Akte Nora S. - Erik Neutsch - E-Book

Akte Nora S. E-Book

Erik Neutsch

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Beschreibung

Nora S. hat Einspruch gegen ihre fristlose Kündigung erhoben, will aber auch die Stelle im Geologischen Dienst, die ihr, ohne sie zu fragen, mit Ministergewalt verschafft wurde, antreten. Sie besteht darauf, sie selbst zu sein und jedenfalls nicht so, wie dieser und jener sie gern haben möchte, die Betriebsleitung und Betriebsgewerkschaftsleitung eingeschlossen. Nora S. hat eine Erfindung gemacht, die den Leuten nicht ins Konzept passt, und sie fordert nichts, was ihr nicht ohnehin zustünde: Ihr Recht auf Arbeit. Aber gerade da werden die Probleme sichtbar. Zu der Erzählung drehte Georg Schiemann 1981 einen Film des Fernsehens der DDR mit Swetlana Schönfeld, Jaecki Schwarz und Jürgen Zartmann. LESEPROBE: Und dennoch: Der Gedanke, das Übel bei der Wurzel zu packen und statt mit Wasser mit Druckluft zu pumpen, war damit nicht ausgelöscht. Nora vertiefte sich immer mehr in ihre Überlegungen. Sie saß an Likendeels Arbeitstisch, bediente sich seiner Geräte, rechnete, maß und zeichnete provisorische Skizzen auf das Papier. Doch ehe sie ihrem Betrieb davon Mitteilung machen konnte, wurde sie fristlos entlassen. Enttäuscht und hilflos stand sie nach der Nachricht mit dem Telefonhörer in der Hand und ließ sich von Likendeel trösten. Und auch ehe sie ihm antworten konnte, daß sie nun abreisen müsse, um die Pumpenwerke von ihrer Entdeckung zu informieren, sagte er: »Du bleibst jetzt bei mir. Ich verlasse dich nicht.« »Nein, Hans. Das Ganze beruht auf einem Irrtum.« »Du ahnungsloser Engel. Du weißt ja nicht, was inzwischen geschehen ist.« »Was ist denn geschehen?« »Ich habe für dich gearbeitet. Hier der Brief vom Geologischen Dienst. Die Genossen wissen deine Leistung zu schätzen. Wir übernehmen dich sofort.« Erst jetzt erfuhr sie von dem Streit, der hinter ihrem Rücken um sie geführt worden war. Und diese Nachricht entmutigte sie fast noch mehr als die Auskunft, die sie soeben von ihrem Betrieb erhalten hatte. Niemand hatte sie nach ihren Wünschen und Plänen gefragt. Die einen so wenig wie die anderen. Sie fühlte sich verkauft. »Ihr habt mich wie einen Gegenstand, wie ein lebloses Ding verschachert«, sagte sie bitter. »Ich liebe dich. Und ich brauche dich. Und ich hätte immerzu Angst, daß du mir wieder fremd werden könntest, wenn du so weit von mir fortgehst.«

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Impressum

Erik Neutsch

Akte Nora S.

ISBN 978-3-86394-201-4 (E-Book)

Die deutsche Druckausgabe erschien erstmals 1978 im Verlag Tribüne Berlin, wurde aber schon 1976 in dem Band „Heldenberichte“ veröffentlicht.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Akte Nora S.

Nora S. hat Einspruch erhoben. Sie fordert ihr Recht, und nun geht das Bündel Papier, Kaderakte genannt, in den Monaten Januar bis April auf das Doppelte oder gar Dreifache ihres bisherigen Umfanges angewachsen, von Hand zu Hand. Die Mitglieder der Konfliktkommission werden ihre Mühe damit haben. Irgendwo in dem Wust aus Fragen und Antworten zur Person, den Protokollen, Berichten, Notizen erhoffen sie sich einen Hinweis, der ihnen bei der Beurteilung des Falles auf die Sprünge helfen kann. Denn noch vor der Verhandlung müssen sie sich ein Bild machen, vor allem von der Frau, um die es hier geht, der Frau oder dem Fräulein, Nora S. jedenfalls.

Arbeitsverweigerung ist ein harter Vorwurf. Nora S. weist ihn zurück. Sie dreht den Spieß sogar um. Im Gegenteil, sagt sie, die Betriebsleitung habe sie daran gehindert, ihre Arbeit zu Ende zu führen. Und diese, in Entgegnung wiederum darauf, hält ihren Vorwurf aufrecht, verschärft ihn gewissermaßen, indem sie hinzufügt, Nora S. sei schon immer eine Querulantin gewesen, es mangele ihr an Reife, und sie habe sich daher nur schwer in die Gemeinschaft einordnen können. Es folgt eine Reihe Unterschriften. Darunter auch, schnörkellos, steil und allzu deutlich, beinahe wie eine Kampfansage, der Namenszug des Diplomingenieurs Färber, Abteilungsleiter im Konstruktionsbüro der Pumpenwerke und Noras unmittelbarer Vorgesetzter.

Auch Färber wurde geladen. Er und Likendeel. Dieser jedoch erklärte, über sein Feldtelefon und ziemlich grob, wie aus einer Notiz ersichtlich ist, er habe die Nase von alledem voll, er werde nicht zur Verhandlung erscheinen, es sei denn, man lege ihn in Ketten und führe ihn mit Polizeigewalt vor. Seine Adresse: Harz, immer die Steinerne Renne hinauf, bis ins Quellgebiet der Holtemme, dort, wo jetzt der Siebenstern blüht, dritter Felsen von links, achthundertvierundvierzigste Fichte, mit sozialistischen Grüßen. Likendeel, Geologe, bohrt in der Erde, Plutonfeld des Brockens. Seine Steine, ließ er bestellen, seien zarter besaitet als die verdammten Weiber, Nora S. zum Beispiel, was ihn allerdings noch im März nicht davon abhielt, sie seinem Institut, dem Geologischen Dienst, wärmstens zu empfehlen. »Ich bürge für sie, was ihr auch immer zur Last gelegt werden mag.« So heißt es wörtlich in seinem Brief.

Es besteht kein Zweifel. Als Nora S. zwei Monate in der Wildnis lebte, muß sie mit Likendeel etwas gehabt haben. Mit Färber hingegen war sie so gut wie verlobt. Das kompliziert natürlich die Sache. Und der Sachverhalt ist zunächst der, daß sie von den Pumpenwerken fristlos entlassen wurde, während der Geologische Dienst sie sofort einstellen will. Grund der einen: Arbeitsverweigerung im Wiederholungsfall, siehe oben, Grund der anderen: eine überdurchschnittlich gute Arbeiterin, die Verläßlichkeit in Person. Außerdem suchen die Geologen schon seit langem eine Fachkraft für die Spülpumpen ihrer Bohrtürme. Nora S. aber hat ihren Kopf für sich. Sie will unbedingt in die Konstruktion zurück.

Ein solcher Fall strapaziert sogar die Findigkeit einer Konfliktkommission, die, wie man weiß, nur noch mit dem Koloß von Rhodos vergleichbar ist, wenn es gilt, die Kluft zwischen den Ufern zu überbrücken.

Nora ist nicht außergewöhnlich hübsch. Das soll sie auch gar nicht sein. Sie hat eine etwas zu große Nase, was bei Frauen immer auffällt, eine hohe, auf dem Paßbild des Fragebogens sehr weiß wirkende Stirn und ein Paar ernster, nahezu kühl und abweisend blickender Augen, die von dunklen Brauen überwölbt sind. Wenn man auch sonst der Fotografie glauben will, so könnte man sogar annehmen, ihre Haarfarbe sei grün. Das ist natürlich unmöglich. Aber zu diesem Gesicht würden auch grüne Haare passen. Dicht und glatt, erinnern sie an das Laichkraut in unseren Bächen.

Sie ist sechsundzwanzig, geboren in Iserlohn, und schon Anfang der fünfziger Jahre, wobei die Gründe hierfür aus den Akten nicht klar hervorgehen, siedelten ihre Eltern nach Leipzig über. Dort besuchte sie die Hochschule für Grafik, wechselte aber nach dem zweiten Semester die Lehranstalt und nahm ein Studium als Ingenieur für Kraft- und Arbeitsmaschinen auf. In ihrem Lebenslauf schreibt sie dazu: »Ich fühlte mich bald von den Dingen verraten. Die Striche, die ich zog, die Zeichen, die ich malte, hatten für mich keinen Wert, solange sie nur dem Zweck dienten, schön sein zu sollen. Ich sah ihren Nutzen nicht ein, wußte nicht, warum etwas schön sein soll, was keinen Nutzen bringt. Ich wollte, daß meine Zeichnungen später einmal aktiv werden, sozusagen eine Tätigkeit aufnehmen wie Maschinen. Die Erde bewegen oder auch nur ein paar Tropfen Wasser, den Menschen helfen, zu den Sternen zu fliegen oder auch nur ihren Durst zu stillen, das schien mir sinnvoll, wenngleich ich auch bald begriff, daß jede Maschine in ihr Gegenteil verkehrt werden kann...«

Nachträglich waren die Zeilen, was allerdings einer ordnungsgemäß geführten Kaderakte niemals zugestanden werden sollte, am Rande mit einem roten Strich und einem dicken Fragezeichen versehen worden. Das mußte in den Pumpenwerken geschehen sein. Doch vielleicht meinte diese anonyme Anmerkung nur, daß Nora S. auch späterhin oft ihren Überschuß an Phantasie von der Wirklichkeit gemaßregelt fand und sich korrigieren mußte. Ihre Entschlüsse trugen nicht selten Züge des Irrealen. Und so war sie wohl auch Ingenieur geworden, weil sie diesen Beruf für den eines Künstlers gehalten hatte.

Auf Grund ihres unermüdlichen Drängens war ihr Antrag genehmigt worden, und so fuhr sie im Januar mit der Bahn nach Wernigerode. Eine Woche gab man ihr Zeit, die Spülpumpe des Bohrgestells zu beobachten. »Das ist das höchste«, hatte Färber beim Abschied gesagt, »doch sieh zu, daß du früher zurückkommst. Ich brauche dich.« Sie stieg aus dem Zug, trat vor den Bahnhof, und da saß, auf einem Motorrad mit Beiwagen, ein Mann, der einen dicken Fellanzug trug, statt des Sturzhelms eine Pelzmütze, und dessen gebräuntes Gesicht von einem blonden, kurzgeschnittenen Bart bedeckt war. Er ließ seine Blicke umherschweifen, nahm aber von ihr nicht mehr Notiz, als ein Mann angesichts eines Stromes von Urlaubern von den Frauen darin Notiz nimmt. Man begutachtet sie mal recht flüchtig.

Sie setzte ihr Gepäck ab und wartete, bis sich die Menge verloren hatte. Sie wußte, daß sie mit einem Motorrad abgeholt werden sollte, hatte sich auch das Kennzeichen gemerkt. Dann ging sie darauf zu. »Sind Sie Dr. Likendeel?«

»ln der Tat.« Zu mehr reichte es nicht. Es verschlug ihm die Sprache.

»Ich bin einer der Konstrukteure, die Sie in Ihrer Beschwerde so unflätig beschimpft haben.«

»Um Gottes willen«, sagte er da. »Wer hat sich das wieder ausgedacht? Ihr Betrieb scheint nur noch aus Konstruktionsfehlern zu bestehen. Eine Frau... Die schickt man doch nicht in den Urwald.«

»Das lassen Sie meine Sorge sein«, entgegnete sie. »Der Harz ist nicht die Taiga. Andere reisen hierher in den Urlaub. Und merken Sie sich eins: Ich möchte von Ihnen behandelt werden wie ein Mann.«

Er schwieg, schaute sie an. Dann gab er ihr seine Pelzmütze und sagte: »Da, setzen Sie wenigstens die auf. Sie ist zwar nicht nach der neuesten Mode, aber Sie sollen mir unterwegs nicht erfrieren.«