Mord im Grand Hotel Matterhorn - Gabriela Kasperski - E-Book

Mord im Grand Hotel Matterhorn E-Book

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Seine besten Zeiten hat das Grand Hotel Matterhorn hinter sich. Ohnehin ließe es sich als Mogelpackung bezeichnen: Eine Sonnenterrasse mit Panoramasicht hat es nie gegeben;um einen Blick auf den bekanntesten Berg Europas zu erhaschen, dem es seinen Namen verdankt, müssen die Gäste mit einem Sessellift in die Höhe fahren – und auf gutes Wetter hoffen. Die rüstige Rentnerin Libby Andersch und ihren elfjährigen Nachbarsjungen Noah hat es eher unfreiwillig hierher verschlagen. Eigentlich wollen sie mit dem Glacier Express bis nach Zermatt reisen, doch ein Schneesturm verhindert die Weiterfahrt. Mit ihnen gestrandet ist eine Filmcrew, die kurzerhand umdisponiert und statt in einem exquisiten Belle-Époque-Haus in dem stillgelegten Berghotel dreht. Bis die Hauptdarstellerin Gwendolin mit gebrochenem Genick im Foyer liegt. Da das Hotel vollends eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten ist, bleibt den Anwesenden nicht viel mehr, als sich gegenseitig zu verdächtigen. Libby Anderschs Spürsinn ist gefragt!

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Seitenzahl: 192

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Gabriela Kasperski

Mord im Grandhotel Matterhorn

Ein Fall für Libby Andersch

Oktopus

Für meine Großmutter … Libby hätte ihr gefallen.

»Man reist ja nicht, um anzukommen …«

Johann Wolfgang von Goethe

Prolog

Ihre Finger rutschten ab, sie zappelte und hing in derLuft. Als sie wieder Halt fand, richtete sie sich auf. Einmal kurz durchatmen, das war knapp gewesen. Sie blickte auf die Armbanduhr, ein Geschenk von ihm. Zärtlich fuhr sie über das Glas. Es blieb ihr kaum mehr Zeit, wenn sie vor ihm auf dem Gipfel sein wollte. Durch ein Meer aus Tannen führte eine schmale Schneise zu einem Pfad, der sich im Zickzack hinaufwand, voller Kiesel und Geröll und schwierig zu gehen. Als Belohnung winkte die Berghütte, die Terrasse und weiter vorne die Endstation des Sessellifts. Und er natürlich. Bald würde er aussteigen, sich durch das dichte Haar fahren und grinsen wie ein Lausbub. Danach … war alles möglich.

Sie drehte sich um und fixierte das Gestein. Mit der rechten Hand hielt sie sich erneut an einer Wurzel fest, zog sich nach oben, stieg weiter, bis zu der kleinen Plattform, die Sicht auf die Felswand mit der kleinen Spalte bot. Zweimal im Jahr, rund um die Tag- und Nachtgleiche, konnte man von hier aus das Matterhorn sehen. Es hatte mit dem Winkel der Sonneneinstrahlung und der Erdkrümmung zu tun, ein Angestellter vom Grand Hotel hatte es ihr erklärt. Als ein Schatten ihre Sicht trübte, zwinkerte sie. Doch sie hatte sich nicht getäuscht. Jemand stand breitbeinig auf den beiden Felsspitzen. Seine Silhouette zeichnete sich vor dem lichtblauen Himmel ab. Das leise Flattern der Jacke, die einzige Bewegung, lenkte ihren Blick auf einen Gegenstand in seiner Hand. Umdrehen, weglaufen, hinunter ins Hotel, schrie ihr Verstand, und doch blieb sie stehen. Denn es war kein Fremder. Er war es. Trittsicher und stumm kletterte er hinunter, bis er dicht vor ihr stand, so dicht, dass sie zurückweichen musste. Pling, pling, pling hörte sie das Geräusch eines Kiesels. Als sie zur Seite ausweichen wollte und eine Hand um die Wölbung ihres Bauches hielt, rutschte sie ab. »Das ist dein Kind!«, wollte sie sagen. Die Worte erreichten ihre Lippen nicht, sie erstarben in dem Maß, wie die Erkenntnis in ihr wuchs, dass sie sich getäuscht hatte.

Diesmal war da keine rettende Wurzel, da war nichts. Sie fiel. Und fiel. Und fiel.

1

Der Schnellzug bremste überraschend, obwohl bisGöschenen eigentlich kein Halt mehr angekündigt war. Während sich die Mitreisenden mehr oder weniger lautstark zu dieser erneuten »Rast« auf freier Strecke äußerten, genoss Libby Andersch die Aussicht auf die schroffen Hügel und Hänge um den Vierwaldstättersee. Nicht ein einziges Mal schaute sie dabei auf ihre unablässig klappernden Stricknadeln, Stricken ging überall und in jeder Lebenslage. Seit sie vom Institut für Chemie mit fünfundsiebzig in Rente geschickt worden war, unternahm sie immer montags einen Ausflug, es gab nichts Besseres, um die Woche zu beginnen. Da es Ende November im Flachland wie üblich ziemlich grau war, hatte sich Libby eine Panoramafahrt mit dem Glacier Express vorgenommen. Die einzige selbst gestellte Bedingung war, dass sie abends rechtzeitig zurück wäre für den Krimiklub. Als Anhängerin des gepflegten Hörspiels mochte sie die Radiosendung über wahre Verbrechen, nicht zuletzt wegen der Stimmen, die dann ihr Wohnzimmer erfüllten. Libby lebte allein.

Der Zug fuhr weiter, und eine Durchsage kündigte einige Minuten Verspätung an, Grund dafür seien Bauarbeiten. Libby fragte sich, ob damit ihr Zeitplan durcheinander geriete. Früher hätte sie das Kursbuch studiert, ein Fahrplan, den sie trotz der Größe immer mit sich geführt hatte. Leider wurde es wegen mangelnder Nachfrage seit diesem Jahr nicht mehr gedruckt. Darum lauschte sie sehr genau, als der Wanderer im Abteil schräg gegenüber dem Sitznachbarn von seinen Reiseplänen erzählte, die Libbys ähnelten.

»Mit dem Glacier Express, genau. Es soll da oben verdammt heftig schneien. Scheißwetter. Na ja, ich hole mir dann zum Trost in Göschenen einen Kaffee Träsch.«

Wenn der Wandersmann sich noch etwas zu trinken besorgen konnte, dürfte die Umsteigezeit auch für Libby reichen. Ihre Hüftbeschwerden hatten sich diesbezüglich zuweilen als Problem erwiesen.

In dem Moment eilte eine Dame, ausgestattet mit Sonnenbrille und Hut, so hastig den Gang entlang, dass sie den Wanderer, ohne es zu bemerken, mit dem einen Ende ihres Schals ins Auge traf. Er ließ daraufhin eine Kanonade los, die mit den Worten »Verwöhntes Divenpack!« endete.

Ziemlich ordinär, fand Libby. Wobei die Frau tatsächlich das Flair einer Diva an sich gehabt hatte und Libby außerdem seltsam vertraut erschienen war. Während sie darüber nachdachte, aus welchem Grund dies so war, schimpfte der Wanderer munter weiter.

»Nicht mal entschuldigt hat sie sich, diese Schnepfe.«

Libby reichte es, und sie beschloss, vor dem Umsteigen das stille Örtchen aufzusuchen. Beim Aufstehen knackte ihre Hüfte so laut, dass der Wanderer zu ihr hersah. Sie tat, als wäre nichts gewesen, strich den Rock glatt, rückte die Brosche auf der Bluse gerade, warf das Loden-Cape um und machte sich auf.

***

Das kleine Schild bei der Toilettentür stand auf Rot, und so stellte sich Libby etwas davon entfernt ans Fenster, während der Zug wieder anfuhr. Sie passierten das Kirchlein von Wassen. Wegen Arbeiten in der neuen Gotthardröhre musste der Zug die alte Strecke nehmen, dabei fuhr er Schleifen und kam dreimal an der kleinen Kirche vorbei. Gerade als Libby ein diskretes Anklopfen an der Toilettentür erwog, wurde sie angestupst. Vor ihr stand ein kleiner Junge, vielleicht neun Jahre alt. Er hatte Augen wie Quecksilber und eine lila Strähne im hellen Haar.

»Hallo, Frau Andersch, was machen Sie denn hier? Ich bin der Noah, ich wohne über Ihnen.«

»Was für ein Zufall.« Libby war nicht auf eine Unterhaltung eingestellt. Auf ihren Reisen beobachtete sie gerne und blieb für sich. Andererseits war sie dem Gebot der Höflichkeit verpflichtet. »Hast du keine Schule?«

»Lehrerfortbildung.« Er grinste. »Meine Mama hat einen Auftrag im Tessin. Wir übernachten in einem Hotel mit Hallenbad, es gibt ein Buffet mit Dessert, und wir schlafen in einer Süte mit Gamekonsole, zum Tessin-Ninjas abknallen. Hat auf TripAdvisor fünf Sterne.«

Was sprach der Bub denn für ein Kauderwelsch? »Meinst du eine Sternwarte?«

»Nö. Das sind so Bewertungen, von Gästen.«

»In einem Gästebuch also.«

»Auf dem Handy.«

»Damit kann ich nicht dienen.« Libby besaß keines. Sie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu den Geräten. Und zwingen ließ sie sich schon gar nicht.

»Meine Mama hat gesagt, ohne Handy haben Sie keinen Anschluss an die Neuzeit, aber Sie sind selbst schuld.«

Nahm kein Blatt vor den Mund, ihre Nachbarin, dachte Libby. Sie hieß Iris, war alleinerziehend, von Beruf Porzellanmanufakteurin und ziemlich parteiisch. Dass der Bub den Geräuschen nach zu urteilen täglich ganze Heerscharen von virtuellen Feinden besiegte, schien sie nicht zu kümmern, dass Libby kein Handy hatte, jedoch schon.

»Also dann, viel Spaß mit deiner Gamekonsole.« Libby hatte sich bemüht, das Wort perfekt auszusprechen. »Ich fahre zum Matterhorn und übernachte auf dem Gipfel.«

Gerade als der Bub überlegte, wie er das wohl übertrumpfen könnte, gab es einen Ruck, gefolgt von einem erneuten, diesmal sehr abrupten Halt.

»Eine Notbremsung!« Libby hatte sich am Fenstergriff festgehalten, ein Sturz würde ihre Hüfte nur schwerlich goutieren.

Noah hingegen war auf den Hosenboden gefallen, stand jedoch sofort wieder auf.

»Alles in Ordnung?«, fragte Libby.

Noah hielt den Daumen hoch. »Ich bin robust.«

In die entstandene Stille ertönte eine Stimme aus der immer noch verriegelten Toilette. Offenbar telefonierte die Person. Sie klang ziemlich aufgeregt, erwähnte ein perfides System, das sie entlarven wolle, und dass er, der Mensch am anderen Ende, dafür bezahlen müsse.

»Paula, was machst du?«, sprach die Stimme weiter.

Die Antwort kam von einer zweiten Person, mit wesentlich tieferer Stimme.

»Dich töten, Gregory.«

Noah war so verwundert wie Libby. Wobei er dem Inhalt der Worte weniger Bedeutung beimaß als der Tatsache, dass da zwei drin waren. »Sie, haben Sie das gehört?«, flüsterte er. »Das ist doch komisch. Zwei in einem Klo. Was machen die da?«

Libby fiel alles Mögliche ein, was zwei Leute in so einer Zugtoilette anstellen könnten. Nicht kindertauglich, die Antworten. »Noah, geh jetzt zurück an deinen Platz. Deine Mama wird sich Sorgen machen.«

Aber Noah blieb wie angewurzelt stehen. »Ich warte, bis die rauskommen!« Seine Phantasie war angeregt. »Dann verhaften wir sie und bringen sie der Polizei.«

»Was habe ich gesagt? Dalli, dalli, ab die Post.« Libby blickte streng, und der Bub rannte winkend davon.

Eine weitere Durchsage kündigte an, dass sich die Weiterfahrt erneut um einige Minuten verzögere, Grund dafür sei eine Notbremsung.

»Falls ein Arzt oder Sanitäter im Zug ist, begeben Sie sich bitte in Waggon 2.«

Libby überlegte. Dass sie den Anschluss an den Glacier Express noch schaffte, wurde immer unwahrscheinlicher. Dann trinke ich halt einen Kaffee im Bahnhofsbuffet, dachte sie. Von einer früheren Reise waren ihr die leckeren Kanapees mit Sardellenfilet in bester Erinnerung. Gerade als sie sich das Zitronensorbet zum Dessert vorstellte, öffnete sich die Toilettentür. Libby tat beschäftigt und beobachtete aus den Augenwinkeln, wer da herauskam. Zu ihrem großen Erstaunen war es die Dame von eben, in Hut und Mantel, nur dass sie eine Hand seltsam abgewinkelt in die Luft hielt und eine Art Dossier unter den Arm geklemmt hatte. Ohne Libby zu beachten, eilte sie davon. Und wo war die andere Person? Als auf Libbys Klopfen hin nichts geschah, entschied sie sich nachzusehen, einfach um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war.

Gleich nach dem Eintreten umfing sie der Duft nach Maiglöckchen. Dann bemerkte sie, dass die kleine Kabine leer und so blitzblank war, dass es geradezu unnatürlich wirkte und die Spritzer im Aluminiumwaschbecken besonders auffielen. Manche hatten ein tropfenförmiges Muster, manche waren schlierenartig, aber alle waren von einem tiefen, dunklen Rot. Paula, was machst du?, glaubte Libby die Stimme wieder zu hören. Sie war hoch gewesen und ohne Modulation, distanziert und grausam zugleich. Sehr eigenartig. War die Dame vielleicht eine Stimmenimitatorin? Wenn ihr nur einfallen würde, wo sie die Frau schon mal gesehen hatte! Und dann hatte sie eine Eingebung. Sie verriegelte die Tür, setzt sich auf die Klobrille und zog eine Zeitung aus ihrer Tasche. Einmal blättern, und schon war sie bei der Kulturseite, wo ein großer Johannisbeer-Konfitüre-Fleck, den ihr tropfendes Frühstücksbrötchen hinterlassen hatte, das Gesicht einer abgelichteten Person verzierte. Es handelte sich dabei um Pjotr Voss, einen Schweizer Schauspieler, der vor Urzeiten in Hollywood Karriere gemacht hatte und nun für Dreharbeiten ins Wallis kommen sollte. Dass sie den wieder ausgruben, hielt Libby für überflüssig, er war unerträglich eitel gewesen, und sie ging nicht davon aus, dass diese Marotte im Alter besser geworden war. Sie holte ihre Brille aus dem gestickten Etui und überflog den Artikel nochmals. Dort war zu lesen, dass Voss, der normalerweise in Berlin lebte, für Dreharbeiten im Wallis in der Schweiz weilte. Neben ihm stand eine um einiges jüngere Frau, die beiden hielten Händchen. Libby hatte sich bei der Lektüre gewundert und die Frau als Anhang eingeschätzt. Beim genaueren Hinsehen vermittelten ihre Haltung und ihr Blick ein gewisses Selbstbewusstsein. Auffällig war ihr breitkrempiger Hut, derselbe, den die Dame von eben getragen hatte. Ob sie es gewesen war?, wunderte sich Libby. Was will die mit diesem Voss?

In dem Moment wurde an die Tür getrommelt. »Können Sie rauskommen, bitte? Es handelt sich um einen Notfall.«

Erst die Notbremsung, nun ein Notfall. Libby wappnete sich und trat hinaus. Vor der Tür hatte sich eine ganze Gruppe von Menschen versammelt.

2

»Sind Sie die Nachbarin von Noah?«, fragte eine Sanitä-terin, erkennbar an der neongelben Weste und an blutigen Plastikhandschuhen. »Frau Anders?«

»Andersch«, korrigierte Libby, die es gewohnt war, dass die Leute ihren Namen falsch aussprachen.

»Es gab einen Unfall mit Noahs Mutter, nichts Schlimmes, aber sie muss ins Krankenhaus.« Die Sanitäterin deutete auf zwei weitere Rettungskräfte, die sich bemühten, eine Trage durch den engen Gang des Zugs in Richtung Ausstieg zu bugsieren. Darauf lag die sichtlich angeschlagene Iris, und neben ihr stand Noah, der ihre Hand hielt.

»Stirbst du jetzt?«, fragte er.

»Alles gut, Noah. Kopfwunden bluten halt«, beruhigte ihn die Sanitäterin. »Deine Mama hätte sich festhalten sollen, als der Zug gebremst hat. Es gibt entsprechende Schilder.«

»Habe ich in dem Moment übersehen, es war keine Zeit«, sagte Iris.

Sie hatte sich vermutlich den Kopf gestoßen. Ihre Stimme hatte aber erstaunlich kräftig geklungen, der Blutverlust konnte nicht lebensbedrohlich sein.

»Du darfst keine Kuhmilch trinken, Noah«, sagte sie jetzt.

Das nun klang allerdings verwirrt. Was hatte Kuhmilch mit einer Notbremsung zu tun?

Iris sprach bereits weiter. »Du bist Veganer, sag das Frau Anders.«

»Andersch.« Die Korrektur kam von der Sanitäterin, die schnell gelernt hatte.

»Noah ist ein Engel«, fuhr Iris fort und hörte nicht auf, Libby zu fixieren.

Sie fühlte sich zunehmend unwohl. »Aus welchem Grund erzählen Sie mir das?«

»Sie muss ins Spital nach Uri«, erklärte die Sanitäterin.

Dass Iris ins Krankenhaus musste, leuchtete Libby ein. »Mögen Sie Hefeschnecken? Mit Hafermilch und Pflanzenmargarine.« Trotz der Proteste der Sanitäterin richtete sich Iris auf, kramte in einem Rucksack herum und nötigte Libby eine Papiertüte auf. »Es ist für den Zvieri. Gamen ist verboten, das Tablet, das er dabeihat, ist nur für den Vortrag bestimmt, den er übermorgen halten muss. Er ist wieder mal zu spät mit allem. Und er darf weder Käse noch Rahm essen. Haben Sie gehört, Frau Anders?«

»Andersch. Hab ich das richtig verstanden, Sie wollen, dass ich auf den Buben aufpasse?«

»Ja. Sie sind doch die perfekte Großmutter.«

Libby fiel nicht auf die Schmeichelei herein. Dass sie keine Kinder hatte, war eine Wahl und kein Versehen.

»Ich fahre allein zurück«, meldete sich Noah, der offenbar Libbys Gedanken lesen konnte. »Ich bin schon groß. Und am Abend bist du wieder da, hast du gesagt, Mama.«

Ein Paar war stehen geblieben, es mischte sich ein, auch die beiden jungen Sanitäter äußerten ihre Meinung, kein Ende war abzusehen, bis die Sanitäterin ein Machtwort sprach.

»Stop. Deine Mutter, Noah, bleibt mindestens bis morgen im Krankenhaus, zum Ausschluss Gehirnerschütterung, außerdem muss die Wunde genäht werden. Allein reisen kannst du nicht. Darum bitten wir Frau Andersch, dich mitzunehmen. Wohin fahren Sie?«

»Zum Matterhorn, hat sie gesagt.« Das war von Noah gekommen.

»Perfekt«, sagte Iris. »Dann kannst du unterwegs deinen Vortrag schreiben. Darf er auch bei Ihnen übernachten?«

»Nein«, sagten Noah und Libby gleichzeitig.

»Er braucht kein Bett, ein Sofa reicht.«

Ihr geliebtes hellgelbes Sofa mit der blauen Tagesdecke?

»Sonst bringen wir ihn in die Krankenhaus-Kita von Uri.«

Der Bub brüllte auf, dass die Trage wackelte. Gerade wollte Libby kategorisch ablehnen und ihre mangelnde Erfahrung im Bereich Menschen unter zehn Jahren in die Waagschale werfen, als sie die unterdrückte Träne bemerkte, die Noah beschämt und heimlich von seiner Wange wischte.

»Na, dann komm halt mit.«

***

Sie standen am Fenster und sahen zu, wie Iris in einen Rettungswagen verladen wurde. Der Anblick war etwas trostlos, der Bahnsteig war voller Matsch, die Sanitäter konnten nicht verhindern, dass auch die Verletzte Schneeregen abbekam. So groß Noah seine Klappe eben aufgerissen hatte, so schweigsam war er jetzt. Fast ein wenig unheimlich, egal was Libby auch versuchte, er gab keine Antwort. Erst als sie die Tüte mit den Hefeschnecken in ihre Handtasche packte, reagierte er.

»Hey, die gehören mir.«

»Entweder du redest mit mir, oder ich esse alle allein auf.« Sie klopfte sich auf die Hüfte. »Das schaff ich gut, wie du siehst.«

Seine Augen wurden ganz rund vor Entsetzen. Aha, er ist verfressen, dachte sie. Mal sehen, wie es mit dem Rest steht. Dann sprach sie ihn auf den Vortrag an.

»Ich soll den höchsten Berg der Schweiz beschreiben«, sagte er mürrisch. »Und die Reise dahin.«

Keine sehr originelle Aufgabe, das hatte sie schon vor siebzig Jahren in der Schule machen müssen. »Und wie heißt der Berg?«

»Weiß ich nicht.«

»Dufourspitze«, sagte Libby. »Warst du schon mal da?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wie willst du ihn dann beschreiben?«

»Ich google.« Er fasste in die Außentasche seines Rucksacks und holte ein Handy heraus. Mit kaum zehn Jahren hatte er schon so ein Gerät?

»Kacke. Es hat fast keinen Akku mehr. Haben Sie vielleicht eine Powerbank? Oder ein Laptop?«

Libby fasste ihrerseits in die Handtasche und holte einen Schweizer Atlas im Taschenbuchformat raus. »Vielleicht hilft dir der.« Mit einer einzigen Handbewegung fand Libby die gesuchte Seite. »Ich würde dir allerdings zum Matterhorn raten. Bei deiner Sternbewertung gibt das bestimmt die Höchstpunktzahl. Hier ist es.« Sie deutete auf die Koordinaten. »Und hier sind wir. Schon hast du deinen Vortrag.« Sie zeigte zum Fenster hinaus. »Und schieß ein paar Fotos, das macht es lebendig.«

»Ich sauge mir lieber eines aus’m Netz.«

Saugen, dachte Libby und wunderte sich über die Sprache. »Aber das hier ist echt.«

»Die Lehrerin würde es mir nicht glauben.«

Noah fand also das Internetz wirklicher als die Wirklichkeit. Das kann ja heiter werden, dachte Libby.

***

Göschenen war eine typische Durchgangsstation. Die Bahnhofsuhr zeigte kurz vor neun, auf dem gegenüberliegenden Gleis wartete ein Zug in der Gegenrichtung.

»Der fährt nach Zürich«, sagte Noah sehnsüchtig, als sie hinter ihm ausgestiegen war. »Es gäbe am Nachmittag eine Gamer-Challenge.«

Das Wort erinnerte Libby an früher, wenn sie Forschungsprojekte abgetippt hatte, in denen es vor englischen Ausdrücken nur so wimmelte.

»Reisende nach Andermatt auf Gleis 4«, kam die Durchsage. »Bitte rasch umsteigen, Abfahrt in zwei Minuten.«

Auf dem Bahnsteig herrschte ein einziges Getümmel. Skifahrer, Urlauberinnen, Tagesausflügler, in der Menge erblickte sie auch den Wanderer von gegenüber. Dass er wegen der knappen Umsteigezeit gehetzt wirkte, erstaunte Libby nicht. Auch sie beeilte sich, die Treppe hinunterzukommen, bis ihre Hüfte erneut knackte und sie pausieren musste. »Lauf, Noah, gib dem Schaffner Bescheid.«

Während sie auf der anderen Seite der Unterführung hochstieg, vernahm sie das Rumpeln des abfahrenden Zugs, und oben angekommen, bemerkte sie nur noch das Schlusslicht. Ganz vorne am Kopf des Perrons stand eine kleine Gestalt. Durch Daumen und Zeigefinger ließ Libby einen Pfiff ertönen. Pfeifen war eine Spezialität von ihr gewesen. Dass es immer noch ziemlich scharf klang, erfüllte sie mit Freude.

Noah rannte auf sie zu. »Sie! Wir haben ihn verpasst. Die Lokführerin hat mich einfach ignoriert. Voll fies.«

Sie gingen zum Bahnhofsgebäude, wo Libby einen Stationsvorsteher ansprach, der wuchtige Oberschenkel und drei Stecker im Ohr hatte. Er entschuldigte sich in breitem Urner Dialekt, etwas tun könne er jedoch nicht; den Glacier Express in Andermatt würden sie auch verpassen.

»Sie! Sind Sie ein Polizist?«, fragte Noah plötzlich.

Er lachte. »Eine Art.«

»Ich muss etwas melden.«

Libby schwante Übles.

Obwohl sie ihn am Ärmel zupfte, um ihn abzuhalten, erzählte er von der Zugtoilette und von der Frau, dabei schmückte er gewaltig aus. »Ich glaube, sie hat ihn ermordet und das Klo hinuntergespült.«

So erzählt, klang es reichlich übertrieben. Der Stationsvorsteher reagierte besonnen und zeigte auf Noahs Handy.

»Aha. Du hast das neuste iPhone 15.000 UltraProSuperXXL. Was gamst du denn so?«

Libby schmunzelte, was auch immer diese Geräte für Namen hatten, der war bestimmt erfunden.

»Fruit Ninja, wieso?«

»Spielt mein Sohn auch. Hat die gleiche Phantasie wie du.« Der Stationsvorstand zwinkerte Libby zu. »Mach mal Pause, mein Junge. Ich bin sicher, alles ist in Ordnung.«

Das nahm sich auch Libby zu Herzen. Blutspritzer in einem Lavabo konnten auch harmlose Ursachen haben, und das Geplänkel am Telefon … Mein Gott, die Dame war Schauspielerin, bestimmt hatte sie im Spiegel ihre Rolle eingeübt.

Der Stationsvorsteher hatte zu seinem Funkgerät gegriffen und sprach einige Worte, bevor er sich ihr wieder zuwandte. »Sie haben Glück im Unglück. Wir haben gerade einen Sonderzug nach Zermatt für ein Filmteam organisiert, die haben auch den Anschluss verpasst. Abfahrt in etwa einer halben Stunde.«

»Ein Filmteam! Geil. Vielleicht kann ich mitspielen.« Schon lief Noah voraus. »Aber erst suche ich was zum Aufladen.«

Der Stationsvorsteher lachte. »Achten Sie auf Ihren Enkel. Wer weiß, sonst findet er wirklich noch eine Leiche.«

3

Das Bahnhofsbuffet stellte sich als Enttäuschungheraus. Der historische Saal war abgerissen und durch ein Bistro ersetzt worden. Es war überheizt und eng, im Hintergrund lief Atemlos von Helene Fischer, und neben der Theke gab es Platz für zwei runde Plastiktische. Einen davon okkupierte eine kleine Frau mit zerzauster Lockenfrisur und einem satt sitzenden feuerroten Mantel. Beim Anblick Libbys legte sie einen Regenschirm auf die Stühle. Besetzt, sagte ihre Miene. Libby nahm mit dem kleinen Hocker in der Nähe des Verkaufstresens vorlieb, ihre Hüfte brauchte Entlastung. Während sie auf die Bedienung wartete, musterte sie den Mann am anderen Tisch.

Er war untersetzt mit Dreitagebart und tat so, als ob er Notizen durchlesen würde, in Wirklichkeit fütterte er einen Hund mit Pommes Chips. Dabei zitterten seine Hände, was er ganz offensichtlich zu verbergen versuchte.

Die Frau hatte jedoch nur Augen für ihr Handy. »Wir hätten früher losfahren sollen, Rupert, wie ich gesagt habe. Wir wollten doch gleich nach der Ankunft mit dem Dreh anfangen. Pjotr wird nicht erfreut sein.«

Dreh? Pjotr? Was Libby eben vermutet hatte, bestätigte sich. Das Filmteam gehörte zu Pjotr Voss. Sie musste also mit dem Altstar durch die Berge fahren.

Der unscheinbare Bärtige mit Namen Rupert versuchte, die Frau zu beschwichtigen. »Wir werden es schaffen, versprochen, Pommer. Pünktlich um sechs heute Abend ist Drehbeginn. Oben im Belvedere! Eine bessere Kulisse hätten wir uns wahrlich nicht wünschen können.«

Pommer hieß sie also, dachte Libby. Selten hatte ein Name so gepasst. In dem Mäntelchen und mit der getrimmten Carré-Lockenfrisur sah sie wirklich so aus, wie sich Libby eine Landpomeranze vorstellte.

Der Prospekt, den Rupert aus seiner Manchesterjacke zog, weckte Libbys Neugier endgültig: Sie kannte das Hotel auf dem Foto von einem anderen ihrer Montagsausflüge. Das Belvedere war eine Belle-Époque-Ikone der Extraklasse, etwas unterhalb der Furka-Passhöhe in der Nähe des RhÔnegletschers gelegen. Die Umgebung war wild und die Passstraße so kurvig, dass die Spitzkehre unweit des Hauses Schauplatz in einem James-Bond-Streifen gewesen war. Wenn der Film mit Pjotr Voss da gedreht werden sollte, war ihm nicht nur ein berühmtes, sondern auch ein schauriges Ambiente gewiss, denn das Hotel war seit einigen Jahren geschlossen und dem Verfall überlassen.

Libby wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch der beiden Filmleute zu. Nachdem sie die Drehörtlichkeit besprochen hatten, erkundigte sich Pommer nach einem Kameramann.

»Jules hat viel Gepäck«, antwortete Rupert. »Das Umsteigen war schwierig für ihn.«

»Gepäck? Wieso das denn?« Pommer verstand die Welt nicht mehr. »Er braucht doch nur seine Kamera.«

Der Hund unter dem Tisch winselte leise, und Rupert gab ihm die Chipstüte zum Auslecken.

»Offenbar wurden die beiden wichtigsten Kostüme vergessen. Der Materialwagen ist längst losgefahren, darum hat Jules alles mitgenommen.«

»Der Kameramann bringt die Kostüme? Ich glaube, ich hör nicht recht.« Pommer wechselte schon wieder die Gemütslage, von konsterniert zu schlecht gelaunt. Sie und Rupert waren nicht gerade das, was Libby sich unter einer Entourage von Hollywoodstars vorgestellt hatte.

Die Tür flog auf, und Noah stürmte herein. Er trat zu Libby, die den Finger auf den Mund legte.

»Das hier ist kein Spielplatz, Noah.«

Er zuckte zusammen. »Gibt’s was zu essen?«, flüsterte er zurück.

Die Speisekarte bot leider keine Überraschung – statt Sardellen-Kanapees wurden Mikrowellenmenus angeboten. Libby ignorierte Noahs Wünsche mit dem Hinweis auf die Vorschriften seiner Mutter und bestellte bei der Bedienung, die durch eine Hintertür hereingekommen war.

Das Gewünschte wurde nach neunzig Sekunden auf den Tisch gestellt. »Pizza, einmal mit formaggio, einmal ohne.«