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Wohlfühlkrimi mit einer liebenswert chaotischen Detektivin vor der Kulisse der atemberaubenden Bretagne. Tereza Berger, vierzig, geschieden, süchtig nach Milchschokolade, erbt ein Haus in der Bretagne, auf der malerischen Halbinsel Crozon. Es entpuppt sich als neobretonische Bruchbude an der Dorfstraße von Camaret-sur-Mer. Trotzdem ist es Liebe auf den ersten Blick – hier will sie sich den Traum einer eigenen Buchhandlung erfüllen. Als ein Deutscher, der das Künstlerdorf zu einer Touristenattraktion machen wollte, tot am Strand gefunden wird, gerät Tereza unter Mordverdacht. Irgendjemand will sie aus ihrer neuen Heimat vertreiben. Doch ihr Kampfgeist ist geweckt ...
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Seitenzahl: 360
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Gabriela Kasperski war als Moderatorin im Radio- und TV-Bereich und als Theaterschauspielerin tätig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie in Zürich und ist Dozentin für Synchronisation, Figurenentwicklung und Kreatives Schreiben. Ihre Sommerferien verbringt sie seit vielen Jahren in der Bretagne.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Montage aus istockphoto.com/jazzpote, shutterstock.com/brickrena
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-595-4
Originalausgabe
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Für meine Familie: Auf unsere Bretagne-Sommer!
Pris de la Prière à l’Océan
Ciel à l’envers, Hublot de l’enfer, Quelqu’un de formidable parmi tous les êtres, Chose la plus grande parmi tant de choses, Geste le plus vaste parmi tous les gestes, Majesté la première au rang des majestés, Océan, Catastrophe constante, Agrégat de tourmente, Tragédie sans fin …
Gebet an den Atlantik
Der Himmel steht Kopf, das Fenster zur Hölle, wunderbarst im Wunderbaren, größer als alles, unendlicher als jedes, königlicher als die Könige, mein Ozean, schicksalsträchtig, wo Qualen verschmelzen, ewige Tragödie …
Saint-Pol-Roux, 14. August 1927
Camaret-sur-Mer, 11. April
»Presqu’île Sophie«/Radiosendung
»Coucou, bonjour und herzlich willkommen zu ›Presqu’île Sophie‹. Haben Sie den Sturm der letzten drei Tage gut überlebt? Ich hoffe es inständig. Auf unserer wunderbaren Halbinsel hat es mit Windstärke acht getobt, es war der reine Weltuntergang. Jetzt stehe ich bei strahlendem Sonnenschein am Strand von Pen Hat in Camaret-sur-Mer, wo heute Morgen eine Leiche angeschwemmt wurde: der siebzigjährige Baumeister Bruno Y., in seiner Freizeit Fischer, wie viele andere Männer unseres Dorfes auch. Über die Hintergründe des Unfalls hat der Staatssender ›France Deux‹ bereits mit Gabriel Mahon gesprochen, dem Commissaire der Police nationale in Brest, vorübergehend stationiert auf der Presqu-île de Crozon. Die Polizei geht davon aus, dass Bruno Y. in einen Meeresstrudel der Iroise geraten ist. Die Interessenvereinigung Frauen von Camaret hat in einer Mitteilung einen Zusammenhang zwischen der Stärke der Meeresströmungen und dem Klimawandel festgestellt. Die Polizei nimmt dazu keine Stellung. Ich habe nun das Glück, die Surflehrerin Ayala Ngkachana vor das Mikrofon zu bekommen, die die Leiche gefunden hat.
Madame Ngkachana, die tödlichen Strömungen von Pen Hat sind bekannt, Warnschilder weisen darauf hin. Und doch steht Ihre Surfschule da. Haben Sie täglich das Leben vieler Urlauber riskiert?«
Presqu’île de Crozon, 12. Juli
»Merde alors.« Vor Schreck machte ich eine Vollbremsung.
Eben noch war ich durch einen Platzregen gefahren, an einer düsteren Kirche, einem zugeparkten Dorfkern und einem Supermarkt vorbei. Hier war wirklich zwölf Uhr mittags, Endstation. Ich hätte den Hausverkauf doch einem Makler übergeben sollen. Ganz ohne persönlichen Bezug, so wie es mein Ex-Mann empfohlen hatte: Haus verscherbeln, Geld einsacken, ab nach Hause. Und nun das.
Die Straße kippte einfach nach hinten. Da war nur noch ein Himmel von prachtvollstem Blau zu sehen, der übergangslos ins Meer abtauchte, ebenso leuchtend, ebenso blau. Dazu ein Hafen, gesäumt von einer Zeile bunter Häuser, hingeklatscht an eine Mole, begrenzt von einer schroffen Klippe. Über alledem lag eine Art orange-golden-sandfarbenes Licht und verwandelte die Aussicht in ein Bild, ein Bild von schockierend betörender Schönheit.
Zu Hause würde ich sagen: Kitsch. Hier war ich erschlagen.
Bis mich ein Hupen aus der Stimmung riss.
»Idiotin, pennst du?«, schrie der Fahrer in astreinem Deutsch und zeigte mir den Stinkefinger.
Ich entschuldigte mich gestisch und legte den Rückwärtsgang ein. Er klemmte. Meine himbeerrote Ente, genannt DD, war ein Auslaufmodell, genau wie ich.
Im Fünfzig-Grad-Winkel hebelte ich das Getriebe aus. Wäre DD gestern in der Inspektion gewesen, sie wäre durchgefallen. Darum hatte ich sie in die Bretagne entführt, ins Finistère, das »Bout du Monde«, das Ende der Welt im äußersten Westen Europas.
Nachdem ich ein kleines Industrieviertel passiert hatte, zog sich die Straße in einer langen Kurve über einen Hügel, während am Horizont bereits die nächste Wolkenwand auftauchte. Wohin war all das Blau verschwunden? Bestimmt kam jetzt die Schlechtwetterperiode. Mein Ex hatte mir zu Öljacke und Winterstiefeln geraten, mit hämischem Grinsen, weil er meine Kältephobie kannte. Und meine Sensibilität, wenn es um Schokolade ging. Zum Abschied hatte er mir eine Familienpackung Truffes du Jour mitgegeben, die besten, die von Sprüngli. Nur ich wusste, wie es gemeint war. Nicht nett auf jeden Fall.
Ich hatte mir vorgenommen, die Pralinen wegzuschmeißen, aber die Versuchung war stärker gewesen, immer wieder hatte ich einen der Schokohaufen in den Mund gesteckt. Ekelhaft triebgesteuert, schlimmer als unser Hund, wie gut, dass ich für einige Wochen in eine Schokoladenwüste fuhr.
Zum dritten Mal umrundete ich einen Kreisel. Die Namen auf den Schildern sagten mir nichts, es musste Bretonisch sein. Ich wählte nach dem Zufallsprinzip und kam an einem Weiler voller geduckter Natursteinhütten vorbei. Stein mag ich nicht. Wo Stein ist, gibt es Spinnen.
Manche Häuser waren jedoch anders: mehrstöckig, mit Schieferdächern samt Giebelfenstern und taubenblauen Läden. »Maison neobretonne«, so stand es in den Unterlagen. Nun verstand ich, was damit gemeint war: gehobener Landhausstil. Direkt am Atlantik. Das Haus würde sich verkaufen lassen wie nichts. Und ich wäre fein raus. Das wäre mal eine Abwechslung, Tereza Manon Elektra Berger – ohne Geldsorgen.
Und dann passierte es wieder. Die Straße kippte. Ein breiter Sandstrand rutschte ins Bild, die Gischt der Wellen so hell, dass weiß zu dunkel war.
Oh mein Gott! In der Besitzurkunde war die Rede von Meerblick gewesen, vue sur mer.
Ich verdoppelte den Verkaufspreis im Kopf und parkte DD auf einem Grasstreifen. Wasser, so weit das Auge reichte. Eine unfassbare Aussicht – zum Sterben schön. Ich stieg aus und verharrte minutenlang. Bis ich einen Punkt im Wasser bemerkte. Ein Surfer? Sah er nicht das Schild: Plage de Pen Hat, tödliche Strömung, Baden verboten! Für den dümmsten aller Touristen versehen mit einer unmissverständlichen Zeichnung. Stopp. Gefahr. DANGER. Wer hier reingeht, riskiert sein Leben.
Der Surfer verschwand in einem Wellental, war ganz offensichtlich in Not. Würde ich das schaffen? Meine Zeit als Rettungsschwimmerin lag Jahre zurück. Normalerweise sitze ich im Sessel und fiebere dem Ende auf Buchseiten entgegen.
Aber der orange Punkt brauchte Hilfe, und außer mir war niemand da. Also rannte ich zum Wasser, schlüpfte aus meinem Flatterrock, aus den Sandalen und dem Poncho. Das T-Shirt behielt ich an. Meine Dellen wollte ich keinem zumuten, auch nicht, wenn es um Leben und Tod ging.
Kaum im Wasser, klatschte mich eine Welle um. Ich bekam Panik, stand auf, nur um erneut zu straucheln. Und noch mal. Am Ende ertrank ich noch vor dem Surfer.
Da umfassten mich zwei Hände, und ich erblickte einen orangen Neoprenanzug.
»Vous êtes folles? Verrückt!«, schrie eine Stimme.
Einen Moment standen wir schwankend zusammen, bis mich die Frau, die sich als die Surferin entpuppte, in Richtung Strand zog.
»Wollten Sie hier schwimmen?«, fragte sie, während ich meine durchnässten Kleider einsammelte. »Ist verboten, haben Sie das Schild nicht gesehen?«
Ihr Französisch klang eigenartig, und ich wechselte für meine Antwort ins Englische. Das bewahrte mich vor der Entscheidung, ob ich sie duzen sollte. Sie schien mir ein Jahrhundert jünger als ich.
»Natürlich habe ich das Schild gesehen. Aber du offenbar nicht. Ich dachte, du hast ein Problem.«
»Ich sag’s doch, du spinnst.«
Die Frau nahm eine kleine Kamera ab, die an einem Band um ihren Kopf befestigt war. Als sie die Bademütze wegzog, enthüllte sie eine Fülle von langen, dünnen Zöpfen und erklärte, dass sie Ayala Ngkachana heiße und Surflehrerin sei.
»Das ist meine Bude.« Sie zeigte zum anderen Ende des Strandes, dahin, wo die Klippe begann. »Schon die dritte Saison.«
Tatsächlich. Direkt bei den Felsen, umrahmt von einer überwucherten Ruine, war ein Holzbau zu erkennen. Einige Surfbretter in bunten Farben lehnten an der Wand, daneben ein Feigenbaum im Kübel, violette Sommerclematis und zwei wehende Flaggen: weiß-schwarz für die Bretagne, rot-weiß-grün-gelb-schwarz für Südafrika. Daneben ein Schild mit einer geschwungenen Schrift – »Surf Silver Spray«.
»Ich gebe Workshops. Longboard, Skimboard, Wellenreiten, alles, was du willst.« Ayala schüttelte ihre Zöpfe, dass die Spritzer nur so flogen.
»Wie kannst du hier unterrichten, wenn Baden verboten ist?«
»Normalerweise ist das kein Problem.« Sie runzelte die Stirn. »Aber im Frühjahr wurde eine Leiche angeschwemmt. Nun sind alle panisch.«
»Eine Leiche?«
»Genauer gesagt zwei. Der eine war ein Einheimischer, der fand, er sei stärker als das Meer, der andere ein Student, der fand, er sei klüger als das Meer.«
Sie erzählte mir den philosophischen Aspekt der Todesfälle, als ob sie eine Einkaufsliste herunterrattern würde.
»So tragisch es ist«, erklärte Ayala, »aber die waren bekloppt. Selbst schuld, kann ich da nur sagen. Wären sie bei mir im Kurs gewesen, wäre das nicht passiert. You don’t fuck around with the sea, if you know what I mean.«
Ayala stellte sich auf ein Badetuch und schälte sich aus dem Neoprenanzug. Normalerweise die plumpeste Tätigkeit der Welt, wirkte es bei ihr elegant, umso mehr, weil die Wassertropfen auf ihrer dunklen Haut so schön glitzerten. Danach reichte sie mir das Handtuch und zeigte auf den V-Ausschnitt meines nassen T-Shirts.
»Du hast einen üblen Ausschlag. Kälteallergie?«
Ich nickte. »Alles unter dreißig Grad gilt bei mir als Eismeer.«
»Dann wird der Atlantik eine Herausforderung für dich.«
»Ich will ja nicht bleiben.« Ich sammelte meine Kleider ein, bevor ich hinter Ayala herging. Bei der Hütte legte sie die GoPro-Kamera auf den Klapptisch und schloss sie an ihr Handy an. Plötzlich fühlte ich einige Tropfen. Als ich nach oben sah, war der Himmel dunkelgrau. »Kommt schlechtes Wetter?« Ich zog den Poncho um mich.
»Ach was, das wird gleich wieder. Hier oben gibt es vier Jahreszeiten, einmal pro Tag.« Ayala lächelte mich an. »Wie heißt du eigentlich? Und warum willst du wieder gehen? Normalerweise wollen die Leute hier gar nicht mehr weg.«
Eine lange Geschichte. Ich entschloss mich für die Kurzversion. »Tereza Berger. Ich habe ein Haus geerbt, das will ich verkaufen.«
»Du meinst jetzt? Also, gleich? Kein guter Zeitpunkt. Die Toten vom Strand.« Ayala zeigte zum Verbotsschild. »Sie wirken verkaufsschädigend.«
Sie erklärte mir, dass die Strömungen schon einige Male zu Unfällen geführt hatten. Aber noch nie habe es so kurz hintereinander zwei Tote gegeben. Pech für mich? Ach wo, Schwierigkeiten waren dazu da, überwunden zu werden. Mit Hilfe eines guten Maklers würde ich das schaffen. Ayala konnte mir keinen nennen, nicht ihre Domäne. Aber sie empfahl mir eine Bar am Eingangskreisel von Camaret, das »La Coquille«, da würde ich alles Wichtige erfahren.
Während ich mich in meinen feuchten Rock zwängte, bot Ayala mir einen Keks aus einer bemalten Blechbüchse an. Er schmeckte himmlisch.
Ayala schüttelte sich. »Reine Butter, ich hasse sie. Ich brauch bloß die Verpackung. Sie ergibt die perfekte Sparbüchse.«
»Du lässt hier Bargeld rumliegen?«
Sie fand das normal. »Zu Hause in Kapstadt wär das nicht möglich. Aber hier klaut keiner.«
Nun langte sie in eine Eisbox, holte zwei Getränke raus. »Breizh Cola, the best.«
Es schmeckte eigenartig, bitter irgendwie.
»Kannst du mir mehr erzählen?«, fragte ich. »Über diese Ertrunkenen?«
Sie wischte ihre Finger an der Hose ab, nahm ihr Handy und zeigte mir ein Bild.
Es war einer der Toten. Ein entsetzlicher Anblick. Als ich würgte, wischte sie das Bild weg.
»Der Baumeister von Camaret. Ich habe ihn gefunden«, erklärte Ayala. »Das Foto wurde von beiden örtlichen Zeitungen übernommen, ›France Ouest‹ und ›Télégramme‹. Ich habe einen Deal mit denen, gegen ein Foto schalten sie Werbung für die Surfschule. Normalerweise sind es Landschaftsbilder. Sieh mal.« Sie fand ein weiteres Foto. Darauf waren Tausende Schattierungen von Blau.
Ayala zeigte aufs Meer hinaus. »Die berühmten Wirbel der Iroise.« Dann auf das verblichene Symbol der flatternden Flagge. »Alles im Triskel enthalten. Steht für Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Oder für Erde, Luft und Wasser. Nun konzentrier dich auf das Foto. Na, was siehst du?«
Es war faszinierend: Wenn man lang genug daraufschaute, erkannte man drei Kreise.
»Hast du das Bild auch gemacht?«
Ayala nickte. »Beim Surfen. Meine Spezialität. Ganz okay, nicht wahr?«
Bei ihr wirkte es nicht eingebildet, eher bescheiden. Dabei war der Schnappschuss unfassbar gut.
»Es kam im ›Surf-Magazin‹. Das Honorar finanziert mir drei Wintermonate, wenn die Touristen abgereist sind und ich keinen Cent mehr verdiene. Krass, nicht?«
»Was ist die Iroise?«
»Die Strömung, wo Atlantik und Nordsee zusammenkommen, die keltische See und der Ärmelkanal. Wer da reingeschlürft wird, kommt nicht lebend zurück.«
»Geschlürft? Das klingt nach Austern«, schwächte ich die Dramatik ab. »Soll ja eine bretonische Spezialität sein.«
Ayala nickte und empfahl mir gleich ein Restaurant am Hafen von Camaret-sur-Mer, »Les Viviers de la pêche Camarétoise«. »Die haben jeden Tag frische, sie sollen super sein. Ich war nie da, keine Zeit, im Sommer arbeite ich rund um die Uhr. Sonnenuntergangs-Surfing, weißt du? Der Kurs ist ausgebucht bis Ende September.«
Ich schüttelte mich. »Ich glaube nicht, dass ich Austern essen werde. Ich bin eher der Schokolade-Typ.«
In dem Moment lief ein Pärchen über den Strand, je ein gerolltes Tuch unter dem Arm.
»Das sind Einheimische«, erklärte Ayala. »Niemand von hier kümmert sich um das Verbot. Es ist für die Touristen.«
Wenn ich mir so was in einer Zürcher Badeanstalt vorstellte.
»Du gibst weiterhin Kurse? An einem Strand mit zwei Leichen?«
»Natürlich nicht. Du findest mich mal da, mal da. Surfnomadin je nach Gezeiten- und Algenlage. Diese Woche bin ich bei La Palue. Hinter den Erbsen da vorn.«
Damit meinte sie eine Reihe gezackter Felsen, die sich in absteigender Größe ins Meer hinauszogen. »Offiziell ist da Schwimmen auch verboten. Trotzdem surfen wir weiter.«
Sie erklärte mir, dass es sogar in Küstennähe gefährliche Strömungen geben konnte und die Gemeinde bislang die Verantwortung den Badenden überließ. »Noch. Die polizeilichen Untersuchungen sind im Gang. Ein Kommissar aus Brest, der immer in den Sommermonaten die Gendarmerie unterstützt. Sie arbeiten mit dem Meeresinstitut zusammen und messen die Strömungen.«
»Hast du keine Angst?« Ich zeigte zum Meer.
»Nö. Wir Frauen sind fein raus.«
»Was meinst du damit? Ertrinkt man hier geschlechtergetrennt?«
»Es gibt eine alte bretonische Sage, in der die Schlürferin einen Namen hat: Morwen.«
»Eine Sagengöttin als Ursache? Ich hätte auch eher auf den Klimawandel getippt.«
Sie lachte. »Meine Worte. Aber die Leute von hier ticken anders. Sagen sind allgegenwärtig. Es ist das Land der Kelten.«
»Nimmst du das ernst?«
Sie trank ihre Breizh Cola leer. »Die Sage ist auf jeden Fall geheimnisvoller als die Klimawandeltheorie. Morwen ist sehr durstig. Alle hundert Jahre will sie drei Männer für sich. Ein Toter ist also noch fällig. Und dann hätten wir wieder Ruhe.« Ayala nahm mir die Flasche aus der Hand. »Du bekommst übrigens eine Gratis-Surfstunde. Skimboarden, die einfachste und älteste Surfart. Als Dank dafür, dass du mich ›gerettet‹ hast.« Sie zwinkerte mir zu. »Keine Angst, du bist nicht allein. Les Femmes de Camaret kommen auch zum Training.«
Mir schwirrte der Kopf ob all der Namen. »Wer sind diese Frauen von Camaret?«
»Erklär ich dir ein anderes Mal. Ich zähl auf dich.«
Sie winkte mir zu und rannte zu ihrem Van, der am Rand des kleinen Sandplatzes geparkt war, der Anhänger voll mit Boards.
Das Bild des Ertrunkenen fiel mir ein. Der Körper am Strand, die starren Augen, das aufgedunsene Gesicht. Bedeckt von den dünnen, überlangen Armen der rötlichen Algen. Klimawandel oder die schlürfende Sagengöttin?
***
Als ich das Faltdach öffnete, weil es so heiß geworden war, röchelte DD. Ja klar, sie wollte endlich ankommen und ungefähr hundert Stunden am Stück schlafen, genau wie ich auch.
Die letzten Monate waren hart gewesen. Da sagt dir dein Chef nach einem Vierteljahrhundert Loyalität, Überstunden und Sonntagsarbeit, dass er dich entlässt, und anstatt zusammenzubrechen, verwickelst du ihn in eine Knutscherei. Hatte ich mal in einem Film gesehen, schien mir die einzig adäquate Reaktion, schließlich raubte der Typ mir meine Existenz.
Wenn ich daran dachte, wurde ich rot. Noch röter beim Gedanken an die Wohnungsabnahme, die auf die Kündigung folgte. Obwohl alles herausgerissen werden würde, hatte ich sauber putzen müssen. Prompt hatte der Besitzer Kalkspuren nachgewiesen. Der Blick, mit dem er meine untere Hälfte – zu dick – und meine obere Hälfte – zu dünn – musterte, sprach Bände. Die komplizierte Nachreinigung und die Reparaturen hatten mein Budget gesprengt. Das Abschiedsessen mit den Kindern war mager ausgefallen, Take-away-Thai, Hühnchen für mich, Tofu für meine Brut.
»Ich hol es nach, ihr Lieben, sobald ich das Haus verkauft und die Wabe bezogen habe.«
Wenn die Kinder ausgezogen sind und man fast die Hälfte des Lebens noch vor sich hat, kauft man sich Alters-Waben. Meine Freundin Brigitte Eulmann hatte das Projekt ausfindig gemacht. Wir kennen uns seit Kindertagen. Sie ist gelähmt, führt trotzdem eine eigene Praxis, ist eine brillante Anwältin. Ich bewundere sie für ihren Lebensmut und ihre Energie.
Brigittes Einrichtungsplänen hatte ich neidisch zugehört, während ich mit meinem Krempel in der WG meiner Tochter untergekommen war. So eine Wabe war leider zu teuer für mich. Bis ich erfahren hatte, dass ich in der Bretagne ein Haus geerbt hatte, das Haus meiner mir bis dahin komplett unbekannten Großpatentante Annie Gisler, so eine Art Schwester meiner Oma – komplizierte Verhältnisse. Ihr Tod lag schon einige Monate zurück, sie war im Februar gestorben. Maître Rebetez, ein Anwalt aus Brest, hatte ausführliche Nachforschungen betreiben müssen, um mich zu finden. Denn im Testament stand mein alter Name: Elektra Berger. Vor vielen Jahren, nach dem Tod meiner Eltern, hatte ich einen Wechsel vorgenommen: Aus Elektra war Tereza geworden. Nicht mehr den Namen einer griechischen Tragödin tragen zu müssen, hatte mich entlastet.
Auf dem Schwarz-Weiß-Foto war das Haus nur unscharf zu sehen. In der Beschreibung aber stand: »Vue sur mer«, Meeresblick. Brigitte und ich hatten Immobilienpreise gegoogelt, und, was soll ich sagen, bei Meeresblick, da rollen die Euros.
»Es gibt eine Drittelmillion«, hatte ich Brigitte prophezeit.
Auch wenn sie skeptisch geblieben war, die Erbschaftssteuern seien in Frankreich astronomisch, ließ ich mich nicht deprimieren. Eine Drittelmillion. Das war genau der Betrag, den ich bräuchte. Dank Brigittes guten Beziehungen war ich sogar auf die Waben-Warteliste gekommen. Abgesehen von einer sofortigen Anzahlung hatte ich vier Wochen Zeit für einen Finanzierungsnachweis.
Mein Plan: ankommen, schlafen, Maklerin finden, Haus verkaufen und wieder heimfahren. Dass das nicht in ein paar Stunden zu bewerkstelligen war, hatte ich vorausgesehen. Und den Kofferraum bis zum Eichstrich mit Büchern gefüllt. Um mir die Wartezeit zu versüßen.
Als das Schild auftauchte, unterdrückte ich einen Schluchzer. Camaret-sur-Mer. Ich hatte das Meer im Ortsnamen! Das würde den Verkaufspreis erhöhen. Damit könnte ich den Kindern die Ausbildungen finanzieren. Wenn die beiden Toten vom Strand mir keinen Strich durch die Rechnung machten. Ich beschloss, mich diesbezüglich umzuhören. Konnte nicht schaden, wenn ich mehr wusste als meine künftigen Hauskäufer.
Im Fahren versuchte ich, die Umgebung zu sichten. Einige Plakate säumten die steile Einfahrtsstraße, Cité des Portuaires, Cité des Ecrivains, Cité des Artistes, alles recht künstlerisch. In einer Biscuiterie legte ich einen Zwischenstopp ein und besorgte mir eine blecherne Keksdose, die noch größer war als Ayalas. Ich fühle mich immer erleichtert, wenn die Nahrungsmittelversorgung gewährleistet ist.
An einem geschlossenen Sportshop und einer Pizzeria mit rosa Schild vorbei zuckelte ich zum Quai hinunter und staunte über die samtblaue Bucht voller Segelschiffe. Wo war denn nun die Bar, die Ayala erwähnt hatte, das »La Coquille«?
Auf der Hafenmole war der Bär los, ein Gewusel von Autos und Menschen. Ich bemerkte Restaurants und Segelboote, eine Reihe von rot-grünen Mini-Katamaranen, einige Schiffswracks, einen lachsrosa Turm, eine uralte Steinkirche. Es roch nach Abgasen, vermischt mit der gleichen scharfen Duftnote wie eben an der Plage de Pen Hat. Von Angst war hier nichts zu spüren. Es gab jede Menge Touristen, deutsche, englische und französische, das entnahm ich den Wortfetzen, die ich aufschnappte.
Ein Wagen fiel mir auf, blau, mit einem weißen Seitenstreifen, auf dem »Gendarmerie« stand. Der Typ in Uniform und Béret plauderte mit einer Frau an einem Crêpes-Stand. Alles sehr friedlich. Ayala hatte übertrieben.
»Pardon. Wissen Sie, wo das ›La Coquille‹ ist?«
Der Gendarm beugte sich zu meinem geöffneten Fenster. »An der Place de Gaulle. Gleich am Anfang beim Kreisel.« Er lachte mich an. »Gute Wahl. Beste Bar am Platz.«
Einmal mehr suchte ich nach dem Rückwärtsgang und fuhr alles wieder zurück. Ich musste dringend auf die Toilette, Zeit für einen Halt.
Einen Parkplatz zu finden, war unmöglich. Hinter einem verrosteten Pick-up stellte ich mich schließlich direkt vor der Bar ins Halteverbot. »La Coquille«, stand auf der Markise. Eine winzige Frau in Stöckelschuhen, mit blondiertem Haar und aprikosenfarbenen Lippen winkte mir vom Tresen her zu: Kein Problem, für einen kurzen Moment könne ich hier parken, dem Gendarm würde sie es erklären, falls nötig.
Als ich einen Kaffee avec énormément de lait orderte, stellte sie keine Fragen, wie ich das gewohnt war.
»Mit unglaublich viel Milch? Aber gern, wird gemacht.«
Sehr freundlich, fand ich, ein guter Empfang.
Aus dem Innern drang Musik auf die schmale Holzterrasse, die sich, blumengeschmückt, von der Front bis zur Seite zog, »La Ballade des gens heureux«. Schrecklich, ein Ohrwurm, den man nie mehr loswird.
Mein bestes Französisch und den Notizzettel hervorkramend, bat ich die Frau nach dem Toilettenbesuch um eine Wegbeschreibung zu meiner maison neobretonne. Von Zürich aus war es nicht möglich gewesen, den genauen Standort herauszufinden, der Straßenname, der auf der Besitzurkunde stand, ploppte auf keiner Karte auf. Darum hatte ich mich entschieden, vor Ort zu recherchieren.
Die Frau setzte ein Lesebrillchen auf die Nase, während sie ungefragt einem kolossartigen Mann im dunkelblauen Kapuzenregenmantel drei Packungen Gauloise blau ohne Filter und eine Zeitung über den Tresen schob.
»Voilà, chéri, da, für dich, und jetzt setz dich nach draußen, hier bist du mir im Weg, Armand.«
Dann studierte sie die Angaben auf dem zerknitterten Papier.
»Pardon, das kann ich nicht lesen.« Die Barfrau drehte das Radio leiser und wechselte das Programm. Dabei warf sie einen verstohlenen Blick auf die Terrasse. Als ob sie Angst hätte.
»Coucou, bonjour und herzlich willkommen bei ›Presqu’île Sophie‹. Heute aus Camaret-sur-Mer, wo, wie überall in Frankreich, die Vorbereitungen für den Nationalfeiertag laufen. Noch zweimal schlafen, bis es so weit ist.«
Ein örtliches Programm also. Die weibliche Stimme klang warm, und vor allem erzählte sie von einem Ort, an dem ich gerade war. Ich war hin und weg.
»›Le Spectacle‹, das Feuerwerk, wird von der Tour de Vauban aus gezündet. Unser Wahrzeichen, unser Blickfang, unser Schmuckstück. Der Turm steht kurz vor seiner Eröffnung. Es gibt jedoch ein Haar in der Suppe. Der Umbau hat sieben Jahre gedauert. Sieben Jahre! Wir haben uns umgehört und eine Spezialistin aus dem Kreis der Compagnons gefunden, das sind die nationalen Expertinnen, die solche Umbauten fein säuberlich und meist von Hand während Monaten ausführen. Sie ist die Jüngste, eine Hiesige, und ihre Aussage ist klar.«
Eine raue, jünger wirkende Stimme gab Auskunft. »Der Umbau war viel teurer als geplant. Obszön teuer. Es gab Bauverzögerungen wegen Fehlplanung und Problemen mit dem Heimatschutz.«
Nun übernahm wieder Sophie. »Die Expertin will anonym bleiben. Der zuständige Bürgermeister war für eine Stellungnahme nicht erreichbar, seine Stellvertreterin Gwenn Yrne …«
»Zut. Arrête!«
Der scharfe Ruf des Kolosses mit Namen Armand brachte die Bardame auf der Stelle dazu, den Radiosender zu ändern. Dass niemand protestierte, erstaunte mich, denn gleich darauf klang Joe Dassins »Eté indien« durch den Raum. Musikkitsch anstelle brisanter lokaler Neuigkeiten um eine Fehlplanung in der Renovation des örtlichen Wahrzeichens? Eine spannende Wahl. Dieses Dorf interessierte mich immer mehr.
Die Frau gab mir den Kaffee in die Hand und zeigte zur Männergruppe auf der Terrasse.
»Fragen Sie die nach der Adresse.«
Ein Mann mit einer dunkelblauen Schirmmütze, knielanger Shorts und Flipflops steckte sich ein Würstchen in den Mund, bevor er das Papier glatt strich und einen Fettfleck auf meiner Schrift hinterließ.
»Direkt am Meer, haben Sie gesagt? Kann es sein, dass Sie die Mole meinen?«
»An der Mole war ich schon, da bin ich nicht fündig geworden. Tut mir leid, meine Schrift. Es soll eine Villa sein.«
Ein weiteres Würstchen in der Hand, zeigte der Mann auf den Hügel voller Häuser.
»Das sind les maisons de Camaret. Die Villen von Camaret, Mademoiselle.«
Mademoiselle? War das ein Kompliment oder eine Beleidigung?
»Nicht auf einem Hügel, das Haus liegt direkt am Meer«, sagte ich.
»Meint sie die Rue Quatre Vents?«, sagte der Mann zu Armand, der neben ihm an seiner Gauloise sog.
Seine Antwort bestand aus kehligen Lauten, die wie Kauderwelsch klangen. Bretonisch? Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Sprache im Alltag nicht mehr gesprochen wurde.
Nun mischte sich ein dritter Mann mit weißem Haarbusch und geringeltem Wollpulli samt Schal ein, seinerseits mit einer Elektrozigarette beschäftigt.
»Pardon, Mademoiselle, suchen Sie vielleicht das ›Hôtel Styvell‹? Oder das ›Thalassa‹? Die sind auf der anderen Seite des Hafens und haben Meerblick.« Sein Französisch war viel eleganter als das der anderen.
Ich verneinte. »Nein, mein eigenes Haus.«
Genau. Auch wenn ich es gleich wieder verkaufen würde, just in diesem Moment war es meins. Automatisch tätschelte ich meine Boule-rouge-Tasche, in der sich die vielen Dokumente und Gutachten befanden, die ich beim Notar würde vorweisen müssen.
»Sie sind die Besitzerin? Madame la propriétaire?«
»Jawohl«, sagte ich. »Kann es sein, dass die Villa Vauban heißt?«
»Vauban?« Der Mann mit der Schirmmütze zeigte dorthin, wo sich die Hafenmole ins Meer hinauszog. »Das ist der Turm Vauban. Wird gerade renoviert. Den können Sie nicht besitzen, der gehört der Gemeinde.«
»Und Gwenn«, ergänzte der mit dem Edel-Französisch.
Alle drei schüttelten sich vor Lachen über den Scherz, den ich nicht verstand. Allerdings fiel mir der Name auf. Gwenn. Den hatte die Radiomoderatorin doch eben in ihrer Sendung über den Turm erwähnt. Interessant, diese bretonischen Namen. Vielleicht sollte ich mich vorstellen?
Allgemeines Händeschütteln, ich erfuhr, dass der Schirmmützenmann Isidore Breonnec hieß und der mit dem Ringelpulli Erwan Danieau.
Über der Turmspitze stand eine dunkle Wolke, das ganze Blau war verschwunden. Auch der Wind war stärker geworden, ich fror, zog den Poncho um mich.
»Meint sie die ›Villa Wunderblau‹?«, sagte die Barfrau, die wieder auf die Terrasse gekommen war.
Der Name von Tante Annies Haus veränderte die Sachlage auf einen Schlag. Von dem folgenden blitzschnellen Hin und Her verstand ich nichts. Irgendetwas schien Armand zu erzürnen.
»Sie ist la petite Suisse.«
Seine Worte klangen wie eine Anklage. Die die Bardame milderte, indem sie in trillerndes Lachen ausbrach. »Genau. Die kleine Schweizerin.«
Das war mein Stichwort. Ich holte die fast leere Pralinenschachtel aus der Tasche, bot die geschmolzenen Schokokugeln in die Runde und, was soll ich sagen, sie waren im Nu weg. Armand schien besänftigt und die Bardame erleichtert.
»Sie sind Annies Nichte?«, fragte Isidore Breonnec schmatzend.
»Eine Art Großnichte«, sagte ich, »es ist kompliziert, ich erkläre es Ihnen ein anderes Mal. Jetzt will ich mir aber endlich mein Haus ansehen. Den Schlüssel soll ich in der Mairie abholen …«
»Da haben Sie Pech«, sagte Isidore. »Unser Bürgermeister ist im Urlaub.«
»Urlaub nennst du das?« Erwan grinste süffisant.
»Was auch immer. Die Mairie von Camaret wird auf jeden Fall umgebaut. Schrecklicher Bau, was Modernes.« Das Wort spuckte Isidore aus wie saure Milch. »Sie müssen nach Crozon.«
Nach Crozon? Das war der Hauptort der Insel, da war ich gerade vorbeigefahren.
Isidore winkte ab. »Heute Nachmittag ist geschlossen. Die sind erst morgen wieder im Büro.«
Bravo. Wie kam ich ohne Schlüssel ins Haus?
Das interessierte keinen mehr, denn der Pullovermann stieß einige Laute aus und zeigte auf die Uhr. Worauf die anderen beiden ihre Kaffees stürzten und mit ihm davoneilten.
Die Barfrau tätschelte meinen Arm. »Grämen Sie sich nicht, hat nichts mit Ihnen zu tun. Die sind im Stress. Bis zur Feier muss noch viel gemacht werden, Tische und Bänke, die Tribüne. Und dann … le Spectacle, das Feuerwerk. Es soll grandios werden.«
Einen Moment lang war nur eine Melodie zu hören, so traurig-schön, dass ich Gänsehaut bekam.
Die Barfrau summte einige Takte. »Bro gozh ma zadoù. Unsere eigene Hymne, die bretonische.« Sie erklärte mir außerdem, dass am Nationalfeiertag, am quatorze juillet, das ganze Dorf auf den Beinen sein werde. »Wir feiern gern hier, in der Bretagne.«
Dann unterbrach sie sich. »Ich bin eine blöde Plaudertasche. Warten Sie, ich zeichne Ihnen den Weg auf.«
Sie nahm einen Stift und setzte sich an einen der kleinen Bistrotische, dessen Oberfläche aus einem Bild bestand. Ein düsteres Tier mit acht Beinen, eine Art Spinne. Die blütenweiße Serviette, auf die die Frau den Plan zeichnete, bildete einen scharfen Kontrast.
»Das Haus ist sehr schön«, meinte sie versonnen, »eines der schönsten von Camaret.«
Eine wunderbare Nachricht. »Wissen Sie vielleicht einen guten Makler?«, fragte ich.
»Sie wollen es verkaufen?«
Als ich nickte, notierte sie ihre Telefonnummer. »Schade. Überlegen Sie es sich gut. Rufen Sie mich an, wenn Sie sich eingerichtet haben.«
Sie heiße Magalie Kerouag, sei jeden Tag im »La Coquille« anzutreffen, von sechs bis vierzehn Uhr, außer sonntags.
»Merci beaucoup«, sagte ich. »Vielen, vielen Dank.« Bevor ich in meinen Wagen einstieg, drehte ich mich noch mal um. »Was war das eben für ein Streit?«
»Ach, nichts Wichtiges. Die Straße, in der Ihre Tante wohnte, wurde umbenannt. Nun heißt sie Rue des Beaux Arts.«
»Die Straße der schönen Künste«, sagte ich. »Wie passend. Camaret soll ja ein Künstlerdorf sein.«
»Sehr bescheiden. Es gibt allerdings Leute, die es berühmt machen wollen.«
***
»Attention. Passen Sie auf. Wollen Sie mich überfahren?«
Abrupt bremste ich ab.
Vor mir stand ein Gott. Braun gebrannt, weißblonde Kringel, Augen wie Heidelbeeren. Ein hellgrünes Leinenhemd, der Oberkörper durchtrainiert, er sprach akzentfreies Hochdeutsch.
»Hier können Sie nicht parken, es ist Halteverbot.«
»Ich habe kein Schild gesehen.«
Er deutete auf den selbst bemalten Karton an einem Schaufenster.
»Marchée, parking interdit«, von Montag sieben Uhr bis Sonntag neunzehn Uhr.
»Wo soll denn ein Markt sein?«, fragte ich.
»Morgen. Dann ist hier alles voll mit Ständen und Menschen.«
»Ein Kunstmarkt?«
»Klamotten, Gemüse, Käse.« Der Mann sah mich neugierig an. »Mögen Sie Kunst?«
Ich nickte. »Kultur generell. Ich komme aus dem Buch-Bereich. Camaret soll ja eine verdeckte Perle sein.«
»Das wird sich ändern. Dass die Perle verdeckt ist, meine ich. Wir haben viel vor.«
Nun verstand ich Magalies Andeutung von eben. Es sollte Veränderungen geben.
Eh ich es mich versah, zog der Gott sein Handy hervor. Würde er mir auch eine Leiche zeigen? Vielleicht als Kunstinstallation?
Es war das Foto eines Schriftzugs, »Galerie Lukesch« war in geschwungener Schrift auf eine Glastür gemalt. Er war Maler und lud mich ein, sein Werk zu besichtigen.
»An der Place Saint-Thomas, im alten Künstlerviertel.«
»Ist das die Rue des Beaux Arts?«, fragte ich. »Ich suche die Nummer eins.«
»Auf die Hausnummern können Sie nicht gehen. Bei mir in der Straße gibt’s die Eins sogar viermal. Wir sind hier in der Bretagne.«
Sein offener Mund enthüllte eine Reihe perfekter Zähne, bis auf einen, der leicht abgebrochen war.
»Die Straße hieß früher anders«, sagte ich, auf meinem Anliegen beharrend.
»Ach so. Sie suchen das Haus von Annie Gisler?«
Ach nein. »Sie haben sie gekannt?«
Er nickte. »Es ist traurig, dass sie gestorben ist. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen das Grab zeigen.«
Ich schluckte, war gerührt. »Gern, vielen Dank.«
»Es ist etwas ganz Besonderes«, sagte er. »Ein wenig illegal, es passt zu Annie.«
»Wieso illegal?«
Er ging nicht darauf ein. »Sie hat mich unterstützt. Zwei Bilder hat sie mir abgekauft, sie hängen in der Villa. Und meine Idee, das Neubeleben des Künstlerviertels, fand sie …« Er stockte. »Merveilleux, Severin, hat sie gesagt. Wunderbar.«
Der Gott hieß also Severin. »Severin Lukesch aus Köln.« Er deutete eine Verbeugung an.
»Sie hat Französisch mit Ihnen geredet?«
»Mais bien sûr. Du musst ihre Sprache sprechen, die Bretonen sind da eigen.«
»Können Sie auch Bretonisch?«
Severin gab ein paar kehlige Laute von sich.
»Was soll das heißen?«, fragte ich. »Sie sind eine blöde Touristin?«
Er grinste. »Im Gegenteil. Ich habe mich gefragt, wer diese zauberhafte Gesetzesbrecherin sein könnte?«
Ich fühlte mich wider Willen geschmeichelt. »Ich bin Annies Erbin. Eine Art Großnichte, die Verhältnisse sind kompliziert.«
»La petite Suisse?«
Dieselben Worte wie die Einheimischen. Ich erzählte ihm von meinen Verkaufsplänen.
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Severin. »Das Haus ist uralt, es muss extrem viel gemacht werden.«
Machte er mir mein Erbe madig?
Bevor ich darüber nachdenken konnte, quetschte sich Severin neben mich in die Ente.
Wie er roch! Nach einem Gemisch aus Salz und Zitrone.
Als aus den Lautsprechern meines Autoradios »Love over Gold« von den Dire Straits tönte, machte er das Daumen-hoch-Zeichen und lotste mich zurück zum Quai, wo wir neben dem Crêpes-Stand, der mir eben schon aufgefallen war, anhielten. Nach dem Aussteigen begrüßte er die grauhaarige, sonnenbebrillte Dame mit Umarmung. Ein Berührer, der Mann.
»Kommen Sie.« Er blickte zu mir. »Ein kleiner Willkommensgruß. Die Crêpes von Aileen, die müssen Sie gekostet haben.«
Seifte er mich ein? Essen gehen, davon war keine Rede gewesen. Dennoch stieg ich aus. Mit Nahrung kriegt man mich fast immer herum.
Gierig biss ich in die warme Crêpe. Zucker, Eier, dazu süßer Apfelkompott und jede Menge Butter.
»Mögen Sie es?«, fragte Aileen.
»Ohnegleichen«, sagte ich mit vollem Mund und stellte mich auf ihre Einladung hin neben sie. Das Wetter hatte schon wieder gewechselt, die Sonne brannte vom Himmel.
»Hier ist Butter ein Muss«, erklärte Aileen, während sie mit einer Kelle in der Eimasse herumrührte.
»Ihr Französisch hat den englischen Akzent, weil sie eine ausgewanderte Britin ist«, erklärte Severin. »Aileen ist schneller als die Konkurrenz, sie backt Crêpes im Minutentakt. Kommen Sie gegen Abend noch mal vorbei, dann ist der Stand völlig überlaufen, die Schlange geht bis zur Place de Gaulle.«
Sie betreibe eine kleine Geschenkboutique, im Sommer mit Crêpes-Stand. Ihr Mann Emil Vanderbroucke sei der Ortspolizist von Crozon und Camaret-sur-Mer. Er meinte den Gendarmen, der mir eben den Weg gezeigt hatte und der nun, sein kantiges Kinn vorgestreckt, den Verkehr beobachtete.
»Bonjour, Emil, ich habe eine Bitte«, rief Severin und ging zu ihm. Soweit ich es hören konnte, ging das Gespräch um eine Bewilligung für seine Galerie. Die beiden schienen sich zu mögen.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte ich leise zu Aileen, die längst mit der nächsten Crêpe beschäftigt war. »Die Toten vom Strand … sie haben keine Auswirkung, wie es aussieht. Hier wimmelt es von Touristen.«
Sie hielt inne, den Teiglöffel in der Hand, und sprach, ohne mich anzusehen. »Nicht mehr lange. Beim dritten Toten wird alles anders.«
Das klang düster. »Rechnen Sie damit?«
»Natürlich.« Der Teig tropfte neben die Kochplatte.
»Es waren Unglücksfälle, sagt man.«
»Nie im Leben.«
»Was dann?«
»Auf jeden Fall waren es keine Zufälle.«
Mehr war nicht aus ihr rauszukriegen.
»Was denken die Leute von hier?«
»Kommt drauf an, mit wem Sie sprechen. Die einen beruhigen ihr Gewissen, indem sie die Schuld auf die böse Morwen schieben, die anderen auf den Klimawandel.«
»Wer sind die anderen?«, fragte ich.
Aileen holte einen Schwung Nutella aus einer Dose. »Die Police nationale. Verbreiten die Theorie, dass die Strömungen immer schlimmer werden. Mein Mann Emil findet das auch.«
Das klang nach Konflikt.
»Und Sie?« Ich wischte mir den Mund mit einer Serviette ab.
»Der eine Tote, Bruno Yrne, war ein Fuchs. Er hatte ein Zweiklassensystem. Wir mussten viel weniger bezahlen für den Umbau als andere. Außerdem hat er sich gegen eine autofreie Hafenmole gewehrt.«
»Ein Mann mit vielen Feinden also.«
Bevor sie mir Antwort geben konnte, winkte Severin mir zu. »Gehen wir, Tereza«, sagte er.
»A tout.« Aileen wirkte plötzlich reserviert.
»Sehr gern.« Ich hoffte, dass ich hier nicht zum letzten Mal gegessen hatte. »Entschuldigen Sie meine indiskrete Fragerei.«
Noch ganz unter dem Eindruck des Gesprächs ließ ich mich hinter dem Steuer nieder und fuhr nach Severins Angaben durch das Einbahnstraßen-System des Viertels.
»Voilà, die ehemalige Rue de Verdun Numéro un«, sagte er schließlich, als wir das letzte Haus einer ganzen Reihe auf einer Anhöhe erreicht hatten. Ein schmaler Durchgang trennte es von den anderen.
Wir parkten direkt neben der Haustür und stiegen aus.
»Villa Wunderblau.« Der deutsche Name prangte auf einem Emailleschild. Er erinnerte mich an Pippi Langstrumpf. In den Granitstein über der Eingangstür war die Jahreszahl 1920 gemeißelt.
Ein Schauder durchfuhr mich. Das Haus war keine Villa, aber auf schäbige Weise grandios. Mit hellen Mauern, zwei Lukarnen und Schieferdach. Eine Glastür, umrahmt von verwaschenem Blau, führte in ein Ladenlokal mit einem Schaufenster, auf dem einige verblichene Flyer hafteten. Einer stach mir ins Auge.
»Surf Silver Spray«, las ich. »Das ist Ayala.«
»Kennen Sie sie?«, fragte Severin. »Sie hat mit Annie gesurft.«
»Gesurft? Mit einundachtzig?« Annie war eine alte Frau gewesen.
»Sie war die erste Surflehrerin Camarets«, erklärte Severin.
Das schien mir unglaublich. Meine Großtante entpuppte sich als Wundertüte.
»War hier mal ein Geschäft?« Ich deutete auf das Schaufenster.
»Ursprünglich war es wohl ein Friseur, Annie hat es für alles Mögliche genutzt. Zuletzt als Bibliothek. Sie hat übrigens viele deutsche Bücher. Hier gibt’s ja nur französische, vielleicht haben Sie das schon bemerkt. Das hat Annie geärgert. Sie hat oft Bücher verliehen und nie mehr zurückbekommen.« Der Gott lächelte. »So war sie, Ihre Tante. Sehr offen, auch wenn sie eher zurückgezogen hauste.« Er zeigte in Richtung des Dorfes. »Das Leben beginnt vorn an der Place Saint-Thomas, hier ist das tote Ende. Außer wenn Markt ist. Dann ist es überfüllt, und die Touristen pinkeln in die Hausecken.« Er deutete auf ein bemaltes Kartonschild an der Hausmauer. »Das Halteverbot müssen Sie nicht ernst nehmen.«
»Wohnen Sie in der Nachbarschaft?«, fragte ich.
»Vorn in Morgat. Auch ein Hafendorf, aber mit mehr Stil. Kommen Sie mal vorbei.«
Bevor ich der Einladung folgen konnte, sollte ich duschen. Noch hatte ich allerdings keinen Schlüssel. Auch für dieses Problem wusste Severin Rat.
»Ich zeig Ihnen, wie man reinkommt.«
Ich folgte ihm nicht gleich, blieb stehen, nahm alles in mir auf. An den Moment würde ich irgendwann zurückdenken. Das Leben verändert sich meist schleichend. Das hier war größer.
Plötzlich sah ich eine Bewegung hinter einer Scheibe im Haus gegenüber. Ich winkte. Mit den Nachbarn sollte man sich gut stellen.
Dann packte ich meine Handtasche und folgte Severin in einen großen Garten, voll mit orangen, gelben und violetten Blumen und wucherndem Gras. In der Mitte stand eine Linde. Eine Linde in der Bretagne? Der Duft war betörend. Darunter ein alter Liegestuhl, halb verrottete Korbsessel um einen rostigen Blechtisch. Was für eine wunderbare Nachmittagsstimmung.
Auf der Suche nach einem Hausschlüssel hob Severin die Blumenschale neben dem Hintereingang an. Darunter war nichts. Auch der Kerzenständer daneben gab nichts her, erst beim Vogelbad wurde er fündig. In der Kuhle fand er nicht nur vertrocknetes Laub und eine Million Kellerasseln, sondern auch einen alten Schlüssel.
»Hier klaut keiner. Verbrecherquote gleich null.« Er wischte den Schlüssel an seiner Jeans ab und drückte ihn mir in die Hand. »Voilà.«
»Pardon«, sagte ich und schniefte ein wenig. »Ich bin überwältigt, mein eigenes Haus. Schade, dass ich es gleich wieder verkaufen werde.«
Severin unterbrach meine Rührseligkeit. »Ich habe einige Kontakte, die trotz der Lage und der Schäbigkeit interessiert sein könnten.«
Interessant. Ein guter Geschäftsmann, wie mir schien. Würde er gleich die Leichen erwähnen, um mich im Preis zu drücken?
»Sie haben bestimmt von den Toten gehört. Es ist eigentlich kein guter Zeitpunkt zum Verkaufen.«
So ein Gauner.
Als ob er meinen Stimmungswechsel spürte, legte Severin das Gehabe ab. »Ehrlich gesagt, ich habe es darauf angelegt, Sie kennenzulernen. Sorry wegen der Charade. Man hat mir Ihr Kommen bereits angekündigt.«
»Wer? Magalie Kerouag vom ›La Coquille‹?«, fragte ich.
Severin blieb vage. »Neuigkeiten reisen schnell auf Crozon. Aber kommen Sie erst mal an. Wer weiß, vielleicht gefällt es Ihnen so gut, dass Sie hierbleiben wollen.«
Ein Blickwechsel. Etwas zu lang.
»Na, dann will ich mal«, sagte ich. »Die vue sur mer anschauen.«
»Das Haus soll Meerblick haben? Annie ist wirklich eine echte Bretonin geworden. Übertreibt es sogar im Sterben«, sagte er.
Kein Meerblick und eine todbringende Strömung? Nicht gerade ermutigend. Mir war nach Schokolade zumute.
Als ich die Packung aus der Tasche zog, war nur noch eine einzige der Pralinen übrig. Ich bot sie Severin an, alles andere wäre unhöflich gewesen.
Er sei eher der Austern-Typ, meinte er. Es gäbe da eine Bar am Hafen, die hätten immer frische, auch anderen Fisch, falls ich Lust habe.
»›Les Viviers de la pêche Camarétoise‹«, sagte ich.
Er staunte. »Sie sind ja schon ausgesprochen integriert. Sollen wir mal zusammen hingehen?«
Gute Leistung, fand ich. Kaum eine Stunde hier und ein Date mit einem Gott.
***
»Sind Sie seine Gattin?«, fragte eine warme Stimme, als sich Severin mit zwei Küsschen verabschiedet hatte und in Richtung Place Saint-Thomas davonschlenderte.
Ich fuhr herum. Vor mir stand eine alte Frau. Spitze Nase, schneeweißes Haar, Haube auf dem Kopf, hellgraue Schwesterntracht, eine Basttasche mit einigen Baguettes in der Hand. Sie wirkte zäh und zerbrechlich zugleich. Neben ihr eine zweite Schwester, viel jünger. Sie stand bloß da und sah durch mich hindurch. Die Elektrobikes der beiden wirkten wie ein Stilbruch in einem alten Gemälde.
»Madame Lukesch aus Köln?«, wiederholte die alte Nonne und trat näher.
Der Typ hat eine Frau? Auch das noch, dachte ich. »Er hat mir nur den Weg gezeigt.«
Sie nahm mir meine Gleichgültigkeit nicht ab. »Grämen Sie sich nicht. Ich glaube, er hat sie erfunden. Die Gattin aus Köln, meine ich. Um sich die Frauen vom Leib zu halten. Er ist sehr beliebt hier. Er macht’s mit Charme, ein Schürzenjäger. L’Homme qui aimait les femmes.«
Ich verstand die Anspielung auf den Truffaut-Film. In der Zürcher Buchhandlung war die DVD-Abteilung meine Sache gewesen.
»Der Mann, der die Frauen liebte? Warum sprechen Sie in der Vergangenheit? Er ist sehr lebendig.«
»Sie sagen es. Aber er spielt ein gefährliches Spiel.«
Die Nonne schwächte die Drohung mit einem Lächeln ab und schüttelte mir die Hand. »Bienvenu. Sie müssen Annies Großnichte sein. Herzlich willkommen, ich bin Sœur Nominoë. Und das ist Sœur Jeanne. Wir sind auf dem Heimweg.«
Unglaublich, das Buschtelefon hier: Auch die Nonne wusste Bescheid.
Ich stellte mich vor.
»Teresa?«, fragte Sœur Nominoë. »Wie Mutter Teresa?«
»Tereza Manon Elektra Berger«, sagte ich. Und fügte die übliche Erklärung an. »Mein Vater war Opernkritiker.«
Dass sie nickte, als ob sie verstünde, war mir sympathisch.
»Können Sie mir sagen … in den Unterlagen steht: ›maison neobretonne mit vue sur mer‹. Hat das Haus denn nun Meerblick oder nicht?«
Sœur Nominoë lachte. »Ich sage es mal so: Geistig sieht man das Meer überall. Auch wenn man es nicht sieht.«
Mit anderen Worten, Severin hatte recht gehabt. Ich zog innerlich die Fünfzigtausend wieder ab und gleich noch mal so viel wegen des toten Straßenendes und der Toten am Strand. Ob es in Winterthur auch kleinere Waben gab?
Sœur Nominoë hatte mittlerweile mein Auto begutachtet.
»Eine nette Ente. Ich würde sie allerdings wegstellen. Morgen ist Markt, Sie riskieren eine Strafe«, sagte sie. Dann zog sie einen Flyer hervor. »Wir machen nächste Woche eine soirée musicale mit unseren Kindern. Beehren Sie uns mit einem Besuch? Wir würden uns freuen. Das Haus beim Leuchtturm, es liegt direkt am Küstenwanderweg und ist am besten zu Fuß erreichbar. Sie können es nicht verfehlen.«
Während sie mir erklärte, dass ihre Ferienkolonie an einem Rundweg lag, der um die ganze Halbinsel führte und Wanderer aus der ganzen Welt in diesen weitläufigen Naturpark namens Armorique lockte, ging mir ein Gedanke nicht aus dem Kopf.
»Sagen Sie, Sœur Nominoë, hat man meine Großtante im Dorf gemocht?«
»Gute Frage. Es kommt immer darauf an, mit wem man spricht. Sie müssen wissen: Annie war bei den Frauen von Camaret.«
Hatte Ayala die nicht erwähnt? Ich bat Schwester Nominoë um Auskunft.