Agentin Yeshi - Gabriela Kasperski - E-Book

Agentin Yeshi E-Book

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Yeshi will die Hauptrolle im Weihnachtsmärchen spielen. Prinzessinnen sind weiß, sagt Liv, die Beliebteste der Klasse. Mit ihrem steinfelsbetonharten Kopf, ihrem Tanzfuß und dem Flatterherz will Yeshi das Gegenteil beweisen. Pech nur, dass Yeshi sich dabei mit ihren besten Freunden Doro und Lian verkracht. Außerdem stellen sich ihr die geheimnisvolle Guccifrau in den Weg, der Mann mit der Kapuze und Influencerin Lilapurple aus dem Internet, die Yeshi überredet, ihre braune Haut zu bleichen. Aber Yeshi lässt sich nicht aufhalten und probt heimlich ein eigenes Märchen, Yeshi-Style. Dafür braucht sie ihre Freunde. Kann Yeshi sie von ihrem Plan überzeugen? Dass Yeshi dunkelhäutig ist, adoptiert und in der Schule Mühe hat mit Lernen, dass und sie sich mit Ausgrenzung und Vorurteilen beschäftigen muss, das ist für Yeshi das tägliche Leben, normal. Kinder lieben die kleine Heldin (eine Art dunkelhäutige Pippi Langstrumpf) und folgen ihr atemlos auf ihren Wegen, die immer etwas anders sind, als man es gewohnt ist. Denn Yeshi ist, was wir Erwachsene als "Thinking outside the Box" bezeichnen würden. Sie entscheidet sich intuitiv - und tanzt durchs Leben, sensibel, offen, hartnäckig und voller Mut und Liebe zu den Menschen. Yeshi berührt immer wieder von Neuem.

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Yeshi ist dunkelhäutig und adoptiert. Sie hat einen Tanzfuß und manchmal einen steinfelsbetonharten Kopf. In der Weihnachtsaufführung will sie die Hauptrolle spielen. Prinzessinnen sind aber weiß, sagt Liv, die Beliebteste der Klasse. Mit Agentinnengespür macht sich Yeshi auf, um das Gegenteil zu beweisen. Yeshi-Style. Dafür braucht sie ihre Freunde: Lian, Doro, Lola-Mops und Tätowierer Stefano.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mit freundlicher Unterstützung von

«Einfach Yeshi» (Band 1 der Yeshi-Reihe) wurde das KIMI-Siegel für Vielfalt in Kindern- und Jugendbüchern verliehen.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Umschlag und Satz: Lynn Grevenitz | www.kulturkonsulat.com

Coverillustration: Henning Tietz | www.kulturkonsulat.com

Lektorat: Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

E-Book: CPI books GmbH, Leck

ISBN: 978-3-907238-05-9

Inhalt

Zu spät

Die falsche Jubel-Tube

Doro und die Fußball-Weltmeisterschaft

Die Gucci-Frau

Zwei Neue

Das Weihnachts-Musical

Voll kerativ

Das Karak-Tier

Abstimmungskampf

Die Jungs-Verschwörung

Mädchenversammlung

Die Abstimmung

So weiß wie Schnee

Es tut mir nicht leid

Yesherche

Lilapurple

Mission Bleichgesicht

Jeder ist das, was er ist

Die Kunst des Sichentschuldigens

Prinzessin Cococelle

Doppelpling mit Musikmagie

Schildkröte Lumi

Zu spät

«Beeil dich, sonst kommst du zu spät», rief mir Mama zu, bevor sie auf dem Fahrrad zur Arbeit flitzte, während ich zur Schule lief, in meinen pfefferminzgrünen Lieblingsturnschuhen. Sie haben ein winziges Loch neben dem kleinen Zeh. Da, wo das Loch ist, ist links.

Bei der großen Kreuzung blieb ich stehen und sah auf die Armbanduhr. Die ist ein Geschenk meines besten Freundes. Er heißt Stefano und ist Tätowierer, die Uhr hat er extra für mich gebastelt. Das Zifferblatt hat vier Ecken, jede davon gehört zu einer kleinen Schuhschachtel. Und jede Schachtel-Ecke ist so viel ist wie eine Viertelstunde. Die gelbgrünroten Zeiger zeigten eine Schuhschachtel vor ganz.

Das bedeutete, ich war nicht zu spät, Mama übertrieb, wie jeden Morgen.

Ich heiße übrigens Yeshi und bin zehn Jahre alt. Manchmal bin ich auch vierunddreißig und manchmal zwei. Ich habe einen Tanzfuß, ein Flatterherz, Schmetterlinge im Bauch und mein Kopf kann steinfelsbetonhart sein. Mit Zahlen hab ich es nicht so. Bis auf die Uhr, die hab ich jetzt gelernt.

Anstatt hoch zum Schulhaus lief ich die Straße hinunter. Eigentlich hatte Mama mich bringen wollen, weil es der erste Schultag nach den Herbstferien war. Der ist ja etwas ganz Besonderes.

«Kannst du allein gehen, Yeshi?», hat sie mich gleich nach dem Aufstehen angebettelt. «Du holst einfach Lian ab, okay?»

Lian hat blondes Fieselhaar, spricht Schwedisch und ist mein zweitbester Freund. Meistens gehen wir zusammen in die Schule. Außer wenn er Training hat oder üben muss, was dauernd der Fall ist. Lian ist überbeschäftigt. Sagt Mama. Sie muss es wissen, sie ist Expertin im vielen Arbeiten.

Gestern zum Beispiel war ein neuer Auftrag hereingeschneit. Einfach so, vom Himmel gefallen. Mama arbeitet in einem Verlag und lektoriert Geschichten. Das ist wie Aufsätze korrigieren. Manchmal hat sie wenig zu tun, dann ist sie schlecht gelaunt, weil sie Angst hat, unser Geld würde nicht reichen. Meist aber hat sie viel Arbeit und keine Zeit. Am liebsten hätte ich eine gut gelaunte Mama mit viel Zeit.

Himmelsblitzunddonnernochmal, du trödelst, Yeshi, hörte ich Mama in meinem Kopf. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Es ist eine Art Funk-Handy-Mama-Stimme.

Keine Angst, Mama, ich sag nur schnell Lola-Mops guten Morgen.

Lola ist mein drittbester Freund, eine niedliche, kleine Mopshündin. Streng genommen gehört sie nicht mir, sondern der alten Oma, die nicht meine richtige Oma ist, aber fast. Die Mops-Oma. Sie ist megalieb und hat endlos viel Zeit. Dafür vergisst sie manchmal Dinge. Und hören kann sie auch nicht mehr so gut. Darum klingle ich immer dreimal.

Endlich ging die Tür auf. War das ein Gebell und ein Hüpfen und ein Schlabbern! Lola-Mops kriegte sich fast nicht mehr ein vor Freude. Ich küsste sie auf die platte Schnauze.

«Kann ich Lola mitnehmen?», bettelte ich und machte den Mama-Blick.

Aber Oma blieb streng. «Hunde gehören nicht in die Schule. Und jetzt beeil dich, Yeshi. Du willst doch nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen.»

Nein, das wollte ich sicher nicht. Bevor ich loslaufen konnte, stoppte mich die Oma.

«Yeshi, deine Schnürsenkel.»

Uff, die waren wieder offen. Die gehen immer auf, wenn ich es gerade nicht brauchen kann.

«Weißt du was, komm am Nachmittag vorbei, dann zeig ich dir, wie das mit dem Binden geht, ich kenne einen Trick.»

Das war nett von der Mops-Oma. Ich winkte ihr zu und rannte mit dem Wind um die Wette, bis vor Lians Gartentor.

Lian wohnt in einer riesigen Villa mit einem ganzen Beet voll weißer Blumen, gleich neben dem Eingangstor. Mitten im Oktober. Wie schön die aussahen. Meine Lehrerin würde sich freuen.

«Blumen pflücken verboten!» Ida, die Haushälterin von Lians Familie, trat vor die Tür und sah mich streng an. Ida ist so was wie eine Mama und ein Papa zusammen, nur dass sie immer daheim ist. Sie putzt und kocht, liest Geschichten vor und bringt Lian ins Bett. Lians Eltern sind sehr oft unterwegs.

«Yeshi. Was machst du hier?», fragte Ida.

«Ich will Lian abholen», sagte ich.

«Der ist schon lange weg. Das solltest du schleunigst auch tun, es ist höchste Eisenbahn. Willst du gleich am ersten Tag einen Eintrag?»

Sicher nicht, das hatte ich Papa versprochen. Bis Weihnachten würde ich es ganz ohne Eintrag schaffen, keine Hausaufgaben vergessen und nie zu spät kommen.

Absolutgarniemalsnie.

Ich rannte los, sodass mein Lauffuß nur so wippte. Hab ich euch das schon gesagt? Ich habe auch einen Lauffuß. Der Tanzfuß und der Lauffuß zusammen sind ein tolles Team, mit denen schlage ich sogar den Wind. Wie jetzt gerade. «Hallo Felix, hallo Anil, hallo Paul», grüßte ich meine Schulkameraden im Vorbeilaufen.

Die drei standen beim alten Tramhäuschen, in dem früher die Trams geflickt worden waren. Es stand leer und Spielen war da nicht erlaubt. Im Garten stand ein Schild mit einem Totenkopf. Es sah gefährlich und sehr verboten aus. Aber das störte die Jungs nicht. Sie gehen gerne in den Garten, weil sie da ungestört Fortnite gamen können. So wie jetzt. Sie waren entweder auch zu spät oder die Schule hatte noch gar nicht begonnen.

Ich schaltete einen Gang zurück und überlegte, was ich meiner viertbesten Freundin Doro von den Ferien erzählen würde. Doro war bestimmt gespannt darauf zu hören, wie es mir in London ergangen war. Ich war nämlich zu meinem Papa gereist. Er lebt da seit fast einem Jahr. Jedes Mal, wenn ich ihn besuche, erlebe ich viele Abenteuer. Soll ich euch eines erzählen? Wie es war, als ich in die falsche U-Bahn gestiegen bin.

Die falsche Jubel-Tube

Bei meinem ersten Besuch in London sind wir mit einer unterirdischen Tram gefahren, einer U-Bahn. Die heißt Tube, Tjub spricht man es aus. Mittlerweile kenne ich sie gut. Aber beim ersten Mal war es mir nicht ganz geheuer, kann ich euch sagen. Man muss durch viele Gänge laufen und mit vielen Treppen hinunterrollen, bis man am Gleis ist. Da unten ist es wie im Bauch der Erde, heiß und stickig, manchmal ganz still, und dann donnert’s schlimmer als bei einem Gewitter. Und da sind ganz viele Menschen, ein richtiges Gewusel. Dunkelhäutige, hellhäutige, mit Kopftuch und Mützen und ohne. Ich habe ein kleines Mädchen kennengelernt, das hat seine blinde Mama geführt. Und einen alten Mann mit einem Papagei.

Als ich Papa nicht mehr gesehen habe, erschrak ich fürchterlich. Ich habe nämlich meinen Eltern und der Mops-Oma und Stefano und überhaupt allen, die ich kenne, versprochen, dass ich nie mehr verloren gehe. Absolutgarniemalsnie. Einmal hat gereicht.

Was da passiert ist? Eigentlich wollte ich nur ganz kurz den kleinen Tulu und seine Mama Sitina besuchen. Eine halbe Stunde. Die wurde aber immer länger und länger, weil ich auch noch meine pfefferminzgrünen Lieblingsturnschuhe finden musste. Ohne meine Freunde Lian, Doro und Lola-Mops wäre ich verloren gewesen. Darum passe ich seither immer so sehr auf.

Und trotzdem ist es in der Londoner Tube wieder passiert. All die vielen Leute, und dann hab ich Papa nicht mehr gesehen, nur noch Beine und Arme und Laptoptaschen und Papiertüten. Obwohl ich sofort stocksteif stehen blieb, tauchte Papa nicht mehr auf. Einen Moment lang war mir, als ob ich gleich zu weinen anfangen müsste. Da bin ich eine Schuhschachtelstunde in London und schon geht’s los. Wie Papa schimpfen würde, und Mama erst. Und die Angst, die sie ausstehen würden. Ich war wirklich verzweifelt. Da fielen mir die drei Ausrufezeichen ein, von den Büchern. Mama hat mir die vorgelesen und die drei Mädchen lösen jeden Fall. Was die können, kann ich auch, habe ich mir gesagt.

Also habe ich einfach scharf überlegt, so richtig agentinnenmäßig. Mit Papa und Mama hatte ich verabredet, dass ich immer an den Ort zurückgehe, wo ich sie verloren habe. Nur hatten wir nicht daran gedacht, dass man den Ort nicht immer weiß. Hm. Plötzlich hatte ich eine glitzerluftige Superidee. Ich würde einfach an den Ort gehen, wo wir hinwollten. Zum London Eye, dem großen Riesenrad. Da fährt eine Tube-Linie hin, ganz direkt ohne umsteigen. Jetzt musste ich nur noch herausfinden welche. Ich fragte mich durch und war froh, dass meine Lehrerin in der Schule so viel Englisch mit uns geübt hat. Denn fast alle verstanden mich und ich habe die richtige U-Bahn gefunden. Sie hat einen lustigen Namen, sie heißt Jubilee-Line, ich nenne sie Jubel-Tube.

Nur leider fuhr die Jubel-Tube falsch. Andersrum. In die Gegenrichtung. Zum Glück war da eine Schulklasse mit Kindern in Schuluniform. Ein Junge hatte Kraushaar wie ich und ein Handy. Und dann machte ich das Schlauste überhaupt: Ich rief Papa an. Seine Handynummer habe ich auswendig gelernt. Außerdem steht sie auf meiner Schuhschachteluhr. Papa war voll froh, geschimpft hat er nur ein winziges kleines bisschen.

Als er mich abholen wollte, habe ich ganz cool gesagt: «Nicht nötig, Papa, ich komme zu dir.»

Der Junge und ein Mädchen haben mich in die Mitte genommen. Aussteigen, hochflitzen, runterflitzen, eine Station zurückfahren, wo Papa auf mich gewartet hat.

«Yeshi, du kluges Mädchen.»

Er sagte, er sei schuld, er habe nicht gut genug auf mich aufgepasst. Ich glaube, er war stolz auf mich und darauf, wie gut ich das Problem gelöst habe.

«Das war genau richtig.»

«Agentin Yeshi – Weg finden: Check», sagte ich.

Da hat Papa gelacht. Und wir haben einen Notfall-Plan gezeichnet. Damit ich noch besser weiß, was zu tun ist, falls mir das wieder passiert.

«Bei dir kann man nie wissen», sagte Papa.

Als ich ihm zusätzlich ein Notfall-Handy herausleiern wollte, schlug Papa das Argumente-Spiel vor. Das spielen wir fast jeden Tag. Wie das geht, wollt ihr wissen?

Wenn Papa und ich nicht dasselbe wollen, sammle ich ganz viele Backsteine. Jede Idee ist ein Backstein. Und zusammen ergeben sie meine Argumente, die Papa überzeugen sollen. Ein schwieriges Wort, denkt ihr? Nein, ganz einfach. Das Argumentmädel hat es mir beigebracht. Es sitzt irgendwo in meinem Kopf, trägt eine spitze Mütze und eine grüne Jacke und schmeißt Papa Backstein-Argumente vor die Füße, bis er nicht mehr kann und nachgeben muss. Normalerweise. Nur leider, leider hat es diesmal nicht geklappt.

Papas Argument wog mehr als all meine Backsteine zusammen.

«Ein Handy gibt’s erst, wenn du zwölf bist, Yeshi. Und bis dahin muss der Notfall-Plan reichen.»

Na ja, fand ich, manchmal fühle ich mich wie zwölf und manchmal wie hundert, darum hätte ich ein Handy voll verdient.

Danach habe ich es aber irgendwie vergessen, so viel habe ich mit Papa erlebt. Auf dem Riesenrad habe ich eine große Purzeldrehrolle gemacht und wir waren in der Harry-Potter-Ausstellung und in einem Museum voller Bilder. Und schon waren die Ferien vorbei.

Auf dem Weg zurück in die Schweiz hat mir der Zauberstab von Hermine Granger geholfen. Eigentlich hatte ich ja nicht ins Flugzeug steigen wollen.

«Ich streike, Papa», hab ich gesagt, «wegen des Klimas.»

Ich habe ihm erklärt, dass Fliegen voll schädlich ist. Habe ich von Greta gelernt. Im Internet habe ich einen Film über sie gesehen. Sie segelt meistens um die Welt, im Piratinnen-Style. Das finde ich cool. Papa hat mir erklärt, dass wir ein anderes Mal das Schiff nehmen. Diesmal würde es nicht gehen. Weil er arbeiten musste und für mich am nächsten Tag die Schule wieder beginnen würde.

Schließlich flog ich dann doch, auch wenn ich viel lieber gesegelt wäre. Ich habe Hermines Zauberstab festgehalten und geflüstert: «Agentin Yeshi – durch die Luft sausen: Check.»

Ich war nämlich ganz allein. Also, bis auf die anderen dreitausendfünfhundert Fluggäste. Nur keiner, der zu mir gehört hat. Das ist so, wenn die Eltern getrennt leben. Papa in London und Mama in Zürich. Ich pendle hin und her.

Unser Pendel-Mädchen, sagen meine Eltern.

Die Turmuhr schlug eine Schuhschachtel nach ganz und riss mich aus meinen London-Erinnerungen.

Himmelsblitzunddonnernochmal, du trödelst, Yeshi, sagte Mamas Funk-Handy-Stimme in meinem Kopf.

Easy, Mama, ich laufe schließlich schneller als der Wind, ungefähr fast so wie ein Gepard.

Als mir der Verkäufer aus der Bäckerei zuwinkte, machte ich trotzdem einen Schnellstopp.

«Da, Yeshi, siehst ganz verhungert aus», sagte er und gab mir ein Croissant. «Beeil dich, du hast noch eine Minute.»

Ich steckte das Croissant in die Tasche, obwohl mir das Wasser im Mund zusammenlief. Am Nachmittag würde ich es Lola-Mops bringen. Und dann lief ich einfach schneller als zwei Geparde zusammen. Gerade als die Glocke klingelte, schlüpfte ich durch die Tür.

Agentin Yeshi – fast pünktliche Ankunft: Check.

Zum Willkommenslied nach den Ferien hatte sich die ganze Schule im Singsaal versammelt.

«Hey Yeshi, du bist zu spät», sagte Doro und machte mir Platz. Wie gesagt, Doro ist mein viertbester Freund. Meistens. Wenn sie nicht gerade glibberschlabberquallenmäßig drauf ist. Nach der Begrüßung gingen wir ins Klassenzimmer. Da war keine Frau Morgenstern, dafür unsere Schulleiterin.

Sie sagte, dass Frau Morgenstern länger krank sei. Für den Anfang würden wir in einer anderen Klasse unterkommen. Und danach würden wir weitersehen. Das klang nicht gut. Ich war sehr traurig. Und beschloss, Frau Morgenstern bald zu schreiben.

Doro und die Fußball-Weltmeisterschaft

«Schreiben wir Frau Morgenstern zusammen einen Brief?», fragte ich Doro am nächsten Tag in der großen Pause.

«Später», sagte Doro. Sie trug eine lila Mütze und dribbelte einen Ball vor sich her. «Nachdem ich trainiert habe. Kannst ja mitmachen.»

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mit Doro trainieren macht Spaß. Ich packte Stift und Papier in meine Hosentasche und ging neben Doro zur Spielwiese mit dem Fußballtor. Da sind meistens die Jungs. Das ist so bei uns. Die Jungs auf der Wiese, die Mädchen auf der alten Treppe. Doro ließ den Ball vor dem Tor liegen und machte ein paar Dehnübungen. «Was geht ab, Alte?»

Wie sprach sie bloß? War sie in den Ferien erwachsen geworden?

«Und bei dir?», fragte ich zurück und dehnte mich ganz doll. «Geht’s dir gut?»

Doro war mal sehr krank und schwach gewesen. Ein Krebs. Ein fieser Kerl. Er hat ihr alle Haare geklaut. Aber sie hat ihn verjagt. Nur die Mütze, die sie immer trägt, erinnert noch daran. Dass sie heute so viel Sport machen kann, ist ein Wunder, sagt ihr Paps. Er ist mit meiner Mama befreundet und heißt Gian. Früher, als ich ihn noch nicht so gut kannte, habe ich ihn Zahnfletsch-Gian genannt. Doro lebt bei ihm, weil ihre Mutter so viel unterwegs ist.

Doro schwieg. Das ist typisch. Bei ihr muss man immer dreimal fragen.

«Erzähl doch, Doro», sagte ich. «Wie war’s im Fußballlager?»

Doro spielt Fußball in einer Mädchenmannschaft. Die haben einen megacoolen Plan: Sie wollen zur Fußball-Weltmeisterschaft. Doro sagte immer noch nichts, sie schaute mich auch nicht an, sie ignorierte mich. Wieso ich dieses komplizierte Wort kenne, wollt ihr wissen? Ignorieren ist in, das machen jetzt alle.

«Sag doch mal was, Doro», bettelte ich. «Haben sie dich ausgewählt? Wirst du Stürmerin?»

Als sie die Schultern zuckte, machte ich einen Luftsprung.

«Glitzerluftig! Ich gratuliere dir! Du fährst mit deiner Mannschaft nach Kopenhagen.»

Da will sie nämlich das Siegestor schießen, davon träumt sie jede Nacht. Und manchmal auch mitten in der Mathestunde. Sie sagt es nicht laut, aber ich weiß es auch so.

Doro sah mich nur finster an und schüttelte den Kopf.

«Oh nein.» Es hatte nicht geklappt. «Es tut mir leid, dass sie dich nicht gewählt haben. Die sind voll fies.»

Endlich machte Doro den Mund auf.

«Deine Schnürsenkel sind offen, Yeshi», sagte sie.

Nun schwieg ich, obwohl es mich fast zerriss. Wenn man will, dass Doro spricht, muss man die Klappe halten.

«Ich war gar nicht im Lager», sagte sie nach einer Weile.

«Ist der Krebs zurückgekommen?», fragte ich ganz leise und ganz vorsichtig, so etwa wie Lola-Mops, wenn sie einen viel größeren Hund anwinselt.

Doro schniefte ein wenig.

«Nein. Die Trainerin hat gesagt, ich bin noch nicht so weit. Ich müsse an meinem Teamgeist arbeiten. Bis Weihnachten habe ich Zeit. Dann entscheiden sie, ob ich zur Weltmeisterschaft darf oder nicht.»

Teamgeist? Das war doch was Gutes?

«Sollen wir den zusammen suchen? Ich kann dir dabei helfen.»

Doro fand es nicht lustig. «Sei nicht so naiv, Yeshi. Ich finde Teamgeist blöd. Ich schieße meine Tore einfach besser allein als im Team. Dass die Spinatköpfe das nicht kapieren!»

Stimmt. Doro macht alles am liebsten allein.

«Trotzdem ist es unfair, dass du deswegen nicht in den Ferien warst», sagte ich.

«In den Ferien war ich schon», sagte Doro. «Ich hab sogar eine Goldmedaille gemacht, im Wettschwimmen. Voll geil.»

«Wo wart ihr denn?», fragte ich.

«Auf der Lenzerheide.»

Plötzlich flatterte mein Herz wie wild. «War Mama etwa bei euch?»

In Mamas Lesebuch habe ich nämlich gestern vor dem Einschlafen einen Prospekt gefunden, mit Tannen, verschneiten Häusern und einem Schwimmbecken mit Glitzerlichtern, mitten im Schnee.

«Sag schon, Doro.» Ich packte sie am Arm. «War Mama bei euch in dieser Heinzerlinde?»

«Ja, war sie. Und übrigens heißt das Lenzerheide. Ich dachte, du gehst ins Legasthenie-Training?»

«Du lügst doch!», sagte ich. «Mama war zu Hause am Arbeiten.»

«Dann lügt sie …» Doro machte einen fiesen Laut. «Ich hätte gut auf sie verzichten können. Abends ist deine Mama mit Paps ins Thermalbad und ich durfte nicht mit. Nur für Erwachsene. Falsche Schlange.»

«Mama ist keine falsche Schlange. Nimm das sofort zurück, Doro». Jetzt war ich echt wütend. «Sonst spreche ich nie mehr ein Wort mehr mit dir, Glibberschlabberqualle. Absolutgarniemalsnie.»

«Nicht mehr sprechen? Das schaffst du nie im Leben, Kackbohne.» Kackbohne ist ein rassistisches Schimpfwort. Überhaupt nicht in Ordnung. Doro darf es nur benutzen, wenn ich sie Glibberschlabberqualle nenne und wenn wir allein sind.

«Wetten?», sagte ich und machte den Funkel-Starrblick.

Als Doro verlor, dribbelte sie den Ball zum kleinen Seiteneingang hinter dem immergrünen Busch, wo wir uns manchmal reinschleichen. Sie zielte und schoss mitten in die Glastür. Mit voller Wucht. Es gab einen großen Knall.

Dann war es ganz still.

In der Tür war ein langer Sprung.

Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, war Doro verschwunden. Und in meinem Bauch wuchs ein roter Ballon.

Die Gucci-Frau

Ich hatte Papier und Bleistift aus der Hose geklaubt und wollte gerade den Brief an Frau Morgenstern schreiben, als ich gestört wurde. «Erfindest du einen Roman, Yeshi? Wir müssen rein, es ist höchste Eisenbahn», sagte Lian, der plötzlich neben mir stand.

Ich musste lachen. «Du klingst genau wie Ida, eure Haushälterin. Die sagt auch immer höchste Eisenbahn – Was machst du eigentlich morgens, Lian?», fragte ich. «Immer wenn ich dich abholen will, bist du schon weg. Trotzdem kommst du zu spät in die Schule.»

«Ich gehe ins Ballett-Training. Mit der Schule ist abgesprochen, dass ich zu spät kommen darf.»

Lian übt für die Prüfung an einer Tanzschule.

«Trainierst du auch nachmittags?», fragte ich.

Als er nickte, wurde ich traurig. «Das ist voll blöd. Dann können wir uns nie mehr Pony-Geschichten ausdenken.»

Lian antwortete nicht. Ich glaube, er fühlt sich zu erwachsen für meine Spiele. Dafür machte er große Augen, als er den Sprung in der Glasscheibe bemerkte.

«Warst du das?» Er sah zu meinem Tanzfuß.

Bevor ich Lian von Doro und der Heinzerlinde erzählen konnte, öffnete er die Tür.

«Beeil dich, Yeshi. Wir sollten reingehen. Der neue Lehrer ist da.»

Schon war er weg. Ich steckte den angefangenen Brief an Frau Morgenstern in meine Tasche. Ich habe sie sehr gemocht. Dass sie nicht mehr meine Lehrerin war, fand ich echt schade. Sie war auch nicht wirklich krank, mit Grippe oder so. Frau Morgenstern war ausgebrannt. Ausgebrannt ist, wenn man nicht mehr kann, wenn sozusagen alles Benzin weg ist. Papa und ich haben mal ein ausgebranntes Auto gesehen, und ich sage euch, das überlebt niemand.

Gerade als ich Lian hinterherlaufen wollte, bemerkte ich eine Frau. Sie versteckte sich hinter dem immergrünen Busch, war ganz dünn und ihre Haare waren so lang wie ein Vorhang. Und sie hatte ein supermodernes Smartphone. Ich erkannte es von Weitem. Weil Lian auch so eines hat und ich auch gern eines hätte, aber das wisst ihr ja schon.

Die Frau hielt das Handy hoch in die Luft, als ob sie etwas filmen würde. Komisch. Der Haupteingang zu unserem Schulhaus ist doch nicht interessant und die vielen Kinder, die sich da gerade reindrängen, auch nicht.

Ich schlich mich näher, bis ich ganz dicht hinter dem Busch stand. Die Frau bemerkte mich nicht, so konzertiert war sie. Wieso ich konzertiert sage? Ich verdrehe manchmal Wörter, ein richtiger Buchstabensalat.

Als ich nur noch eine Lineallänge von der Frau weg war, sah ich, dass sie lauter Sachen von Gucci trug. So heißt eine Modemarke, die einige Mädchen meiner Klasse cool finden. Die Krokodilmädels, also Bianca, Julia, Lumi und die anderen. (Wenn ihr wissen wollt, warum ich sie Krokodilmädels nenne, müsst ihr mein erstes Abenteuer lesen.)

Zu Beginn, nachdem ich neu hergezogen war, dachte ich, Gucci sei etwas zu essen. Zum Glück hat Mo mir alles erklärt. Sie ist die Freundin vom Tattoo-Stefano und lebt mit ihm in der Wohnung über dem Tattoo-Shop. Sie ist richtig gut in Zöpfchenflechten, in Musik und in Mode.

«Zwei verschlungene Gs sind das Muster von Gucci. Das findest du auf Taschen und Schuhen und Gürteln und Kleidern. Es ist sehr, sehr teuer. Früher haben so was nur alte Damen getragen, nun wollen es alle», hat sie mir erklärt.

Ob mein Taschengeld für so einen coolen Gucci-Gürtel reichen würde, hab ich Mo darauf gefragt.

Sie hat Nein gesagt: «Nicht für einen echten, höchstens für ein Fake.»

Fake bedeutet falsch, besser gesagt, gefälscht. Darum ist es billiger.

Bei der Frau hinter dem Busch, die immer noch am Filmen war, sah es megaecht und megateuer aus. Die Schuhe hatten hohe Absätze mit Goldnoppen. Der Mantel war dunkelgrau und der Gürtel so breit wie ein Teppich.

«Ist das Gucci?», fragte ich.

Der Frau fiel fast das Handy aus der Hand.

«Was soll das, du hast mich total erschreckt», schimpfte sie.

«Entschuldigung, das wollte ich nicht», sagte ich. «Suchen Sie etwas?»

«Das geht dich nichts an.»

Das fand ich echt nicht nett. Ich meine, ich hatte mich entschuldigt, wie Mama mir das beigebracht hat.

«Handys sind auf dem Pausenplatz verboten», sagte ich. «Wenn Herr Madovic Sie erwischt, gibt’s ein Donnerwetter.»