür brillierte er, angetrieben von seiner Panik vor dem Unausweichlichen – Lei die Wahrheit auf Dauer vorzuenthalten, war keine Option –, bei seiner morgendlichen Trainingseinheit. Hierbei handelte es sich um einen Zweikampf gegen einen erstklassig ausgebildeten, mit Krallen und Reißzähnen bewehrten Gestaltwandler namens Flint.
Ivan hatte die Wölfe während seines Aufenthalts ununterbrochen beobachtet, sich ihre schnellen, wendigen Bewegungen eingeprägt, und nutzte seine neu erworbenen Kenntnisse jetzt gegen seinen Kontrahenten. Als dieser sich ohne Vorwarnung wandelte und ihn in Wolfsgestalt angriff, bewältigte Ivan auch diese Herausforderung.
Hinterher klopfte Flint ihm anerkennend auf den Rücken. »Gute Leistung, Ivan. Solltest du dich irgendwann unserem Rudel anschließen wollen, wird unser Leitwolf dich bestimmt mit Freuden aufnehmen und zum Offizier machen.« Er wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Mundwinkel und schnitt eine Grimasse. »Zumindest habe ich bei dir ein paar Krallenspuren hinterlassen.«
Ivan betastete seine schmerzenden Rippen. »Mehr als nur ein paar.« Es war alles andere als ein leichter Kampf gewesen.
Flints Zähne blitzten auf, das Raubtier in seinen Augen war hochzufrieden. »Es wird in einigen Tagen eine Revanche geben. Nur werde ich dann besser vorbereitet sein.«
Daran hatte Ivan überhaupt keine Zweifel. Der Grund, warum er an diesem Kurs teilnahm, war, dass die Ausbilder gut waren und sowohl den Schülern als auch sich selbst alles abverlangten. Trotzdem war er froh, dass ihm noch Zeit genug blieb zu duschen, bevor er zur Lichtung aufbrechen würde, um sich mit Lei zu treffen.
Er wünschte, er hätte etwas schickere Kleidung mitgenommen, um sich für sie in Schale werfen zu können, aber seine Garderobe beschränkte sich auf eine robuste Winterjacke, mehrere Drillichhosen und T-Shirts sowie zwei dünne Strickpullover.
Nicht dass Lei seiner Aufmachung auch nur einen Blick gegönnt hätte, als sie auf die Lichtung trat. Stattdessen musterte sie mit ärgerlicher Miene sein Gesicht, dann stellte sie ihren Korb ab und ging zu ihm. »Was hast du jetzt wieder angestellt?«
Bis zu diesem Moment hatte er gar nicht mehr an sein blaues Auge gedacht. Oder an den Schnitt auf seiner Wange. Auch der blutige, von einem Krallenhieb herrührende Striemen auf seinem Hals fiel ihm erst jetzt wieder ein. »Mich in einem Zweikampf gemessen«, antwortete er. »Zur Übung.«
»Zur Übung?« Es klang, als knirschte sie mit den Zähnen. »Es war Absicht?«
»Ich muss lernen, mich gegen Gestaltwandler zu verteidigen.«
Sie schob die Ärmel ihrer dunkelblauen Strickjacke, die sie über ihrem dunkelrosa Kleid trug, nach oben und stemmte die Hände in die Hüften. »Sag mir, wer dich so zugerichtet hat. Ich würde sehr gern mit ihm über seine Trainingsmethoden reden.«
Er hatte das eigenartige Gefühl, dass das keine leere Drohung war. Sie würde zu Jorge marschieren und ihm die Meinung sagen. Was auch immer ihr Tier war, es hatte jedenfalls keine Angst vor Wölfen. Auch nicht vor dominanten Gestaltwandlern, wenngleich Lei selbst nicht zu dieser Kategorie zu zählen schien. Er lebte jetzt schon lange genug im RockStorm-Rudel, um ein gewisses Gespür für die Machtstrukturen entwickelt zu haben. Diese waren für ihn zwar nicht ganz so klar erkennbar wie für die Wölfe selbst, aber sie lagen auch nicht ganz im Verborgenen.
Daher wusste er, dass Lei nicht dominant war. Andererseits haftete ihr aber auch nichts Devotes an. Wölfe hatten ihren schwächeren Gefährten gegenüber einen unglaublichen Beschützerinstinkt, der Letztere oft der Öffentlichkeit entzog, und so hatte er bis zu diesem Zeitpunkt erst ein unterwürfiges Rudelmitglied kennengelernt. Der junge Mann war vorhin zum Trainingsplatz gekommen, um Flint sein Handy zu bringen, das dieser zu Hause vergessen hatte. Er hatte Ivans Blick immer nur ganz kurz standhalten können, während es ihm nicht schwerfiel, Flint in die Augen zu sehen. Das tiefe Vertrauen zwischen beiden war klar ersichtlich.
Lei hingegen hatte nie davor zurückgescheut, Ivan direkt anzusehen. »Mir fehlt nichts«, beteuerte er. »Die Wunden sind alle oberflächlich.«
Sie kreuzte die Arme vor der Brust und tippte verärgert mit der Schuhspitze auf den Boden. »Was ist mit deiner Beinverletzung? Ist die Naht aufgegangen?«
Er war sehr erleichtert, dass er die Frage verneinen konnte. »Eine Krankenschwester hat sie sich angesehen und sich darum gekümmert. Sie war voll des Lobes für deine sorgfältige chirurgische Leistung.«
»Hmm«, machte sie und reckte ein wenig die Nase in die Luft. Noch immer sichtlich verschnupft, ergriff sie ihren Korb. Dann machten sie sich zusammen auf die Suche nach Kräutern.
Da Ivan auf diesem Gebiet völlig unbedarft war, ließ er sich von ihr anleiten. Lei zeigte ihm diese und jene Pflanze, und er stöberte sie mit einer Trefferquote von einhundert Prozent auf.
»Das ist wirklich erstaunlich«, bemerkte sie nach einer Stunde, als ihr Unmut längst verflogen war und sie sich ein wenig auf dem Waldboden ausruhten. »Du musst ein fotografisches Gedächtnis haben.«
»Ist einfach Übungssache«, wiegelte er ab. »Ein gutes Erinnerungsvermögen kann sich in einer Familie von Spionen als nützlich erweisen.«
Sie lachte überrascht auf. »Ist das dein Ernst? Eine Familie von Spionen?«
»Informationen sind unser Geschäft«, bestätigte er. »Das könnte genauso gut unser Leitspruch sein.«
»Gibt es denn einen Leitspruch in deiner Familie?«
Er antwortete ohne zu zögern. Immerhin ging es hier nicht um ein Geheimnis, das gewahrt werden musste. Es war nur nicht allgemein bekannt. Um es zu lüften, musste man nur weit genug in die Vergangenheit zurückgehen und tief genug graben. »Cor meum familia est. Mein Herz ist meine Familie.«
Mit leuchtenden Augen ließ sie sich auf die Fersen zurücksinken. »Das klingt wundervoll.« Sie stützte die Hände auf den Schenkeln auf. »Aber verstößt eine solche Einstellung nicht gegen die Grundregeln eurer Gattung? Auch wenn ich nicht viel über euch weiß, habe ich doch das eine oder andere aufgeschnappt. Und dieser Leitspruch … na ja, er ist unerwartet emotional.«
»Ja, er verstößt gegen unsere Regeln – vielmehr hat er dagegen verstoßen, bis die neue Führungsriege an die Macht kam.« Das Ende von Silentium war noch zu frisch, als dass Ivan sich bereits ganz an den Gedanken gewöhnt hätte. »Es schwingt in der Tat zu viel Gefühl darin mit.«
»Wie ist er erhalten geblieben?«
»Unsere Vorfahren hatten ihn von unseren Firmengebäuden entfernt und in jeder Nachricht, die das Haus verließ, aus dem Familienwappen getilgt. Die damaligen Machthaber dachten, dass wir uns ein für alle Mal davon losgesagt hätten.« Beim Weitergehen entdeckte er eine bestimmte Sorte Kraut, nach dem Lei suchte, und zupfte es ab. »Schön dumm von ihnen, wo doch offensichtlich war, dass sich an unserem Familienzusammenhalt nichts geändert hatte.«
Lächelnd nahm Lei das Kräuterbüschel entgegen. »Ich mag deine Familie jetzt schon. Meine Eltern waren ganz ähnlich. Ich bedeutete ihnen alles.«
Ihm entging nicht, dass sie die Vergangenheitsform benutzt hatte. »Sie sind gestorben?«, fragte er voller Mitgefühl. In Leis Gegenwart entdeckte er ganz neue Seiten in sich.
Sie nickte. »Schon vor langer Zeit. Wir gerieten in einen Hurrikan. Er hat unser Auto von der Straße geschleudert, als mein Vater uns in Sicherheit bringen wollte.«
Ivan würde die Stirn gerunzelt haben, hätte er sich nicht vor Jahren antrainiert, keine äußerliche Anzeichen seiner innerlichen Bewegtheit zu zeigen.
Seit den schweren meteorologischen Verwüstungen im zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhundert hatte die Treffgenauigkeit der Wetterprognosen einen regelrechten Quantensprung gemacht. Heute ließen sich Hurrikane und Zyklone in der Regel lange vor Eintreten des Ereignisses vorhersagen. Darüber hinaus hatte die Regierung in sämtlichen Städten Schutzräume für die Bewohner einrichten lassen, in die sie sich flüchten konnten, bis die Gefahr vorüber war. Das hatte sich als wesentlich sinnvoller erwiesen, als Millionen von Leuten zu evakuieren, von denen viele nicht wussten, wohin sie hätten gehen sollen. Die Schutzräume waren so konstruiert, dass sie sogar den extremsten Stürmen standhielten – wofür sie inzwischen oft genug den Beweis angetreten hatten.
Selbst den Bewohnern, die sich dazu entschlossen, zu Hause auszuharren, blieb ausreichend Zeit, entsprechende Maßnahmen zu treffen.
Es kam äußerst selten vor, dass solche Extremwetterlagen Todesopfer forderten. Ivan fragte erst gar nicht, warum Lei und ihre Eltern mit dem Auto unterwegs gewesen waren, während alle anderen sich hinter sicheren Mauern verschanzt hatten. Er kannte die Antwort auch so, hatte sie am eigenen Leib erfahren. Es gab immer eine gewisse Minderheit, die durch das Raster fiel. Entweder, weil sie von der Gesellschaft vergessen wurde oder wegen unerwarteter Umstände. Oder auch aufgrund einer unvorhersehbaren und irreversiblen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung.
Ivans Mutter wäre nicht imstande gewesen, ihn an einen sicheren Ort zu bringen, hätte es eine Unwetterwarnung gegeben, während sie unter dem Einfluss der kristallinen Blume stand. Er wäre an Ort und Stelle geblieben, ein Kind ohne Ahnung, dass ein schwerer Sturm im Anzug war, um die Stadt in Trümmer zu legen.
Anstatt nachzuhaken, knüpfte er an das an, was Lei davor gesagt hatte. »Du hattest eine gute Kindheit?«
»Ja, sie war sehr glücklich.« In ihrer Stimme schwang nur ein Hauch Melancholie mit, so als hätte sie sich schon vor langer Zeit mit ihrem Verlust abgefunden. »Mein Vater sprach neben Englisch auch fließend Spanisch, meine Mutter ein halbwegs passables Französisch und ein paar Brocken Maori, die sie von ihrer Großmutter vor deren Tod gelernt hatte. Dieses linguistische Kuddelmuddel war für uns so etwas wie eine Geheimsprache.«
Ihr Lächeln vertrieb den letzten Rest Kummer aus ihrem Gesicht. »Wenn mein Vater ›te amo, meine Schöne‹ zu ihr sagte, dann tat sie ganz verzückt und revanchierte sich mit einem lustigen französischen Kosenamen, indem sie ihn zum Beispiel ›mein kleiner Gänserich‹ nannte. Grammatikalisch bin ich im Spanischen grauenvoll, irgendwie bringe ich alles durcheinander.«
Das Leuchten in ihren Augen verriet Ivan, dass sie sich nicht das Geringste aus ihren fremdsprachlichen Defiziten machte. »Wir sind viel gereist. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr war ich schon fast überall auf diesem Kontinent gewesen.«
»Euer Rudel hatte keine Einwände dagegen?«
Ein winziger Schatten flackerte über ihr Gesicht, und plötzlich galt ihre ganze Aufmerksamkeit den Kräutern in ihrer Hand. »Meine Mom und mein Dad waren beide Einzelgänger. Sie haben sich ineinander verliebt und ein Kind bekommen. Das Rudelleben war nichts für sie.«
Aber galt das ebenso für ihre Tochter?
Doch diese Frage verkniff sich Ivan. Er konnte gut nachempfinden, wie schwer der Verlust ihrer Eltern, ihrer einzigen Konstante, Lei getroffen haben musste. »Mein Vater hat in meinem Leben nie eine Rolle gespielt. Ich kenne nicht einmal seinen Namen.« Damit vertraute er ihr eine Information an, deren Bekanntwerden zur Folge hätte, dass die meisten Medialen ihn auf die schwarze Liste setzen würden, sollte er je nach einer genetischen Partnerin suchen, um mit ihr einen Fortpflanzungsvertrag zu schließen.
Doch das machte ihm nichts aus, weil er keineswegs die Absicht hatte, seine DNA weiterzugeben. »Ich wuchs bei meiner Mutter auf. Sie starb, als ich acht war.«
Unwillkürlich öffnete Lei die Hand und ließ das Kräuterbündel auf den Boden fallen. »Oh.« Sie sah ihn an, ihre Züge waren ganz weich. »Dann verstehst du, wie das ist.«
»Ja.« Ivan wusste noch genau, was er damals empfunden hatte, als er diesen letzten, zerbrechlichen Halt verlor, der ihn im Leben verankerte. »Was war deiner Erinnerung nach der schönste Ort, den du bereist hast?«
Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten, dann schnippte sie mit den Fingern. »Der Amazonas-Regenwald. Wir mussten die Erlaubnis der dort lebenden Gestaltwandler einholen, bevor wir hineindurften – aber ich werde diese unglaubliche Erfahrung niemals vergessen. Dieses satte, lebhafte Grün, das sich kaum mit Worten beschreiben lässt, die Gesänge der Vögel, die Geräusche all der anderen Tiere, die unzähligen Gerüche, die die Luft erfüllten. Wir haben uns gewandelt und sind stundenlang durch den Dschungel gestreift.«
Er lauschte aufmerksam, während sie ihm immer mehr über die Abenteuer berichtete, die sie mit ihren Eltern erlebt hatte. Andere Personen kamen in ihren Geschichten nicht vor. Sie erwähnte auch nichts davon, auf ihren Reisen irgendwelche Freundschaften geschlossen zu haben. Stattdessen berichtete sie von tagelangen Autofahrten, Nächten unter dem Sternenzelt und atemberaubenden landschaftlichen Szenerien.
»Sie haben dir unvergessliche Erinnerungen hinterlassen«, sagte er, nachdem Lei ihm geschildert hatte, wie sie im Winter einmal in einem Iglu übernachten durfte, den ihr Vater gebaut hatte.
»Das ist wahr.« Eine kurze Pause, ehe sie mit dumpfer Stimme hinzufügte: »Ich wünschte nur, sie hätten Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass ihnen etwas passieren würde.«
In den Worten lag so viel Schmerz, dass er sogar auf sein emotional abgestumpftes Herz übergriff. »Musstest du ins Waisenhaus?«
»Nur für kurze Zeit.« Ein angespanntes Lächeln. »Bis mein Großvater mich dort abholte.«
Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie in der großelterlichen Obhut keine so guten Erfahrungen gemacht hatte wie Ivan, aber er bohrte nicht nach, um ihr weitere kummervolle Erinnerungen zu ersparen. Stattdessen würde er sie den weiteren Kurs bestimmen lassen. Doch anstatt den Erzählfaden weiterzuspinnen, richtete sie sich auf. »Mir fehlt noch dieses Schilf, das normalerweise an Flussufern wächst. Ich glaube, ich höre irgendwo ein Plätschern.«
Ivan hielt hochkonzentriert Ausschau nach der von ihr gewünschten Pflanze, als kurze Zeit später Wassertropfen seine Wange trafen. Er schaute hoch und sah, dass Lei ganz in ihre eigene Suche vertieft war. Sie musste ihn versehentlich nass gespritzt haben.
Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und machte sich wieder an die Arbeit.
Erneut wurde sein Gesicht mit Wasser bespritzt.
Er drehte sich zu Lei um, die gerade mit Unschuldsmiene einen Stein betrachtete, den sie aus dem Fluss gefischt hatte. »Ist der nicht hübsch?«, fragte sie und hielt ihn ins Licht.
Ivan gab keine Antwort, dafür beobachtete er sie aus dem Augenwinkel, während er so tat, als würde er seine Suche fortsetzen. Sie legte den Stein weg und schien ein weiteres Mal nach ihrem Schilf Ausschau zu halten, als sie plötzlich spitzbübisch lächelnd zu ihm hinsah … und ihn abermals nass spritzte.
Er riss blitzschnell den Kopf zu ihr herum und sprang mit einem Satz auf sie zu.
Sie stieß ein quiekendes Lachen aus, ließ ihren Korb Korb sein und verschwand in einer Wolke aus Farben mit wehenden Haaren und Röcken zwischen den Bäumen. Ivan war nicht nur exzellent ausgebildet, sondern auch topfit. Normalerweise nahm er jedes Hindernis, das sich ihm in den Weg stellte, mit Leichtigkeit – aber Lei war eine Gestaltwandlerin und dies ihre natürliche Umgebung.
Er hätte sie fast gehabt, als sie hinter einen Baum flitzte und Katz und Maus mit ihm spielte, indem sie von der einen Seite dahinter hervorlugte und jeweils auf die andere sprang, wenn er sie zu schnappen versuchte.
Ihr Grinsen war nunmehr kein bisschen menschlich, sondern ganz das der Gestaltwandlerin, wild und voll unbändiger Freude. Da begriff er, dass sie ihn neckte. Lei spielte mit ihm, ein Vergnügen, von dem er nicht gewusst hatte, dass er dazu wahrhaftig fähig war. Aber das hier fühlte sich so natürlich an, als hätte er nie etwas anderes getan.
Wieder griff er an, und dieses Mal musste sie so heftig lachen, dass sie nicht rechtzeitig entwischen konnte. Er hätte sie fangen können, doch dann hielt er in letzter Sekunde inne. Von plötzlicher Verlegenheit erfüllt, starrten sie einander an. Der Puls an seinem Hals flatterte wie ein kleiner Schmetterling, der den stürmischen Schlag seines Herzens nachahmte.
Leis Wangen zeigten einen rosigen Schimmer, und Ivan wünschte sich nichts sehnlicher, als diese Frau zu berühren. Hätte er doch nur das Recht dazu!
Der Augenblick der Unentschlossenheit zog sich zu lange hin. Schließlich senkte sie den Blick und klopfte sich den Staub aus den Kleidern. »Ich sollte jetzt heimgehen.«
Wolken verdüsterten sein Gemüt schlagartig, trotzdem begleitete er sie zurück zu der Stelle, wo ihr Korb stand, und reichte ihn ihr. »Wirst du morgen wiederkommen?«, fragte er, obwohl er am liebsten die Arme um sie geschlungen und sie zum Bleiben gezwungen hätte.
Doch das war nicht nur unvernünftig, sondern würde sie auch in Angst versetzen.
Sie warf ihm einen Blick unter gesenkten Wimpern zu und nahm ihm den Korb aus der Hand. »Was hältst du von einem abendlichen Picknick?« Ihre Stimme klang ein wenig heiser. »Dann ist es zwar schon dunkel, aber ich könnte mir von meiner Freundin eine solarbetriebene Lichterkette leihen. Und du könntest meine Pilz-Tarte kosten.«
Ivan nickte. Er hätte jedem Vorschlag zugestimmt. »Und was soll ich mitbringen?«